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Kapitel 1

Ray Conelly atmete erleichtert auf, als die schwere Eichentür hinter ihm ins Schloss fiel. Die dröhnende Musik und das Stimmengewirr hunderter Menschen drangen nur noch gedämpft zu ihm. Er schloss für einen Moment die Augen. Die Ruhe war fast schmerzhaft angenehm. Er war noch nie der Typ für laute Musik und Menschenansammlungen gewesen, doch seit er quasi Leibarzt einer der angesagtesten Rockbands der Welt war, ging es selten ruhig in seinem Leben zu und laute Musik war der geringste Teil davon. Als Arzt hatte er damit gewiss den Jackpot gezogen, als Mensch zahlte er jedoch dafür den Preis. Er hatte gar nicht gewusst, wie sehr er seine spärliche Freizeit genoss, bis Reporter sein Haus belagert hatten, nachdem sie ihm schon auf den Klinikfluren und selbst in seinem Fitness-Studio aufgelauert hatten. Er hasste es noch mehr als die Pressekonferenzen, die er auf Druck seiner Klinikleitung geben musste, weil immer mehr Prominente seine Hilfe suchten und er hasste es, auf der Straße erkannt und um Selfies, seine Unterschrift oder gar Schnelldiagnosen gebeten zu werden. Ja, das Glück war eine perverse Sau, wenigstens hatte er kaum einen Moment zum Durchatmen, geschweige denn für Interviews, denn die Musiker von Hadessphere schienen das Verletzungspech geradezu anzuziehen. Seit seine Nenn-Schwester Faye, die von allen Angel genannt wurde, Chris Delaire, den Sänger der Band praktisch erpresst hatte, die Verletzungen an seiner Hand von ihm untersuchen zu lassen und er dessen Karriere hatte retten können, galt er als der neue Heilsbringer der Unfallchirurgie und als intimer Freund der Band. Er hatte Chris, der bei einem Motorradunfall schwer verletzt worden war, helfen können, was dessen Karriere gerettet und, ganz nebenbei, zum Happy End einer unglaublich komplizierten Liebesbeziehung zwischen Faye und Chris geführt hatte, und seitdem … Halt! Er schmunzelte. Wenn er jetzt über alles nachdachte, stand er heute Abend noch hier. Es war so viel geschehen in den letzten fünf Jahren, dass es für ein ganzes Leben gereicht hätte, aber so aufreibend diese Jahre auch gewesen waren, er musste sich eingestehen, dass das Schicksal auf ihn herabgelächelt hatte. Wer hätte gedacht, dass der linkische Tierarztsohn aus Newton, Iowa jemals eine solche Karriere machen würde? Aber er hatte es geschafft. Er war Chefarzt der Unfallstation einer angesehenen Privatklinik und eigentlich immer im Dienst, aber wenn ein Anruf von Hadessphere kam, schnappte er sich seinen Notfallkoffer und fuhr zu dem Ort, an dem sich einer seiner Freunde wieder einmal in Schwierigkeiten gebracht hatte. Welcher Unfallchirurg konnte schon von sich behaupten, als kompetent genug angesehen zu werden, komplizierte multiple Frakturen, Schusswunden, physische und psychische Zusammenbrüche, Infektionen, Schnitt-, Schürf – und Fleischwunden aller Art zu behandeln und das oft genug unter Feldbedingungen? Die fünf Jahre hatten seine Karriere in ungeahnte Höhen katapultiert, aber sie hatten ihn auch gefordert, oft über seine Kräfte hinaus, gerade weil er emotional engagiert war, aber letztendlich hatten sie ihn mit der Sicherheit ausgestattet, weit über den gewöhnlichen Klinikalltag hinaus für alles gewappnet zu sein. Und irgendwie blieb immer die Hoffnung, dass die Ehe Rafael, Colin, Chris, Warren und Julian ruhiger machte und ihnen die Lust nahm, die Welt aus den Angeln heben zu wollen, was auch immer es sie auch kosten mochte. Doch der heutige Tag entschädigte ihn für alle Sorgen. Julian, Bassist der Band und wegen seiner britischen Herkunft von allen nur Dandy genannt, hatte seinen großen Tag mehr als verdient. Er schien jeden Moment vor Stolz platzen zu wollen, wenn er seine wunderschöne Braut ansah und Jessie, elfenzart und wunderschön in ihrem duftigen himmelblauen Kleid und den weißen und blauen Blumen in ihrem lackschwarzen Haar, strahlte vor Glück. Es war ein Wunder ganz besonderer Art, dass sie wieder so unbeschwert sein konnte. Er hatte die Narben in ihrem Gesicht gesehen, als sie noch frisch gewesen waren, aber inzwischen waren sie kaum noch sichtbar. Ihre Ärzte waren zuversichtlich, dass sie mit der Zeit so unauffällig sein würden, dass man sie nicht mehr wahrnehmen konnte, wenn man Jessie nicht gut kannte und wusste, dass sie da waren. Was dieses zarte Wesen in ihrem Leben hatte erleiden müssen, hätte viele starke Männer zerbrechen lassen. Von der eigenen Familie gemobbt zu werden war schlimm genug, aber von der Frau, die sie für ihre Mutter gehalten hatte, langsam vergiftet und in den Wahnsinn getrieben zu werden, war mehr, als man seinem schlimmsten Feind wünschte. Doch Jessie war geflohen und hatte im Verborgenen überlebt. Dann hatte sie Julian kennengelernt, Julian, Lebemann und Frauenkenner par excellence und sich in ihn verliebt. Wie nicht anders von einem verwöhnten, reichen Star zu erwarten, hatte Julian wahre Liebe nicht von Bewunderung oder gar Ausnutzung seines Status unterscheiden können. Er hatte wertvolle Zeit verloren, als er, hin- und hergerissen zwischen Verliebtheit und Misstrauen, Bedenken und Wollen die wahrscheinlich schlechtesten Entscheidungen seines Lebens getroffen hatte. Sein Zögern hätte beinahe Jessies Tod verursacht, ein Umstand, mit dem Julian immer noch schwer zu kämpfen hatte. Jessie hatte ihr Trauma überwunden, sie sah so schön aus wie ein Engel und letztendlich hatte die Liebe gesiegt. Alle alten und neueren Narben mussten eben mit der Zeit heilen.

