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Kapitel 1

Habe ich zu wenig gesagt – oder zu viel? Wie hat Tante Anna das ausgehalten? Dieses ewige schlechte Gefühl, das, ja, schlechte Gewissen, wenn du etwas verschwiegen hast, das nagende Gefühl, zu wenig gesagt zu haben, um jemanden zu warnen, aufzurütteln, vielleicht gar zu retten. Wie hat sie gewusst, was und wieviel sie von dem verraten konnte, was sie gesehen hat? Oder was hätte sie gesagt, wenn sie nichts gesehen hätte, gar nichts? Ich war müde, frustriert und meine Gedanken schwammen. Ich würde es später noch einmal versuchen.

Ich atmete tief durch den Mund ein und ließ den Atem langsam durch die Nase entweichen, dann schob ich langsam und methodisch den Stapel Karten, der vor mir auf dem Tisch lag, zu einem ordentlichen Stapel zusammen. Ich hatte das schon hunderte, wenn nicht tausende von Malen gemacht: zuerst die Karten gestapelt und sie dann in Seide geschlagen und in ihren jeweiligen Kästchen verstaut. Das immer gleiche Ritual vermochte es auch jetzt, mich zu beruhigen. Ich strich das das weiße Seidentuch vor mich auf den Tisch, glättete es und legte den ordentlichen Kartenstapel darauf, dann schlug ich die mir zugewandte Seite der Seide darüber, dann die mir entgegengesetzte, schließlich die beiden anderen Seiten und legte dann das Seidenpäckchen in die Schatulle, die geschlossene Seidenfront nach oben. So hatte Tante Anna es praktiziert und mich immer und immer korrigiert, bis mir jede Bewegung in Fleisch und Blut übergegangen war. Ich hatte ihre Art übernommen, ohne zu hinterfragen, warum sie darauf als die einzig richtige bestanden hatte, und seit ihrem Tod war das Ritual eine Art Erinnerungshandlung für mich. Ich fühlte mich geborgener, wenn ich es so und nicht anders tat. Sorgfalt war gut. Routine war gut. Etwas tun, was ganz sicher zu nichts Schlechtem führte, war gut.

Die Schatulle schloss mit einem scharfen Klick, der Bronzeschnapper fiel ganz von allein ins Schloss. Fertig. Geschafft - für dieses Mal. Aber was würde morgen sein? Warum tat ich mir das an?

Ich seufzte, diese Frage hatte ich mir schon so oft gestellt und war ihr dann immer wieder ausgewichen, so wie jetzt auch. Ich ging in die Küche, um mir mein Mittagessen aufzuwärmen, aber mein Appetit war tot.

Während ich lustlos in meinen Spaghetti Bolognese herumstocherte ging mir meine letzte Besucherin nicht aus dem Sinn.

Sie hieß Mirja und heute war ihr Geburtstag. Sie war zwanzig Jahre alt geworden und sie war krank vor Sorge. Ihr Freund war verschwunden. So weit war alles völlig normal, Menschen gingen nun einmal, ohne andere zu informieren und viele davon ohne ein Wort und ohne Gepäck, so wie ihr Freund Etienne. Eigentlich war es nur ein weiterer Fall von Ich-geh-nur-mal-kurz-Zigaretten-holen, aber sie hatte darauf bestanden, dass sie es fühlte, dass ihm etwas passiert war. Die Polizei hatte ihr nicht helfen können, die Beamten hatten eine Vermisstenanzeige aufgenommen und ihr ansonsten wenig Hoffnung gemacht, ein Privatdetektiv hatte auch keine Spur gefunden, aber eine horrende Rechnung gestellt und nicht eine der nationalen und internationalen Ich-suche-jemanden-Websites hatte auch nur einen einzigen Hinweis gebracht. Sie hatte bereits aufgegeben, als sie das Gefühl gehabt hatte, beobachtet zu werden und es hatte nur dieses Gefühls bedurft um sie wie einen Bluthund wieder auf die inzwischen kalte Fährte zu setzten. Ich war, wie sie am Telefon gesagt hatte, ihre letzte Hoffnung. Großartig, wieder eine. Wie die meisten Leute, die bei mir anrufen, war sie erst bei mir gelandet, nachdem sie das bei den offiziellen Stellen keinen Erfolg gehabt hatten, danach hatten sie die Wahl im Branchenbuch von AAAstro bis Z³-Zukunft und wenn sich jemand, von welchen Ende auch immer, bis K, wie Kellen, durchgearbeitet hatte, war er meist nicht weit von einem hysterischen Anfall entfernt. Als Mirja bei mir angerufen hatte, war sie übernervös, unklar in ihren Aussagen und so verunsichert, dass sie besser einen Psychologen angerufen hätte, als eine zwanzigjährige Kartenlegerin mit einem abgebrochenen Jurastudium, die mehr Schulden hatte, als Haare auf dem Kopf. Wenn jemand so sehr von mir abhängt, dass alles, was ich sage und tue, sein Leben verändert – zum Guten oder zum Schlechten – ist es, als ob ich sprichwörtlich eine entsicherte Handgranate in der Hand halte und das einzige, was ich entscheiden kann, ist, wohin ich sie werfe.

Ich habe schon nach vermissten Personen gesucht, öfter mit Erfolg, als ohne. Vielleicht war Glück dabei, denn ich finde es ohne den Kontakt zu demjenigen, für den die Lesung sein soll, ausgesprochen schwierig, deutlich zu sehen, aber eine verzweifelte Mutter, die ihr Kind sucht, ist ungeheuer motivierend. Mirja Holzmann war ebenfalls sehr motivierend und wir arbeiteten eine angestrengte Stunde zusammen. Ich versuchte wirklich alles, aber ich kam immer wieder zum gleichen Ergebnis: Etienne Schorn war tot – und nicht nur das, es war, als ob er vom Angesicht der Erde gelöscht worden war. Ich habe so etwas noch nie gesehen, aber wie oft ich die Karten auch neu auslegte, in welchem Muster ich es auch tat, ich kam immer zum gleichen Ergebnis. Meine Handgranate war ein Blindgänger.

Nein, ich habe es ihr nicht gesagt. Ich hätte nicht einmal gewusst, wie ich es hätte formulieren können. Ich sagte ihr, dass die Bilder zu diesem Zeitpunkt unklar seien und wir es später noch einmal versuchen sollten – unentgeltlich selbstverständlich. Sie wollte morgen früh wiederkommen und ich hoffte, dass ich bis dahin herausgefunden hatte, was schiefgelaufen war.

Mein Handy spielte „When the last drop falls“, mein Lieblingslied. Ein geschäftlicher Anruf; hoffentlich jemand, der einfach nur einen ungefähren Blick in seine, hoffentlich glückliche, Zukunft werfen will, einer, der die Karten sorgfältig abhebt und nicht zu viel nervöse Energie versprüht.

„Kellen“, meldete ich mich.

„Hier ist Arnold Kross. Spreche ich mit Frau Anna Kellen?“

Tiefe Stimme, kein Akzent, ruhiges Sprechtempo, keine Panik. Ich stellte mir einen Geschäftsmann Anfang fünfzig vor. Es könnte ein angenehmer Termin werden.

„Das tun Sie. Womit kann ich Ihnen helfen?“

„Ich hätte gerne noch heute einen Termin. Mein Anliegen ist dringend.“

War es das nicht immer?

„Wenn Sie mir etwas über ihr Problem erzählen, kann ich abschätzen, wieviel Zeit wir für Ihre Lesung benötigen, Herr Kross. Dann kann ich Ihnen sagen, wann ich Sie unterbringen kann.“

Gut, es war nicht so, dass mir die Klienten die Tür einrannten, eigentlich war es so, dass ich die Klienten der letzten drei Monate an einer Hand abzählen konnte, aber es gab keinen Grund, das in die Welt hinauszuposaunen.

„Ich brauche nicht viel Zeit, ungefähr fünf Minuten. Es geht mir um die Meinung einer Expertin über ein spezielles Set von Tarot-Karten. Ich habe mich informiert: Sie sind eine der wenigen Kartenleserinnen, die auch die Karten ihrer Kunden für eine Lesung akzeptiert.“

Nun, es wäre zu schön gewesen. „Wenn Sie eine Expertise haben wollen, bin ich nicht die Richtige für Sie“, unterbrach ich ihn. „Ich lese aus Karten, aber ich bewerte sie nicht.“

„Bitte!“

Seine Stimme bekam das, was ich ein nervöses Timbre nenne.

„Es ist wirklich dringend. Ich bin nur heute in der Stadt und gerade jetzt in der Nähe ihrer, äh, Liegenschaft, und ich könnte sofort bei Ihnen vorbeikommen. Ich zahle, was immer Sie berechnen.“

Was konnte ich da noch sagen; er hatte das einzige Argument gebracht, das über meinen Wunsch siegte, Feierabend zu machen und so lange durch den Wald zu rennen, bis mir der Wind Mirja aus dem Kopf geblasen hatte. Ein Haus zu unterhalten bedeutete einen unendlichen Fluss von Rechnungen, Reparaturen und unangenehmen Überraschungen.

„In Ordnung. Ich habe zwanzig Minuten für Sie. Kommen Sie vorbei.“

Es dauerte keine fünf Minuten, bis die Türglocke schrillte. Wie es aussah, hatte er an der nächsten Ecke gewartet, als er mich angerufen hatte. Anscheinend war ihm sein Kartenset wirklich wichtig. Meine Neugier war geweckt. Welche Art von Karten schleppte man mit in eine andere Stadt, nur um sie einer unbekannten Kartenlegerin zu zeigen? Seltsam.

Ich ging die wenigen Schritte durch den Vorgarten zur Gartentür und schloss auf. Es gab einen elektrischen Öffnungsmechanismus, aber der war schon seit Monaten defekt und ich hatte einfach nicht das Geld, ihn reparieren zu lassen.

Auf der anderen Seite der Gartentür stand ein Mann Anfang fünfzig, soweit hatte ich richtig gelegen, doch das war auch alles. Er war grau - alles an ihm - von seinem unauffälligen mausgrauen Anzug über sein kurz gehaltenes Pfeffer-und-Salz-Haar bis zu seiner Haut und seinen Augen, die irgendwie ausgewaschen wirkten, wie ein Foto, das zu lange im Licht gelegen hat.

„Es ist sehr freundlich von Ihnen, mich so kurzfristig zu empfangen“, sagte er. Er hatte ein nettes Lächeln, gerade nur eine Andeutung eines Lächelns eigentlich, aber es erhellte sein Gesicht Unwillkürlich lächelte ich zurück.

„Sie hatten Glück, dass ich gerade noch frei war“, antwortete ich. „Kommen Sie doch bitte herein.“

Sein Lächeln vertiefte sich, in seinen Augenwinkeln kräuselten sich winzige Falten.

„Mit Ihrer Erlaubnis“, murmelte er und betrat das Grundstück.

Ich lebe in einem winzigen, mit weißem Holz verkleideten Haus, das ich vor zwei Jahren von meiner Tante Anna geerbt habe. Es hat vier Räume, einer davon, der unter der Dachspitze, ist mein ehemaliges Kinderzimmer, dazu gibt es im Obergeschoss ein Schlafzimmer und ein Bad und im Erdgeschoss ein Wohnzimmer, eine Küche und eine telefonzellengroße oder eher -kleine Toilette. Im Anbau neben dem Haus, bei dem sich in den anderen Häusern in der Straße die Garage befindet, hatte Tante Anna ihr Beratungszimmer eingerichtet. Der Eingang zu diesem Raum zweigte kurz vor dem gepflasterten Pfad zum privaten Eingang ab und endete dann vor einer grünen Holztür. Es gab keine Tür vom Hausinnern zum Beratungszimmer, man musste also auch bei Regen und Kälte durch den Garten. Als Kind hatte ich meine Tante einmal deswegen gefragt und mit ihrer Erklärung nichts anfangen können. „Ich will, dass du ruhig schlafen kannst“, hatte sie gesagt und, ganz Erwachsene, angefügt, dass ich es eines Tages verstehen würde, wenn ich groß sei. Nun, ich war erwachsen und plante einen Durchbruch, sobald ich mir die Handwerker leisten konnte. Dieser Mann war hoffentlich der Anfang einer Glückssträhne, bei der mir die Klienten die grüne Tür einrannten.

Ich stieß die Tür auf. „Bitte treten Sie ein.“

Ich bin normalerweise nicht so förmlich, aber dieser Herr Kross hatte etwas an sich, das Förmlichkeit geradezu forderte.

„Mit Ihrer Erlaubnis“, entgegnete er wieder mit einer kleinen Verbeugung und trat an mir vorbei ein.

Er sah sich um, nickte lächelnd und wandte sich mir wieder zu. Viel gab es nicht zu sehen, einen modernen Tisch aus heller Eiche – Eiche leitet mentale Energie gut – und zwei bequeme Schalensessel aus schwarzen Leder, positioniert jeweils gegenüber an den Breitseiten des Tischs. Es gibt auch ein Sofa aus hellblauem Velours mit Mengen und Mengen von kleinen bunten Kissen und einen niedrigen Teetisch davor, auf dem eine Glasschale mit Bonbons steht. Meine Klienten scheinen die Kissen zu mögen, die meisten nehmen sich eines und pressen es sich vor den Bauch, unbewusst, wie einen Schild gegen das, was ihnen widerfahren ist. Die Bonbons sind für mich. Sonst interessiert sich keiner dafür. Entgegen dem, was viele erwarten, gibt es keine schwarzen Stoffdraperien, keine kryptischen Zeichen auf dem Boden und keine esoterischen Gemälde an den Wänden, meine Wände sind mit weißer Raufaser tapeziert und mein Teppichboden ist metallgrau und hat bessere Zeiten gesehen.

Kross’ Blick nahm alles in einer Sekunde auf - guter Beobachter, schwerer Gegner. Gegner? Was sollte das denn? Ich las eindeutig zu viele Krimis.

„Noch einmal vielen Dank, dass Sie dieses Treffen kurzfristig möglich gemacht haben.“ Er lächelte wieder sein sparsames Lächeln, das seine Mundwinkel anhob, ohne etwas von seinen Zähnen zu zeigen.

„Nehmen Sie doch bitte Platz.“

Ich wies auf den Besuchersessel und nahm selbst hinter dem Kartentisch auf meinem eigenen Sessel Platz.

„Zeigen Sie mir Ihre Karten und sagen Sie mir, was ich damit anfangen soll. Dann kann ich Ihnen sagen, was ich berechne.“

Er legte einen schmalen Aktenkoffer auf den Tisch. Die Schlösser klickten und der Deckel hob sich. Ich konnte nicht sehen, was sich im Koffer befand, nur dass der Koffer anscheinend mit Reptilienleder bezogen war, eine Tatsache, die mir meinen Besucher weniger sympathisch machte. Schließlich klappte Kross den Kofferdeckel wieder zu und schob den Koffer beiseite. Er legte vorsichtig ein Kästchen aus dunkelrotem Holz auf den Tisch. Es war gerade groß genug, um ein Kartenset zu beherbergen und schien aus Sandelholz zu bestehen, vielleicht auch aus Mahagoni, beides war eine eigenartige Wahl. Ich hätte Hasel gewählt, vielleicht Esche, beides Holzarten, die die Kraft der Karten bewahren und verstärken konnten. Er hob den Deckel und das Sonnenlicht, das vom Fenster hereinfiel, fing sich auf einer Reihe von Mustern darauf. Es war eine unglaublich feine Einlegearbeit aus Silber oder wenigstens silberfarbenem Metall. Auf den ersten Blick waren es Wellen und Kreise, auf den zweiten schienen es Tiere zu sein, die sich gegenseitig verschlangen. Kross senkte beide Hände in das Kästchen und hob vorsichtig einen Stapel Karten heraus. Leicht irritiert bemerkte ich, dass er dünne, graue Stoffhandschuhe trug. Als er mir die Hand gegeben hatte, hatte er keine getragen. Ich hatte nicht mitbekommen, wie er sie angezogen hatte. Seine behandschuhten Hände drehten das Kartenpäckchen so, dass es so vor mir lag, dass ich die oberste Karte richtig herum sehen konnte. Ich wusste nicht, was er von mir erwartete, dazu war das Telefonat zu unbestimmt gewesen, aber er musste annehmen, dass ich eine professionelle Kartenleserin in der Tradition meiner verschiedenen Tante war. Ich war ihre Erbin und ich tat mein Bestes, aber an ihre Fähigkeiten reichten meine um Welten nicht heran. Zwar legte ich Karten, seit ich vier war, aber das bedeutete nicht allzu viel, bedachte man, dass ich es nur zum Spiel getan hatte. Ich erinnere mich daran, dass meine Hände damals noch zu klein gewesen waren, um die Karten zu mischen, also hatte ich sie verdeckt auf den Tisch gelegt und sie so lange hin- und hergeschoben, bis ich sie als gemischt angesehen hatte und sie dann so ausgelegt, wie ich es bei meiner Tante gesehen hatte. Ich hatte bestimmt eine Menge Unsinn geredet, wenn ich sie „las“, so wie Tante Anna es tat, aber das hatte meiner Begeisterung keinen Abbruch getan. Meine Tante war anfangs amüsiert gewesen, so wie Erwachsene es sind, wenn ein Kind das nachspielt, was für sie wichtig ist, doch sehr schnell hatte sie mich in meinem Tun unterstützt und angeleitet. Ich erinnere mich auch daran, dass sie es gemocht hatte, wenn ich dabei sein wollte, wenn sie Karten für ihre Klienten legte. Das war leicht möglich gewesen, weil meine Mutter und ich zu dieser Zeit bei ihr lebten. Ich liebte die bunten Bilder und kopierte meine Tante, so sehr ich es vermochte, aber als meine Mutter, die keinen Sinn für Okkultes hatte, wie sie es ausdrückte, das herausfand, zogen wir Hals über Kopf aus. Auszug? Nein, es war mehr eine Flucht gewesen. In einem Moment stand ich in der Küche, im nächsten rannte ich an der Hand meiner Mutter zu ihrem Auto. Ich weiß noch, dass es regnete und ich nach meinem Stofftier schrie, das mir aus dem Arm gefallen war, aber sie schien mich nicht zu hören und warf mich geradezu auf den Rücksitz, bevor sie in den Wagen sprang und wie eine Wilde durch die Nacht raste. Ich verstand nicht, warum das alles geschah, hatte Angst und bettelte darum, zurückzufahren, aber meine Tränen, mein Betteln und Schreien nutzte nichts, sie drehte nicht um, erklärte nichts, beteuerte nur immer wieder, dass ich keine Schuld an allem hätte. Wir fuhren die Nacht durch und noch den größten Teil des Tages, bis wir schließlich bei einer Pension anhielten. Wir wohnten dort eine gefühlte Ewigkeit in einem kleinen Zimmer, bis wir schließlich in eine kleine Wohnung zogen. Ich fragte oft nach meiner Tante und meine Mutter sprach gerne mit mir über sie und unsere gemeinsame Zeit, doch sie verhinderte konsequent, dass ich sie besuchte. Bis vor drei Jahren hatte es nur wenige gemeinsame Treffen zu dritt gegeben, an Weihnachten und zu meinen Geburtstagen, und nur in Restaurants in immer anderen Städten und wie immer, sagten sie mir nicht, warum, nur, dass ich es eines Tages verstehen würde.

Der tödliche Unfall meiner Mutter änderte alles. Es passierte, als sie auf der Autobahn auf ein Stauende zufuhr. Der Fahrer eines Tanklasters konnte nicht mehr rechtzeitig bremsen und prallte auf ihren Wagen. Beide Fahrzeuge gerieten in Brand. Der Fahrer des Tankwagens konnte sich retten, aber meine Mutter war bereits durch den Aufprall gestorben. Zwei Wochen später wollte sie nach Italien in den Urlaub fahren. Es wäre ihr erster Urlaub gewesen, seitdem ich auf der Welt war und ich hätte ihn ihr von Herzen gegönnt. Es ist nicht leicht, allein ein Kind großzuziehen und es ist noch viel schwieriger, wenn man zusätzlich die Schulden des geschiedenen Ehemannes abtragen muss. Sie hätte jedes Recht auf ein schönes Erlebnis gehabt. Ihr Tod war so plötzlich gekommen, dass ich ihn lange nicht begreifen konnte und selbst heute ertappe ich mich manchmal dabei, dass ich mich freudig umdrehe, wenn ich schnelle, leichte Schritte höre, weil ich erwarte, sie zu sehen und dann tut die Enttäuschung, jemand anderen zu sehen, immer wieder entsetzlich weh.

Tante Anna hatte mich ohne zu zögern bei sich aufgenommen. Ich war in ein tiefes Loch gefallen und hatte mein Studium schleifen lassen, aber sie hatte sich ihren Sinn für Praktisches bewahrt und uns beide durchgebracht. Schließlich hatte sie durchblicken lassen, dass sie mich gerne in der Tradition ihrer Familie, also im Kartenlegen, ausbilden würde. „Du hast eine seltene Gabe, Kind“, hatte sie gesagt. „Du könntest viel Gutes damit tun, vielen Menschen helfen und“, sie hatte mir eines ihrer verschmitzten Lächeln zugeworfen, „du würdest davon leben können.“ Aber ich wollte Medizin studieren und hatte ihre Arbeit im Stillen als Scharlatanerie abgetan. Aber sie war hartnäckig gewesen. Schließlich hatten sie und ich ein Geschäft abgeschlossen: Sie würde mich bei meinem Medizinstudium finanziell unterstützen, dafür würde ich bei ihren Sitzungen assistieren. Es war ein Arrangement, das uns beiden diente. Als ich gerade anfing, die Psychologie ihrer Arbeit zu erkennen und mit dem zu verknüpfen, was ich – unterbewusst oder nicht – spürte und las, erkrankte sie schwer und starb kurz darauf. Sie hatte gerade angefangen, mir ihre Geheimnisse zu offenbaren, aber die Zeit war zu kurz gewesen war, um mir alles beizubringen, was sie wusste, oder was ich hätte lernen müssen. Wenn man es recht betrachtete, war ich eine Betrügerin, wenn ich vorgab, geeignet zu sein, Lebensberatung anzubieten, wie es auf dem Schild an meiner Tür stand. Aber ein Haus zu unterhalten bedeutete Kosten ohne Ende und obwohl ich versuchte, mit verschiedenen Jobs als Bedienung über die Runden zu kommen, reichte es nie. Die wenigen Termine, die ich aufgrund des guten Rufs meiner Tante bekam, liefen überraschend gut. Meine Klienten schienen zufrieden zu sein und ich hoffte, dass sie mich weiterempfahlen. Bis dahin lebte ich den größten Teil des Monats von Reis und Nudeln und dem, was der Garten gerade hergab. Jetzt war Sommer und ich es gab Tomaten und Zucchini im Überfluss und mit Reis oder Nudeln kombiniert war es besser als nur Überleben. Kross‘ Besuch bedeutete Fleisch auf dem Tisch und im günstigsten Fall eine Rücklage für die Grundsteuer oder die vielen Reparaturen, die ein altes Haus nun einmal nötig hatte.

Ich musterte Stapel so rational, als ob mir jeden Tag ein Fremder ein antikes Kartenset zur Begutachtung vorlegte. Mir war das noch nie passiert, aber für Tante Anna war es Tagesgeschäft gewesen. Ich konnte mich nur an ihr Lebensmotto halten, das mehr oder weniger an meinen gesunden Menschenverstand appelliert hatte: „Wenn du das Gefühl hast, dass es das Richtige ist, überleg‘ nicht lange und tu‘ es!“

Mir blieb nichts anderes übrig, als es zu tun. Die Rechnungen kamen schneller, als ich sie bezahlen konnte.

Die Karten sahen alt aus und offensichtlich waren sie oft benutzt worden, denn sie hatten keine scharfen Kanten mehr. Das ursprüngliche Weiß des Hintergrunds war zu einem weichen Chamois vergilbt. Die oberste Karte zeigte einen Mann in einer blauen Rüstung. In seiner erhobenen Linken hielt er ein Schwert und in seiner Rechten einen Speer mit der Spitze nach unten. Es gab keinen Hintergrund, keine weiteren Farben, nur Variationen von Blau und simple, aber ausdrucksstarke Linien. Alles in allem war es dem Künstler nicht auf Details angekommen, sondern auf die Darstellung von Kraft. Irgendwie erinnerte mich die Darstellung an die strenge Schönheit der Höhlenmalereien von Lascaux. Ich hatte sie nie im Original gesehen, aber allein die Bilder der Tiere, die ich im Internet gesehen hatte, waren von solcher Tiefe und Dynamik, dass sie wie lebendig wirkten. Dieser Krieger hier wirkte auch lebendig. Ruhelos. Mächtig. Brutal. Wie von einem eigenen Willen angetrieben streckten sich meine Hände nach den Karten aus. Ich hatte gerade noch so viel Selbstbeherrschung, „darf ich?“, zu murmeln. Meine Stimme war gerade noch ein Flüstern. Souveränität sieht anders aus, sagte ich mir, dann hatte ich die Karten in der Hand. Ob er genickt hatte, wusste ich nicht mehr. Es war auch egal, wichtig allein war, diese Kraft in meinen Händen zu halten.

Zing!

Der elektrische Schlag lief durch meine Hand meinen Unterarm hinauf bis zu meinem Ellenbogen, so, als ob ich mit Gummisohlen über einen Teppichboden gelaufen wäre. Der Schlag war nicht heftig, aber ich erschrak und zuckte zurück. Beinahe hätte ich die Karten fallen lassen, aber meine Reflexe funktionierten anscheinend und ich fasste den Stapel fester. Das alles konnte keine Zehntelsekunde gedauert haben und ich hoffte, dass mein Kunde es nicht mitbekommen hatte – ein schöner erster Eindruck wäre es.

„Die Karten sind sehr alt“, sagte ich betont nüchtern, „aber das wissen Sie ja sicher schon. Für eine genaue Altersbestimmung benötigen Sie keine Kartenleserin, sondern einen Museumskurator. Ich  kann Ihnen einige Adressen geben, falls Sie interessiert sind.“

Während ich sprach legte ich die Karten vor mir auf den Tisch. Zu meiner Überraschung waren alle Karten im gleichen Blau gehalten, wie die erste. Das war Neuland für mich. Tante Anna hatte dreihundertvierundsechzig Kartensets besessen, die jetzt mir gehörten, und ich kannte jedes einzige ganz genau und keines – keines meiner eigenen und keines, von dem ich je gehört hätte - war nur in einer Farbe gehalten gewesen. Die ersten benannten Tarotkarten stammten vermutlich aus Italien und die ältesten, die noch im Umlauf und gebräuchlich sind, sind die des französischen Marseille-Tarots. Inzwischen gibt es hunderte, eher noch zigtausende verschiedener Tarotkarten-Sets in fast ebenso vielen künstlerischen und esoterischen Ausrichtungen und jeder oder jede, die sich damit beschäftigt, sieht in der eigenen Ausführung das einzig Sinngebende auf dieser Welt. Und alle versuchen alle anderen in künstlerischer oder bedeutungsschwangerer Hinsicht einzigartig zu sein.

„Ich kann ihnen auf den ersten Blick sagen, dass die Karten weder deutsch, französisch noch überhaupt westeuropäisch sind. Wo die ersten Tarotkarten auftauchten ist nicht geklärt, die ersten sicher datierten Karten stammen aus dem sechzehnten Jahrhundert, wahrscheinlich gibt es sie aber schon viel länger. Tarotkarten sind in der Regel künstlerisch sehr aufwendig gestaltet und repräsentieren den Stil ihrer Zeit. Ich kenne eine Menge Stile, aber ich habe noch nie derartige monochrome Tarotkarten gesehen.“

Es war ein Gefühl, aber das, was Kross mir sagte und das, was er mir zeigte, ergab zusammen keinerlei Sinn, dennoch legte ich weiter Karte um Karte in den geordneten Reihen eines Fächers aus. Ich begann mit einem Halbkreis aus achtunddreißig Karten, darunter folgte ein Halbkreis aus zweiundzwanzig Karten, darunter verjüngte sich der Fächer auf zwölf und darunter auf fünf Karten, bis er schließlich in der finalen Karte mündete. Nichts an meiner Methode war schulmäßig, weit entfernt davon, ich kannte keine anderen Kartenleger, war noch nie auf einer Esoterikmesse und alle, was ich von den Karten weiß, weiß ich von Tante Anna. Kartenlegen war anfangs ein spannendes Spiel für mich gewesen, doch sehr schnell wurde es mein Geheimnis. Meine Mutter war strikt dagegen, dass ich Karten auch nur in die Hand nahm. Ich tat es dennoch, heimlich, nachts in meinem Zimmer mit einem Spiel, das ich selbst gemalt und ausgeschnitten hatte. Ich hatte zu wenig Ahnung von der Materie, um ein korrektes Spiel zu gestalten, aber ich war zufrieden damit. Damals, ich war so ungefähr sechs oder sieben, entdeckte ich das Muster des Fächers für mich, um die Karten dazu zu bewegen, mir ihr Innerstes zu zeigen. Ich erinnere mich nicht mehr, ob sie mir wirklich etwas gesagt oder gezeigt haben, aber an das Gefühl von Zufriedenheit dabei erinnere ich mich gut.

„Mein Chef denkt, dass es sich um eine frühe Ausgabe eines Marseille-Tarots handeln könnte.“

Das leichte Anheben der Stimme machte sein Statement zur Frage. Was sollte das? Jeder, der ein so kostbares altes Tarot-Set sein Eigen nennen konnte, hatte sich wenigstens im Internet ein wenig kundig gemacht. Marseille-Tarotkarten waren in den Farben rot, gelb, grün und blau gehalten, jede dieser Farben symbolisierte eines der vier Elemente. Kross würde das wissen, er machte nicht den Eindruck, dass er jemals unvorbereitet in ein Gespräch ging, und sein Auftraggeber, wer immer es war, würde ihn nicht losgeschickt haben, ohne wenigstens zu ahnen, dass die Karten wertvoll waren.

„Das denke ich nicht“, antwortete ich so diplomatisch, wie es mir nur möglich war.

„Ach ja?“

„Marseille-Tarots basieren auf den vier Elementen, Feuer, Erde, Wasser und Luft, diese hier basieren auf Krieg.“

Ich stoppte, als ob mir jemand die Luft abgedreht hatte. Was war das? Warum hatte ich das gesagt? Ich war nie vorlaut gewesen, nie diejenige, die sich vordrängte, alles besser wusste, anderen über den Mund fuhr – eher das Gegenteil. Ich drehte und wendete jedes Argument so lange, bis es jeder, aber auch jeder, gegnerischen Argumentation standhielt und dann, erst dann, ging ich zum Gegenargument über und das stets bemüht, meinem Gegenüber nicht das Gefühl zu vermitteln, besiegt zu sein.

Kross lächelte. Ich versuchte, sein Lächeln einzuordnen und scheiterte. Es war so sozial und leer, wie man es von einem Anwalt erwartete. Okay, dann ohne Einschätzung. Ich legte die letzten Karten aus und stutzte. Ich sah auf.

„Eine Karte fehlt.“

Meine Enttäuschung war riesengroß. So wunderschöne Karten und jetzt war das Set unvollständig.

„Oh. Verzeihen Sie mir. Mein Fehler.“

Kross fingerte in dem Kästchen herum, aus dem er die Karten genommen hatte und mit einem triumphierenden Lächeln präsentierte er mir eine Karte. Ich griff danach, doch gerade, als ich sie mit den Fingerspitzen berühren konnte, fiel sie ihm aus der Hand. Wir beide griffen danach, doch sie fiel auf den Tisch und ich war schneller, als er und hob sie auf. Die Karte zeigte eine Kriegerin. Sie trug volle Körperrüstung und einen Helm, der den größten Teil ihres Gesichts bedeckte, doch etwas an ihrer Haltung, der Linie ihres Kinns und ihres Mundes ließ sie als Frau erkennen. Ich lächelte. Ich mochte Kriegerinnen. Xena war immer meine Heldin gewesen. Ich wollte, ich hätte wenigstens ein kleines Bisschen von ihr. Ich musste schmunzeln, Xena und ich waren weiter voneinander entfernt, als Nord- und Südpol. Immer noch lächelnd legte ich die Karte auf die untere Spitze meines Fächers.

Der Impuls fuhr durch meine Finger wie ein eisglühendes Geschoss, meinen Arm hinauf und zu meinem Herzen, brannte sich hinein, tiefer und tiefer, bis alles nur noch ein einziger, glühender Schmerz war. Ich schrie, doch auch wenn sich mein Mund öffnete, kam kein Ton heraus. Ich rang nach Luft, versuchte es, aber meine Lungen waren nur leere, kraftlose Luftballons, ohne Kraft, ohne Funktion. Ich starrte, starrte auf die Karte und die Kriegerin darauf starrte zurück. Ihre Tintenaugen bohrten sich in meine und ihre Stimme dröhnte wie eine riesige Glocke, vibrierte und hallte wie ein gewaltiges Echo in meinem Schädel. Ich hörte sie, aber ich verstand nicht, was sie sagte. Ich wusste, dass sie verstanden werden konnte, ich wusste, dass es dafür einen Weg gab, aber ich hatte keine Ahnung, warum ich das wusste und auch keine, wie ich mein Wissen anwenden sollte. Tief in meinem Innern wusste ich es, doch so sehr ich mich auch anstrengte, wenn ich mich nur erinnern könnte, wie, aber es war, als ob etwas eine Mauer um mein Gehirn baute, die rasend schnell wuchs und enger wurde, je mehr ich es versuchte. Es tat so unglaublich weh. Ich wusste, ich musste aufhören. Ich konnte das nicht, es war zu stark für mich, aber die Stimme hallte immer lauter in meinem Kopf. Sie forderte, diktierte, befahl und ich wollte gehorchen, aber ich wusste nicht, wie. Ich wollte alles tun, um diesen schrecklichen Schmerz zu stillen. Meine Fingerspitzen brannten sich auf den Karten fest. Der Schmerz war so stark, dass er alles war, das ich wahrnahm. Tränen liefen über meine Wangen und ich fühlte, wie sie ins Nichts tropften.

„KOMM!“

Krach! Das Fenster erzitterte. Ich fuhr zusammen. Der Schmerz erstarb, als ich im Reflex die Hände von den Karten riss. Ich sah mich um, in diesem Augenblick erbebte das Fenster in einem erneuten Anprall. Ein dunkler Schatten prallte an die Scheibe, immer und immer wieder und ich sah einen dunklen Körper mit gesträubtem Fell, blitzenden Reißzähnen und einen tiefroten Schlund.

Bumm!

Riesige krallenbewehrte Tatzen bearbeiteten die Scheibe wie einen Todfeind. Das Schrillen der Krallen auf dem Glas grub sich so schmerzhaft in meine Nervenenden wie das Geräusch von Fingernägeln auf einer Schiefertafel. „Genug!“, krächzte ich. Instinktiv griff ich nach dem nächsten Gegenstand und warf ihn auf den Störer. Das Kästchen, in dem die Karten meines Kunden gewesen waren, schlug gegen die Scheibe und fiel mit einem dumpfen Geräusch auf den Boden. Der dunkle Schatten verschwand geräuschlos. Eine Katze. Ich könnte wetten, dass sie dunkelgrau war und drei weiße Pfoten hatte. Ich kannte sie, sie gehörte meinem Nachbarn. Ich mochte ihn nicht und seine Katze auch nicht. Beide teilten meine Gefühle, denke ich.

Die Katze verschwand, der Schmerz blieb. Ich betrachtete meine schmerzende Hand. Die Fingerspitzen von Zeige-, Mittel und Ringfinger waren rot und zeigten Brandblasen. Schockiert sah ich auf. Kross musterte mich aufmerksam.

„Nun, das war außerordentlich interessant“, bemerkte er.

Interessant war die letzte Vokabel, die ich benutzt hätte. Meine Finger brannten wie Feuer, meine Kehle krampfte, als ob eine riesige Faust sie zusammenpresste und ich musste nach Luft ringen, wie ein gestrandeter Fisch. Zorn wallte in mir auf, Zorn, von ihm benutzt worden zu sein, aus welchen Gründen auch immer, und Zorn, so blauäugig gewesen zu sein, es zuzulassen. Am liebsten hätte ich ihn an seiner akkurat gebundenen Krawatte gepackt. Es war mir danach, ihn zu mir heranzuziehen und dann aus ihm herauszuschütteln was er wusste, aber ich hatte Probleme, überhaupt etwas zu sehen. Vor meinen Augen schwammen dunkle Flammen und ich war so unendlich erschöpft, als ob das Feuer mich ausgebrannt hätte. Wenn ich nicht sofort etwas tat, würde ich ohnmächtig werden. Ich war noch nie ohnmächtig geworden, aber ich wusste, dass, wenn ich mich nicht wehrte, mein Körper nachgeben würde und ich vor Kross auf den Boden sinken würde. Niemals! Der Kerl hatte mich benutzt und ich würde ihm nicht noch ein Schauspiel bieten! Zuerst einmal musste ich herausfinden, wo der Schmerz saß. Woher kam er? Das war einfach, mein Brustkorb fühlte sich an, als sei er mit brennendem Blei gefüllt. Die Hitze und der Druck waren so stark, dass mein gesamter Körper schmerzte, aber ja: Das Zentrum saß ganz sicher in meiner Brust. Fühlte sich so ein Herzinfarkt an? Was sollte ich tun? Ich konnte doch nicht einfach so dasitzen und darauf warten, dass ich …starb. Ich bekam Panik. Mit aller Macht konzentrierte ich mich auf mein Herz. Es durfte nicht stehenbleiben. Je mehr ich mich konzentrierte, umso stärker wurde der Schmerz, aber ich gab nicht auf. Wenn ich ihn stärker machen konnte, dann funktionierte es auch in die andere Richtung. Ich stellte mir den Schmerz wie eine dicke, schwarze Masse vor, die es umhüllte und immer mehr zusammenpresste. Ich stellte mir vor, dass mein Herz aus Licht war und fütterte es mit all meiner Kraft, all meinen Willen und den ungeheuren Zorn, der in mir wallte, bis es die dunkle Hülle in einer Explosion von Licht sprengte. Es tat weh, es tat so unglaublich weh! Etwas knackte, als ob jemand einen Bleistift zerbrochen hätte, dann war alles still. Ich öffnete die Augen. Die Flammen waren weg, aber der Schmerz war noch da, aber viel weniger intensiv, als noch vor ein paar Sekunden. So wie ein Muskelkater, wenn man als Couchpotato mit den trainierten Freunden im Fitness-Studio mithalten will. Das war auszuhalten, aber ich war so erschöpft, dass ich am liebsten meinen Kopf auf die Tischplatte gelegt und ein paar Stunden geschlafen hätte, aber das ging selbstverständlich nicht. Schlafen konnte ich, sobald ich Kross losgeworden war, aber das ging erst, nachdem er mir einige Fragen beantwortet hatte. Ich warf einen vorsichtigen Blick über den Tisch, aber dich mein Gegenüber sah so unbeteiligt aus, als ob ihn mein innerer Kampf nicht im Geringsten interessierte.

„Interessant?“, krächzte ich. „Interessant? Ihre verdammten Karten haben mich fast umgebracht! Ich hätte …“

„Übertreiben Sie nicht“, lächelte er. „Ich würde es allenfalls eine kleine Unannehmlichkeit nennen, für die ich mich in aller Form entschuldige. Leider hatte ich keine andere Option, es war notwendig, dass Sie völlig unvoreingenommen an die Sache herangehen. Mein Chef hegte die Hoffnung, dass Sie und das Material“, er wies mit einer Geste auf seinen Koffer, „kompatibel sind, aber ich gestehe, dass ich von der überaus starken Korrelation überrascht wurde. Ich denke, Sie werden unsere Entschädigung angemessen finden.“

Er schob einen Umschlag ein Stück weiter zu mir über den Tisch. Ich hatte ihn zuvor dort nicht liegen sehen. Wie auch, ich war damit beschäftigt gewesen, zu atmen und zu begreifen, was geschehen war. Atmen funktionierte wieder einigermaßen, mit dem Begreifen hatte ich nach wie vor Probleme.

„Es war also ein Test?“, krächzte ich.

Er nickte bedächtig.

„Warum haben Sie mir das nicht vorher gesagt? Denken Sie nicht, dass ich gerne vorgewarnt worden wäre?“

Er erhob sich, nahm seinen Koffer und schritt gemessen zur Tür, dort wandte er sich um und lächelte wieder. „Aber wo bliebe dann der Spaß?“

Spaß? Ich rang nach Worten, aber alles, was ich zustande brachte, erinnerte an das hilflose Schnappen eines Fischs auf dem Trockenen.

„Beruhigen Sie sich. Ihre Fähigkeiten haben Ihnen gerade einen vierstelligen Betrag eingebracht. Dazu bin ich berechtigt, Ihnen einen Beratervertrag anzubieten.“ Wieder diese gerade angedeutete Verbeugung. „Einen außerordentlich gut dotierten Vertrag, wie Sie sehen werden. Mein Büro wird sich mit Ihnen bezüglich eines Gesprächstermins in Verbindung setzen. Ich würde es mir gut überlegen, abzusagen. Und danke, bemühen Sie sich nicht, mich zum Gartentor zu begleiten, ich lasse mich allein hinaus.“

Er öffnete die Tür und stutzte. Für einen langen Moment stand er da, wie angewurzelt.

„Was?“, brachte ich heraus, aber er schien mich nicht gehört zu haben, denn er ging einfach. Die Tür fiel hinter ihm ins Schloss.

Als er weg war, sackte ich in meinem Sessel zusammen. Jeder Muskel in meinem Körper krampfte, jeder Atemzug brannte immer noch und ich hatte Schwierigkeiten, zu fokussieren. Irgendetwas hatte dieser Kerl mit seinen Karten mit mir gemacht und ich wollte verdammt sein, wenn ich ihn damit davonkommen ließ. Ich stemmte mich mühsam auf die Beine und schleppte mich zur Tür. Ich war dankbar, als ich die wenigen Schritte bis dahin geschafft hatte und mich am Türrahmen festhalten konnte, weil meine Beine mich nicht mehr tragen wollten. Der Drang, mich an die Wand zu lehnen und langsam daran herunterzurutschen bis ich auf dem kühlen Boden liegen und ausruhen konnte, war unglaublich verlockend, aber ich war zu stur dafür, einfach nachzugeben. Die Eigenschaft, die mich in der Vergangenheit immer wieder in Schwierigkeiten gebracht hatte, ließ mich nun zur Türklinke greifen und sie nach unten drücken. Die Tür schien Tonnen zu wiegen, als ich sie öffnete, aber ich schaffte es, sie zu bewegen und schob mich mühsam über die Schwelle.

Ich blinzelte in die Sonne. Der Garten war leer und auf der Straße davor war Kross auch nicht mehr zu sehen. Als ich aus dem Haus kam, saß da die Nachbarskatze und starrte mich an. Ich streckte ihr die Zunge entgegen. Gleich darauf schämte ich mich. Sie war doch nur ein Tier, aber dennoch… Ich mag Katzen, aber Katzen mögen mich nicht. Sie gehen mir aus dem Weg, warum auch immer. Eigentlich schade. Ich habe mir immer eine Katze gewünscht, eine, die sich an mich kuschelt, die sich streicheln und verwöhnen lässt, aber anscheinend sollte es nicht sein. Meine Mutter und auch Tante Anna mochten keine Katzen. Hunde auch nicht, wenn ich es recht betrachtete, es war nie Thema, einen anzuschaffen, nicht einmal, als ich als Kind unbedingt einen haben wollte – welches Kind mag schließlich keinen Hund haben? Aber irgendwie schlief dieser Wunsch bei mir sehr schnell wieder ein, vielleicht, weil unser Haushalt nicht sehr tierfreundlich war, beide, meine Mutter und meine Tante ignorierten Tiere völlig. Falls sie jemals das Bedürfnis gehabt hatten, den Welpen eines Nachbarn zu streicheln, war es bestimmt vor meiner Zeit gewesen.

Die Katze fixierte mich mit ihren rätselhaften Bernsteinaugen. Sie war eine ganz normale Hauskatze, keine besondere Rasse, sondern schlicht grau-schwarz gemustert mit einem weißen Fleck auf der Brust und drei weißen Söckchen. Sie hat nie ihr Geschäft in meinem Garten verrichtet, nie einen armen Vogel gefangen und auch sonst kann ich mich nicht erinnern, dass sie etwas getan hat, das sie nicht hätte tun sollen, aber ich mochte sie einfach nicht. Es lag daran, wie sie mich immer beobachtete: nüchtern, überlegt, wie ein Raubtier, das darauf lauerte, dass ich einen, den einen, Fehler machte, den sie dann nutzen konnte, mich fertigzumachen. Rational betrachtet war es Unsinn, allein der Größenunterschied machte es dazu, aber die nüchterne Überlegung in ihren Augen war gelinde gesagt befremdlich. Tiere sollten nicht so sein. Sie sollten freundlich und verspielt sein wie Hundewelpen oder wild und unabhängig wie Wildkatzen, aber nicht so kalt und berechnend wie diese Katze. Etwas stimmte nicht mit ihr. Ich sah aus dem Augenwinkel, dass sie mir langsam folgte, als ich zur Straße ging, aber ich zwang mich, sie zu ignorieren. Das oder ich hätte den Gartenschlauch genommen und den Strahl auf „scharf“ eingestellt und auf sie gerichtet, was mir wahrscheinlich den Tierschutzverein auf den Hals gehetzt hätte. Und meinen Nachbarn.

Von der Straße her hörte ich laute Männerstimmen. Ich tappte auf zittrigen Beinen zur Gartenpforte und sah Kross an der nächsten Straßenecke, kaum hundert Meter entfernt, praktisch Nase an Nase mit meinen Nachbarn - dem mit der Katze. Kross ist ein gutes Stück größer als ich und beeindruckend, wenn er neben mir steht, was nicht schwer ist, denn ich bin zu meinem unendlichen Bedauern nur einen Meter fünfundsechzig groß, aber neben dem Bodybuildertypen von nebenan wirkte er dünn und unbedeutend. Der Bodybuilder von nebenan hieß Alexander Santini und wenn es nicht sein Brüllen gewesen wäre hätte seine Körpersprache klargemacht, dass er wütend war, unglaublich wütend sogar. Er trug sein übliches Outfit , ausgeblichene Jeans, die seine muskulösen Schenkel wie eine zweite Haut umspannten und verwaschenes T-Shirt, das heute hellgrau war und wie immer anscheinend dazu ausgesucht, sich an seinen muskulösen, gebräunten Torso zu schmiegen, wie … nein, hier hörte es auf! Ich würde nicht über das Verhältnis von Jersey zu seiner Haut nachdenken! Ganz bestimmt nicht. Fakt war, dass Santini über Kross aufragte, wie eine riesige, wütende Welle und dass er ohne Punkt und Komma auf ihn einschrie. Kross hatte sich irgendwie in eine ungünstige Position manövriert, er stand mit dem Rücken zum Jägerzaun der Hebers, eines älteren Paares, das seit ein paar Wochen verreist war, und kam deswegen nicht an Santini vorbei, ohne ihn beiseitezustoßen, was ein aussichtsloses Unterfangen sein würde. Kross schien das erkannt zu haben, denn seine begütigenden Handbewegungen zeigten, dass er versuchte, Santini zu beschwichtigen, womit er jedoch wenig Erfolg zu haben schien, denn das Gebrüll steigerte sich, während ich näherkam. Meine Hände zitterten so sehr, dass ich drei Versuche benötigte, den Drehknauf meines Gartentors zu drehen und als ich es endlich geschafft hatte, das Tor zu öffnen, beeilte ich mich nach Kräften zu den Streithähnen zu kommen. Kross war immerhin mein Kunde und deswegen konnte ich nicht erlauben, dass mein Nachbar ihn anging – aus welchen Gründen auch immer. Bis jetzt hatten meine Ohren so geklingelt, dass ich nicht verstanden hatte, worüber sie so erbittert stritten, aber als ich näherkam entzerrten sich die Stimmen zu Worten.

„Sie haben hier nichts zu suchen,“ zischte Santini. „Diese Stadt ist neutral. Richten Sie Meeren aus, dass ich jeden weiteren Übergriff ahnden werde. Falls er vergessen hat, wie, erinnern Sie ihn an Dublin 1964.“

Kross antwortete mit einer Salve zischend herausgepresster Silben in einer Sprache, die ich noch nie gehört hatte. Es klang, als versuchte er, seine Vorderzähne auszuspucken. Allein die Vorstellung war abstoßend. Anders als ich schien Santini mit dem Verstehen keine Schwierigkeiten zu haben. Was war das überhaupt für eine Sprache? Meine Mutter und ich hatten in vielen Ländern gelebt und Kinder erlernen neue Sprachen geradezu spielend, weswegen ich mit Sicherheit sagen konnte, dass dies keine europäische Sprache war. Es war überhaupt keine Sprache, die ich je gehört hatte. ‚Information ist eine Holschuld!‘ Dies war der einzige Lehrsatz meines alten Mathelehrers Willing, der mir von ihm in Erinnerung geblieben ist. Die Worte ergaben Sinn für mich, anders als Mathe. Sie mussten mehr Eindruck auf mich gemacht haben, als ich dachte, wenn sie mir in den Sinn kamen, während mein Schädel im Rhythmus meines Blutes pulsierte und jeder Herzschlag alles nur noch schlimmer machte. Noch ein paar Schläge und er würde in tausende Fragmente zerbersten, aber bevor das geschah, würde ich Antworten bekommen! Herbert Willing konnte - mit einigem zeitlichen Abstand - stolz auf mich sein.

„Was war 1964 in Dublin?“, fragte ich. „Haben Sie seinem Chef ihre Sandschippe auf den Kopf gehauen?“ Gleich darauf hätte ich mir am liebsten auf die Zunge gebissen. Ich bin nicht besonders gut darin, das Alter von Leuten zu schätzen, aber Santini war vielleicht dreißig, nicht jünger, aber auch keinesfalls älter als Mitte Dreißig. Sein Gesicht war faltenlos, bis auf ein paar Fältchen in den Augenwinkeln, er war tief gebräunt, sein Körper war bis in die kleinste Faser trainiert und keine seiner Bewegungen wiesen auf eine auch irgendwie geartete Schwäche hin. Er hatte den Körper eines Mannes, der sein Leben darauf ausgerichtet hatte, jeden Muskel, jede Faser seines Körpers zu optimieren. Wenn er ging, schien er ständig auf dem Sprung zu sein, es war, als ob er sich bewusst wäre, dass jederzeit unsichtbare Gegner darauf lauerten, ihn zu überraschen. Er stand immer balanciert auf den Ballen seiner Füße, es war, als ob er bereit wäre, dass sich der Boden vor ihm jeden Moment öffnen und ihn verschlingen könnte. Ich wusste, dass er einen Raum in seinem Haus als Gym eingerichtet hatte und dass er bevorzugt in den späten Abendstunden trainierte, weil er es meistens versäumte, die Jalousien zu schließen. Das Pensum, das er sich auferlegte, war beeindruckend. Und obwohl sein Körper ein Musterbeispiel an harter Definition war, war er leicht auf den Beinen und anders als die meisten Bodybuilder, beweglich in der Taille. Woher ich das weiß? Er pflegt seinen Garten in den Abendstunden zu wässern, mit nichts am Leib als einer tief auf seinen Hüften sitzenden Camoshorts. Zusammengefasst: Falls er 1964 geboren wäre, wäre er jetzt mindestens Mitte Fünfzig und die Jahre hätten ihren Zoll gefordert. Ein hartes Training über so viele Jahre hinweg hätte ihn ausgezehrt, oder zumindest so sehr definiert, dass sich Adern und Sehnen wie dicke Kabel unter seiner Haut abgezeichnet hätten. Doch man sah nur schwellende Muskeln unter straffer, sonnengebräunter Haut. Nicht gerade jetzt, denn er trug ein graues Sweatshirt und eine ziemlich ausgebeulte schwarze Uncle Sam-Jogginghose, doch das Outfit, das bei jedem anderen eine schwammige Silhouette verursacht hätte, ließ ihn nur noch härter uns, ja, irgendwie gefährlicher, aussehen.