An diesem besonderen Tag hatten Kims bewährte Schminkkünste an Jessie wahre Wunder gewirkt: Kim, Warrens Ehefrau, war wirklich eine auffallende Erscheinung, auch wenn ihr heutiges Outfit weniger schrill war, als üblich, um der Braut an ihrem großen Tag nicht die Show zu stehlen. Ihr platinblondes Haar, das heute glatt über ihre Schultern bis zu ihren Hüften fiel und das pinkfarbene Plissee-Minikleid ließen sie wie Barbies hübschere Schwester aussehen. Ray konnte sich nicht erinnern, sie jemals ohne perfekte Nägel, makelloses Make-up und mindestens einem Kleidungsstück in Pink gesehen zu haben. Wer sie nicht gut kannte, würde nie die erfolgreiche Geschäftsfrau hinter all dem Pink und Bling-Bling vermuten. Kim hatte ebenfalls Erfahrung, was Misstrauen anrichten konnte. Warren zu erobern war wirklich eine harte Nuss zu knacken gewesen, kein Wunder, nach allem, was ihm seine Ex angetan hatte. Aber an einem Tag wie diesem sollte man die Vergangenheit ruhen lassen. Jessie war eine wunderschöne Braut und ihr Strahlen zeigte, dass sie es wusste. Sie war hier im Garten des Weinguts Maison du Courvelle im Napa Valley von Seymour und Carl zum Altar geführt worden. Julians Familie aus England war in beeindruckender Zahl erschienen, Jessies Familie dagegen bestand aus ihrer Schwester, die ihr sehr ähnlichsah und Seymour und Carl, die allen, die es hören wollten, Jessie als das Kind ihrer Liebe vorstellten. Faye war da und strahlte vor Glück, Chris nicht minder und ihr kleiner Sohn war der süßeste Wonneproppen, den man sich vorstellen konnte. Auch die anderen Bandmitglieder waren mit ihren Familien da und alle waren so unglaublich glücklich, dass er als Freund hochzufrieden sein konnte. Doch jetzt war es genug. Er konnte dieses Übermaß an Glück einfach nicht länger mit ansehen, was das auch immer über seinen Charakter aussagte. Er war geradezu dankbar, dass die Liste der Anrufe und Nachrichten auf seinem Mobiltelefon, in den letzten Stunden ein Ausmaß angenommen hatte, die eine Reaktion von ihm forderte und wenn es nur war, die Liste zu minimieren oder zu löschen. Ein Bonus war, dass er in seinem Auto eine Packung Zigaretten hatte – für Notfälle. Heute war einer. Eine Kippe für die Erkenntnis, dass seine eigene Ehe gescheitert war, würde nichts daran ändern, aber ihm vielleicht die innere Ruhe bescheren, damit ins Reine zu kommen. Die Zeichen waren schon eine ganze Weile dagewesen, aber er hatte es vorgezogen, den Kopf in den Sand zu stecken. Doch heute, inmitten seiner Freunde, die ihr Glück zelebrierten, gab es nichts mehr zu beschönigen. Veronica und er hatten sich nichts mehr zu sagen. Seit Monaten arbeitete er jeden Tag, bis er sich nicht mehr auf den Beinen halten konnte und am liebsten schlief er gleich auf der Couch in seinem Büro. Wenn es sich nicht vermeiden ließ, dass er nach Hause kam, empfing Veronica ihn mit stillem Vorwurf oder gar Tränen oder sie versuchte, ihn zu verführen und er konnte sich nicht entscheiden, was schlimmer war. Veronica hatte sich verändert. Als er sich in sie verliebt hatte, war sie aufgeschlossen und voller Esprit gewesen, sie hatten über Gott und die Welt diskutiert, die gleichen Interessen geteilt und viel miteinander gelacht. Damals - es schien schon so lange her zu sein - hatte sie erfolgreich in der pharmazeutischen Forschung gearbeitet. Sie waren beide sehr eingespannt in ihrer Arbeit gewesen und hatten jede Minute der knapp bemessenen Zeit, die sie miteinander verbringen konnten, genossen. Gemeinsam hatten sie Pläne geschmiedet, ehrgeizige, hochfliegende Pläne, Karriere zu machen, die Welt zum Besseren zu verändern, doch keiner dieser Pläne hatte beinhaltet, dass sie nach der Hochzeit ihr einziges Lebensziel als das der Frau eines erfolgreichen Mediziners definieren würde, die das Leben ihres Mannes plante und steuerte. Er wusste, dass viele seiner Kollegen ihn beneideten. Veronica entstammte einer Ärztedynastie, sie war schön und intelligent, eine perfekte Gastgeberin und brillante Gesprächspartnerin. Sie war morgens beim Kaffeekochen genauso perfekt zurechtgemacht wie spät nachts nach einer rauschenden Party und sie hatte ihren Haushalt so perfekt im Griff, dass er spontan das halbe Kollegium zum Essen mit nach Hause bringen könnte, ohne dass sie ein weniger perfektes Dinner servieren würde, als für sie beide allein. Manchmal hatte er das Gefühl, in Stepford gelandet zu sein. Als er eben gegangen war, hatte sie sich mit zwei von Julians Cousins unterhalten. Auch jetzt, am frühen Abend wirkte sie frisch und kultiviert in ihrem figurbetonten Kleid