Die Männer fuhren zu mir herum, als ob ich aus Nichts aufgetaucht wäre, was nicht stimmte, denn ich war nicht sicher genug auf den Beinen, um etwas anderes zu tun, als zu schlurfen. So absolut verschieden die beiden Männer von Alter und Aussehen waren, so gleich war der Ausdruck von Vorsicht und Abwehr auf ihren Gesichtern.

„Nichts, das Sie etwas anginge“, sagten beide wie aus einem Mund.

„Das hier ist eine Sache zwischen alten Bekannten,“ ergänzte Santini. Er bemühte sich um ein Lächeln, das wohl beruhigend wirken sollte, aber es war klar ersichtlich, dass mein unvermitteltes Auftauchen ihn reizte. Und wie es immer war mit ihm, sein Ärger befeuerte meinen. Ich weiß nicht wieso, denn eigentlich bin ich ein freundlicher, ausgeglichener Mensch. Nicht bei ihm.

„Ach, ernsthaft? Wie ich es sehe, haben Sie meinen Klienten abgepasst und bellästigen ihn. Dies ist eine öffentliche Straße und Sie sind nicht die Bürgerwehr.“

„In der Tat.“ Kross wechselte sofort die Fronten. Anwalt eben. „Ein bedauerlicher Mangel an Erziehung. Doch daran bin ich gewöhnt. Abgesehen davon ist unsere Diskussion beendet. Es tut mir leid, dass Sie dadurch gestört wurden. Warum gehen Sie nicht zurück und ruhen sich aus? Unsere Sitzung war offensichtlich anstrengender für Sie, als ich erwartet hatte.“

„Wenn Sie mich vor einer halben Stunde mit nur einem Wort vorgewarnt hätten, würde ich Ihnen Ihre Sorge abnehmen,“, schnappte ich. „Und Sie,“ ich baute mich vor Santini auf, das Kinn vorgereckt, beide Fäuste in die Hüften gestützt, doch der Schmerz, der von meinen Fingerspitzen meine Nervenbahnen hinaufraste, ließ mich meine Arme sinken lassen. Ich kam mir vor wie ein Luftballon, aus dem langsam die Luft entweicht und ich sah Santini an, dass er es ganz genauso sah. Meine Laune, ohnehin schon am gefühlten Tiefpunkt, sank ins Bodenlose. „Kümmern Sie sich um Ihre eigenen Angelegenheiten“, zischte ich. „Ihre Katze zum Beispiel. Die ist schon wieder in meinem Garten.“

Santini warf mir einen scharfen Blick zu, dann Kross einen, bei dem ich froh war, nicht der Empfänger zu sein.

„Wovor haben Sie sie nicht gewarnt?“, fragte er. Seine Kiefer mahlten. Ich hätte eingreifen können, mir verbitten können, dass er sich in meine Angelegenheiten mischte, aber ich war viel zu interessiert an der Antwort, um das zu tun. Meines Feindes Feind ist mein Freund – oder Nutze die Situation und genau das war es, was ich tat. Ich stand still und hörte zu.

„Wie Frau Kellen bereits sagte: Unsere Geschäftsbeziehung geht Sie nichts an.“

„Sieht sie deshalb aus, wie der Tod auf Urlaub?“

Auf dieses Statement hätte ich gerne verzichtet. Er wandte sich mir zu. „Bevor Sie wütend werden: Sie sehen aus, als ob man Sie durch den Wolf gedreht hätte. Ihre Augen sind blutrot und ihre Haut hat einen sehr unsexy grünen Ton.“

„Danke, das war genau das, was ich von Ihnen zu hören erwartet hatte. Warum gehen Sie nicht und kümmern sich um Ihre Angelegenheiten?“

„Das hier ist meine Angelegenheit“, blaffte er. „Wenn Sie nicht so sehr auf meinen Kater fixiert wären, hätten Sie bemerkt, dass Kross und Sie für mehr verantwortlich sind, als meine schlechte Laune.“

Er ergriff meinen Oberarm und bevor ich protestieren konnte drehte er mich so, dass ich die Länge der Straße überblicken konnte. Ich stutzte, die sonst so ruhige Straße wimmelte geradezu von Menschen, Menschen, die aufgeregt hin- und herliefen und jetzt hörte ich auch Rufe und in der Ferne Sirenen. Außer bei unserem jährlichen Straßenfest im August habe ich noch nie so viele von meinen Nachbarn zusammen gesehen. Manche sprachen aufgeregt in ihre Mobiltelefone, manche standen nur kopfschüttelnd da und keiner von ihnen sah glücklich aus.

„Was …?“, fragte ich, aber Santini antwortete nicht, sondern zog mich am Arm vorwärts, oder besser ausgedrückt, zurück zu meinem Gartentor.

„Sie haben genug angestellt. Beeilen Sie sich und gehen Sie in Ihr Haus zurück, schließen Sie die Tür und gehen Sie auf Tauchstation. Sie wissen von nichts, haben nichts gesehen oder gehört. Das ist wichtig“, sagte er eindringlich. „Wer auch immer sie fragt: Sie wissen von nichts!“

„Was?“, fragte ich. Mein Wortschatz schien sich nur noch auf dieses eine Wort zu beschränken und ich wollte schon zu einer geharnischten Beschwerde ansetzen, als ich das Haus gegenüber dem meinen sah. Zuerst konnte ich es nicht glauben, aber dann dämmerte es mir, dass hier ganz und gar etwas nicht stimmte. Alle Scheiben der Vorderfront waren weg. Die Scheiben schienen wie aus den Rahmen geschnitten. Durch die leeren Rahmen konnte man ins Haus hineinsehen. Mein Blick flog zu meinem Haus und der bestätigte meine schlimmsten Befürchtungen: Alle Scheiben der Vorderfront existierten nicht mehr, lediglich ein glitzernder Teppich aus feinsten Scherben bedeckte meinen Rasen. Heiße und eisige Schauer jagten über meinen Körper. Das konnte, das durfte nicht wahr sein! Ich stand sprichwörtlich vor dem Nichts. Neue Fensterscheiben lagen weit jenseits meiner finanziellen Möglichkeiten, noch weiter als es die Versicherungsprämien für eine Glasversicherung gewesen waren. Ich wollte etwas sagen, aber die Worte blieben mir im Hals stecken.

„Verstehen Sie jetzt, dass es gefährlich ist, Geschäfte mit Kross zu machen? Lassen Sie sich nicht in Dinge hineinziehen, die Sie nicht überblicken können, sonst ist das hier erst der Anfang.“

Ich beugte mich zur Seite, um an ihm vorbei zu Kross zu sehen, aber der war verschwunden. Selbstverständlich war er das, ich wäre es auch gerne.

Vielleicht war das alles nur ein Traum, ein schrecklicher Alptraum, aber ich würde hoffentlich bald aufwachen. Aber im Traum verspürte man keine Schmerzen und neben den Blasen auf meinen Handflächen war auch Santinis Griff hart an der Grenze zu schmerzhaft.

Am liebsten wäre ich auf der Stelle zusammengesunken und hätte geweint, aber eine solche Schwäche zu zeigen stand außer Frage. Ich riss mich zusammen und ging zurück zu meinem Haus. Vielleicht war es gar nicht so schlimm. Vielleicht hatte es nur die drei Fenster auf der Vorderseite getroffen. Mein Schlafzimmerfenster unter dem Dach hatte Fensterläden, die gut ein paar Wochen geschlossen bleiben konnten und die beiden Fenster im Erdgeschoss mussten dann so billig wie möglich repariert werden. Ade Isolierverglasung. Doch dann erinnerte ich mich an das Geld von Kross. So viel und jetzt doch so wenig. Nun, wenigstens würde ich meine Essensrationen nicht kürzen müssen. Mir war etwas leichter zumute, als ich meine Gartenpforte öffnete, doch dann schoss ein Gedanke wie ein Eispfeil durch meinen Kopf: Glaubte Santini wirklich, dass Kross und ich etwas mit diesen zerbrochenen Scheiben zu tun hatten? Vor meinem geistigen Auge blitzten Scharen von aufgebrachten Nachbarn auf, die mich bedrängten, ihnen ihre Schäden zu ersetzen.

Ich wandte mich zu Santini um. „Glauben Sie wirklich, dass ich …“

„Halten Sie den Mund und verschwinden Sie endlich“, zischte er. „Ich kümmere mich um alles.“

Ein Stoß zwischen meine Schulterblätter unterstrich seine Aufforderung nachdrücklich.

Mir war schwindlig, ich hatte Schmerzen und die ganze Situation lastete wie ein Tonnengewicht auf mir. Nach Hause und, wie es Santini ausgedrückt hatte, auf Tauchstation zu gehen, klang plötzlich nicht mehr so schlecht.

Ich betrat meinen Garten und hörte, wie die Gartenpforte hinter mir ins Schloss fiel. Ich sah nicht zurück.

Um das Haus herum glitzerte der Boden unter Milliarden winziger Glasscherben, so fein wie Schnee. Was auch immer die Scheiben zerstört hatte, es hatte sie pulverisiert. Es würde Ewigkeiten dauern, bis ich das Glas aus meinem Garten entfernt hatte. Nichts, was ich mir vorstellen konnte, kein Überschallknall, keine Explosion, kein Feuer und kein Werkzeug, konnte eine solche Zerstörung angerichtet haben. Und ich sollte dafür verantwortlich sein? Unsinn! Kross‘ Besuch bei mir und der Vorfall mit den Scheiben hatten ganz sicher nichts miteinander zu tun, nur hatte Santini aus unerfindlichen Gründen etwas dagegen, dass Kross hier in der Gegend auftauchte. Als er ihn vor meiner Haustür sozusagen ertappt hatte, hatte er den Glasvorfall einfach genutzt, um mir Angst einzujagen und damit sicherzustellen, dass ich keine Geschäfte mehr mit Kross machte. Was auch immer Santini und Kross miteinander oder vielmehr gegeneinander hatten, ging mich nichts an. Und Santini ging es nichts an, mit wem ich geschäftlich verkehrte.

Der Drang, mich auf meine Couch zu legen, mir die Decke übers Gesicht zu ziehen und die Welt auszublenden, war ungeheuer verführerisch, aber ich musste zuerst alle Fenster kontrollieren und die Läden schließen und dann musste ich die Scherben zusammenkehren. Ich sah auf die große Pendeluhr direkt vor mir. Fünf Uhr. Gut, dass es Sommer war und noch lange hell. Es würde lange dauern, bis ich ins Bett kam.

Dann erinnerte ich mich, dass ich mit meiner Freundin verabredet war. Leona und ich wollten ins Kino und dann etwas trinken gehen. Ich seufzte. Das konnte ich vergessen. Ich zog mein Handy aus meiner Hosentasche und wollte Leona anrufen, als ein Anruf einging. Ich erschrak so sehr, dass ich es fallen ließ. Ich fluchte und hob es auf.

„Kellen“, meldete ich mich. Geschäft war Geschäft und jetzt notwendiger denn je.

„Anna, Anna, er hat sich gemeldet!“. Die Stimme war die einer Frau und die Worte waren kaum zu verstehen. Anscheinend stand sie, wer auch immer sie war, direkt an einer vielbefahrenen Straße.

„Er lebt, Anna, er lebt!“ Die Stimme überschlug sich, aber ich hatte ein recht gutes Gehör und jetzt eine Ahnung, wer es war.

„Mirja?“, fragte ich.

Keine Antwort, nur heftiges Weinen.

„Mirja, wenn Sie es sind, antworten Sie mir! Was ist mit Ihnen? Ich möchte Ihnen gern helfen, aber Sie müssen mir sagen, wie.“

Ich hätte wissen müssen, dass sie mit dem heutigen Nicht-Ergebnis nicht zurechtkommen würde. Warum habe ich sie danach einfach gehen lassen? Ich hätte darauf bestehen müssen, dass sie sich von jemandem abholen ließ, der ihr zur Seite stand. Aber ich war selbst so enttäuscht gewesen, dass ich einfach nicht darüber nachgedacht hatte.

„Mirja?“

Ich lauschte angestrengt, schließlich wurde das Weinen leiser. Das Auf- und Abschwellen des Verkehrs blieb.

„Mirja, bitte antworten Sie mir. Warum weinen Sie?“

„Ich habe eine Nachricht von ihm bekommen“, schluchzte sie. „Bitte, helfen Sie mir.“

„Aber das ist doch gut“, stammelte ich. „Dann ist doch alles in Ordnung.“

Sie weinte weiter. Mein Schädel war kurz davor zu platzen und ich wollte nichts mehr, als dieses Gespräch beenden, aber sie tat mir leid und ich wusste, wie es war, um jemanden zu bangen, den man liebte.  

„Ganz ruhig,“ sagte ich so ruhig, wie es mein Zustand zuließ. „Wo sind Sie? Was ist passiert? Sagen Sie mir, wie ich Ihnen helfen kann.“

„Niemand kann mir helfen“, schluchzte sie. „Er ist tot! Sie sind alle tot!“

„Wieso ist er tot?“, fragte ich. „Und wer sind „alle“? Welche Art Nachricht war das? Was stand in der Nachricht?“

Keine Antwort. Ich lauschte ins Leere. Ein, zwei Sekunden verstrichen, dann brach das Gespräch ab.

Kapitel 2

Leona war eine gute Freundin. Kaum hatte sie gehört, dass ich mich nicht mit ihr treffen konnte, weil sich mein Haushalt im absoluten Ausnahmezustand befand, tauchte sie auf, gewandet in eine mintgrüne Camohose mit passenden, mintgrünen Combat Boots. Ich sage „gewandet“, weil Leona Kleidung nicht trug, sie verlieh jedem noch so alten Fetzen den Satus von Couture. Es war nicht so, dass sie sich exaltiert bewegte oder auffallend posierte, es war einfach so, dass jedes Kleidungsstück, das sie trug, wirkt, als habe ein Couturier es ihr auf den Leib komponiert. Und keine Frau auf der Welt außer ihr trug Combat Boots mit Zwölf-Zentimeter-Absätzen. Die geliehene Höhe brachte sie auf knappe Ein-Meter-siebzig, wenn sie sich streckte, was im Gegenzug bedeutete, dass sie barfuß ziemlich winzig war. Nicht, dass sie sich daran störte und auch sonst niemand. Wenn sie einen Raum betrat, drehten sich alle nach ihr um. Ihr langes blondes Haar und die strahlend blauen Augen sicherten ihr bereits auf den ersten Blick alle Aufmerksamkeit, aber es war eine Art inneres Strahlen um sie, eine Art Elektrizität, die jeden und jede in ihren Bann zog. Abgesehen davon war sie das freundlichste und fröhlichste Wesen, das mir je untergekommen war. Ich lernte sie kennen kurz nachdem ich zu Tante Anna zurückgezogen war. Sie hatte mein, nein, Tante Annas Auto, das ich an diesem Tag gefahren war, auf einem Parkplatz mit ihrem Wagen blockiert. Ich war rasend zornig gewesen, als sie endlich nach einer endlos langen, halben Stunde aufgetaucht war, weil ich einen Zahnarzttermin verpasst hatte, aber sie war so schuldbewusst gewesen und so charmant, dass sie mich innerhalb von Minuten entwaffnet hatte und ihre Einladung in ein kleines Café zu heißen Schoko-Muffins und Cappuccino schlug eine Zahnreinigung um Längen. Wir unterhielten uns, bis die Inhaberin kam und darauf hinwies, dass das Café eigentlich längst geschlossen wäre. Und richtig, wir waren die einzigen Gäste im Café. Wir entschuldigten uns und verzogen uns kichernd. Es war bereits dunkel und ich hatte nicht einmal bemerkt, wie die Zeit vergangen war. Leona und ich verabredeten uns für das nächste Wochenende und seitdem waren wir unzertrennlich – bis auf die Tage und Wochen, in denen sie nicht erreichbar war und auch ihre Mails und Nachrichten nicht beantwortete. Auf meine Fragen antwortete sie ausweichend. Familienangelegenheiten, sagte sie immer, aber welche Familienangelegenheiten sollten das sein, wenn sie ihre Familie sonst mit keinem Wort erwähnte? Aber ich lernte schnell, dieses anscheinend heikle Thema zu vermeiden, es machte einfach wenig Sinn, immer an die gleiche verschlossene Tür zu klopfen. Abgesehen von diesem kleinen Umstand gab es keinen Menschen, den ich lieber mochte, als sie. Wir teilten die gleichen Interessen, liebten harten Rock und Actionfilme, modernes Ballett und italienisches Essen und jedes Mal, wenn wir uns trafen, fanden wir neue Gemeinsamkeiten. Und jetzt war ich dankbar, dass sie mir helfen wollte, Tonnen winziger Glassplitter aus meinem Garten zu entfernen.

„Armes Häschen“, rief sie und zog mich in eine liebevolle Umarmung. „Die ganze Gegend sieht aus, als ob ein Bürgerkrieg ausgebrochen ist. Was ist hier passiert?“ Sie lachte und umarmte mich. „Wie dumm, so etwas zu fragen, niemand hat eine Ahnung. Die Nachrichten sind voll davon. Aber mach dir keine Sorgen, das hier kriegen wir wieder hin. Ich bin ein wildes Biest, wenn es ums Aufräumen geht, glaub’ mir das. Wir schaffen das, selbst wenn es die ganze Nacht dauert.“

„Das ist es, was ich befürchte“, seufzte ich. „Dass es die ganze Nacht dauert.“

Sie tätschelte meinen Arm, doch plötzlich hielt sie inne. Etwas in meinem Gesichtsausdruck musste sie alarmiert haben, denn sie sah mir prüfend ins Gesicht. Sie runzelte die Stirn.

„Sag‘ jetzt nicht ‚Wie siehst du denn aus?‘, sagte ich, bevor sie etwas sagen konnte. „Mein Spiegel hat das schon erledigt.“ Ich versuchte zu lächeln, doch das Weinen war mir näher. Ich wusste, dass meine Augen so rot waren, als ob ich stundenlang geweint hätte, dafür war meine Haut so bleich, als ob sie noch nie die Sonne gesehen hätte. Ich fühlte mich furchtbar und man sah es mir an.

Sie drängte mich sanft, aber bestimmt ins Wohnzimmer auf mein geliebtes, durchgesessenes Sofa zu und drückte mich mit Nachdruck in die Kissen. Ich sprang wieder auf, oder wollte es, doch Leona kannte mich zu gut und drückte mich wieder zurück.

„Da ist doch noch etwas anderes. Erzähl‘ es mir: Was ist hier los?“

Ich zuckte mit den Schultern. Selbst das war anstrengend. „Ich weiß es nicht. Anscheinend ist heute nicht mein Tag. Ich habe eine Lesung verbockt, nein, zwei. Kannst du es glauben, dass ich mich an einer Karte verbrannt habe?“

Ich zeigte ihr meine Fingerspitzen. „Außerdem macht Santini mich für das hier alles verantwortlich, warum auch immer.“

Leona wusste, wer Santini war, schließlich war sie es, die so scharf darauf war, ihn beim Training zu beobachten. Seit sie herausgefunden hatte, dass mein Dachfenster den idealen Blick auf den nachbarlichen Fitnessraum bot, stalkten wir Santini gemeinsam. Ich gab zu, es gab Schlimmeres zu beobachten, als einen schweißglänzenden, durchtrainierten Männerkörper, aber ich sah ihn eher als ästhetische oder künstlerisches Anschauungsmaterial. Leona dagegen sah ihn als das anscheinend unerreichbare Ziel ihres Verlangens. Sie zu beobachten, während sie sich, wie sich nach ihm verzehrte, war weitaus interessanter. Obwohl ich ihren Geschmack nicht teilte, schmiedete ich Pläne, sie und ihn unauffällig zusammenzubringen. Bis jetzt hatte es nicht funktioniert, aber ich gab die Hoffnung nicht auf. War ich nicht eine gute Freundin, sie mit jemandem verkuppeln zu wollen, der mich hasste? Außerdem fand ich nicht, dass sie zusammenpassten. Er war viel zu alt für sie.

„Warum sollte er das?“, fragte sie.

„Er hat es gesagt.“

„Was hat er gesagt?“, fragte sie. Ihre gerunzelte Stirn und ihr Kopfschütteln zeigten, dass sie an meinen Worten zweifelte. Kein Wunder, ihr Traummann sollte etwas falschgemacht haben? Unwahrscheinlich in ihrer Vorstellung. Selbstverständlich musste sie seine Partei ergreifen.

„Wortwörtlich?“ Ich lachte, es klang wie ein Bellen. Ich hörte es und nahm mich zusammen. Ich war froh, dass Leona da war, sie hatte keine Schuld an allem und sie wollte mir helfen. Ich kam mir schäbig vor, sie so anzugehen. „Er sagte irgendwas wie ‚Sie sind dafür verantwortlich!‘‘“

Sie bedachte es für einen Moment. „Und dann?“ fasste sie ihre Überlegungen zusammen.

„Und dann – was?“

„Was tat er, was sagte er dann?“

Ich schnaubte. „Bevor oder nachdem er mir befahl, nach Hause zu gehen und mir die Bettdecke über den Kopf zu ziehen?“

Leona lachte. „Hat er das? Aber das kann nicht alles gewesen sein.“

Ich schnaubte wieder. „Fakt ist, das war alles. Er schickte mich nach Hause, als ob ich vier wäre und er wollte sich um alles kümmern, was auch immer ‚alles‘ ist. Seitdem habe ich nichts von ihm gehört und das ist auch gut so. Ich erlaube nicht, dass er sich um meine Angelegenheiten kümmert. Außerdem habe ich größere Probleme. Größere als die, wie ich das alles bezahlen soll.“

Während ich redete wählte ich wieder die Nummer, unter der mich Mirja angerufen hatte. Ich hatte das gefühlt alle zwei Minuten getan, immer mit dem gleichen Ergebnis: Eine seelenlose Stimme sagte mir, dass die gewählte Nummer momentan nicht zu erreichen war. Ich würde es solange versuchen, bis ich mit ihr reden konnte.

„Wen rufst du an?“

„Eine Klientin. Die, deren Lesung ich verbockt habe. Ihr Freund war verschwunden und sie bat mich, ihn zu finden. Ich habe versagt. Er war einfach nicht mehr da. Sie rief mich an und sagte, er habe sich gemeldet, aber sie schien Angst zu haben. Dann sagte sie, dass alle tot seien und dann brach das Gespräch ab und jetzt kann ich sie nicht mehr erreichen.“

Während ich sprach wählte ich wieder, aber mit dem gleichen deprimierenden Ergebnis.

„Ich sollte die Polizei anrufen, aber du weißt ja, was die von jemandem mit meinem Beruf halten. Sie würden mich auslachen oder sagen, dass Mirja nicht mehr von mir belästigt werden will oder dass ich mir alles nur einbilde -irgendetwas in dieser Richtung. Außerdem weiß ich noch nicht einmal ihren Nachnamen und ihre Adresse habe ich auch nicht.“

So laufen die Dinge in meinem Berufsfeld. Leute rufen an, sie sagen mir ihren Namen oder einen Namen, den sie sich ausgedacht haben, weil sie Angst haben, in ihrer Familie, ihrem Bekanntenkreis oder in ihrem beruflichen Umfeld als verrückt zu gelten, falls es herauskommt, dass sie ihre Zukunft hatten erfahren wollen, aber auch, damit ich nicht in Facebook oder einer andren Seite Details aus ihrem Leben erfahren konnte, die ich dann als eigenes Ergebnis ausgab. Ich verstand und akzeptierte das.

„Sie wollte offensichtlich, dass du erfährst, dass etwas Schlimmes geschehen ist. Ganz offensichtlich war sie aufgeregt und ängstlich. Sie wird sich wieder melden, wenn sie sich beruhigt hat. Und du beruhigst dich am besten auch. Setz‘ dich, ich mach‘ dir einen Tee.“

Tee? Ich zog eine Grimasse. Für Leona gab es keine Krise, die, wenn schon nicht mit Tee bekämpft, dann zumindest damit ertragen werden konnte, deswegen hatte ich welchen im Haus, aber ich war schon immer mehr der Kaffee-Typ gewesen.

„Ich habe keine Zeit dafür, oder denkst du, die Scherben räumen sich allein weg und oh, verdammt, ich muss einen Glaser anrufen. Meine Nachbarn haben sich sicherlich alle schon Termine gesichert. Der Himmel weiß, wann jemand für meine Fenster Zeit findet.“

Leona entwand mir das Handy. „Du“, sagte sie, „machst jetzt erst einmal gar nichts. Du trinkst den Tee, den ich dir aufbrühe und ich telefoniere mit einem Bekannten. Er hat eine Servicefirma und er wird uns gerne helfen, dieses Glasdesaster aufzuräumen. Nein“, sagte sie schnell, weil sie wusste, dass ich auf die Kosten hinweisen wollte, „es kostet dich nichts, er schuldet mir noch einen Gefallen. Außerdem kennt er jede Menge Handwerker. Die anderen sind vielleicht schneller, aber wir haben Vitamin B.“

„Und Mirja?“, fragte ich, aber Leona hatte dem Raum bereits verlassen. Vielleicht hatte sie recht und Mirja würde sich wieder melden, aber irgendwie hatte ich kein gutes Gefühl bei der Sache.