in blassem Mintgrün und sie strahlte mit jeder Zelle das Selbstbewusstsein der Intellektuellen aus gutem Hause aus, als sie mit den Männern sprach, von denen er mitbekommen hatte, dass der eine Anwalt einer der führenden Banken des europäischen Wirtschaftsraumes war und der andere der Erbe einer Familie, die so alt war wie das britische Empire. Small Talk lag ihr und anders als er fühlte sie sich wohl dabei, mit Fremden über das Wetter, Surfen und die angesagtesten Restaurants zu reden. Als er gegangen war, hatte er ihre Blicke in seinem Rücken gespürt. Kein Zweifel, wenn er nicht innerhalb einer Viertelstunde zurück war, würde sie ihn suchen. Und finden. Sie würde lächeln, sich bei ihm einhaken und ihn mit einem humorigen Tadel zur Gesellschaft zurückführen. Und er würde sie gewähren lassen. Warum? Er war doch sonst nicht so. So angepasst. So fügsam. So leicht zu handhaben. Überall galt er als eigenwillig und zielstrebig mit der Tendenz zu schwierig bis stur und vor allem als jemand, der gegenüber niemandem ein Blatt vor den Mund nahm, doch Veronica verstand es, die richtigen Knöpfe bei ihm zu drücken, um ihn in einen willfährigen Diener ihrer Ambitionen zu verwandeln. Er hatte sogar seinen Job, den er liebte, gekündigt, um in der Klinik ihres Vaters, den er verabscheute, eine speziell für ihn gegründete Abteilung für Unfallchirurgie zu leiten. Wenn er nicht operierte - wenigstens das war ihm noch geblieben - langweilte er sich bei Opern, Politdinners und Spendengalas, gab Interviews und Pressekonferenzen, ließ sich mit Prominenten ablichten und vertrödelte seine Zeit mit jeder Menge Firlefanz, die er besser hätte nutzen können, Menschen, die es wirklich brauchten, zu helfen. Dabei war er einmal angetreten, um allen Menschen zu helfen, auch denen, die es sich sonst nicht leisten konnten. Inzwischen war er nicht mehr er selbst. Wie hatte alles soweit kommen können? Was hatte ihn verändert, was sein glühendes Verliebtsein in stille Abneigung verwandelt? Wann hatte er aufgehört, der Mensch zu sein, der er hatte sein wollen? Der Wissenschaftler in ihm drängte schon lange auf eine Antwort, sichtete Fakten und Daten, verglich, wertete, aber da war etwas in ihm, das ihn beschwichtigte, seinen Drang nach Aufklärung kleinredete und in ein moderates Streben nach verbindlichen Antworten verflachte. Es hatte lange funktioniert. Er hatte die Schuld bei sich gesucht, hatte sich noch mehr bemüht, ihr zu gefallen und sich schuldig gefühlt, wenn sie ihm das Gefühl vermittelt hatte, dass es ihm nicht gelungen war, und Veronica deshalb immer mehr all das gegeben, das sie anscheinend so dringend brauchte. Das musste aufhören. Jetzt! Sofort! Er musste mit ihr reden, ihr klarmachen, dass seine Gefühle für sie sich geändert hatten, ihr sagen, dass er sie nicht mehr liebte. So, jetzt war es heraus. Es war lange her, dass er mit Überzeugung hatte sagen können, dass er sie liebte. Aber wie sagte man der Frau, die man einmal so sehr geliebt hatte, dass von diesen Gefühlen nichts mehr geblieben war? Vielleicht war einer der Gründe, warum er nicht über seine geänderten Gefühle hatte nachdenken wollen, der, dass er keine Ahnung hatte, wie man eine Beziehung beendete. Fakt war, dass er so etwas noch nie getan hatte. Selbstverständlich hatte er schon vor Veronica Beziehungen gehabt, aber die waren allesamt, alle drei, von seiner jeweiligen Freundin beendet worden. Ebenso war Fakt, dass ihn das Ende jedes Mal unvorbereitet und bis ins Mark getroffen hatte. Das wollte er Veronica nicht antun, aber er wusste, dass ihn der Mut verlassen würde, wenn er es hinauszögerte. Sollte er es ihr gleich im Wagen sagen, ganz nach dem Motto „Augen zu und durch“, oder lieber erst während der Fahrt oder kurz vor der Ankunft? Oder wäre es besser, wenn er seine künftige Ex-Frau zum Essen einlud und in einem feinen Restaurant die Bombe platzen ließ? Das wäre die Lösung für Feiglinge. Veronica würde nie und unter keinen Umständen in der Öffentlichkeit eine Szene machen. Aber vielleicht fühlte sie ja so wie er und war froh, wenn er das Thema zur Sprache brachte. Aber nein, gerade heute hatte sie wieder mit verdächtig glänzenden Augen beim Frühstück gesessen und er hatte gewusst, wenn er in den Abfalleimer im Bad sehen würde, fände er einen Schwangerschaftstest mit negativem Ergebnis. Er hatte gewusst, dass sie darauf wartete, in den Arm genommen und nach dem Grund für ihre Tränen gefragt zu werden, aber er hatte den Clown gegeben und versucht, sie aufzuheitern. Was Beziehungen anging schien er ein absoluter Versager zu sein.

„Entschuldigen Sie bitte.“

Er fuhr herum und blinzelte gegen die tiefstehende Sonne. Diese Stimme, voll, tief und mit einem pechschwarzen Timbre! Es war Ewigkeiten her, seit er sie gehört hatte, aber sie schleuderte ihn ins Chaos, wie an dem Tag, als er sie zum ersten Mal gehört hatte.

„Helena?“, fragte er und bemerkte peinlich berührt, wie eifrig seine Stimme klang. Warum eigentlich? Es war Monate her, dass sie gekündigt hatte und er hatte seitdem höchstens ein- oder zweimal an sie gedacht.

Sie lachte. Es war dieses leise, glucksende Lachen tief aus ihrer Kehle, das er so gut kannte und es überraschte ihn nicht, schließlich war das Erstaunen in seiner Stimme nicht zu überhören gewesen. Sie trat einen Schritt beiseite und damit aus dem Gegenlicht und er hatte Mühe, einen überraschten Ausruf zu unterdrücken. Die Frau, die er sah, war nicht die erwartete Brünette, sondern eine kapriziöse Rothaarige mit einem ultraschicken Pixie-Schnitt, dessen fedrige Spitzen ihr herzförmiges Gesicht wie Flammen liebkosten. Dieses exquisite Wesen hatte nichts, aber auch gar nichts mit der Frau gemein, die sein Vorzimmer geführt hatte. Allein das grün-orangefarbene Kleid mit dem Dschungelprint und den sexy fächerförmigen Cutouts an Taille und Schultern hätte seine Ex-Sekretärin als unangemessen abgelehnt. Er blinzelte erneut. Helena Leakey hatte sich nicht nur ein wenig verändert, seit er sie das letzte Mal gesehen hatte. Das war, ja, kurz vor seiner Verlobung gewesen. Damals war ihr dunkles Haar kinnlang gewesen und ihr dichter Pony hatte ihre Augenbrauen verdeckt. Sie war korrekt und adrett gewesen, der Prototyp einer Sekretärin in ihrem klassischen dunklen Kostüm und der blütenweißen Bluse mit passendem Halstuch. Sie hatte es nicht einmal für nötig befunden, ihm ihr Kündigungsschreiben persönlich zu überreichten, was ihm Gelegenheit gegeben hätte, sie zu überzeugen, zu bleiben. Nein, als er aus seinen sehr knapp bemessenen Flitterwochen zurückgekommen war, hatte eine andere Frau in seinem Vorzimmer gesessen. Helenas Kündigung war ein echter Verlust gewesen, für sein Büro und auch für ihn. Er hatte sie vermisst. Das Schicksal schlug früher oder später zurück und in seinem Fall ließ es ihn dafür büßen, wie er Helena anfangs behandelt hatte. Er hatte sie nicht selbst eingestellt, das hatte die Krankenhausverwaltung getan, und als er sie an ihrem ersten Arbeitstag an ihrem Schreibtisch gesehen hatte, hatte er sie aus tiefster Seele abgelehnt. Damals war es ihm nicht klar gewesen, inzwischen hatte er eingesehen, dass ihre Perfektion ihm eine Heidenangst eingejagt hatte. Sie war alles, was er nicht war, organisiert, weltgewandt, kühl und überlegen und mit ihrem ersten Blick auf ihn hatte er sich gefühlt wie der ungelenke Nerd, der er zeitlebens gewesen war. Er hatte sie vom ersten Tag an schikaniert, darauf hingearbeitet, dass sie kündigte, aber als er letztendlich damit Erfolg gehabt hatte, war es ein schaler Sieg gewesen. Dabei hatte sich zwischenzeitlich doch alles so gut gefügt. Eines Tages war Chris Delaire in seinem Sprechzimmer aufgetaucht und hatte um Hilfe für seine Hand gebeten, die durch einen Motorradunfall schwer verletzt worden war. Chris war seinerzeit genauso unwillig gewesen, sein Leben von einer starken Frau organisiert zu bekommen, wie er es war, sein gesamtes Leben an seine Sekretärin abzutreten und wie bei ihm hatte auch Chris mit seinem Widerstand wenig Erfolg gehabt. Aber Chris war Faye verfallen und nichts, was sie jemals anstellen konnte, würde daran etwas ändern. Er dagegen hatte härter denn je daran gearbeitet, Helenas Leben zur Hölle zu machen. Es war ihm gelungen. Es war ihm letztendlich auch gelungen, Chris‘ Hand und damit dessen Karriere zu retten. Chris‘ Dank war eine Einladung für ihn, Faye und Helena zu einer Spendengala gewesen, anlässlich der er sein Comeback mit seiner Band Hadessphere begehen wollte. Dieser Abend hatte alles verändert. Helena privat und ohne den Druck der gegenseitigen schlechten Erwartungen zu erleben war eine Offenbarung gewesen und hatte der gegenseitigen Beziehung gutgetan. Alles war besser gewesen, lockerer, fast freundschaftlich und er hatte begonnen, sich darauf zu verlassen, dass es so blieb. Doch er hatte sich geirrt. Helena war so plötzlich aus seinem Leben verschwunden, wie sie darin aufgetaucht war. Nie zuvor hatte es jemand verstanden, mit seiner Verbissenheit zur Perfektion und Detailbesessenheit so umzugehen. Mit ihr hatte er das Gefühl gehabt, dass er vielleicht schräg, eigenartig, nervig, aber doch so im Bereich des Normalen lag, dass das Leben mit ihm anstrengend, aber durchaus erträglich war. Das jedoch hatte er erst zu schätzen gewusst, als er wieder allein auf sich gestellt gewesen war. Vielleicht war es diese neue Lockerheit gewesen, die ihn hatte selbstsicherer, als er es gewohnt war, auf Veronica reagieren lassen. Daraus hatte sich mehr entwickelt, was schließlich dazu geführt hatte, dass er Veronica gefragt hatte, ob sie ihn heiraten wollte. Dass es ein Fehler gewesen war, konnte er Helena nicht anlasten, aber letztendlich hatte sie ihn aus seinem selbst gewählten Schneckenhaus geholt und alles ausgelöst - und jetzt stand sie vor ihm.

„Lassen Sie mich vorbei oder soll ich Ihnen meine Einladung zeigen?“

Er schreckte auf. „Oh, Entschuldigen Sie, Helena, ich war ganz in Gedanken. Ein schwieriger Fall, der mich nicht loslässt.“

Er trat beiseite und ließ sie und ihren Begleiter passieren. Helena schenkte ihm ein höfliches Lächeln im Vorbeigehen, ihr Begleiter musterte ihn von Kopf bis Fuß und nickte ihm dann kühl zu. Ray schätzte ihn auf Anfang Vierzig, der Hauch von Grau in seinem dichten dunkelblonden Haar und die ausgeprägten Krähenfüße in seinen Augenwinkeln sprachen dafür, obwohl seine schlanke Figur und sein dynamischer Gang ihn jünger wirken ließen. Der Mann trug einen Anzug in einem matten Blauton, der seiner gebräunten Haut schmeichelte. Veronica hätte ihm auf Anhieb den genauen Farbton und den Schöpfer des Kunstwerks nennen können und auch, wer der Designer der glänzend schwarzen Schuhe des Unbekannten war, denen sogar er, der keine Ahnung von Mode hatte, ansah, dass sie exquisite Einzelanfertigungen waren.