Leona kam nach gefühlten zehn Sekunden zurück, in den Händen zwei

Steingutbecher. Sie hielt mir den roten hin und setzte sich mit dem blauen neben mich. Bitte lass es nicht Kamille sein, oder Fenchel! Ich schnupperte misstrauisch am Dampf und entspannte mich. Pfefferminz war gar nicht so übel. Leona grinste mich über den Rand ihres Bechers an. „Hätte schlimmer kommen können?“

Ich grinste zurück und nahm einen vorsichtigen Schluck. „Aber nicht viel. Wenn ich das ausgetrunken habe, könntest du dich dann dazu überwinden, einen Kaffee zu kochen?“

Sie zog eine Grimasse. „Vielleicht.“

Wir tranken unseren Tee schweigend. Mir war kalt und ich hätte meine Hände gerne um den Becher gelegt, um sie zu wärmen, aber Brandblasen und Hitze vertragen sich überhaupt nicht gut, also hielt ich en Becher am Henkel und versuchte, den Tee so schnell wie möglich herunterzubekommen. Immerhin entspannte er mich genug, dass ich nicht alles verschüttete, als es an der Tür klingelte. Leona sprang auf und sah durchs Fenster.

„Polizei“, sagte sie. „Die werden Fragen stellen, ob du etwas weißt oder gesehen hast. Ich wimmle sie ab.“

Und fort war sie. Ich hörte Stimmen, dann Leonas Lachen und kurz darauf war sie wieder zurück.

„Was war?“, fragte ich.

„Wie ich sagte: Sie wollen wissen, ob wir etwas gesehen oder gehört haben. Da ich ehrlich sagen konnte, dass ich nichts weiß, zogen sie weiter. Falls uns etwas auffällt, sollen wir uns melden.“

„Sie wollten mich nicht sprechen?“

Leona zuckte mit den Schultern. „Ich sagte ihnen, dass du Migräne hast. Wie gesagt: Falls uns etwas einfällt, sollen wir uns melden, ansonsten können wir den Schaden der Versicherung melden.“ Sie konnte meinen Blick richtig deuten und hakte nach: „Du hast keine, stimmt’s?“

Ich schüttelte resigniert den Kopf.

Sie drückte mich an sich. „Uns fällt schon was ein.“

Ich nickte, mehr, um ihren Trostversuch zu würdigen, denn aus Überzeugung. Vielleicht. Eher wohl nicht.

„Ich hol‘ den Staubsauger“, seufzte ich. „Besen und Kehrschaufel sind in der Küche.“

Wir trafen uns im Wohnzimmer. Hier war das größte Fenster und das, was auf den Vorgarten ausgerichtet war.

„Ich weiß nicht“, murmelte Leona. „Irgendetwas ist faul an dieser Sache. Die Polizisten meinten, es sei ein Überschallknall gewesen, aber der hätte die Scheiben zerspringen lassen. Schau her, die hier sind einfach zerbröselt. Weder nach innen noch nach außen zersprungen, sie liegen zu beiden Seiten ganz dicht an der Wand, als … ich weiß nicht, hätte etwas ihren inneren Halt zerstört. Ich habe noch nie so etwas gesehen.“

Ich sah genauer hin. Jetzt, da der erste Schock überwunden war und ich mich in die Situation gefügt hatte, war ich imstande, den Schaden nüchtern zu begutachten. Leona hatte recht. Es waren keine zersplitterten Scheiben, es war Glasmehl, das von meinen Fensterscheiben übriggeblieben war. Ich erinnerte mich an das seltsame Knacken. Kross schien mir nicht der Mann zu sein, der seine Fingergelenke in der Öffentlichkeit knacken ließ. Wenn ich nicht so mit mir selbst beschäftigt gewesen wäre, hätte ich es mitbekommen. Kross hatte auch nichts gesagt, aber der hatte seine eigene Agenda. Aber dann erinnerte ich mich an sein Erstaunen, als er die Tür geöffnet hatte. Nein, er konnte nichts damit zu tun haben.

„Gehen wir es an. Ich fange in der Küche an, du am besten hier.“

Leona nickte. „Erstmal beseitigen wir alles im Haus. Um das draußen kümmert sich mein Freund. Du wirst sehen, in zwei Tagen ist alles wieder in Ordnung. Ich ruf‘ ihn gleich an.

Ich verzog mich in die Küche. Während ich anfing, das Fensterbrett mit meinem kleinen Akkusauger abzusaugen, hörte ich Leona im Wohnzimmer telefonieren. Dann heulte der große Staubsauger auf. Ich bin nicht die beste aller Hausfrauen, aber ich liebte es, Ordnung ins Chaos zu bringen. Ich arbeitete verbissen daran, die Räume wieder so aussehen zu lassen, wie vor dem Zwischenfall. Leona und ich arbeiteten, bis es anfing, dunkel zu werden. Gerade wollte ich Leona zurufen, dass wir fürs erste eine Pause machen und etwas essen sollten, als es an der Tür klingelte.

„Ich geh‘ schon“, rief Leona.

Kurz darauf hörte ich männliche Stimmen. Leona antwortete, dann hörte ich Schritte näherkommen. Die Diele ist mit alten Bohlen ausgelegt und obwohl ein Läufer darauf liegt, klingt es hohl, wenn man darauf tritt. Es waren viele Tritte und ich wandte mich neugierig um. Wie erwartet war Leona nicht allein gekommen. Hinter ihr stand Santini und ein mir unbekannter, älterer, oder eher, sehr alter Mann. Er hatte weißes Haar, das ihm in einer sanften Welle über die Stirn fiel, hellblaue Augen unter weißen, buschigen Augenbrauen und ein Gesicht voller freundlicher Falten. Der Weihnachtsmann mitten im Sommer. Er lächelte. Santini nicht.

„Was wollen Sie?“, fragte ich.

Es sollte herausfordernd klingen, aber selbst in meinen Ohren hörte sich meine Stimme einfach nur erschöpft an. Der Tee und zwei weitere Kopfschmerztabletten hatten geholfen, doch auch wenn ich langsam anfing, mich wieder menschlich zu fühlen, fühlte ich mich noch lange nicht bereit, Santinis Belehrungen ein weiteres Mal an diesem Tag zu ertragen.

„Sie wollen dir helfen“, sagte Leona. „Bitte hör dir an, was sie zu sagen haben.“

„Bitte, Frau Kellen“, sagte der Fremde. „Ich weiß, dass sie verletzt und erschüttert sind und ich verstehe, dass Sie jetzt allein sein und alles verarbeiten wollen. Aber ich weiß auch, dass Sie verstehen wollen, was passiert ist.“ Er zwinkerte, als ich den Mund öffnete, um eine schroffe Erwiderung einzuwerfen. „Jeder würde das, nicht wahr? Ich weiß einiges darüber und es wäre mir eine Freude, mein Wissen mit Ihnen zu teilen.“

„Wer sind Sie?“ Ich wich keinen Schritt zurück. Ein sanftes Lächeln und freundliche Augen waren nicht genug, mein Vertrauen zu gewinnen. Nicht nach diesem Tag.

Das sanfte Lächeln gewann eine herzliche Note, dabei vertieften sich die Fältchen in den Augenwinkeln des Unbekannten. „Hermann Gerwin. Ich bin sehr erfreut, Sie endlich kennenzulernen. Ihre Tante hat mich gebeten, Ihnen mit Rat und Tat zur Seite zu stehen, falls Sie meiner Hilfe bedürfen.“

„Sie kannten meine Tante?“

„Sie war eine meiner engsten Freundinnen. Ihr Tod hat mich tief getroffen.“

„Zu tief, um auf ihrer Beerdigung zu erscheinen?“

Die Worte waren heraus, bevor ich nachgedacht hatte, aber meine Wut, von der ich noch nicht einmal gewusst hatte, dass sie da war, brach sich mit Wucht ihren Weg nach draußen. Wo auch immer drinnen war. Meine Tante war eine weithin bekannte Persönlichkeit gewesen, doch auf ihrer Beerdigung waren nur wenige Trauernde gewesen und die, die dagewesen waren, hatte ich gekannt: unsere Nachbarn zu beiden Seiten, drei alte Freunde und zwei langjährige Kunden, deswegen konnte ich mit Sicherheit behaupten, dass dieser Mann kein Teil der Trauergemeinde gewesen war.

„Ja, ich weiß. Ich war zu dieser Zeit nicht im Lande, sonst, glauben Sie mir, hätte mich niemand davon abhalten können, meiner guten Freundin das letzte Geleit zu geben.“

Er klang aufrichtig, doch ich war weder in der Verfassung noch in der Stimmung, psychologische Hintergrundforschung zu betreiben, also setzte ich auf das sozial bewährte, nichtssagende Lächeln. Ich war kein misstrauischer Mensch, aber die Ereignisse waren gerade dabei, mich zu überrollen, und ich war nicht dafür gerüstet, in dieser Situation Freund und Feind zu unterscheiden. Für Gerwin sprach, dass Leona ihn anscheinend für vertrauenswürdig hielt, gegen ihn, dass ich noch nie von ihm gehört hatte. Wenn er ein so guter Freund gewesen war, warum hatte Tante Anna nie von ihm gesprochen? Könnte er Leona gezwungen haben, für ihn zu sprechen? Aber warum? Einen Termin bei mir zu bekommen, war nicht schwer. Ganz im Gegenteil, die Kunden rannten mir wahrlich nicht die Tür ein. Und dann hätte er keine Zeugen gehabt, für was auch immer er vorgehabt hätte. Aber was, wenn Leona, Santini und er Komplizen waren? Unsinn, schalt ich mich. Was hätten sie zu gewinnen? Ein kleines, reparaturbedürftiges Haus war alles, was ich besaß, neben der Kartensammlung, von der ich nicht wusste, was sie wert war. Aber Millionen würde kein Set wert sein, dann hätte Tante Anna sicherlich das Dach reparieren lassen und eine neue Heizung wäre gewiss auch noch drin gewesen. Und auch ein längerer Urlaub, den sie und meine Mutter so dringend nötig gehabt hätten. Aber obwohl ich in Gedanken abschweifte, hatte meine Erziehung die Regie übernommen und ich war ganz instinktiv zurückgetreten, um meine ungebetenen Gäste eintreten zu lassen.

„Also gut“, fasste ich meine Gedanken zusammen. „Sagen Sie, was Sie zu sagen haben.“

Ich wies auf meine Couchgarnitur. Viel herzumachen war nicht damit, der karierte Baumwollstoff hatte bessere Tage gesehen, aber der ovale Tisch aus poliertem Wurzelholz war alt und ein handwerkliches Schmuckstück.

Gerwin nickte dankend und nahm auf dem Sessel Platz, Leona schlüpfte auf ihren bevorzugten Platz in der linken Couchecke und kuschelte sich in die Kissen, die Beine unter den Körper gezogen, nur Santini blieb stehen und bezog Stellung neben dem Sessel, die Arme verschränkt, die Beine leicht gespreizt, ganz so, als ob er ein Bodyguard wäre. Ich warf ihm einen gereizten Blick zu, den er ignorierte, und nahm neben Leona Platz.

„Okay“, sagte ich zu Gerwin. „Schießen Sie los. Und Sie“, wandte ich mich an Santini, „stehen Sie bequem.“

Er schnaubte nur gelangweilt und demonstrierte damit, dass mein Versuch, ihn zu reizen, ins Leere gelaufen war. Ich sah wieder zu Gerwin. Er nickte mir zu.

„Arnold Kross arbeitet für zweifelhafte Personen und das schon seit einer Ewigkeit“, begann er. „Er hat während seiner Karriere als Anwalt Unmengen an Informationen gesammelt und sich nicht gescheut, diese Informationen zu nutzen.“

„Also ein ganz normaler Anwalt“, unterbrach ich ihn. „Kommen Sie zu dem Punkt, an dem Kross entweder für mich gefährlich ist oder mit den gesplitterten Scheiben in meiner Straße in Verbindung gebracht werden kann oder gehen Sie. Mein Schädel platzt gleich und muss noch eine Tonne Glas von meinem Rasen entfernen. Außerdem erwarte ich jede Minute den Mob vor meiner Tür, denn ich gehe davon aus, dass Ihr militanter Begleiter“, ich warf einen Blick zu Santini, „nichts Eiligeres zu tun hatte, als herumzuposaunen, dass allein ich Schuld an dem Desaster habe.“

„Sie tun ihm unrecht, meine Liebe.“ Gerwin lächelte wieder, aber der Tadel in seiner Stimme war nicht zu überhören. Langsam ging mir sein ständiges Lächeln auf die Nerven. Er war nicht mein Großvater, nicht mein Lehrer und schon gar kein Freund. Ich hatte zugestimmt, ihn anzuhören, aber nicht, mich zurechtweisen zu lassen. Und meine Meinung, was Santini betraf, stand auf einer oft bestätigten, soliden Basis.

„Also?“, seufzte ich. „Sagen sie’s geradeheraus, keine verschwurbelten Sätze, keine schonenden Umschreibungen, nichts in dieser Art, nur die nackten Tatsachen. Schaffen Sie das? Wenn nicht, da vorn ist die Tür. Verschwinden Sie und schreiben Sie mir einen Brief.“

Ich war normalerweise nicht so unhöflich, aber ich konnte einfach nicht mehr. Wenn ich meine Besucher nicht innerhalb kürzester Zeit wieder loswurde, würde ich losheulen, schreien oder einfach umfallen.

„Also gut: Arnold Kross arbeitet für eine weltweit operierende kriminelle Vereinigung. Ihr Oberhaupt in Deutschland nennt sich Mart Kolus. Er hat spezielle …“, Gerwin zögerte, als suchte er den passenden Begriff, aber vielleicht war es auch nur eine Kunstpause vor dem großen Knall, aber dann enttäuschte er mich mit einem lahmen „… Kräfte.“

„Mart Kolus -da klingelt etwas in meinem Hinterkopf. Mart Kolus …“

„Er ist der Unterhaltungskönig im Rhein-Main-Gebiet, vielleicht daher“, warf Santini ein.

„Wow, anscheinend hat da jemand seine Stimme wiedergefunden.“

„Bitte.“ Gerwin hob eine Hand. „Ich denke, so kommen wir nicht weiter. Sie vertrauen mir nicht, das kann ich nachvollziehen, aber es ist ungeheuer wichtig, dass Sie mit mir“, er wies auf Santini, „uns - zusammenarbeiten. Ich denke nicht, dass Sie derzeit in unmittelbarer Gefahr sind, aber Sie könnten in kriminelle – und schlimmere – Machenschaften hineingezogen werden, als Sie es sich vorzustellen vermögen. Ich will Ihnen nichts Böses. Leona kann Ihnen das bestätigen, sie kennt mich schon eine Ewigkeit.“

Ich sah zu Leona. Sie nickte.

„Okay“, gab ich nach. „Was wollen Sie wissen?“

„Was wollte Kross?“

„Er wollte meine Meinung zu einem Tarot-Set. Ich sagte ihm, dass ich keine Expertin sei, aber er bestand darauf. Die Karten lagen in einer Holzschatulle mit silbernen Ornamenten. Die Karten sahen älter aus, als alle, die ich bisher gesehen hatte.“

Gerwin beugte sich vor und verschränkte seine Hände wie im Gebet. „Beschreiben Sie die Karten so genau, wie es nur geht.“

„Wie gesagt, sie schienen sehr alt zu sein, die Kanten waren weich vom vielen Gebrauch.“ Ich musste mich nicht konzentrieren, um die Erinnerung heraufzubeschwören, das Wissen war in meinem Kopf eingebrannt. Ich hätte jede einzelne Karte zeichnen können – wenn ich die Fähigkeit dazu gehabt hätte, was nicht der Fall war. Überhaupt nicht. „Der Hintergrund war früher wohl weiß, jetzt grau-beige, die Bilder blau, königsblau, denke ich, nur Außenlinien, keine Schattierungen, keine Hintergrundverzierungen, doch jede Karte war absolut ausdrucksvoll: König, Königin, Krieger, Monster, Tiere, einfache Symbole wie Wasser oder Feuer, andere Symbole sehr komplex, aber absolut fremdartig, wie ich sie noch nie gesehen hatte. Eine Karte stach heraus. Es war eine Kriegerin. Sie trug Vollrüstung, aber ich wusste, dass sie eine Frau war.“

„Wie?“, fragten Gerwin und Santini wie aus einem Mund.

Ich zuckte mit den Schultern. „Ich habe keine Ahnung, ich wusste es einfach. Sie sprach zu mir, anders kann ich es nicht ausdrücken und ich wusste, dass ich sie anfassen sollte. Irgendwie drängte es mich dazu, aber anscheinend habe ich allergisch auf das Material reagiert. Jedenfalls fühlte es sich an, als ob ich einen elektrischen Schlag bekommen hätte. Gleichzeitig drehte Ihre“, ich warf Santini einen Blick zu, „Katze durch. Sie sprang wie verrückt gegen mein Fenster. Warum? Keine Ahnung. Fragen Sie sie. Das war alles. Meine Fingerspitzen bekamen Blasen, mein Kopf dröhnte wie eine Glocke und mir war schrecklich schwindelig. Dieser Herr Kross schien alles für einen großen Spaß zu halten, jedenfalls sagte er, alles sei nur ein Test gewesen, aber ich hätte mich gut geschlagen und mir damit einen Job verdient. Er wollte sich wieder melden. Das ist alles. Jetzt sind Sie dran.“

„Wenn Kross sich wieder meldet – und das wird er, glauben Sie mir – sagen Sie, dass Sie kein Interesse an einem Job haben. Lassen Sie sich nicht überreden, auf gar keinen Fall! Nichts, was er Ihnen anbietet, wird zu Ihrem -Vorteil sein. Was die Karten betrifft: Ich denke nicht, dass sie allergisch darauf reagiert haben. Kann ich Ihre Hand sehen?“

Ich seufzte und streckte ihm meine Hand hin. Er betrachtete sie eingehend, ohne sie zu berühren, dann nickte er.

„Danke. Es ist in der Tat keine Allergie, meine Liebe, sondern eine Verbrennung, ausgelöst durch eine plötzliche Energieübertragung. Ich weiß nicht, woher Kross diese Karten hat noch was er damit vorhat, Fakt ist aber, dass Sie es geschafft haben, eine Reaktion hervorzurufen, eine Welle von Energie. Ja, ich denke, die zerstörten Scheiben haben damit zu tun und ja, es dürfte unangenehm für Sie werden, wenn jemand das herausfindet. Deswegen erlauben Sie mir bitte, Ihnen zu helfen. Meine Firma wird sich darum kümmern, dass die Scherben beseitigt und die Fenster ersetzt werden – auch bei Ihren Nachbarn.“

Ich starrte ihn mit offenem Mund an. Meine Gedanken rasten. Wer war er? Warum dieses plötzliche Interesse an mir? Was hatte er vor? Warum? Warum? Warum?

„Warum?“, brachte ich heraus.

Er lächelte, beugte sich zu mir und tätschelte meine Schulter. „Ich mag Sie, Anna, und ich würde Ihnen gerne helfen.“

Ich versuchte wirklich, meinen Gesichtsausdruck unter Kontrolle zu behalten, aber offensichtlich scheiterte ich auf der ganzen Linie, denn er lachte leise auf. „Oder sagen wir einfach, ich schulde es Ihrer Tante.“

Wofür? Dafür, dass er nicht auf ihrer Beerdigung gewesen war? Unwahrscheinlich. Für etwas, das früher in ihrer beider Leben geschehen war? Konnte ich nicht einschätzen. Aber eines wusste ich: „Das kostet ein Vermögen. Was erwarten Sie als Gegenleistung?“

„Nichts,“ antwortete er, eine Spur zu schnell für meinen Geschmack. Er hatte mit meiner Frage gerechnet.

„Tun Sie mir nur einen Gefallen: Rufen Sie mich an, sobald Kross sich wieder bei Ihnen meldet.“

Hm, mal nachdenken: Da kommt einer und räumt mir alle Probleme aus der Welt, nur aus der reinen Güte seines Herzens heraus? Ein Lottogewinn wäre wahrscheinlicher. Wenn ich annahm, würde ich eines Tages dafür die Rechnung präsentiert bekommen, aber wir wussten alle, dass ich keine andere Wahl hatte. Allein die Scheiben in meinem Haus zu ersetzen würde mich in den Ruin treiben und so wie Santini mein Haus als Epizentrum dieses ganzen Desasters ausgemacht hatte, konnten das auch andere und alle würden zuerst Fragen stellen, die ich nicht beantworten konnte und danach Forderungen, die ich nicht bedienen konnte. Ich hatte zwar eine Haftpflichtversicherung, aber ich bezweifelte stark, dass mein Vertrag Schäden aus unfreiwilliger Energiefreisetzung abdeckte.

Ich nickte. Ich sollte dankbar sein, erleichtert, aber ich fühlte mich nur, als ob sich eine Schlinge langsam um meinen Hals zuzog.

Ich stand auf. „Danke, dass Sie mir helfen“, sagte ich artig. „Meine Nachbarn werden es auch sehr zu schätzen wissen. Ich habe nur eine Bitte …“ Eine Bewegung in meinem Augenwinkel fing meine Aufmerksamkeit. Ich sah genauer hin. Ernsthaft jetzt? Das konnte doch nicht wahr sein!

„Da läuft ein nackter Kerl über meinen Rasen,“, sagte ich.

In der Tat taumelte der Kerl mehr, als dass er lief und er kam direkt von der Stelle, wo die Kirschlorbeerhecke zwischen meinem und Santinis Grundstück am spärlichsten wuchs. Und er lief geradewegs auf mein Haus zu. Er schien jung zu sein, war schlank an der Grenze zu hager und hatte schwarzes Haar, das ihm in unordentlichen Strähnen übers Gesicht fiel. Seine Schritte waren unsicher, als ob er betrunken wäre, aber er schien eher krank zu sein, denn er presste beide Hände an seine Schläfen und sein Gesicht, soweit ich es erkennen konnte, war zu einer Grimasse verzerrt. Ja, er war nackt, aber ich sah nur sein Gesicht. Da war so viel Schmerz und noch etwas, eine so tiefe Verzweiflung, dass seine Nacktheit ohne Bedeutung war. Neben mir tauchte Santini auf.

„Mein Gott“, flüsterte er, „Seba!“

 

 

Kapitel 3

 Santini stieß mich zur Seite und sprang durch den leeren Türrahmen in den Garten. Leona folgte ihm und sogar der alte Mann schlug mich im Rennen zu dem nackten Fremden. So ganz fremd schien er nicht zu sein, denn alle redeten auf ihn ein, streichelten sein Gesicht, tasteten über seine Schultern, seine Arme und kriegten sich überhaupt nicht mehr ein. Ich folgte ihnen langsamer. Im Vorbeigehen schnappte mir die Tischdecke vom Esstisch, ein schweres, orientalisch gemustertes Tuch in satten Rot- und Lilatönen, das Tante Anna sehr gemocht hatte. Ich legte es ab und zu auf, eben aus diesem Grund. Wenn es mir so schlecht ginge, wie dem Nackten, wäre ich dankbar, wenn jemand so umsichtig wäre, mir ein Mindestmaß an Würde zu verschaffen. Vielleicht war er aber auch nur ein Exhibitionist.

Als ich die Gruppe erreicht hatte, lag der Fremde im Gras, halb aufgerichtet, den Rücken gegen Santinis Schulter gestützt, der hinter ihm kniete. Leona kniete neben ihm und streichelte seine Schulter so vorsichtig, als sei er aus hauchzartem Glas. Sie hatte Tränen in den Augen. Ganz offensichtlich kannte sie ihn auch. Gerwin schien das Kommando übernommen zu haben, er murmelte etwas vor sich hin, das ich nicht verstehen konnte, aber der Fremde nickte oder schüttelte ab und an den Kopf, also waren es Fragen, währenddessen bewegte Gerwin seinen ausgestreckten Zeigefinger vor dem Gesicht des Fremden hin und her. Die Augen des Fremden, Seba, folgten dem Finger. Sie waren von einem sehr dunklen Braun, fast schwarz und sie zeigten keinerlei Emotionen, genau wie sein Gesicht. Er musste so ungefähr in meinem Alter sein und er würde gut ausgesehen haben mit seinen hohen Wangenknochen, den geraden, schwarzen Brauen und der starken, geraden Linie seines Kiefers, wäre neben seinen leeren Augen nicht noch der verkniffene Zug um seinen Mund gewesen. Ich hatte, so kurz meine Karriere als Lebensberaterin bis jetzt auch gewesen war, schon ein paar Kunden gehabt, deren Augen die gleiche Leere gezeigt hatten. Das Leben hatte sie in Grund und Boden getreten und je nach Temperament erduldeten sie es, wollten flüchten oder einen letzten verzweifelten Versuch machen, zurückzuschlagen. Der hier sah aus, als überlegte er, wie er uns alle mit sich in die Hölle nehmen konnte. Santini schwieg, sein Gesicht konnte ich nicht sehen, weil er den Kopf so geneigt hatte, dass er den jungen Mann ansehen konnte. Er schien ruhig, konzentriert, aber ich sah die Anspannung in seinen Schultern und Händen. Wenn er etwas davon ahnte, was den Findling bewegte, zeigte er es nur dadurch.

Gerwin schien seine Untersuchung beendet zu haben, den er nickte und gab Seba einen aufmunternden Klaps auf die Schulter. Ich stand daneben, meine Tischdecke in der Hand und fühlte mich wie Linus von den Peanuts. Es war bestimmt ein toller Anblick, den wir boten. Leona schien endlich bemerkt zu haben, dass ich auch da war, sie schenkte mir ein strahlendes Lächeln unter Tränen und nahm mir die Decke aus der Hand. Zärtlich wie eine Mutter breitete sie sie über Sebas Mitte. Sein Kopf ruckte nach oben und er warf ihr einen wütenden Blick unter gerunzelten Augenbrauen zu, aber dann glätteten sich seine Brauen und er nickte ihr zu. Mit etwas gutem Willen konnte man das Zusammenpressen seiner Lippen sogar als den Versuch eines Lächelns interpretieren. Was nun? Wir konnten doch nicht ewig so um einen nackten Mann herumstehen. Auch wenn Gerwin mit dem Zustand des Mannes zufrieden zu sein schien, musste das nicht heißen, dass er völlig in Ordnung war. Ich hatte keine Lust darauf, dass der Mann auf meinem Grundstück kollabierte und ich wegen unterlassener Hilfeleistung dran war. Vielleicht war es besser, wenn ich einen Krankenwagen rief.