Er nickte ebenfalls höflich, als beide an ihm vorbei die Halle betraten.

„Wer war das?“, hörte er den Mann fragen.

„Niemand Wichtiges“, antwortete sie leichthin. „Ich habe nur vor einiger Zeit für ihn gearbeitet.“

Die Tür fiel ins Schloss. Ray Conelly starrte auf die Tür. Die Lust auf eine Zigarette war ihm vergangen. Er kannte das Gefühl, stehen gelassen zu werden nur zu gut und für einen Moment fühlte er wieder diese entsetzliche Lähmung, die er als Schüler oft genug erlebt hatte, das Gefühl, wertlos zu sein und das Wissen, niemandem davon erzählen zu können, aber er riss sich zusammen. Er war nicht länger allein. Er hatte Freunde, wirkliche Freunde, die zu ihm halten würden, egal was passierte, und er hatte einen Beruf, den er liebte und er hatte mehr als einmal bewiesen, dass er gut, nein, brillant darin war. Ein gutes Leben, ein erfolgreiches. Er war stolz darauf. Langsam war es an der Zeit, zu entscheiden, was er mit diesem Leben anfangen wollte. Es war noch nicht allzu lange her, dass er sich sicher gewesen war, seinen Weg gefunden zu haben, aber seit ein paar Minuten war er sich dessen nicht mehr sicher. Nein, das war so nicht richtig. Er war sich sicher, dass er nicht mehr so weitermachen wollte. Er wollte, nein brauchte, einen neuen Anfang.

Ray straffte sich und streckte die Hand nach dem Türgriff aus. Ein neuer Anfang wäre ein Schritt in eine ungewisse Zukunft. Dass es mit Veronica reibungslos vonstattengehen würde, war reines Wunschdenken, aber eine Trennung würde auch sein Berufsleben in Mitleidenschaft ziehen, da er in der Klinik seines Schwiegervaters angestellt war. Und was würde aus Veronica? Konnte er ihr das antun? Noch konnte er sich umentscheiden, sein Leben weiterleben, wie es war, doch dann riss er sich zusammen. Wenn er es nicht sofort tat, würde er es wieder vor sich herschieben und wie alles, dem er aus dem Weg ging, bereuen. Er mochte eine Koryphäe im Bereich Knochen Muskeln, Sehnen und Nerven sein, aber wenn es zu persönlichen Beziehungen kam, war er eine absolute Niete. Es war ein Wunder, dass er es zu einer Beziehung geschafft hatte, geschweige denn, zu einer Ehe, aber wie es aussah, hatte er keine Ahnung, wie man eine Beziehung und noch mehr, eine Ehe, am Laufen hielt. Lag es an ihm? Die Wahrscheinlichkeit war groß. Wenn er etwas durch sein Mikroskop betrachtete, konnte er Literatur, wissenschaftliche Arbeiten und seinen eigenen Erfahrungen zurate ziehen. Das hatte er gelernt, das beherrschte er, aber die komplizierten Schattierungen zwischenmenschlicher Beziehungen waren ihm schon immer ein Rätsel gewesen. Er verstand sie einfach nicht. Jemand berührte ihn an der Schulter. Er sah auf. Ein Mann, älter und größer als er, mit tief gebräunter Haut und raspelkurz geschorenem, weißem Haar sagte schmunzelnd: „Einfach nach unten drücken, Sohn, dann schaffst du es. Vertrau‘ mir.“

Ray fühlte Hitze in seine Wangen steigen Er drückte die Klinke nach unten, öffnete die Tür und ließ den späten Gast an sich vorbei eintreten. Ein, zwei tiefe Atemzüge, dann fühlte er sich bereit und folgte ihm. Ihre Schritte hallten wie Schüsse auf den glänzenden Fliesen der Eingangshalle, aber er hatte kein Ohr dafür. Er konzentrierte sich auf das helle Rechteck der Tür zum Garten, in dem der Gast vor ihm ein dunkler Schattenriss war, bevor ihn das Licht aufsaugte. Ray folgte ihm in den Garten. Sanftes Sommerlicht, der süße Duft von Rosen und Lavendel und das Zwitschern unendlich vieler Stimmen trafen seine Sinne wie eine warme Wolke und hüllten ihn ein. Er blinzelte, um seine Augen an die plötzliche Helligkeit zu gewöhnen, dann sah er sich um. Veronica war nicht mehr dort, wo er sie verlassen hatte, sondern inmitten einer Gruppe von Frauen, die um einen spindelbeinigen Gartentisch aus brüniertem Metall und Glas gruppiert waren, auf dem Champagnerflöten und Cocktailgläser standen. Fayes roter Schopf leuchtete aus ihrer Mitte heraus. Er schmunzelte. Faye mit ihren feuerroten Locken war noch nie eine unauffällige Erscheinung gewesen, auch wenn sie sich lange mit aller Macht bemüht hatte, genau das zu sein, aber jetzt strahlte sie wie der Star, der sie war. Sie vibrierte geradezu vor Lebensfreude und ihr mondänes, sonnengelbes Nichts von Kleidchen, das sie früher unter keinen Umständen auch nur anprobiert hätte, war ein deutlicher Ausdruck dafür.

Jetzt galt es. Er steuerte auf die Gruppe zu. Veronica sah auf und lächelte ihm zu, doch gleich darauf glitt ihr Blick an ihm vorbei. Ihr Lächeln fror ein. Er sah über seine Schulter und sah …nichts. Nichts Besonderes jedenfalls, nur Julian und Jessie im Kreis von Freunden und Gratulanten, ein Anblick an den sich Veronica im Laufe des Tages hätte gewöhnt haben müssen. Doch dann sah sie ihn wieder an und kam auf ihn zu. Jetzt war ihr Lächeln reell und strahlend und er erwiderte es instinktiv.