„Ich rufe einen Krankenwagen“, verkündete ich.

„Nein!“ Der Chor aus drei Stimmen warf mich beinahe drei Schritte zurück. Wow. Das war einmal eine Reaktion.

„Hier kann er nicht bleiben. in zwei Minuten ruft jemand die Polizei.“ Ich kannte meine Nachbarn. Selbst wenn ihnen die Scherben bis zum Hals standen, hatten sie noch genug Kapazitäten, um sich in meine Angelegenheiten zu mischen.

„Wir bringen ihn rein“, entschied Santini.

Da war er wieder, der gute alte Kommandoton. Santini erhob sich und zog Seba mit sich, als ob er so wenig wöge wie ein Vögelchen. Das Tuch fiel von Sebas Mitte und er stand wieder da in all seiner nackten Glorie. Das Aufstehen schien Seba nicht gutzutun, denn er presste wieder beide Hände an die Schläfen. Er schwankte, aber als Santini ihn stützen wollte, schlug er seine Hand heftig beiseite. Langsam, steif, wandte er sich um und ging auf die Lücke im Zaun zu, durch die er anscheinend gekommen war. Gerwin, Santini und Leona folgten ihm. Ich blieb wo ich war und sah ihnen nach. Das war deren Angelegenheit, ich hatte damit nichts mehr zu tun – obwohl ich natürlich für mein Leben gern gewusst hätte, was da los war. Einer nach dem anderen verschwand durch die Lücke. Was für ein Tag! Ich sehnte mich nicht gerade danach, weiter aufzukehren, aber ich wusste, ich würde keine Ruhe haben, bis alles erledigt war und ich meine Fensterläden dichtgemacht hatte. Ich bückte mich und hob das Tuch auf. In diesem Moment erschien Leona in der Zaunlücke.

„Wo bleibst du denn?“, rief sie.

Ich schüttelte den Kopf und zuckte die Schultern. Was sollte ich da?

„Komm schon“, drängte sie. „Das geht dich genauso an, wie uns.“

Uns also. Hypersensibel durch die Ereignisse des Tages registrierte ich, dass es ein uns und ein du gab. Hatte ich schon den Verdacht gehabt, dass sich Leona und Santini kannten, wurde er dadurch mehr als bestätigt. Und jetzt wollte ich mehr wissen. Nein, alles.

Ich ließ das Tuch fallen und ging zu ihr.

„Du kennst Santini.“ Mit Betonung auf ‚kennst‘!

Sie nickte und ein Hauch von Rosa flog über ihre Wangen.

„Woher?“, fragte ich, als ich mich hinter ihr durch die Hecke zwängte.

Sie zögerte und warf mir einen schnellen, prüfenden Seitenblick zu. Anscheinend fand sie etwas in meinem Gesicht, das ihr sagte, dass ich nicht mehr lockerlassen würde, bis ich eine für mich befriedigende Antwort – die Wahrheit – bekommen hatte, denn sie seufzte: „Wir hatten mal so ein Ding laufen.“

Ich blieb stehen und starrte sie an. „Ein Ding?“

Sie nickte und das Rosa auf ihren Wangen vertiefte sich.

„Eine Affäre?“, keuchte ich ungläubig? „Mit Ihm? Wann?“

Sie machte eine abfällige Bewegung mit ihrer Hand. „Es ist Ewigkeiten her.“

„Wie lange?“

Wieder diese abwertende Handbewegung. „Fünfzig Jahre, so ungefähr.“

„Ha. Ha. Wenn du denkst, du kommst mit einem so blöden Spruch aus der Nummer raus, dann irrst du dich. Ich will alles wissen.“

„Nein, willst du nicht“, seufzte sie.

Wir gingen über die Terrasse durch eine gläserne Schiebetür in Santinis Haus. Sein Wohnzimmer, das sah ich auf einen Blick, war der wahrgewordene Traum eines jeden Junggesellen: pflegeleichter, hellgrauer Marmorboden, darauf, mitten im Raum, eine mächtige schwarze Ledercouch und zwei Relaxsessel, ebenfalls in Schwarz, gruppiert um einen Couchtisch, der aussah, als ob Altmetall zusammengeknüllt und in eine Kastenform gepresst worden wäre. Die Wände zierten weiße und schwarze Schrank- und Regalelemente voller Bücher, dazwischen ein riesiger Fernseher, der aussah, als ob er mehr kostete, als mein Auto wert war. Den einzigen Farbakzent setzte ein riesiges, abstraktes Ölgemälde an der Wand gegenüber dem Fernseher, eine mit kühnen Pinselstrichen ausgeführte Farbexplosion in Rot-, Gelb und Orangetönen.

Seba – nun mit einer grauen Jogginghose und einem schwarzen T-Shirt bekleidet, saß oder vielmehr hing schlaff in der linken Sofaecke. Gerwin saß im Sessel neben ihm. Als wir eintraten bedeutete er uns mit einer Geste, auf der Couch Platz zu nehmen. Ich setzte mich in die andere Couchecke, Leona ignorierte Gerwins Geste und ging um die Couch herum. Sie legte eine Hand auf Sebas Schulter und als er aufsah lächelte sie ihn an. Etwas wie stille Post schien zwischen ihnen gespielt zu werden, den auf einmal nickte er, als ob sie etwas gesagt oder gefragt hätte. Leona legte ihre Fingerspitzen an Sebas Schläfen und fing an, sie mit sanften, kreisenden Bewegungen zu massieren. Dabei summte sie eine Melodie, die ich nicht kannte, aber die so schön war, dass ich näher rückte, um mehr davon zu hören. Ich hatte nicht gewusst, dass sie eine so schöne Singstimme hatte. Nun gut, wir hatten genug anderes unternommen und die Idee, gemeinsam zu singen wäre mir nie gekommen. Außerdem: Niemand möchte mich singen hören. Ob es ihre Massage war oder ihre Stimme, es dauerte kaum zwei Minuten, bis Seba sich sichtlich entspannte. Die senkrechte Falte zwischen seinen Brauen glättete sich und etwas wie in Lächeln umspielte seine Lippen.

„Danke“, sagte er.

Ich starrte ihn an. Das war das erste Wort, das er gesprochen hatte. Bei einem jungen Mann erwartete man eine junge Stimme, einen volltönenden Bariton oder einen klaren Tenor, aber das was aus seiner Kehle kam, war ein knarzendes Krächzen, wie ich mir eine Stimme vorstelle, die nachts aus einer Gruft schallte. Für Leona schien jedoch nichts falsch an seiner Stimme zu sein, denn sie strahlte ihn an, als ob er ihr Diamanten geschenkt hätte. Mit einem eleganten Schwung sprang sie über die Rückenlehne des Sofas und rutschte neben ihn.

„Ich bin so froh, dass du zurückbist“, flüsterte sie. Sie lehnte sich an ihn und lächelte ihn an, aber er sah weiter vor sich auf etwas, das anscheinend nur er sah.

„Und wir müssen jetzt herausfinden, wie und warum“, ertönte Santinis Stimme, als er im Rahmen der Tür erschien, die ins Innere des Hauses führte. Er trug ein großes Glas mit einer weißen Flüssigkeit, die er vor Seba auf den Tisch stellte.

„Trink‘ das.“

Seba ignorierte ihn, demonstrativ. Ich sah, dass Santinis Stimme durch Sebas Stasis drang, weil sein Blick eine Zehntelsekunde zu Santini flackerte. Es war zu kurz, um es zu bemerken, wenn man nicht darauf achtete, aber ich sah es und ich sah auch den störrischen Zug um seinen Mund, der sich verstärkte, als Santini sprach.

„Bitte.“ Leonas Stimme war nur ein Hauch, aber sie schien zu ihm durchzudringen.

„Was ist das?“, fragte er ohne aufzusehen, doch jeder konnte die Feindseligkeit in seiner Stimme hören.

„Gift!“, schoss Santini zurück. Er fuhr sich mit der Hand durch das kurzgeschorene Haar. Ein, zwei Atemzüge vergingen, dann hatte er sich genug gefasst, um in einem ruhigeren Tonfall fortzufahren: „Was schon, ein Eiweißshake. Das gleiche Zeug, das ich auch trinke. Was auch immer geschehen ist, es hat dich ohne jede Vorwarnung aus einer Form in die andere gerissen. Du hattest Glück, dass es dich nicht umgebracht hat.“

Er warf mir einen Seitenblick zu, der wohl zeigen sollte, wen er als Schuldige an Sebas Zustand ansah. Ich starrte zurück. Selbstverständlich sah er mich als schuldig an, das war mit allem so, was passiert war, seit er kurz nach Tante Annas Tod neben mir eingezogen. Wenn es jetzt Elefanten regnen würde, wäre ich auch verantwortlich dafür.

„Du brauchst Nährstoffe“, fuhr Santini fort, „und zwar eine Menge. Also trink es oder lass es – deine Entscheidung.“

Seba stieß verächtlich Luft aus seiner Nase, aber er griff nach dem Glas. Er zögerte kurz, doch dann setzte er es an seine Lippen und trank es in einem Zug aus. Schwer atmend, als ob ihn das Trinken alle Kraft gekostet hätte, rammte er das Glas auf den Tisch und ließ sich schwer zurück in seine Sofaecke fallen.

Ich musste schmunzeln, er war so eine Insel des Normalen in diesem ganzen Chaos, ich konnte nicht anders. Er mochte in meinem Alter sein, aber er benahm sich wie ein Sechsjähriger mitten in seiner Trotzphase. Er war etwas spät dran, für eine Trotzphase, aber wenn ich mit Santini mehr zu tun hätte, als ohnehin schon, ginge es mir auch so. Vor meinem geistigen Auge erschien das Bild, wie ich mich in Santinis Wohnzimmer strampelnd auf den Boden warf und er entsetzt versuchte, seine wertvolle Einrichtung zu beschützen. Ich biss mir auf die Lippen, um nicht zu grinsen, als mich die Erkenntnis wie ein fallender Amboss überfiel: Das Glas! Es war ganz! Jede Scheibe in meinem Haus war zerbröselt, jedes Glas in meinen Schränken, selbst die Scheiben der Fotos an den Wänden waren Geschichte, aber hier war alles GANZ! Die Glastür, der Superfernseher, nichts davon wies auch nur einen winzigen Sprung auf. Es war mir nicht aufgefallen, dass ich durch eine unzerstörte Glastür ins Haus gegangen war, weil es für mich normal war. Fenster waren normal, Scheiben waren normal, niemand denkt darüber nach, erst dann, wenn etwas nicht mehr alltäglich ist, fällt es auf.

„Was ist hier los?“, fragte ich scharf.

„Was?“ Das war Santini.

Wut schoss in mir auf wie eine riesige rote Welle. Alle wussten, was los war, außer mir und keiner, nicht einmal Leona, die sich meine Freundin nannte, hatte etwas gesagt. Vielleicht kein Zufall, sie hatte etwas mit Santini gehabt und sie kannte sowohl Gerwin als auch Seba, die ich beide nie zuvor gesehen hatte. Und sie kannte sie gut, so, wie sie sich um Seba sorgte. Ich hatte ihr vertraut bis, ja, bis in diesem Augenblick, aber ein Blick auf ihr Gesicht sagte mir, dass sie mir nicht beistehen würde. Irgendwo tief unter meinem Brustbein bildete sich ein großer, harter Klumpen. Und er tat weh. Es tut weh, wenn einen die beste Freundin verrät.

Ich sprang auf. „Das hat hier alles keinen Sinn“, sagte ich. „Falls mir doch noch jemand erklären möchte, was hier vor sich geht, ich bin zuhause.“ Ich wandte mich an Gerwin: „Vielen Dank für Ihr Angebot. Ich nehme es an. Ich wollte, ich hätte eine andere Option, aber ich muss an meine Nachbarn denken. Falls ich je in die Lage kommen sollte, dass ich es Ihnen zurückzahlen kann, werde ich das tun.“

Ich ignorierte alle anderen im Raum und ging. Schnell. Ich musste, denn niemand sollte sehen, dass ich weinte. Ich weine nicht leicht, aber das hier war einfach zu viel.

Draußen kam ich nur ein paar Schritte, dann stolperte ich über irgendeine Pflanze oder ein Grasbüschel, ich konnte vor Tränen nicht sehen, was es war. Ich ging um die Hausecke, damit mich von der Straße aus niemand beim Heulen sehen konnte und kramte in meinen Hosentaschen nach einem Papiertaschentuch. Ich neige dazu, Papiertaschentücher in Hosen- oder Jackentaschen zu horten und sie bei Stress zu zerknüllen. Ich zog eines heraus; es war unbenutzt aber stresszerfledert. Ich trocknete meine Augen und zog mein Handy aus der Hosentasche. Statt mich über die Drei in Santinis Haus zu ärgern, hätte ich besser weiter versucht, Mirja zu erreichen. Meine Laune sank um etliche weitere Grade als ich sah, dass ich keine neue Nachricht bekommen hatte. Ich hatte in der ganzen Aufregung auch keinen Anruf verpasst. Ich machte einen Deal mit mir: Ich würde noch zweimal versuchen, sie zu erreichen, dann würde ich die Polizei anrufen. Die Wahrscheinlichkeit war hoch, dass man mich auslachte oder als verrückte Esoteriktankte abstempelte, die Aufmerksamkeit suchte, aber ich würde keine Ruhe mehr haben, bis sich Mirjas Verbleib aufgeklärt hatte.

„Sie muss alles erfahren“, drang Gerwins stimme zu mir. „Es ist an der Zeit.“

Das Fenster direkt über mir war geöffnet, deswegen konnte ich alles gut verstehen.

„Das kannst du nicht tun. Je weniger sie weiß, umso besser für uns alle.“ Das war Santini. Selbstverständlich war er dagegen.

Eigentlich hätte ich jetzt unauffällig verschwinden müssen. ‚Der Lauscher an der Wand hört seine eigne Schand‘“, pflegte meine Mutter immer zu sagen. Sie verfügte über einen unendlichen Schatz uralter und, wie ich immer kundgetan hatte, überholter, Weisheiten und ich war als Kind immer genervt gewesen, weil es anscheinend für jede meiner Schandtaten den passenden Spruch gegeben hat. Auch heute gibt es immer wieder Gelegenheiten, wenn mir ihre Sprüche in den Sinn kommen, aber jetzt sind es liebevoll gehegte Erinnerungen.

Meine Augen flossen schon wieder über. Ich war wirklich völlig fertig, sonst wäre mir das nicht passiert; ich bin wirklich kein weinerlicher Typ.

„Sie muss es wissen, wenigstens in groben Zügen. Wenn der alte Mann auf sie aufmerksam geworden ist, muss sie lernen, wie sie sich schützen kann.“

„Aber je mehr sie weiß, um so gefährdeter ist sie. Um Himmels Willen, Alram, sie ist noch ein Baby.“

Alram? Hatte sich Gerwin nicht als Hermann Gerwin vorgestellt? Der Tag wurde immer mysteriöser. Sobald ich wieder zuhause war, würde ich herausfinden, was es mit diesen Herrn Gerwin auf sich hatte und wenn es mich Stunden im Internet kostete.

Gerwin lachte leise. „Das mag sie in deinen Augen sein. Sie mag, anders als du, ein behütetes Leben geführt haben, aber sie scheint mir ein gewisses Maß an …“

„Sturheit zu besitzen“, assistierte Santini und ich musste mir auf die Zunge beißen, um nicht zurückzugehen und ihm meine Meinung klarzumachen. Stur? Ich gebe ihm stur!

„Durchsetzungsvermögen zu haben“, korrigierte Gerwin sanft.

Santini schnaubte abfällig: „Mit ihrem verdammten Dickschädel könnte sie als Rammbock arbeiten.“

„Etwas überspitzt formuliert, aber grundsätzlich korrekt“, schmunzelte Gerwin. Ich konnte das Schmunzeln in seiner Stimme hören.

„Geschmeichelt“, knurrte Santini. „Ich wusste von Anfang an, dass sie nur Schwierigkeiten machen würde“, murmelte er, mehr zu sich, als zu Gerwin.

Am liebsten hätte ich ihn gewürgt, aber auch das würde bedeuten, dass ich zurückgehen müsste. Selbstverständlich würde er behaupten, dass ich gelauscht hätte. Das stimmte nicht, aber er würde – wie immer – auf seiner Meinung beharren. Also blieb ich, wo ich war, aber ich würde auch nicht vergessen. Irgendwann …

In diesem Augenblick entschloss sich mein Handy, loszuplärren. Verdammt! Oder nein, eher nicht. Meine Hände zitterten. Endlich! Ich kannte die Nummer nicht, aber das war egal.

„Mirja? Gott sei Dank!“, rief ich. „Wo sind Sie? Ich habe den ganzen Tag versucht, Sie zu erreichen. Geht es Ihnen gut?“

Aber meine Hoffnung zerschlug sich bei dem ersten Wort der wohlmodulierten, weiblichen Stimme: „Guten Tag. Hier ist Monika Bleibenthal von der Kanzlei Kross. Spreche ich mit Frau Anna Kellen?“

„Wie kann ich Ihnen helfen?“, fragte ich. Niemals ja sagen, wenn dich ein Unbekannter anruft. Das hatte meine Mutter mir schon als Kind eingebläut. Ob sie Angst vor Zeitungsabos gehabt hatte? Ich hatte es nie herausgefunden, aber inzwischen war es mir in Fleisch und Blut übergegangen.

„Herr Kross möchte Sie gerne sprechen. Bitte warten Sie einen Augenblick, ich verbinde.“

Es dauerte nur eine, höchstens zwei Sekunden, dann erklang Kross‘ kühle Stimme: „Ich hoffe, es geht Ihnen besser, Frau Kellen. Mein Mandant hat mich gebeten, Ihnen seine Hochachtung für Ihre, wie er es ausdrückte, bestechende Performance, auszudrücken.“

Ich schnaubte abfällig. Es war nicht dazu gedacht, dass er es hörte, aber anscheinend hatte er ein ausgezeichnetes Gehör, denn er lachte leise auf. „Frau Kellen“, mahnte er amüsiert, „das war ein seltenes Kompliment. Mein Mandant neigt nicht zu Superlativen, aber er sagte, dass er selten ein solch eindrucksvolles Talent erlebt habe. Er möchte Sie kennenlernen. Es ist ihm leider nicht möglich, Sie zu besuchen, deswegen bittet er um ein Treffen in seinen Geschäftsräumen in Frankfurt. Ich habe Ihrer Website entnommen, dass Sie keine Hausbesuche machen, aber ich wäre Ihnen dankbar – wir wären Ihnen dankbar – wenn sie in diesem wichtigen Fall eine Ausnahme machen würden. Selbstverständlich schicken wir Ihnen einen Wagen und ich versichere Ihnen, dass Sie die Entlohnung für diese Ausnahme mehr als angemessen finden werden.“

Was sagte man dazu? Danke? Es wäre höflich, sich für das Kompliment und das Angebot zu bedanken und finanziell wäre es eine logische und gute Entscheidung, hinzufahren, aber dagegen stand, dass ich mir die Finger verbrannt habe und meinen Anteil an den Kopfschmerzen eines ganzen Lebens auf einmal abbekommen hatte. Also nein. Kross‘ Mandant hatte mich wie eine Laborratte in ein Labyrinth setzen lassen und jetzt machte er mir Komplimente, dass ich es lebend herausgeschafft hatte. Lauf, Ratte, beweise meine Theorie und wenn du dabei draufgehst, ist es auch nicht schlimm.

„Sie hat kein Interesse.“

Ich fuhr herum. Santini stand hinter mir. Ich hätte es wissen müssen, dass er es nicht lassen können würde, sich in meine Angelegenheiten zu mischen. Ich hatte vorgehabt, mit ein paar nichtssagenden Worten abzulehnen. Wer sollte es mir verdenken? Ich wusste, dass mir der heutige Vorfall noch lange Albträume bereiten würde, deswegen wäre ich ja dumm, zu riskieren, dass er sich wiederholt, nur: Santini einmal nachzugeben würde bedeuten, die Tür für jegliche Bevormundung nicht nur zu öffnen, nein, sie sperrangelweit aufzureißen. Deswegen schenkte ich Santini ein zuckersüßes Lächeln – hoffentlich bekam er Diabetes davon – und säuselte ins Handy: „Ich bin gerade nicht in meinem Büro und habe meinen Terminkalender nicht dabei. Kann ich Sie in einer halben Stunde zurückrufen?“

Das würde mir Zeit geben, Santini klarzumachen, was ich von ihm hielt und zu überlegen, wie ich Kross‘ Angebot ablehnen sollte. Selbstverständlich würde ich ablehnen, der Mann war mir unheimlich. Ich war schuldlos in diese Situation geraten, die sich als lebensgefährlich erwiesen hatte und ich war nur mit Haaresbreite entkommen, es wäre mehr als nur einfältig, wenn ich – Geld hin oder her – mich wieder, und dann offenen Auges, in Gefahr begeben würde. Kross wusste etwas, das er mir nicht gesagt hatte und er würde mich weiter an einem imaginären Nasenring durch die Arena seiner Vorstellungen führen, solange es ihm gefiel.

Kross lachte leise, es klang ehrlich amüsiert, er kannte Santini und wusste nun, dass ich mich im Nahkampf befand.

„Ich schicke Ihnen die Adresse und einen Terminvorschlag. Rufen Sie mich jederzeit an. Und seien Sie versichert, dass Ihnen keine Gefahr droht, was immer Ihr selbsternannter Wachhund auch sagen mag. Ich erwarte also Ihren Anruf.“

Die Verbindung war tot. Santini hatte in der Zwischenzeit Verstärkung bekommen. Gerwin war da und auch Leona hatte sich anscheinend von der Seite ihres neuen Schützlings losreißen können.

„War das dieser Anwalt?“, fragte sie.

Ich nickte. Sie kam näher und legte mir einen Arm um die Schultern. „Was wollte er?“

Da die Katze bereits aus dem Sack war, schadete es nichts, ihr das zu sagen, was Santini bereits mitgehört hatte. „Er möchte einen Termin mit seinem Mandanten vermitteln.“

„Den Sie ablehnen werden“, fuhr Santini dazwischen. „Kross ist ein Machtmensch, für den Erfolg ist er sich für nichts zu schade. Er wird sie mit einem Achselzucken opfern, wenn sie ihm nicht mehr nützlich sind und wenn ich sage, opfern, meine ich das nicht im sprichwörtlichen Sinn.“

Für eine Millisekunde stand das Bild eines riesigen dunklen Raumes über mir vor meinem geistigen Auge, in dem ich auf einem Steinaltar lag, der von hohen Gestalten umringt war, die schwarze Roben mit Kapuzen trugen und brennende Fackeln in den Händen hielten. Die Szene erschreckte mich so sehr, dass ich kaum mitbekam, was Santini weiter sagte. Ich musste nichts Wichtiges verpasst haben oder er dachte, dass er mir genug Angst eingejagt hatte, denn sein Tonfall wurde beschwichtigend: „Sie wollen nicht wissen, was er alles auf dem Gewissen hat, glauben Sie mir. Sie wollen auch sicher nichts mit Kriminellen zu tun haben. Es sei denn, Sie haben keinen Überlebensinstinkt.“

Das war’s für mich. Wenn er mich wie eine Zwölfjährige behandelte, durfte er sich nicht beschweren, wenn ich dichtmachte.

„Den habe ich, deswegen versuche ich, mir Sie vom Leib zu halten. Außerdem habe ich nichts außer Ihrer Meinung, was Kross betrifft. Sie sind nicht gerade Freunde, das war offensichtlich, deswegen sind sie nicht neutral, was die Einschätzung von Kross‘ Charakter betrifft. Ich weiß nicht, was zwischen Ihnen und ihm geschehen ist, aber ich lasse mich da nicht hineinziehen. Und wenn wir schon dabei sind: Ich habe es satt, dass mich hier alle wie ein Kleinkind behandeln. Sie beide, und was das betrifft, auch du“, ich sah Leona an, „habt alles versucht, mich abzuspeisen. Ich gehe jetzt und wenn einer sich dazu durchringt, mir die ganze Wahrheit zu sagen, ist er mir willkommen. Ansonsten verbitte ich mir jede weitere Einmischung in mein Leben.“

Ich wartete, dass Leona etwas sagte, aber sie blieb wo sie war und senkte den Blick. So war das also.

„Niemand hier will sich in Ihr Leben einmischen“, warf Gerwin ein.

Ich schnaubte. „Sie vielleicht nicht, aber er“, ich wies mit dem Kinn auf Santini, „Ich habe dieses ständige ‚Tun Sie dies, lassen Sie das, wie konnten Sie nur ...‘ satt.“

„Ich habe nie gesagt ‚Wie konnten Sie nur‘“, schoss Santini zurück.

„Kinder, Kinder“, schalt Gerwin sanft. „Das ist hier weder die Zeit noch der Ort für so ein Geplänkel.“

„Genau. Machen Sie nicht wieder ein Drama um alles und kommen Sie wieder mit rein.“ Santinis Stimme hatte genau die richtige Mischung aus Überheblichkeit und Anweisung, um mir meine Entscheidung leichtzumachen.

„Ich habe keinen Bedarf an weiteren Belehrungen. Kommst du mit, Leona?“

Sie sah mich traurig an. „Geh‘ nicht, Anna“, sagte sie.

Ich wandte mich um und ging. Ich bemerkte, dass ich mein Handy immer noch in der Hand hielt und Kross‘ angekündigte Nachricht angekommen war. Ich las sie im Gehen, dann rief ich seine Nummer an. „Sagen Sie Herrn Kross, dass mir der Termin morgen Nachmittag gut passt. Ich komme mit meinem eigenen Auto.“ Noch die üblichen Nettigkeiten mit Kross‘ Sekretärin, dann hatte ich mein Schicksal besiegelt. Ich hatte laut genug gesprochen, dass Santini, Gerwin und Leona es hören konnten. Was der morgige Tag auch bringen mochte: ich hatte klargemacht, dass ich mir von niemandem Vorschriften machen ließ.