Veronica legte ihre Arme um seinen Nacken und schmiegte sich an ihn. Ganz automatisch legten sich seine Hände auf ihre Taille, als sie ihre Hände um seinen Hinterkopf legte und ihn in einen glühenden Kuss zog. Da sie hochgewachsen war und an diesem Tag Schuhe mit unglaublich hohen Absätzen trug, gelang ihr das, ohne dass sie seinen Kopf nach unten ziehen oder sich auf die Zehenspitzen stellen musste.

„Lass uns hier verschwinden“, raunte sie in sein Ohr, „es gibt da etwas, dass ich dir schon den ganzen Tag sagen muss.“

„Wirklich? Dann sag es mir doch gleich.“

Sie legte den Kopf in den Nacken und lachte hell auf, doch in seinen Ohren klang es nervös. Er war jetzt lange genug mit ihr zusammen, um die Zwischentöne in ihrer Beziehung, wenn schon nicht benennen, so doch erahnen zu können. Sie war aufgeregt, irritiert. Er hielt sie ein Stück von sich ab, um in ihrem Gesicht lesen zu können. Bei ihr gab es immer eine Wahrheit hinter der Wahrheit und es war immer ein hartes Stück Arbeit, herauszufinden, was von ihm erwartet war.

„Was ist los?“, fragte er.

Gestern noch oder sogar noch heute Morgen hätte er sie Liebling genannt, aber jetzt schaffte diese Liebkosung es nicht über seine Lippen. Sie fühlte sich gut an in seinen Armen und sie war wirklich eine göttliche Erscheinung. Mit ihrem glänzenden schwarzen Haar und dem durchscheinend blassen Teint, den Maßen eines Models und der Stilsicherheit einer Prinzessin erntete sie bewundernde Blicke, wo immer sie sich befand. Dazu verstand sie es, ihre ätherische, elegante Kultiviertheit mit der Souveränität einer modernen Karrierefrau zu kombinieren und in beiden Welten, der der Reichen und Schönen und der der Wissenschaft, zu glänzen. Er war so stolz gewesen, die für sich gewonnen zu haben, stolz, dass sie ihn als ihren Partner, ihren Mann und Vater ihrer künftigen Kinder ausgewählt hatte. Inzwischen war er immer noch stolz, aber etwas in ihm lehnte sich von Tag zu Tag mehr auf. Er hatte keine Lust mehr auf Stepford.

„Etwas ganz Besonderes, Liebling“, raunte sie in sein Ohr. „Etwas, das unser Leben in eine neue Dimension katapultiert! Lass‘ uns ganz schnell verschwinden und ich verrate es dir.“

Ihre Wangen glühten vor Eifer, ihre Erwartung vibrierte geradezu unter ihrer Haut und er fragte sich, was in den wenigen Minuten, in denen er nicht an ihrer Seite gewesen war, mit ihr geschehen war. Diese übersteigerte Lebendigkeit war so weit entfernt von ihrer sonstigen Contenance wie Kohleguben vom Sonnenschein und es beunruhigte ihn zutiefst. Es musste einen Grund, einen Auslöser dafür gegeben haben, aber ihm wollte um nichts in der Welt einfallen, was. Aber verschwinden war genau das, was er im Sinn gehabt hatte und er war erleichtert, dass es so leicht zu bewerkstelligen war.

„Warum nicht?“, sagte er. Er nahm ihre Hand und legte sie in seine Armbeuge, so, wie er es bestimmt hunderte Male getan hatte. „Wir verabschieden uns schnell. Jessie und Dandy kommen sicherlich auch ohne uns durch den restlichen Tag.“

Sie blieb stehen und stoppte damit auch ihn. „Das ist nicht nötig. Ich sagte, dass du einen dringenden Termin hast und wir deshalb schnell weg müssen.“ Sie zwinkerte ihm verschwörerisch zu.

Er schob sie ein Stück von sich ab. „Das hast du nicht getan!“

Sie lachte. „Ich habe es getan. Ich habe sogar noch mehr getan: Ich habe allen gesagt, dass wir schon länger einen Urlaub geplant haben. In Europa. Und dass wir morgen fliegen.“

„Morgen?“ Er lachte ungläubig auf. „Was denkst du dir? Du von allen Menschen auf der Welt müsstest wissen, dass es Einsatzpläne gibt und dass nicht einmal ich sie umstoßen kann. Himmel, es gäbe ein riesige Chaos.“

Sie antwortete mit einer wegwerfenden Geste. „Wer, wenn nicht du kann sie umwerfen? Du bist der Star, du bist der Grund für den ausgezeichneten Ruf der Abteilung, wenn du etwas willst, geschieht es auch.“

Ihre Argumentation war akkurat, so, wie sie es immer waren. Er lächelte und tätschelte beruhigend ihre Hand. „Vielleicht hast du recht. Ich werde mir meinen Operationsplan erst einmal gründlich ansehen, dann die dringendsten Fälle abarbeiten und dann mit Cranston und Franders einen Vertretungsplan ausarbeiten. Es wird ein, zwei Wochen brauchen, dann sehen wir weiter.“

„Jetzt“ ;sagte sie und da war etwas stählernes in ihrer Stimme.

„Lass uns gehen und wir reden im Wagen“, sagte er versöhnlich.

„Wartet!“

Er kannte die Sstimme und wandte sich erfreut um. Faye rannte über den gepflasterten Hof auf ihn, auf sie zu. Ihr leichtes Kleidchen flatterte im Wind und sie trug keine Schuhe. Er schmunzelte. Chris‘ Gewohnheit, bei jeder sich bietenden Gelegenheit barfuß zu gehen, schien auf sie abgefärbt zu haben. Vielleicht hatten sie ihre Sandaletten aber einfach nur gedrückt. Er würde nie verstehen können, was Frauen dazu bewegte, ihre Füße in diese Marterwerkzeuge zu zwängen.