Ich schloss die Tür hinter mir, ein sinnloses Unterfangen, betrachtete man die Tatsache, dass sie nur noch aus einem leeren Rahmen bestand und warf mich auf die Couch. Das Haus fühlte sich leer an ohne Leona. Ich war allein, alleiner als bisher. Nicht der Tod meiner Mutter, nicht der meiner Tante hatten mich so allein gelassen. Ich setzte mich, wo ich mich gerade befand, in die -Diele auf den Boden und weinte. Ich hatte nicht bei der Beerdigung meiner Mutter geweint, damals war ich zu schockiert gewesen, zu überrannt von den Ereignissen, zu jung, um zu verstehen, wie endgültig, wie einschneidend der Tod war, dass er seelenlos nahm, gleichgültig, ohne Empathie, einfach so. Ich verstand es erst später, dann weinte ich, schrie und verfluchte Gott und die Welt, aber da war Tante Anna gewesen, die mich auffing, umarmte und in Liebe und Verständnis hüllte. Irgendwann hatte ich mich gefangen und das verdankte ich ihr. Jetzt war da niemand, der mich auffing, nur ich, die keine Ahnung hatte, wie es weitergehen sollte.

Irgendwann rappelte ich mich auf. Es lag noch eine Menge Aufräumarbeit vor mir.

Kapitel 4

Eine Nacht Schlaf und ein gutes Dutzend Anrufe auf Mirjas Nummer hatten mich keinen Schritt weitergebracht. Ich fühlte mich immer noch wie gerädert und Mirjas Telefon war immer noch tot. Ich hielt es nicht mehr aus und rief beim nächsten Polizeirevier an noch bevor ich meine erste Tasse Kaffee getrunken hatte. Die Dame im Callcenter war sehr nett. Sie hörte mich an, zeigte ab und zu mit zustimmenden Lauten, dass sie weiter zuhörte und informierte mich dann, dass ich persönlich vorbeikommen müsste, um eine Vermisstenanzeige aufzugeben. Was ich tat. Ich hätte es auch sein lassen können, so viel Glauben schenkte mir der nette Polizist, der meine Anzeige aufnehmen sollte. Er notierte alles, nickte und brummte ab und zu zustimmend, vielleicht war es aber nur ein reflexartiges Geräusch, das er immer machte, wenn er jemanden beruhigen wollte. Als er sich alles angehört sagte er mir, dass er die Anzeige weiterleiten würde.

„Hören Sie“, sagte er, „es geschieht häufiger, dass jemand Ihrer“, er räusperte sich unbehaglich und fuhr fort, „… Profession Opfer dieser Art von Scherz wird. Können Sie sich vorstellen, dass Ihre Klientin Sie einfach nur testen wollte? Deswegen haben Sie nicht mehr als ihren Vornamen, falls der überhaupt stimmt und eine Handynummer. Woher wollen Sie wissen, ob das, was sie Ihnen erzählt hat, überhaupt stimmt und um allem die Krone aufzusetzen hat sie dann noch diesen Alarmanruf draufgesetzt. Ich wette, dass sie irgendwann wieder auftaucht und Sie auslacht, weil Sie in ihren Karten nicht hatten lesen können, dass alles ein Scherz war. Wahrscheinlicher ist, dass Sie die Geschichte im Netz lesen, mit Hasskommentaren und allem, was dazugehört.“

Ich schüttelte den Kopf. Ich habe einen guten Instinkt, was Menschen angeht. Ich musste ihn entwickeln wie jedes Kind, das immer wieder aus seiner gewohnten Umgebung gerissen wird. Immer wieder über Nacht mit einem neuen Land, einer anderen, unbekannten Sprache, einer neuen Schule mit immer anderen Schulsystemen konfrontiert zu werden, schult die Fähigkeit, in Mimik, Stimme, Haltung und den vielen winzigen nonverbalen Ausdrucksweisen zu lesen. Mirja hatte nicht gelogen, sie war verzweifelt gewesen, als sie bei mir gewesen war und außer sich vor Angst, als sie mich angerufen hatte.

„Bitte rufen Sie an, falls ihre Klientin sich bei Ihnen meldet. Dann können wir den Fall schließen.“ Er lächelte. Er hatte ein nettes Lächeln, offen und seine Augen zeigten, dass es ehrlich war und ein wenig bedauernd. Als ob er registriert hätte, dass ich sein unterschwelliges Bedauern bemerkt hatte, fügte er hinzu: „Oder falls Ihnen noch etwas einfällt, das uns bei unseren Ermittlungen weiterhelfen könnte, wie unbedeutend es in Ihren Augen auch sein mag.“

Er erhob sich und streckte mir die Hand hin. Ich nahm sie, lächelte, bedankte mich und ging. Seltsame Sache, ich war keinen Schritt weiter, aber ich fühlte mich erleichtert, dass außer mir noch jemand von Mirjas Verschwinden wusste. Die Polizei konnte über die Handynummer herausfinden, wer Mirja war und hoffentlich auch, warum sie verschwunden war.

Wieder zuhause warf ich meinen Blazer auf die Couch und mich gleich daneben, dabei kickte meine Sneakers von meinen Füßen. Aufatmend legte ich meine in neonpinke Socken gehüllten Füße auf den Couchtisch. Durch die geschlossenen Fensterläden war es im ganzen Haus dunkel. Ich hatte die Deckenleuchte nicht angemacht, lediglich die kleine Lampe im Flur verströmte ihr mildes Licht. Von meinem Platz auf der Couch sah ich mich in dem Spiegel über dem Nussbaumsideboard. Mein Gesicht war ein blasser Fleck im Dämmerlicht, aber ich konnte trotzdem die dunklen Ringe unter meinen Augen sehen, trotz des Make ups, das ich aufgetragen hatte. Eine schlaflose Nacht geht nun einmal nicht spurlos an einem vorbei und das sonnengelbe T-Shirt mit dem Eisvogel auf der Brust gab meinem Teint den Rest. Im Halbdunkel sahen meine Augen fast schwarz aus. In Wirklichkeit sind sie dunkelblau, so ungefähr wie Enzian. So hatte mein Ex Jan sie beschrieben, einschließlich des Wörtchens ungefähr. An einer Blondine würden sie spektakulär aussehen, zusammen mit meinem dunklen Haar sind sie allenfalls hübsch. Ich kann damit leben. Auffallen ist nicht mein Ding, ich halte mich lieber im Hintergrund. Das Make up hatte ich für den Besuch im Polizeipräsidium aufgelegt und ich hatte auch versucht, mir mit dem Blazer einen Anstrich von Seriosität zu verleihen. Ich war zwanzig, aber wenn ich meine übliche Kleidung, Jeans und T-Shirt trug, sah ich aus wie fünfzehn, keine gute Voraussetzung, um ernst genommen zu werden. Aber ich weiß nicht, ob der Blazer geholfen hat. Immerhin hatten sie mich angehört. Und jetzt? Ich saß im Dunklen. Die geschlossenen Fensterläden schotteten mich von der Außenwelt ab. Es war totenstill, kein Laut drang von außen herein. Mir war es recht. Ich war so müde. Die Nacht war unruhig gewesen, ich hatte kaum geschlafen. Sobald ich meine Augen geschlossen hatte, hatten diese Augen wieder vor mir gestanden, unendlich tiefe schwarze, stechende Augen, die sich in meine bohrten, mich kannten, alles von mir forderten, bis hin zu … Nein! Sobald ich wieder so weit gekommen war, war ich aufgeschreckt, schweißgebadet und so heftig atmend wie ein Vollblutpferd nach einem Langstreckenrennen. Wieder einschlafen, wieder träumen, aufschrecken - die Nacht war ein endloser Alptraum gewesen. Ich war froh gewesen, als das erste Morgengrau mir signalisiert hatte, dass sie ein Ende hatte. Warum hatte mich diese verdammte Karte so in ihren Bann gezogen? Warum hatte ich so heftig reagiert? War diese Geschichte mit der Energieübertragung eine riesengroße Lüge, um mich davon abzuhalten, die Wahrheit herausfinden zu wollen? Vor allem anderen hatte sie mir riesengroße Schuldgefühle eingejagt. Zu Recht oder hatte ich mich manipulieren lassen? Wenn, war es einfach gewesen. Ich war fix und fertig gewesen und meine einzige Informationsquelle war eine Gruppe von Menschen gewesen, die sich kannte und mehr verschwieg, als verriet. Der Gedanke an Leona machte mich wieder wütend. Wie hatte ich mich so in ihr täuschen können? Aber immerhin gab es das Internet und ich konnte herausfinden, ob ich auch in anderer Hinsicht einer Illusion aufgesessen war.

Aus meinem Augenwinkel registrierte ich eine Bewegung am Boden. Ich sprang auf. Eine Spinne? Wenn, dann war es ein Monstervieh: Ich sprang geradezu zur Tür und hieb auf den Lichtschalter. Im plötzlich grellen Licht sah in die Ecke, in der der Schatten verschwunden war, aber da bewegte sich nichts. Ich werde schon panisch, wenn ich kleine Spinnen im Haus sehe, mit einer so großen würde ich in der kommenden Nacht kein Auge zumachen können. Aber zuerst einmal musste ich das Biest finden, dürfte ja nicht so schwer sein bei der Größe. Langsam, vorsichtig, ließ ich mich auf die Knie sinken und beugte mich vor. Das Bücherregal ging bis zum Boden, da konnte sie nicht sein, unter der kleinen Nussbaumkommode war auch nichts. Jetzt kniete ich vor dem bodenlangen Vorhang, aber da war auch nichts. Auf dem hellgelben Stoff wäre eine große Spinne gut zu erkennen, wäre eine da. Ich überwand mich und schüttelte daran, aber zu meiner Erleichterung fiel kein großer, haariger, schwarzer Körper heraus. Und jetzt? Ich legte mich auf den Boden und ließ meinen Blick über den Boden schweifen, aber außer der Tatsache, dass der Boden nach meiner Reinigungsaktion gestern Abend peinlich sauber war, gab es nichts zu entdecken. Ich musste mich geirrt haben. Vielleicht eine momentane Sehstörung, ausgelöst durch den Stress. Viele Leute sahen schwarze Punkte oder Schlieren aus welchen Gründen auch immer, ohne dass es einen schweren medizinischen Grund dafür gab und irgendwann war es wieder vorbei. Hoffentlich war ich heute Abend genauso davon überzeugt, wenn ich ins Bett ging.

Der sanfte Gong meiner Türklingel gab mir die Entschuldigung, die Jagd abzubrechen. Vielleicht der Glaser? Ich klopfte mir im Gehen aus alter Gewohnheit den heute einmal nicht existierenden Staub von den Beinen und riss die Tür auf, doch dann …

„Jan?“ Wenn ich mit jedem Menschen auf der Welt gerechnet hätte, mit ihm nicht. „Was machst du denn hier?“

Wenn mein entgeisterter Ausruf meinen unerwarteten Besucher gestört oder gar verletzt haben sollte, ließ er sich nichts anmerken, im Gegenteil, sein Millionen-Watt-Lächeln, in das ich mich seinerzeit so sehr verliebt hatte, flammte in voller Stärke auf. Jan sah gut aus, sehr gut sogar. Sein sommerblondes Haar war in einem Justin-Bieber-meets-Supergangster-Stil geschnitten mit scharf ausrasierten Seiten und langem Deckhaar, das ihm lässig zerzaust in die Stirn fiel. Nur das Beste für Jan, der Schnitt schrie geradezu nach einem teuren Coiffeur. In seiner linken Augenbraue glitzerte ein goldener Ring und ein weiterer am oberen Rand seines linken Ohrs. Seine samtbraunen Augen suchten meine.

„Anna“, sagte er und allein die Tatsache, dass er meinen Namen aussprach, machte meine Knie weich. „Ich habe in den Nachrichten von dem hier“, er wies mit einer allumfassenden Geste auf die Gegend um uns herum, „gehört. Ich sehe, es hat dich auch erwischt. Wie geht es dir? Kann ich dir helfen? Irgendwie?“

Er sah mich erwartungsvoll an, aber als ich ihn weiter schweigend anstarrte, versiegte sein Lächeln, als ob ihm langsam die Batterien ausgingen. Hatte er nach allem, was geschehen war, allen Ernstes erwartet, dass ich die Tür freudestrahlend weiter aufreißen und ihn hereinbitten würde?

„Es geht mir gut“, antwortete ich schließlich, als das mir mein eigenes Schweigen auf die Nerven ging, „so gut es die Umstände eben hergeben.“ Da, war ich nicht zivilisiert? Ich lächelte sogar. Unsere Trennung war nicht so zivilisiert vonstattengegangen. Es war auf der Fastnachtsparty eines gemeinsamen Freundes gewesen, als ich ihn dabei ertappt hatte, wie er Batgirl aus ihrem Kampfanzug geschält hatte. Zu diesem Zeitpunkt hatte seine Toga schon auf dem Boden gelegen und er hatte nur noch seinen goldenen Lorbeerkranz und eine weiße Boxershorts getragen, die nicht verbarg, wie sehr er genoss, was er tat. Batgirl hatte mich entdeckt und ihn peinlich berührt von sich gestoßen, aber ich war einfach gegangen, ich hatte keine Lust auf eine Szene gehabt. Am nächsten Tag war Jan mit einer Büßermiene und zwanzig sündhaft teuren, langstieligen roten Rosen aufgetaucht. Ich hatte ihm und seinen Rosen die Tür vor der Nase zugeschlagen und seitdem kein Wort mehr mit ihm gewechselt. Und jetzt stand er vor meiner Tür und wollte mir um der alten Zeiten wegen helfen?

Seine grauen Augen blickten flehend in meine. „Anni“, flüsterte er, „ich wollte schon so lange mit dir reden. Damals, das war ein Fehler. Ich vermisse dich.“

Ich vermisste ihn auch, vermisste das Gefühl, ihn zu berühren, ihn zu riechen, zu schmecken, zu jemandem zu gehören, meine Gedanken mit ihm zu teilen, umarmt zu werden, zu kuscheln und ja, ich vermisste den Sex. Was ich nicht vermisste, war das Gefühl, unvermittelt in einen Abgrund gestürzt zu werden.

„Nett, dass du dir Sorgen machst“, sagte ich so ruhig wie möglich, „aber dazu besteht kein Grund. Es geht mir gut. Tut mir leid, dass ich keine Zeit habe, aber ich habe gleich einen Termin.“ Und damit schlug ich ihm die Tür vor der Nase zu.

Er gab mir keine Zeit, mich zu fassen, sondern klingelte keine Sekunde später erneut. Ich riss die Tür auf. Rasend. „Was?“, blaffte ich.

Jan stand da und etwas in seiner Haltung hatte sich innerhalb dieser Sekunde verändert, auf einmal schien seine ganze Selbstsicherheit wie weggeblasen.

„Bitte Anni, ich habe Riesenprobleme. Du musst mir helfen!“ Selbst seine Stimme war anders, ohne sein übliches Charisma, flach, flehend. „Bitte!“, sagte er, bevor ich entscheiden konnte, ob ich die Tür dieses Mal ins Schloss treten oder ihm zuerst klarmachen sollte, was ich von ihm hielt.

„Bitte“, wiederholte er

Soviel also zu ‚Ich vermisse dich‘.

„Was?“, schnappte ich. Wenn ich es einsilbig hielt würde er nicht bemerken, dass er mich – wieder – verletzt hatte. Aber auf meinem Firmenschild stand Lebensberatung und ich war Profi genug, auf das Stichwort ‚Riesenprobleme‘ anzuspringen. Jan versuchte, etwas zu sagen, aber obwohl er seine Lippen bewegte, kam kein Ton heraus.

„Also gut. Komm‘ mit.“

Ich ging an ihm vorbei und zog gleichzeitig die Haustür hinter mir ins Schloss. Im Augenwinkel sah ich sein entgeistertes Gesicht, aber ich lief einfach auf den Anbau zu und öffnete die Tür. Ich wartete, bis er an mir vorbei eingetreten war, dann drückte ich auf den Lichtschalter neben der Tür, weil die Läden geschlossen waren und wies dann auf den Besuchersessel. Mein erster Impuls war, die Läden zu öffnen, aber dann entschied ich mich dagegen. Nach allem, was gestern geschehen war, sollten meine Nachbarn besser nichts zu sehen bekommen, was sie mit Esoterik und folglich mit Hexerei oder parapsychologischen Übergriffen auf ihre unsterblichen Seelen in Verbindung bringen konnten. Menschen reagieren panisch, wenn sie mit unbegreiflichen Ereignissen konfrontiert werden und was ist unbegreiflicher, als wenn plötzlich alles Glas um dich herum pulverisiert wird?

„Setz‘ dich.“

Jan setzte sich und ich nahm mir Zeit, die Tür zu schließen, um ihn herumzugehen und auf meinem Sessel Platz zu nehmen. Ich beugte mich vor, legte die Unterarme auf die Tischplatte und verschränkte meine Finger. Oh Gott, er sah so süß aus, wie er da saß und nicht wusste, was er von der ganzen Situation halten sollte. Ich wollte aufspringen, mich auf die Lehne seines Sessels setzen, ihm diese vorwitzige Strähne aus der Stirn streichen und ihn küssen. Ich tat nichts davon.

„Also gut“, sagte ich. „Du hast ein Problem, mein Beruf ist es, mir Probleme anzuhören und zu versuchen, sie mit dir gemeinsam zu lösen. Wenn du mir erzählen willst, was, ist das strikt beruflich und ich stelle dir meine Zeit in Rechnung. Ich bestehe auf Barzahlung. Ich behandle alles, was ich von dir erfahre, vertraulich, aber diese Vertraulichkeit ist nicht gesetzlich geschützt, wie zum Beispiel das Beichtgeheimnis. Bei polizeilichen Ermittlungen muss ich aussagen und ich muss auch strafrechtlich relevante Tatbestände anzeigen, falls ich sie durch diese Sitzung erfahre.“

Mehr oder weniger war es das, was ich allen meinen neuen Klienten sagte. Bei Jan war es noch wichtiger als sonst, es stellte meinen inneren Kompass auf strikt beruflich. Jan brauchte eine Weile, das zu schlucken.

„Du hast dich verändert“, stellte er schließlich fest. Es war kein Kompliment, wenn ich seinen Gesichtsausdruck richtig deutete. Alles richtig gemacht.

„Danke.“

Es dauerte, bis er alles verdaut hatte, ganz offensichtlich hatte er sich unsere Begegnung anders vorgestellt. Ich ließ ihm die Zeit. Geduld lernt man schnell in meinem Beruf oder man scheitert. Leute mit Problemen machen dicht, wenn man sie drängt und das hilft weder ihnen noch mir.

„Also gut“, seufzte er schließlich. „Ich zahle dir, was du willst, aber versprich‘ mir, dass du mit der Geschichte nicht hausieren gehst, sonst war es das mit meiner Karriere.“

Ich machte mir nicht die Mühe, ihm zu antworten. Was ich zu der Angelegenheit zu sagen hatte, war gesagt. Er wartete, doch schließlich nickte er ein paarmal.

„Gut. Nein, nicht gut. Ich … ich glaube, ich habe jemanden umgebracht“, presste er schließlich heraus.

„Was?“ Ich sprang auf. Beide Fäuste auf die Tischplatte gestützt blaffte ich ihn an. „Was soll das? Wenn du Witze reißen willst, such‘ dir ‘ne andere Bühne.“

Ich hätte es wissen müssen.

Er lachte bitter auf. „Ich wollte, es wäre ein Witz. Ist es aber nicht.“

Ein Blick in seine Augen und ich wusste, dass ich mich getäuscht hatte. Da war Angst. Richtige überwältigende Angst. Prima, Anna, großartige Menschenkenntnis. Aber für Selbstbezichtigungen war später noch Zeit. Jan brauchte wirklich Hilfe. Ich setzte mich wieder.

„Erzähl!“

Er sah mich lange an. Die Strähne vor seinem Gesicht fing sich in seinen Wimpern und flatterte ein wenig, als er blinzelte. Eigenartig, worauf man achtet, wenn es doch so entsetzlich viel Wichtigeres gibt.

„Yvonne und ich waren schwimmen. Nachts. Im Brennerweiher.“

„Yvonne?“

„Meine Freundin. Du kennst sie nicht. Wir sind erst seit ein paar Wochen zusammen.“

Ich nickte. Der Brennerweiher war kein Badegewässer, aber ein Baggersee auf einem verlassenen Kiesgelände in der Nähe von Bodenheim, der ideal war zum Feiern und Schwimmen, wenn man sich nicht daran störte, dass es verboten war. Es hatte in den letzten Jahren so viele Badeunfälle in aufgegebenen Kiesgruben gegeben, dass das Gelände aus Sicherheitsgründen eingezäunt worden war und die Polizei dort öfter mal nach dem Rechten sah, aber welcher Jugendliche würde nicht von der Idee eines illegalen nächtlichen Badeabenteuers angezogen? Anscheinend galt das auch für die, die eigentlich über das Teeniealter hinaus waren und klüger sein sollten.

„Sie ist ertrunken?“

Er schüttelte den Kopf. „Sie, nein, sie …“, er zögerte, räusperte sich und warf mir einen vorsichtigen Blick hinter der Strähne hervor zu. „Sie wurde entführt.“

Ich starrte ihn mit offenem Mund an. „Und dann kommst du zu mir?“, brachte ich schließlich heraus. „Du musst zur Polizei gehen!“

Er lachte auf, es klang bitter. „War ich doch, aber sie glauben mir nicht. Es gibt keine Spuren, keine Lösegeldforderung. Sie haben die Spurensicherung hingeschickt, aber die sagten, da sei nichts. Sie haben mich wie einen Spinner behandelt und heimgeschickt. Aber da ist noch mehr.“

„Erzähl‘ es mir. Lass dir Zeit.“ Ich sprach leise und langsam, so, wie man mit traumatisierten Leuten spricht. Ich war lange genug mit ihm zusammen gewesen, um seine Mimik und seine Körpersprache deuten zu können. Was auch immer dort geschehen war, es machte ihn fertig.

„Du sagtest, du hättest jemanden getötet. Yvonne? Sagst du das, weil sie entführt wurde? Von wem? Kennst du denjenigen?“

Er starrte vor sich auf den Tisch, dann ging ein Ruck durch ihn und er warf sich in seinem Sessel zurück. Als er mich ansah, war sein Gesicht panisch. „Es geht nicht! Nicht so, nicht hier.“

„Was meinst du?“

„Komm mit zu mir. Ich dachte, ich kann mir dir reden, aber das hier, dieser Raum, das geschäftliche hier, das bist nicht du. Ich brauche dich als Freundin, nicht als, als…“ seine Hand bewegst sich in hilflosen Kreisen, als er den richtigen Begriff suchte, „jemand, die ich dafür bezahle, mir zu glauben.“

Gerade noch einmal die Kurve gekriegt, dachte ich. Aber was war es, das in letzter Zeit alle meinten, dass ich zu ihnen kommen müsste, um ihnen zuzuhören? Wer sagte seinem Metzger, oder seinem Dozenten oder seinem Buchhändler, dass er es lieber hätte, wenn er oder sie zu ihm Nachhause käme? Ich hatte mit Kross einen Fehler gemacht, aber das hieß nicht, dass ich so etwas wiederholen musste.

„Jan“, sagte ich ruhig. „Es ändert nichts an den Tatsachen, ob du mir alles hier oder in deiner Wohnung erzählst. Ich höre dir zu und vielleicht hilft dir allein das schon und wenn nicht, fragen wir dir die Karten, das kennst du ja.“

Oh ja, das kannte er. Schließlich hatte es keine Party gegeben, auf der er mich nicht dazu gedrängt hatte, mein Können zu zeigen – unentgeltlich selbstverständlich. Warum sollte ich auch etwas dagegen haben, den einen oder anderen, kleinen, wohligen Schauer zu den Cocktails beizusteuern? ‚Annilein, Süße, sie freuen sich doch schon so darauf. Nur ein, zwei Leute, es sind doch unsere Freunde und außerdem ist es doch auch Werbung für dich und überhaupt: Es macht mich an, dir dabei zuzusehen.‘ Ich war sein Beitrag zu den Partys gewesen; wozu sollte er Alkohol mitbringen, er hatte ja mich. Anfangs war ich geschmeichelt gewesen, bald jedoch hatte meine Begeisterung nachgelassen, nicht jedoch die unserer Bekannten, als sich herumgesprochen hatte, dass meine Trefferquote weit über dem Durchschnitt lag. Irgendwann hatte ich angefangen, mich vor den Partys zu drücken. Nachdem Jan und ich uns getrennt hatten, hatte sich das Problem von allein gelöst, die Einladungen waren spärlicher geworden und unsere gemeinsamen Freunde hatten sich immer weniger gemeldet. Ich hatte damit gerechnet, aber es hatte mich dennoch ziemlich getroffen. Letztendlich war mein Freundeskreis auf Leona, Diane und Johanna geschrumpft. Zusammen waren wir eine laute, wilde und fröhliche Quadriga. Es ging gut für ungefähr vier Monate, dann entschied sich Diane, in San Diego zu studieren, also beschränkte sich unser Kontakt seitdem auf Skype und Mails und eine Flut von Fotos. Johanna vergrub sich seit vier Wochen in ihre Masterarbeit und es war zu erwarten, dass wir sie sie erst wieder auftauchen sahen, nachdem sie die letzte Zeile davon korrekturgelesen hatte. Ich beneidete sie. Mein Studientraum lag schon so lange brach und er würde weitersiechen, bis ich einen Job gefunden habe, der es mir erlaubte, zu studieren und mein Haus zu halten - also faktisch für immer. Und dann war da noch Leona. Ich seufzte und richtete meine Aufmerksamkeit wieder auf das aktuelle Problem mir gegenüber.

„Erzähl‘ mir einfach, was geschehen ist“, sagte ich. „Von Anfang an. Lass‘ dir Zeit. Deine Freundin, Yvonne, erzähl‘ mir von ihr. Wie ist sie?“

Ganz automatisch griff ich nach dem Paket Karten, das auf dem Tisch lag. Es waren einfache Tarotkarten, wie man sie in jedem Laden für ein paar Euro bekommt, ein Set, das ich immer dort liegen hatte, um neuen Klienten die Karten zu zeigen, sie sie anfassen zu lassen, ihnen zu erklären, wie ich arbeite. Manchmal ist schon das Hantieren mit den Karten, das Mischen, das Auflegen, beruhigend für sie, manchmal genügt es schon, wenn sie mir dabei zusehen. Es ist einfacher, zu reden, wenn man etwas hat, auf das man seine Aufmerksamkeit richten kann. Es ist wie ein Anker. Vielleicht wollen sie mir aber auch einfach nicht in die Augen sehen, wenn sie mir erzählen, was sie bedrückt. Jan hatte dieses Problem nie. Seine Augen sind wunderschön und er weiß es und setzt sie ein, wann immer und wo immer es ihm nützt.

Ich begann, die Karten zu mischen, langsam, ruhig, einfach so. Sein Blick, der gerade noch unstet im Raum herumgeschweift war, heftete sich auf meine Hände. Das Schweigen dehnte sich aus.

„Yvonne“, erinnerte ich ihn.

„Yvonne“, wiederholte er, als müsste er sich ins Gedächtnis rufen, wer sie war. Dann erhellte sich sein Gesicht. „Wir kennen uns aus Frankfurt. Sie arbeitet in einem Hotel, das ihrem Onkel gehört. Ein schönes Hotel, klein und exklusiv, etwas außerhalb, aber mit einem großen Garten, fast schon ein Park. Eine Tante von mir steigt immer dort ab. Das Ambiente beruhigt sie, sagt sie. Ich sollte sie an dem Tag abholen. Sie ist schon alt und fährt nicht mehr Auto und sie ist zu geizig, einen Chauffeur zu beschäftigen und zu hochnäsig, um Taxi zu fahren. Jedenfalls arbeitete Yvonne an der Rezeption. Während ich darauf wartete, dass Tante Sophia herunterkam, unterhielten wir uns. Wir verabredeten uns für den nächsten Abend und, ja“, er lachte, etwas verlegen, „eins kam zum anderen und irgendwie ergab es sich, dass wir zusammen waren.“

Das war bis jetzt nicht sehr hilfreich, aber ich unterbrach ihn nicht. Wenn ich etwas gelernt habe in meiner kurzen Karriere als Lebensberaterin, war es Geduld.

„Ich kann dir ein Bild zeigen“, sagte Jan plötzlich eifrig. Er zog sein iPhone aus der Innentasche seiner Jacke und drehte es so, dass ich das Portrait eines dunkelhaarigen Mädchens sehen konnte. Das war also Yvonne. Sie war nicht nur attraktiv, sie strahlte so viel Lebensfreude aus, dass ich versucht war, ihr Gesicht zu berühren. Ihr Haar schmiegte sich in sanften, dunklen Wellen um ihr Gesicht. Da, wo das Licht darauf fiel, glühte es dunkelrot auf. Ihre Augen waren blau und umkränzt von sehr dichten, langen Wimpern. Aber das Schönste an ihr war ihr Lächeln, es war offen, breit und irgendwie spitzbübisch. Ein wenig trugen wohl auch die wenigen Sommersprossen zu dem spitzbübischen Eindruck bei, die über ihren Nasenrücken verteilt waren, wie Sterne. Sehr klug von ihr, sie nicht zu überschminken oder gab es einen Filter, der strategisch platzierte Sommersprossen setzte? Aber selbst wenn ich mir mögliche Filter wegdachte, sah sie liebenswert aus. Und sie hätte keine Filter nötig gehabt.

„Sie ist sehr hübsch“, sagte ich.

„Ja, nicht wahr?“ Sein Lächeln, mit dem er das Bild ansah, war traurig. Er sah eine ganze Weile darauf, dann steckte er sein iPhone wieder in seine Jacke.

„Wie lange seid ihr schon zusammen?“, fragte ich, als er keine Anstalten machte, weiterzusprechen.

Er sah auf, anscheinend aus seinen Gedanken gerissen. „Wie?“ Er lachte verlegen. „Entschuldige, ich bin irgendwie abgedriftet. Seit zwei Monaten. So ungefähr.“

„Wie ging es weiter? Ist da irgendwo ein eifersüchtiger Ex-Freund, der sie wieder zurückhaben wollte oder hat dich jemand deswegen angerufen? Irgendwelche Nachrichten von Unbekannten?“

Er schüttelte den Kopf. „Nein. Nichts. Bis jetzt jedenfalls.“

„Und ein Streich von euren Freunden kann es auch nicht sein? Du weißt schon, so etwas wie eine Brautentführung?“

Er schüttelte wieder den Kopf. Energischer dieses Mal.

„Und wie kommt es, dass du sagst, du hättest jemanden umgebracht? Du meinst nicht Yvonne. Wen denn?“

Ich konnte nicht unendlich lange weitermischen, also begann ich, die Karten auszulegen, kein kompliziertes Muster, aber in einem stetigen, ruhigen Rhythmus. Ich sah nur mit einem halben Auge auf die Karten, Jans Gesichtsausdruck war weitaus wichtiger im Moment. Gefühle, die ich nicht deuten konnte, flogen in rascher Folge über sein Gesicht wie Wolken über den Himmel an einem stürmischen Tag. Noch sah ich nicht, wohin das alles führen würde. Ich musste Jan weiterreden lassen, bis ich klarer sah.

„Ich weiß es nicht. Sie waren einfach da. Zwei, ich konnte sie im Dunklen nicht genau sehen. Sie …“

„Halt“, unterbrach ich ihn. „Ganz langsam, von Anfang an. Ihr wart also schwimmen. Wart ihr im Wasser, oder war es vor oder nach dem Schwimmen? Was habt ihr in diesem Moment getan? Wie spät war es?

Er seufzte, der Seufzer rollte wie ein Felsen von seiner Brust. „Wie du willst. Also: Es war schon spät, fast Mitternacht. Wir waren allein, die paar Leute, die vorher noch dagewesen waren, sind gegangen. Unter der Woche bleiben die Leute nie so lange. Wir zogen uns gerade an, als ich ein Geräusch im Gebüsch hörte. Es hätte alles sein können, aber ich will verdammt sein, wenn ich mich in freier Wildbahn mit einem Wildschwein anlege. Ich wollte Yvonne gerade sagen, dass sie sich beeilen soll, als ich einen harten Stoß in den Rücken bekam. Ich fiel der Länge nach hin. Yvonne schrie um Hilfe und ich sah, dass zwei Kerle sie gepackt hatten und versuchten, sie in den Wald zu zerren. Sie schrie und strampelte und versuchte, sie abzuwehren, aber sie ist sehr zierlich und die beiden Kerle sahen riesig aus. Ich rannte ihnen nach und stürzte mich auf sie. Ich wusste, dass ich keine Chance hatte, aber du lässt deine Freundin doch nicht so einfach wegschleppen.“

Während er sprach krampften sich seine Hände immer wieder zu Fäusten, lösten sich und krampften sich wieder. Er sah mich an und ich nickte, weil er mich so flehend ansah, als brauche er meine Bestätigung.

„Ich schaffte es, einen der Kerl von ihr loszureißen. Ich rammte ihm mit aller Macht meine Faust ins Gesicht, aber es war, als ob ich eine Steinmauer getroffen hätte. Ich dachte, meine Hand sei gebrochen, aber er lachte nur. Ich sah, wie er die Faust hob, und das Nächste, an das ich mich erinnere war, dass ich in einem Gebüsch lag und Sterne sah. Yvonne schrie immer wieder meinen Namen. Das brachte mich wieder zu mir. Ich weiß nicht mehr, ob ich rannte oder ging oder kroch, ich weiß nur, dass ich versuchte, irgendwie zu ihr zu kommen, um sie zu retten. In meinem ganzen Leben habe ich noch nie eine solche Wut gespürt, so einen rasenden Hass. Ich wollte die Kerle umbringen, weil sie mir Yvonne wegnehmen wollten. Sie ist mein Leben, ich wollte, ich musste sie unbedingt retten. Ich hatte panische Angst, dass sie verletzt wird, oder dass ich sie verliere, ich wollte nicht, dass sie Angst hat und das alles zusammen machte mich so unglaublich wütend. Herrgott, ich bin nicht der Typ, der sich prügelt, aber plötzlich wollte ich es. Etwas in mir freute sich auf einen Kampf, wollte töten, nein, das stimmt nicht: Nicht „es“, ich war es, der töten wollte. Ich wollte sie vernichten. In den Boden stampfen. Diese Wut gab mir die Kraft, mich aufzurappeln und einen an seinem Shirt zurückzureißen. Er war größer als ich, ein richtiger Bulle, aber das war mir egal. Ich zerrte ihn zu mir heran und schlug wie ein Irrer auf ihn ein und dann …“ Er stockte und sah mich an. In seinen Augen war etwas, das ich da noch nie gesehen hatte: nackte Angst. Jan hatte nie Angst. Um Angst zu haben muss man über die Konsequenzen des eigenen Handelns nachdenken können und das war nie sein Ding gewesen. Aber da war etwas in seinen Augen … Mein Atem stockte.

„Er war derjenige, den du getötet hast“, flüsterte ich.

Was hatte ich gesagt? Wie hatte mir das herausrutschen können? Jan würde mir das nie verzeihen. Woher um alles in der Welt war das gekommen? Nicht aus den Karten, ich hatte sie ja kaum angesehen. Nichts von dem, was Jan gesagt hatte und nichts an seiner Körpersprache hatten darauf auch nur einen Hauch von Hinweis gegeben, aber dennoch: Ich wusste es so sicher, wie ich hier saß. Was ich nicht wusste war das warum und das …wie.

„Es war Notwehr?“ Ich traute mich kaum zu atmen, als ich auf seine Antwort wartete. Ganz bestimmt war es Notwehr gewesen, es konnte gar nichts anderes gewesen sein. Nicht bei ihm!

Jan schluckte. Und schluckte. Er schüttelte den Kopf, als er versuchte, zu sprechen, aber es gelang ihm nicht. Ich sah, wie sich sein Kehlkopf krampfhaft zusammenzog. Schließlich, als ich überlegte, ob ich ihn schütteln oder einen Notarzt rufen sollte, brachte er heraus: „Schließlich hatte ich ihn am Boden und ich nahm seinen Kopf in beide Hände und, ich weiß nicht, wie ich wusste, wie es zu tun ist, aber ich riss seinen Kopf zur Seite und brach ihm das Genick.“

Ich starrte ihn nur an. Jan, der sich hatte übergeben müssen, als ein Freund sich bei einem Party-Fußballmatch den Knöchel gebrochen hatte, der Boxen und Wrestling verabscheute und bei Gruselfilmen die Augen schloss, wenn es blutig wurde? Der Jan?

Er sah mich an, registrierte meinen Schock meinen Unglauben und lachte. Es hörte sich an wie Blech, das auf Beton traf.

„Ich spüre es immer noch in meinen Händen“, sagte er, „das Gefühl, als seine Wirbelsäule brach und ich kann immer noch das Krachen hören. Es war unglaublich laut. Widerlich. Ich dachte, ich müsste mich übergeben, aber auf eine eigenartige, perverse Weise war es auch befriedigend. Es war großartig und beängstigend. Ich fühlte mich lebendig. Und ich wollte mehr davon. Mehr von diesem Gefühl, mächtig und lebendig zu sein. Ich wollte den anderen auch töten. Ich weiß nicht, woher es kam, ich weiß es wirklich nicht. Ich bin nicht so, du kennst mich. Himmel, ich mach‘ mir schon in die Hose, wenn ich Blut nur sehe, aber vorgestern Abend war ich wie in einem Rausch. “

Er sah mich an, als erwartete er, dass ich die Antwort für ihn hatte, die er nicht finden konnte, dann auf die Karte, die ich gerade auflegte.

„Das ist der Tod“, sagte er. Es klang, als habe er genau diese Karte erwartet. „Sie werden kommen und mich holen.“

„Das ist der Gehenkte“, antwortete ich ruhig. „nicht der Tod und es ist immer das Zusammenspiel der Karten, das uns sagt, was die einzelnen Karten bedeuten.“

Jan hatte mir so oft beim Legen zugesehen, er müsste es inzwischen einigermaßen selbst beherrschen, trotzdem kannte er anscheinend nicht einmal die Karten. Soviel zu Wertschätzung.

„Und was sagt sie über mich? Über das ganze? Die ganze Scheiße? Ich bin so gut wie tot!“

Mit jedem Wort war er lauter geworden, den letzten Satz brüllte er mir entgegen. Das war nicht der Jan, den ich kannte. Das war eine Bombe, die nur darauf wartete, zu explodieren.

„Was geschah dann?“, fragte ich, dabei legte ich die nächsten Karten auf. Ich sah nicht hin, ich sah nur Jan. Jan, der mit seinen Dämonen rang. „Ich kann dir nur helfen, wenn ich alles weiß.“ Ja, ich bin die große Optimistin. Jedenfalls nach außen.

„Für einen kurzen Moment sah ich Yvonne. Sie kämpfte verzweifelt mit einem schwarz gekleideten Kerl im Innern eines Vans. Der Wagen war schwarz und ich hatte ihn vorher nicht bemerkt. Wenn nicht die Seitentür geöffnet und die Innenbeleuchtung angewesen wäre, hätte ich davorstehen können und ihn nicht gesehen. Sie streckte ihre Arme nach mir aus. Ich werde nie vergessen, wie sie mich angesehen hat. Ich rannte hin, aber die Seitentür wurde geschlossen, dann raste der Wagen davon und bevor du fragst: Nein, ich konnte das Nummernschild nicht erkennen. Es war unbeleuchtet.“

„Und dann hast du die Polizei angerufen. Da müssen doch Spuren gewesen sein, Reifenspuren, Fußspuren, das Gelände dort ist unbefestigt. Und was ist mit der“, ich räusperte mich. Das Wort Leiche wollte mir einfach nicht über die Lippen, „mit dem Mann, mit dem du gekämpft hast? Vielleicht ist er ja gar nicht tot, sondern nur verletzt.“

„Du glaubst mir nicht!“, schrie Jan plötzlich. „Denkst du, ich bin ein Spinner? So wie die Polizei?“

Er sprang auf, sein Gesicht zu einer grotesken Grimasse voller Hass verzerrt. Ich zuckte zurück, ich weiß nicht, was mich warnte, vielleicht ein Aufflackern in seinen Augen, vielleicht ein Zucken – ich weiß es nicht, aber ich schaffte es, zurückzuweichen, bevor er mich packen konnte. Es verschaffte mir aber nur ungefähr eine halbe Sekunde Zeit, denn Jan stieß den Tisch und damit mich vor sich her, bis ich mit dem Rücken an die Wand prallte. Es gab keine Möglichkeit, den Tisch gegen ihn zurückschieben zu wollen, Jan wog mehr anderthalb Mal so viel wie ich und anders als ich genoss er es, sich im Fitness-Studio zu schinden.

Über Jans Gesicht irrlichterten Wut und Angst und etwas anderes, was ich nicht identifizieren konnte, etwas so fremdartiges, dass ich nicht benennen konnte, aber es schickte mir eisige Schauer über meine Haut. Ich hatte Angst. Dies war nicht der Jan, den ich kannte und geliebt hatte – und irgendwie immer noch liebte.

„Jan“, schrie ich. „Was soll das? Bist du verrückt geworden"

„Verrückt?“, brüllte er. Er beugte sich vor, beide Fäuste auf die Tischplatte gepresst und sein Gesicht nur Zentimeter von meinem entfernt.

„Verzweifelt! Niemand glaubt mir, nicht einmal du. Warum nicht? Du kennst mich, du musst wissen, dass ich dazu nicht fähig bin. Frag die verdammten Karten. Wenn sie sagen, dass ich lüge, ist es so. Dann verschwinde ich und komme nicht zurück. Verdammt, Anni, von allen Leuten, die ich kenne, bist du die einzige, die mit den verrücktesten Sachen zu tun hat. Das hier ist verrückt. Vielleicht bin ich auch verrückt. Oder du. Oder die ganze Welt. Aber, verdammt nochmal, glaub mir! Ich habe ihr nichts getan! Es gibt sonst niemanden, an den ich mich sonst wenden könnte!“

Mit jedem Wort war er lauter geworden, bis seine Stimme sich überschlug. Ich hätte mir gerne die Ohren zugehalten, aber ich traute mich nicht. Ich brauchte meine Hände, um mir diesen Verrückten vom Leib zu halten – wie auch immer ich das anstellen wollte. So blieb mir nur, zu versuchen, meinen Hals und mein Gesicht außerhalb der Reichweite seiner Hände zu halten. „Das haben die auch gesagt. Und sie fällt mir in den Rücken. Als ob ich alles nur geträumt hätte. Hier, ich zeig’s dir. Ist das verrückt?“

Er richtete sich auf und der Druck der Tischkante ließ nach. Ich hatte keine Gelegenheit, erleichtert darüber zu sein, denn Jan riss sein Hemd auf. „Hier, jetzt sag’ mir ins Gesicht, dass ich mir das alles nur ausgedacht habe!“, brüllte er, sein Gesicht hochrot und wutverzerrt. „Sag‘ es!“

Ich starrte auf seine Brust. Großer Gott! Da waren drei schartige, blutrote Furchen im Fleisch, die sich von der linken Schulter über seinen Magen bis zum Bund seiner Jeans zogen. Es waren keine Schnitte, eher Risse, wie man sie aus Horrorfilmen kennt und sie sahen aus, als ob ein rachsüchtiges Monster ihn hätte ausweiden wollen. Die Wunden waren bereits verkrustet und ich brauchte keine große Vorstellungskraft um zu wissen, dass sie wirklich, wirklich wehtaten. Instinktiv streckte ich meine Hand nach Jan aus. Ich wollte sie nicht berühren, denn es war mir klar, dass die Stellen empfindlich waren, ich wollte nur, ja, ich weiß nicht, seine Haut berühren, als Trost oder vielleicht wollte ich auch nicht glauben, was ich sah und mich durch diese Berührung vergewissern dass ich nicht halluzinierte – ich war mir nicht im Klaren darüber, aber eine Sekunde später hatte ich andere Probleme. Ein elektrischer Impuls raste durch meine Fingerspitzen meinen Arm hinauf und setzte mein Rückgrat in Flammen. Jans Augen weiteten sich, dann flog er wie von Geisterhand bewegt rückwärts durch den Raum und prallte an die gegenüberliegende Wand. Wir beide schrien, doch beim Aufprall seines Körpers wurde es plötzlich totenstill. Mein Arm war taub, mein Rückgrat stand in Flammen, aber ich achtete nicht darauf. Ich schob den Tisch beiseite und rannte zu Jan. Ich wollte ihm aufhelfen, ihn fragen, was passiert war, doch der panische Ausdruck in seinem Gesicht ließ mich innehalten.

„Bleib‘ weg von mir“, krächzte er. Er streckte mir seine Hand entgegen, die Finger gespreizt, die Handfläche mir entgegen, also ganz klar, um mich abzuwehren, nicht, damit ich sie ergreifen und ihm auf die Beine helfen konnte. Er versuchte hektisch, aufzustehen, aber seine Beine wollten ihn nicht tragen, er fiel wieder zurück. „Du bist eine von ihnen!“

„Was sagst du da? Eine von wem oder was? Jan, geht es dir gut? Hast du Schmerzen? Komm, ich helfe dir auf.“

Aber Jan rutschte wie von Sinnen rückwärts, weg von mir auf die Zimmerecke zu. Seine Augen waren so weit aufgerissen, dass ich das Weiße um seine Iris herum sehen konnte.

„Geh‘ weg!“, keuchte er.

Ich blieb, wo ich war was hätte ich sonst tun können? Im Moment war ich sogar dankbar dafür, weil die Taubheit in meinem rechten Arm nachließ und durch einen brüllenden Schmerz überkommen wurde, der bis in meinen Rücken und in die Fingerspitzen strahlte. Was um alles in der Welt war passiert? Das hier war nicht normal! Und wieder hier in diesem Raum. Ich musste unbedingt einen Elektriker auftreiben und alle Leitungen überprüfen lassen. Möglicherweise lag ein Kabel blank und der Strom entlud sich, wenn man in die Nähe kam – meine Ahnung von Elektrizität beschränkte sich darauf, dass das Licht angeht, wenn man den Schalter drückte, ach ja, und dass bei einem Kurzschluss die Sicherung dafür sorgt, dass kein Strom mehr fließt. Das hier war meine Praxis, das Zentrum meines Einkommens; die Sicherheit meiner Klienten musste gesichert sein – und ich hätte meine Berufstätigkeit auch gern überlebt, wenn es nicht zu viel verlangt war. Das waren grundsätzliche Erwägungen, im Moment war Jan wichtiger, der mich ansah, als ob ich ein Monster sei, das ihn verschlingen wollte. Ich wusste nicht, was schlimmer war, meine Schmerzen oder der Ausdruck in Jans Augen und seine hektischen Ruderbewegungen, mit denen er versuchte, auf die Beine zu kommen, um mir zu entkommen.

Die Zimmerecke schien ihm endlich genug Halt zu geben und er stemmte sich auf die Beine.

„Geh‘ mir aus dem Weg“, fauchte er, als er an mir vorbei zur Tür schwankte. Ein Blick auf sein Gesicht sagte mir, dass ich seiner Forderung besser nachkam. Er brauchte drei Versuche, bis er die Türklinke herunterdrücken konnte. Immerhin reichte seine Kraft aus, die Tür hinter sich so ins Schloss zu rammen, dass der Anbau in seinen Grundfesten bebte.

Am liebsten hätte ich mich hingesetzt und geweint. Ich war so erschöpft. Meine Seite brannte wie Feuer und ich spürte, wie der gleiche Kopfschmerz wie am Tag zuvor anfing. Ich hatte Angst davor, es waren die schlimmsten Schmerzen gewesen, die ich je auszuhalten gehabt hatte. Aber das war nicht das Schlimmste: Mein ganzes Leben ging den Bach hinunter. Wann hatte es angefangen, dass alles so aus dem Ruder lief?

Ich musste ihm nach, feststellen, dass es ihm gutging oder wenigstens darauf achten, dass er gut zuhause ankam. Als ich die Tür öffnete, hörte ich das Aufheulen eines Motors. Ja, es war ganz sicher gut, wenn ich ihm folgte. Ich trat durch die Tür und prallte fast gegen Leona.

„Was?“, entfuhr es mir.

Leona lächelte. „Was ich hier mache? Nach dir sehen. Anscheinend gerade rechtzeitig.“ In ihren Augen war ein Ausdruck, den ich nicht einordnen konnte. Unduldsam? Oder war er eher resigniert? Vielleicht auch ratlos - ich dachte immer, ich kenne sie gut, aber anscheinend nicht gut genug, um ihn jetzt zu lesen. Aber eines wusste ich: dass ich nicht hier stehen und Rechenschaft ablegen würde. Ich musste nach Frankfurt und das schnell, wenn ich pünktlich sein wollte und dann musste ich zurück und hoffen, dass ich nicht schon wieder zu spät im Goldenen Wagen sein würde, wie bereits zweimal in diesem Monat. Lotti Mengenleit, die Inhaberin, hatte wenig Geduld mit Faulenzern, wie sie immer betonte und ich hatte viele Bedienungen kommen und gehen gesehen. In einer Unistadt gab es keinen Mangel an Aushilfskräften.

Leona sah mich an, dann sah sie über die Schulter zurück zu der Stelle am Straßenrand, wo Jan mit hektisch seinen silbernen Audi ausparkte.

„Ich muss weg“, sagte ich, schob mich an ihr vorbei und rannte los. Ich achtete nicht darauf, ob sie mir folgte, sondern sah Jans Wagen nach, der mit durchdrehenden Reifen die enge Straße hinunterschoss. Keine Chance, ihm zu folgen. Bis ich mein Auto gewendet hatte, war er die zwei Kilometer bis zu seinem Appartement gefahren. Hoffentlich schaffte er es ohne Unfall. Er war ein guter Fahrer, das wusste ich, schließlich war ich oft genug mit ihm gefahren. Vielleicht sollte ich ihm doch besser Zeit geben und ihn anrufen, wenn ich wieder zurück war. Das wäre ungefähr um Mitternacht, aber Jan war wie ich ein Nachtmensch. Mitternacht war für ihn heller Tag.

Mein Corsa stand direkt vor dem Eingang zum Garten, wo ich ihn abgestellt hatte, nachdem ich bei der Polizei gewesen war. Normalerweise steht er in meiner Einfahrt, aber ich hatte ihn vor dem Menagerie stehen lassen, nachdem wir, Leona und ich, Pizza essen gegangen war und wir Rotwein getrunken hatten. Es war nur ein Glas gewesen, aber ich fuhr nie, wenn ich Alkohol getrunken hatte – nicht einmal, wenn es nur ein Bisschen war. Das italienische Restaurant hatte genügend Parkplätze und ich hatte meinen Wagen stehen lassen und war nach Huse gegangen. Es war nur ein Kilometer gewesen und der Fußweg heute Morgen hatte mir gutgetan und die Spinnweben aus meinem Gehirn geblasen. Nach meinem Besuch auf dem Polizeipräsidium war ich zu sehr mit meinen Gedanken beschäftigt gewesen, um in die enge Einfahrt zu fahren und ich hatte ihn einfach am Straßenrand vor meinem Haus stehen lassen. Trotzdem würde ich nicht schnell genug sein, um Jan einzuholen. Ich wollte gerade den Schlüssel ins Schloss stecken, als es mir auffiel: das riesige, rote „Hexe“ auf meiner Frontscheibe.