Faye erreichte sie, ein breites Lächeln auf ihren Lippen. „Du wolltest wirklich abhauen, ohne dich von mir zu verabschieden?“ Sie legte einen Finger auf seine Lippen, als er zu einer Entschuldigung ansetzte. „Ich weiß doch: dringende Fälle. Trotzdem: Ich wollte du“, sie warf einen lächelnden Seitenblick auf Veronica, „ihr“, betonte sei, „könntet noch ein bisschen bleiben. Ich habe so tolle Neuigkeiten und hatte auf ein paar ruhige Minuten mit dir gehofft. Aber dann muss es eben so gehen.“

Sie holte tief Luft und platzte heraus: „Wir“, sie grinste breit, „das heißt, die Band, gründen eine Stiftung und wir hätten dich gern dabei. Wir würden gern mit dir darüber reden. Eigentlich ist es ein Angebot, das du unmöglich ablehnen kannst.“ Ihr aufgeregtes Strahlen erlosch, als sie einen Blick auf Veronica warf. Sie räusperte sich und fuhr nüchtern fort: „Wenn das hier“, sie wies mit einer nachlässigen Geste hinter sich auf das Fest, „vorbei ist und du Zeit hast, ruf‘ mich an.“

Das klang interessant. Alles, was die Band betraf war aufregend. Er hätte gerne mehr gewusst, aber der Druck an seinem Arm, an dem Veronica sich festhielt, als müsse sie ansonsten ertrinken, nahm eindeutig zu und zog ihn in Richtung Ausgang. Was auch immer Veronica von der Partylöwin zum flüchtenden Reh gemacht hatte, wusste er nicht, aber dass sie Fluchtgedanken hegte, konnte er nicht übersehen.

„Klingt interessant“, antwortete er. Er zwängte seinen Arm aus Veronicas Umklammerung und umarmte Faye. „Ich lass‘ euch das Wochenende zum Feiern und ruf‘ dich nächste Woche an.“

Sie lächelte das breite, aufgeräumte Lächeln, von dem sie wusste, dass es ihn glücklich machte. „Mach’s gut.“

„Veronica.“ Faye beugte sich zu Veronica, legte ihre Hände auf ihre Schultern und legte ihre Wange kurz an Veronicas. „Bis bald.“

Dann wandte sie sich um und ging zu den Feiernden zurück ohne eine Entgegnung abzuwarten. Vielleicht hatte sie gewusst, dass Veronica nur ein vages Lächeln für sie gehabt hatte. Er jedoch sah es, es war, als ob Veronica Faye einfach abtat und es störte ihn. Es regte ihn auf. Über alle Maßen! Faye, seine über alles geliebte kleine Schwester war das liebenswerteste Geschöpf auf der Erde und sie hatte Victoria begeistert in der Familie willkommen geheißen und sie hatte sogar auf ihrer Trauung das Ave Maria gesungen. Veronica schien anfangs genauso angetan von ihr, wie es umgekehrt gewesen war. Wann, um alles in der Welt, hatte sich alles geändert? Er wusste, dass zwischenmenschliche Beziehungen für ihn immer ein Mysterium gewesen waren. Röntgenbilder, Blutwerte, Knochenscans, das war seine Welt, die konnte er lesen, auswerten, verstehen, aber Mimik und Gestik zu interpretieren würde er nie lernen.

Er führte Veronica, die sich immer noch an ihn klammerte, als sei er die Rettungsleine, die sie vor dem Ertrinken bewahrte, zu ihrem Auto, einem silbernen

Lincoln Continental. Er öffnete die Beifahrertür und hielt ihre Hand, bis sie sich gesetzt hatte. Sie lächelte ihn strahlend an und er schloss die Tür. Waren das Tränen, die Augen hatten schimmern lassen? Was, zur Hölle, war jetzt schon wieder los? Er befand sich in einem Dilemma. Sollte er gleich mit seiner Neuigkeit herausplatzen oder sollte er ihr doch Gelegenheit geben, zuerst loszuwerden, was sie anscheinend so beschäftigte? Was war das für eine bescheuerte Idee mit diesem überstürzten Urlaub? Er verstand gar nichts mehr.

Er öffnete die Fahrertür und stieg in den Wagen. Veronicas strahlendes Lächeln begrüßte und irritierte ihn. Bevor er etwas sagen konnte, noch bevor er die Tür hinter sich schließen konnte, platzte sie heraus: „Ich bin schwanger.“

Kapitel 2

„Schwanger?“

Ray war dankbar, dass er bereits saß, als sie die Bombe platzen ließ. Eine Sekunde früher und seine Knie hätten nachgegeben wie gekochte Spaghetti.

Sein Körper hatte spontan reagiert und ihn ausgeschaltet, während sein Gehirn versuchte, den Begriff „schwanger“ einzuordnen und emotional zu verknüpfen. Es dauerte gefühlte Ewigkeiten, in denen er sich wie gelähmt vorkam, bis er wieder ein Wort herausbekam.

„Aber ich dachte…“, stammelte er. „Heute Morgen… ich dachte…“

In seinen Ohren klingelte es. Er schüttelte den Kopf, um den Druck loszuwerden und langsam, langsam wurde alles klarer: Ein Kind! Stolz breitete sich in seiner Brust aus wie ein rasendes Feuer. Sein Kind! Er hatte immer Kinder gewollt und Veronica war geradezu verzweifelt bereit gewesen, sie ihm zu schenken. Und jetzt erfüllte sich ihrer beider Wunsch. Doch dann wurde ihm eiskalt. Was auch immer er an diesem Nachmittag geplant hatte, wurde in diesem Moment endgültig aus der Welt gekickt. Seine Ehe, die er eben noch hatte aufgeben wollen, würde, nein, musste bestehen bleiben. Kinder hatten ein Recht darauf, in einer intakten Familie aufzuwachsen und er würde alles dafür tun, dass sein Kind alle Liebe erfuhr, die er zu geben imstande war. In seiner von der guten Ehe seiner Eltern geprägten Vorstellung waren Kinder und „Glücklich bis ans Lebensende“ unwiderruflich miteinander verknüpft. Seine Eltern hatten ihm eine glückliche und von gegenseitiger Achtung und Zuneigung geprägte Ehe vorgelebt und seine Großeltern mütterlicherseits waren sechzig Jahre glücklich miteinander verheiratet gewesen und er erinnerte sich, dass sie bis zum Tod seines Großvaters immer Hand in Hand gegangen waren. Was bedeutete das für ihn? Hatten sie auch Zweifel gehabt, Zeiten, in denen sie nicht miteinander, sondern nebeneinanderher gelebt hatten? Waren ihre Kinder der Kitt gewesen, der ihre Ehe in einer Krise zusammengehalten hatte? Auch wenn die Chancen dafür fünfzig zu fünfzig oder schlechter standen: Es musste Hoffnung für Veronica und ihn geben!

„Bis du sicher?“, fragte er. „Seit wann weißt du es?“

Sie nahm seine Hand und legte sie auf ihren Bauch. Er war flach und fest, aber er ertappte sich dabei, dass er auf eine Bewegung, ein Zittern, irgendein Zeichen wartete, dass sein Sohn oder seine Tochter Wirklichkeit waren. ‚Unsinn‘, schalt er sich. ‚Du bist hysterisch.‘

„Ich bin sicher“, sagte sie in seine Gedanken hinein. „Meine Gynäkologin hat es mir gestern bestätigt. „Ich wollte es dir beim Abendessen sagen, aber …“, sie hob beide Schulten und sah ihn nur an. Sofort fühlte er sich schuldig. Nach einem langen, anstrengenden Tag war er mit seinen Kollegen noch in einer Bar gewesen und danach, ja, danach hatte er keine Lust gehabt, nach Hause zu gehen und den angenehmen Abend mit sinnlosen Diskussionen um das woher und warum zu zerstören. Er war in die Klinik zurückgegangen und hatte Akten studiert, bis er an seinem Schreibtisch eingeschlafen war.

„Es tut mir leid“, murmelte er. Ihr Bauch war flach und straff wie immer. Selbstverständlich war es so. Man würde noch drei Monate nichts von ihrer Schwangerschaft sehen und dann nicht viel. Er tätschelte ihren Bauch und nahm sie in den Arm. Sie seufzte leise und legte ihren Kopf an seine Schulter.

„Ich hatte schon das Gefühl, dass du dich nicht freust“, murmelte sie. „Verzeih mir, dass ich das gedacht habe.“

„Selbstverständlich freue ich mich“, sagte er. „Das sind unglaubliche Neuigkeiten. Deswegen der Urlaub?“

Sie nickte. „Ich wollte sicher gehen, dass nichts und niemand mir die Freude verdirbt, es dir zu sagen. Aber jetzt“, sie hob den Kopf und strahlte ihn an, „ist die Neuigkeit heraus. Wir fahren selbstverständlich immer noch in den Urlaub. Ie Karibik wäre schon, meinst du nicht auch? Oder Paris? Wir hatten ja nur einen kurzen Aufenthalt bei unserer Hochzeitsreise, aber ich liebe diese Stadt, und es wäre absolut sicher, falls es mit dem Baby“, sie streichelte ihren Bauch, „Schwierigkeiten geben sollte. Sie haben gute Ärzte und Kliniken. Ich rechne nicht damit, du weißt, ich bin so gesund wie ein Pferd, aber ich will da nichts riskieren. Und die romantischen Abende, die wir dort haben würden … Ja, ich denke, es wird Paris.“

Wieder dieses zu strahlende Lächeln und sie plapperte. Ray beschlich das ungute Gefühl, dass sie zu erregt war, um lediglich überglücklich zu sein.

Er tätschelte ihre Hand, die immer noch auf ihrem Bauch lag und sagte so beruhigend wie er es vermochte: „Wenn ich das gewusst hätte, wären wir nicht hergekommen. Es ist einfach zu viel Trubel. Ich weiß, dass du gesund bist, aber die erste Phase einer Schwangerschaft ist immer gefährlich. Aber wem sage ich das. Du weißt es so gut wie ich. Besser wahrscheinlich. Wir fahren heim und dann reden wir. Auch über den Urlaub.“

Der nicht stattfinden würde. Jedenfalls nicht so, wie sie es sich vorstellte. Nie im Leben würde er seiner schwangeren Frau erlauben, ein Flugzeug zu betreten, noch dazu zu einem Interkontinentalflug. Vielleicht würde er sie mit einem Luxusressort in Aspen zufriedenstellen können. Geld war nicht das Problem, er hatte mehr davon, als er je angestrebt hatte. Ja, Aspen war eine gute Wahl. Etwas verwundert stellte er fest, dass er sich mit der Tatsache, dass seine Ehe weiterbestehen würde, arrangiert hatte. Ja, für sein Kind würde er alles tun, um sicherzustellen, dass es ihm – oder ihr – so gut ging, wie es ihm nur möglich war.

„Schnall dich bitte an“, sagte er und legte selbst den Gurt an. Veronica schüttelte den Kopf.

„Das ist mir zu gefährlich für das Baby“, sagte sie. Sie zog den Gurt heraus und schloss ihn hinter ihrem Rücken. Dann ließ sie sich mit einem erleichterten Seufzer wieder in ihren Sitz sinken. „Das habe ich in einem Krimi gesehen“, erklärte sie. „Cops machen das, damit sie schnell aus dem Wagen sind und bei Gefahr eingreifen können.

‚Du bist aber kein Cop‘, lag ihm auf den Lippen und dass sie gerade einmal schwanger war und deswegen ein Unfall einen nichtexistenten Bauch auch nicht gefährden sollte, aber er kannte den störrischen Zug um ihren Mund und wusste, dass jeder Einspruch zwar möglich, aber sinnlos war.

 

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Tag der Veröffentlichung: 19.10.2018

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