„Ich wollte es dir schonend beibringen“, sagte Leona hinter mir. „Sie haben auch die Motorhaube verziert.“

Ich konnte es nicht glauben, aber ich trat einen Schritt zur Seite und sah es. Verdammt! „Brenne!“ In roten Lettern. Mit Ausrufezeichen! In welchem Jahrhundert, zur Hölle, waren wir? Im Mittelalter?

„Warum?“, würgte ich heraus. „Und wer?“

Leona seufzte. „Ich weiß es nicht.“ Sie legte einen Arm um meine Schultern und drückte mich an sich. „Als ich ankam, war es schon so. Die Leute suchen immer einen Schuldigen, wenn sie etwas nicht verstehen, irgendjemanden, der nicht absolut ins Raster passt - in diesem Fall eine Schuldige, dich. Vielleicht, weil du jung und hübsch bist, vielleicht, weil du keinen bürgerlichen Beruf ausübst, vielleicht auch nur, weil du allein lebst, oder, was ich vermute, weil dein Auto das einzige in der Straße mit intakten Scheiben ist.“

Ich starrte sie an, dann mein Auto. Ich war freundlich zu allen meinen Nachbarn, ich half gerne mit Eiern und Butter aus und hütete Haustiere und Pflanzen in der Urlaubszeit, ich hatte sogar das letzte Straßenfest organisiert.

„Ich habe gedacht, sie mögen mich. Es steht erst seit einer Stunde hier. Ich habe es am Sonntag am Terrazza stehen lassen.“

Leona wusste das, schließlich waren wir an jenem Abend zusammen Pizza essen. Ich hatte Rotwein zum Essen und deswegen hatte ich mich entschlossen, zu Fuß nach Hause zu gehen.

„Jan holst du ohnehin nicht mehr ein. Versuchen wir einfach, das Zeug wegzuwaschen.“

Ich stieß verächtlich die Luft durch die Nase aus. „Du weißt schon, dass das Sprühlack ist? Das Zeug geht nie wieder aus dem Lack.“

„Aber vielleicht von der Scheibe. Dann reicht es, die Motorhaube zu lackieren. Ich frag‘ mal ‚rum, vielleicht kennt jemand einen günstigen Lackierer.“

„Das ist nicht das Problem. Ich habe gleich einen Termin und danach muss ich zu meiner Schicht. Ich war diesen Monat schon zwei Mal zu spät; die alte Eisenhexe hat mich abgemahnt: Ein weiteres Mal und sie feuert mich.“

„Was ein Glück für dich wäre. Such dir was Besseres.“

Ich seufzte. Etwas Besseres wäre etwas, mit dem ich richtig Geld verdienen könnte, aber gerade jetzt wäre ich glücklich mit einem sicheren Job.

„Ich fahre dich“,  sagte leona, „und ich hole dich nach deienr Schicht wieder ab.“

„Danke“, sagte ich erleichtert. Doch dann kam mir ein Gedanke. „Musst du nicht …“, ich zögerte, wusste nicht wie ich es formulieren sollte und stürzte mich, wie es meine Art war, gleich mitten hinein: „Ich meine, solltest du nicht nach deinem neuen, alten Freund sehen?“

Leona strahlte. „Es geht ihm gut. Ich war schon drüben. Er hat noch ein wenig Kopfschmerzen und ist ein bisschen steif, aber er ist bald wieder so gut wie neu. Eigentlich bin ich da, um dich mit rüberzunehmen. Zum Gedankenaustausch sozusagen. Wir haben einiges herausgefunden, vielleicht kannst du die Lücken ausfüllen.“

Ich nickte und drehte mich um, um die Tür zu schließen und um Leona nicht zu zeigen, wie sehr mich ihre Worte getroffen hatten. Das war das zweite Mal an diesem Tag, dass „Wie geht es dir“ bedeutete „Tu‘ das für mich“. Was war falsch an mir? Warum hatten plötzlich alle Hintergedanken?

„Okay, es ist lieb von dir, dass du mich fährst. Vielleicht kann ich ja morgen früh bei Santini vorbeischauen. Aber der Termin ist dringend und Geldverdienen ist es auch.“

„Wohin müssen wir?“, fragte sie, dann stoppte sie, als ob sich vor ihr der Boden geöffnet hätte. „Du willst doch nicht etwa nach Frankfurt? Bitte nicht, das wäre eine große Dummheit. Mart Kolus ist … gefährlich. Wenn du einmal auf seinem Radar erscheinst, entkommst du seinem Einfluss nie wieder. Er wird dich nicht lassen.“

Ich lachte auf. „Das klingt wie aus einem Schauerroman, aber nein, das hatte ich nicht vor.“ Die halbe Lüge floss leicht über meine Lippen, schließlich wusste ich nicht, wen ich heute treffen sollte und seien wir ehrlich, es würde nicht der Topmanager sein, nicht für eine unbedeutende Kartenlegerin aus Mainz.

„Ich fahre“, sagte ich entschieden. „Schließlich weiß ich wohin ich muss.“

Ich nahm Leona beiläufig den Schlüssel aus der Hand. Sie blinzelte, offensichtlich irritiert, aber dann lächelte sie, murmelte „okay“ und ging zur Beifahrertür. Aber ich war schneller und bereites eingestiegen, bevor sie sie öffnen konnte. Ich startete den Wagen und fuhr los. Als ich die Straße entlangschoss sah ich ihr entsetztes Gesicht im Rückspiegel. ‚Was soll’s‘, dachte ich, dann muss sie eben zu Fuß nach Hause gehen.‘ Im nächsten Augenblick fiel mir siedend heiß ein, dass ich nicht wusste, wo Leona wohnte.

Kapitel 5

Das Frankfurter Bankenviertel ist beeindruckend. Wenn man aus der Entfernung die Skyline sieht, ist es ein eleganter, schwarzer Scherenschnitt und wenn man näherkommt, ein Wald dunkel-glänzender Stalagmiten, darüber Flugzeuge, die majestätisch wie Adler darübergleiten. Wenn man direkt vor einem der Bankenhäuser steht, winzig klein vor den glitzernden Riesen, versteht man den Begriff eindrucksvoll wirklich. Diese Hochhäuser wurden gebaut, um Respekt einzufordern, mehr noch, um den Besucher zu bezwingen. Wenn man von Häuserschluchten spricht, ist das keine Übertreibung, ich fühlte mich, als stünde ich auf dem Grunde des Grand Canyon.

Ich hatte einen Parkplatz gefunden – was in Frankfurt an ein Wunder grenzen soll – aber leider war das Wunder nicht groß genug, dass es in der Nähe der Adresse war, zu der ich musste. Gut, dass es Handys gab, peinlich eigentlich, aber ich sah genug Leute, die wie ich beim Gehen auf ihre Displays starrten. Wenigstens war ich so klug gewesen, meine Sneakers anzuziehen, statt der präsentableren schwarzen Pumps, die ich für offizielle Gelegenheiten im Schrank habe. Schrank ist hier das Zauberwort. Ich mag es, wenn sie da drin sind und nicht an meinen Füßen.

Meine Schuldgefühle waren mit jedem der unendlich langen 45 Kilometer, die ich quälend langsam zurückgelegt hatte, geschwunden, teils, weil der Berufsverkehr um Frankfurt herum selbst einen Heiligen zum Weinen gebracht hätte, aber zum größten Teil, weil ich mich immer noch von Leona betrogen fühlte. Wir waren schon so lange Freundinnen, dass ich erwartet hatte, dass sie zu mir hielt. Dass sie es nicht getan hatte, hatte mich tief getroffen. Eigentlich war ich ein rationaler Mensch, ich zog Fakten Gefühlen vor, eine Folge meiner Jugend, denke ich, und deshalb hätte ich eigentlich abgewartet - abwarten müssen - bis ich mit ihr über ihre Gründe gesprochen hätte. Ich hatte zu emotional reagiert, wofür ich mich im Nachhinein schämte, aber deswegen fühlte ich mich nicht weniger betrogen. Was dachte sie, warum war sie so verändert, warum hatte sie mich nicht einfach angerufen? Wir hatten schon ganze Nächte hindurch telefoniert aus dem einfachen Grund, dass wir Lust dazu gehabt hatten. Warum nicht gestern? Warum hatte sie nicht einfach angerufen, nach allem, was geschehen war? Sie hatte gewusst, wie durcheinander ich gewesen war. Ich war so wütend auf sie gewesen und es hätte nur eines einfachen Anrufs bedurft, um mich zu besänftigen. Ich hatte so darauf gehofft. Was wusste ich noch nicht von ihr, oder war die Frage nicht: Was wusste ich von ihr?

Und schließlich, auf der Autobahn nach Frankfurt, hatte ich ihren Gesichtsausdruck verstanden. Sie war nicht sauer auf mich gewesen, nicht wütend, nicht resigniert. Es war Trauer gewesen, die ich in ihrem Blick gesehen hatte. Und das schoss die Anzahl von Fragen, die ich hatte, geradewegs ins Universum.

Endlich stand ich vor dem riesigen Wolkenkratzer, in dem die Firma IdeoMa Consulting residierte. Das ganze Gebäude glich einem riesigen, spiegelnden Eisblock, ein in den Boden gerammtes Statement von Erstarrung und Ewigkeit. Die Eingangstür, vielmehr das Entrée zum Allerheiligsten, in dem sich Hannibals Elefanten verloren hätten, war in hochglanzpoliertes Messing gefasst und glitt lautlos vor mir beiseite, als ich näherkam. Ich erlaubte mir kein Zögern und trat in die Eingangshalle. Wow! Weißer Marmor, wohin ich sah, unterbrochen nur vom üppigen Grün der Dschungelinsel in der Mitte des steinernen Universums - eine kleine Welt in allen Schattierungen von Grün, üppig, saftig, grell, dazu gedacht, das Auge zu fangen, auf die üppigen Blüten und die Exotik zu lenken. Ich mochte das Grün und die bunten Farbtupfer, aber was mich mehr fesselte, war die unendlich hohe, geschwungene Treppe, die so filigran aussah, als ob sie in der Luft schwebte und Aufzüge aus messinggerahmtem Glas, die wie in einem Science Fiction-Film wie Ballons lautlos in unendliche Höhen schwebten. Ich folgte einem mit meinen Blicken bis zum obersten Stockwerk. Das Dach war facettiert verglast und glitzerte wie ein Diamant.

Ich merkte, dass ich schon eine ganze Weile vor dem Anmeldetresen stand. Weder der junge Mann direkt vor mir noch die beiden Damen links und rechts von ihm hatten mich angesprochen. Vielleicht waren sie es gewohnt, dass Besucher zuerst einmal Zeit benötigten, um mit offenem Mund auf die Wunder der Baukunst zu starren. Ich fixierte den Mann. Er trug einen eleganten Anzug in einem so dunklen Blau, dass er fast schwarz wirkte, und ein blütenweißes Hemd, dazu eine dunkelblaue Krawatte mit feinen Zickzackstreifen in Gelb und Hellblau. Nett. Er war insgesamt nett anzuschauen, er war schlank, aber nicht dünn und sein Anzug saß wie angegossen, sein dunkelbraunes Haar war an den Seiten so exakt ausrasiert, als ob er noch vor Dienstbeginn beim Friseur gewesen wäre. In seinem Fall war es gewiss ein teurer Coiffeur gewesen. Ob sein Gesicht den Gesamteindruck komplettierte, konnte ich nicht sehen, denn er war intensiv damit beschäftigt, etwas auf dem Tablet vor sich anzusehen. Ich wartete noch einmal fünf Sekunden. das war lange genug, dass er mir signalisieren konnte, dass er gleich für mich da sein würde, wenn er sein kleines Problem gelöst hatte, dann hatte ich genug. Ich klopfte zweimal mit den Knöcheln auf den Tresen. Es wäre befriedigender, weil lauter, gewesen, wenn er aus Holz bestanden hätte und nicht aus dem allgegenwärtigen Marmor, aber sein Kopf ruckte hoch und er sah mich an.

„Mein Name ist Anna Kellen“, erklärte ich deutlich, noch bevor er etwas sagen konnte, „ich habe um zwei einen Termin mit Herrn Kross. Sie scheinen mich nicht erwartet zu haben, also ist es wohl nicht so wichtig. Richten Sie ihm einfach aus, dass ich da war.“

Der Kerl starrte mich an, als ob ich klingonisch gesprochen hätte. Er war wirklich hübsch mit sanften, braunen Augen und einem breiten Mund, der sicher gut lächeln konnte, aber er war auch ein arrogantes Arschloch, das glaubte, dass andere unter ihm stünden und das hatte ich noch nie vertragen. Ja, mein Blazer hatte nicht einmal die Hälfte von dem gekostet, was er für seine Krawatte ausgegeben hatte und ich schnitt mein Haar selbst, aber das hieß nicht, dass ich mich von einem wie ihm vorführen ließ. Ich drehte mich auf dem Absatz um und ging. Es war eine gute Entscheidung, ich fühlte mich erleichtert. Wenn Santini es sich nicht angemaßt hätte, mich zu einer Ablehnung zu drängen, hätte ich allein aus Selbstschutz abgelehnt, zu Kross zu fahren. Dass ich jetzt so leicht vom Haken kam, war mir nur recht.

„Frau Kellen!“

Das war eine weibliche Stimme und sie war hell und klar genug, durch die ganze Halle zu tragen. „Bitte warten Sie!“

Ich blieb stehen und sah mich um. Eine Frau kam eilig aus der Richtung der Aufzüge auf mich zu. Sie hatte langes, auffallend kupferrotes Haar, das in üppigen Wellen um ihr Gesicht wogte. Ihre Figur, ihre sehr, sehr gute Figur, wurde durch ein tailliertes, purpurrotes Kostüm gekonnt in Szene gesetzt. Den Gipfel ihres gewagten Äußeren bildeten brombeerrote Pumps mit aufsehenerregend hohen Absätzen. Ich starrte ihr entgegen und ich sah, dass ich nicht allein damit war. Sie hätte aufdringlich wirken müssen, oder affektiert oder einfach nur albern, aber an ihr wirkte es, als wären diese Farben nur auf der Welt, um ihre Schönheit zu unterstreichen. Ich für meinen Teil kannte keine Frau, die es gewagt hätte, diese gegensätzlichen Rottöne zu kombinieren. Abgesehen davon kannte ich keine außer Leona, die freiwillig einen Schritt auf zehn Zentimeter hohen, bleistiftdünnen Absätzen getan hätte. Aber da war diese Erscheinung und schritt über den spiegelglatten Boden auf mich zu. Nein, sie schritt nicht, sie schwebte so mühelos, als ob der Boden unter ihr dahinglitt. Wow, suchten die hier alle ihre Mitarbeiter über eine Modellagentur?

Ich blieb wo ich war, bis sie mich erreicht hatte. Im Vorbeigehen warf sie dem Concierge oder wie man die Bemannung dieses Marmorforts auch nannte, einen Blick zu, der ihn erblassen ließ. Ernsthaft, ich habe noch niemals einen Menschen gesehen, dessen gesunde Hautfarbe innerhalb eines Sekundenbruchteil zu teigigem Weiß wurde.

„Hallo Frau Kellen, schön, dass Sie kommen konnten.“ Sie streckte mir ihre Hand entgegen und ich nahm sie. Sie war so weich und zart wie die eines Babys. „Herzlich Willkommen bei IdeoMa. Ich bin Victoria Corrn. Mit C und zwei R.“ Sie lachte auf und zeigte dabei ein kleines Grübchen links neben ihrem Kinn. Ich konnte es gut sehen, weil ihr Kinn sich ungefähr auf Höhe meiner Augen befand. Ihr Lächeln war charmant, auch, weil sie ein amüsiertes Funkeln in ihren Augen hatte, aber dennoch war nicht zu übersehen, dass ihre Babyzeit schon eine ganze Weile hinter ihr lag. Die Linien ihres Gesichts waren fein gezeichnet und ihre Haut war perfekt, aber beides schien um ihren Kiefer herum etwas nachzugeben, nicht viel, es war nur ein Hauch, eine minimale Abweichung von der absolut perfekten Linie, etwas, das niemandem, der nicht so nahe bei ihr stand, wie ich gerade, auffallen würde. Vielleicht hätte ihr Lächeln alles überstrahlt, aber ihre Augen verrieten sie. Sie waren von einem goldenen Braun wie Tannenhonig, eigentlich eine hübsche Farbe und sie passte auch gut zu ihrem Haar, doch ich konnte mich nicht dazu überwinden, ihrem Blick standzuhalten. Ihre Augen waren alt - nicht großmutter-alt, sondern pyramiden-alt. Es war, als ob sie alle meine Geheimnisse, alle meine Wünsche und Ängste in sich aufsaugen und zu ihren eigenen machen wollte. Ein Schauer lief über meinen Rücken, aber bevor ich entscheiden konnte, ob es Einbildung war oder ich flüchten sollte, lächelte sie und legte eine Hand auf mein Schulterblatt. Ich wich aus, indem ich einen Schritt nach vorn machte.

„Entschuldigen Sie, dass Sie warten mussten. Peter ist ein neuer Mitarbeiter.“ Sie lächelte wieder und dieses Lächeln war so charmant verlegen, dass es gemein gewesen wäre, es nicht zu erwidern.

„Erlauben Sie mir, Sie nach oben zu bringen. Die Herren erwarten Sie im Penthouse.“

Ich tat meinen Impuls als Einbildung ab. Als wir am Empfang vorbeigingen warf sie einen beiläufigen Blick auf den arroganten Peter, der aber überhaupt nicht mehr so arrogant wirkte, sondern irgendwie … kleiner.

Ich folgte ihr zu einem der gläsernen Aufzüge. Die Türen glitten lautlos zu und dann war es wie Fliegen: kein Andruck, kein krampfhaftes Schlucken, weil die Ohren zugingen, der Himmel kam einfach näher und dann war es auch schon vorbei.

Als sich die Tür wieder öffnete, erstreckte sich vor mir das Penthouse, weitläufig und weiß wie eine Winterlandschaft: weißer Marmor auf dem Boden, ein mächtiger Kamin mit mächtiger, weißer Marmorverblendung, in dem ein kleines Feuer flackerte und eine L-förmige Sitzlandschaft aus weißem Leder, deren Ausmaße jeder VIP-Lounge eines Flughafens Ehre gemacht hätte, ja, und Cross, der an dem Ende der Couch saß, das der Tür und damit mir am nächsten war und auf das Tablet sah, das das vor ihm auf einem niedrigen, ovalen Couchtisch aus Stahl und Glas lag. Immerhin gab es große, abstrakte Ölgemälde in brillanten Edelsteinfarben, die die weiße Öde aufbrachen und farbbenfrohe, orientalische Teppiche, die so fein und abgetreten waren, dass selbst ich wusste, dass sie antik und wahrscheinlich unbezahlbar waren. Kross wiederum war so grau, wie ich ihn in Erinnerung hatte.

Er sah von seinem Display auf, erhob sich und kam lächelnd auf mich zu. „Frau Kellen, ich bin hocherfreut, dass Sie unsere Verabredung einhalten konnten.“

„Warum hätte ich sie nicht einhalten sollen?“, fragte ich, wissend, dass er seine Erwartung impliziert hatte, dass ich Santinis Druck, nicht zu kommen, nachgegeben hätte. Er lag nicht ganz daneben, Santini hätte gewiss versucht, Druck auf mich auszuüben, wenn er gewusst hätte, dass ich heute zu Kross fahren wollte, aber glücklicherweise hatte er nicht alle Einzelheiten meines Telefonats mit Kross mitbekommen.

„Aber ich frage mich, warum ich überhaupt hier bin. Ich denke nicht, dass mich unsere letzte Begegnung unbedingt als Expertin ausgewiesen hat.“

Himmel, es war mir immer noch peinlich, was geschehen war und ein großes Rätsel obendrein. Was sollte ich hier überhaupt? Ich war nur eine Kartenlegerin und das einfach aus finanzieller Not. Psi-Kräfte, erweitertes Bewusstsein, extraterrestrische Unterstützung, esoterischer Weitblick? Lächerlich, ich kam mit meinem eigenen Leben gerade einmal so zurecht. Es war ein Fehler gewesen, herzukommen. Das hier war eine Liga weit über meiner.

Kross lachte leise und tätschelte meine Schulter. Ich wich zur Seite. Hatten die Leute hier noch nie etwas von Intimsphäre gehört? Ich mag es nicht, wenn man mich ungefragt anfasst und bei Kross hatte ich das Gefühl, dass es nicht nett gemeint und schlecht ausgeführt war, sondern deutlich zeigen sollte, dass ich das junge, unerfahrene Ding war und er der ältere Herr mit Lebenserfahrung, der mir zeigte, wie die Welt funktionierte.

„Ganz im Gegenteil, meine Liebe“, entgegnete Cross jovial. Wenn er mein Ausweichen bemerkt hatte, zeigte er es nicht. „Sie haben einer Theorie neues Leben eingehaucht, die seit Jahrhunderten angezweifelt wurde. Mein Mandant, in dessen Penthouse wir uns übrigens gerade befinden, hat seit einer Ewigkeit an eben dieser Theorie geforscht und er ist bereit, einiges mehr in die Untermauerung seiner Thesen zu investieren.“

„Und da tauche ich aus dem Nichts auf, eine junge, aufstrebende Kartenlegerin, die nichts gegen eine kräftige Finanzspritze einzuwenden hat, und gewillt ist, was zu tun …?“

Er lächelte wieder und langsam ging mir dieses ewige Lächeln auf den Geist. „Nur die Dienstleistung anzubieten, die Sie ohnehin anbieten, und dafür die Wertschätzung ihrer Arbeit und auf lange Sicht finanzielle Unabhängigkeit zu erlangen.“

Was gab es da noch zu argumentieren? Ich wusste nicht, wie ich die Grundsteuer bezahlen sollte, geschweige denn die Abgaben für Abwasser, Straßenreinigung und Abfallentsorgung, dazu kamen die Versicherungen und die Rechnungen für meine Fenster und, wenn mein derzeitiges Pech anhielt, eine Lawine von Rechnungen für die Fenster aller Nachbarn im Umkreis von mehreren hundert Metern. Tante Anna hatte immer gewollt, dass ihr Haus im Familienbesitz blieb und da ich es als ihre einzige Verwandte geerbt hatte, lag es jetzt an mir, es zu halten, auch wenn es bedeutete, einen Pakt mit wem auch immer einzugehen. Was konnte schon passieren? Den Teufel mit Hörnen und Bocksfuß gab es nur in Märchen. Ich lächelte und nickte.

„Lassen Sie mich Ihnen erklären, was Sie für uns tun können.“

„Das wird nicht nötig sein“, erklang eine Stimme zu meiner Rechten. Ich fuhr herum. Ich hatte niemanden kommen hören. Nach dem dunklen Bariton erwartete ich einen großen, mächtigen Mann, aber der Mann, der neben mir stand, war kaum größer und schwerer als ich. Er war bereits älter, weit über fünfzig, denke ich, obwohl ich oft genug danebenliege, wenn es um Altersschätzungen geht, hatte eine hohe Stirn und tiefe Geheimratsecken, hinter denen sich eisengraue Locken bauschten. Sein Gesicht war zu lang und zu schmal, um attraktiv zu sein und seine scharf hervorstehenden Wangenknochen ließen es noch schmaler und ausgezehrter wirken. Tief eingegrabenen Kerben von seinen Nasenflügeln bis zu seinem Kinn setzten seinen Mund, einen gerade einmal angedeuteten, lippenlosen Strich geradezu in Klammern. ‚Wie Chucky, die Mörderpuppe‘, kam es mir in den Sinn. Seine Augen waren groß und hellblau und als er lächelte, sah ich, dass seine Zähne gelb waren.

„Ich übernehme das“, sagte er über meinen Kopf hinweg. „Vielen Dank, Arnold:“

„Gern, Anton“, antwortete Kross gelassen, als sei es normal für ihn, so beiläufig entlassen zu werden.

„Darf ich Ihnen Anton Guthmann vorstellen?“, sagte er zu mir. „Er ist Majordomus meines Auftraggebers und, ja, und sein ergebener Freund. Er wird Sie in sein Büro begleiten. Ich komme in einer Minute nach.“

Oh, là, là. Da war ich anscheinend mitten in ein Kompetenzgerangel geraten. Ein sehr höfliches, aber nicht destotrotz ernsthaftes. Ich hatte nicht die Absicht, hier zwischen die Fronten zu gelangen, bevor ich es schaffte, wieder zu gehen – und nie wiederzukommen.

„Gern“, sagte ich zu Kross und wandte mich Guthmann zu. Ich lächelte ihn an. Langsam wurde ich echt gut darin.

„Freut mich, Sie kennenzulernen.“ Ich streckte ihm die Hand entgegen, aber er nahm sie nicht, sondern verbeugte sich wie ein Butler in einem alten englischen Film. Auch gut.

„Bitte folgen Sie mir. Herr Kolus empfängt Sie im Arbeitszimmer.“

Bei der Erwähnung des Namens wurde mir eiskalt. Mart Kolus? Der, von dem mich Leona so eindringlich gewarnt hatte? Der geheimnisvolle Großmogul der Partywelt, von dem es keine Fotos und keine Interviews gab, dessen Name Leona zu dieser mysteriösen Warnung veranlasst hatte – dieser Mann hatte einen Termin mit mir? Oder wohl eher ich eine Audienz bei ihm. Es musste sich um ein Versehen handeln.

Die Tür zum Arbeitszimmer war geöffnet und ich trat hinter Guthmann ein, der mit der Gewichtigkeit eines Zeremonienmeisters meinen Namen nannte.

Er trat beiseite, verbeugte sich leicht und verließ das Zimmer, ohne mir noch einen Blick zu gönnen und ich sah dem Mann entgegen, den Leona so zum Fürchten fand. Ich hatte erwartet, ihn hinter einem mächtigen Schreibtisch sitzend und in wichtige Geschäfte vertieft zu finden, aber nein. Zwar gab es halblinks von mir einen Schreibtisch aus dunkel glänzenden Holz mit dem schon obligatorischen, schwer gepolsterten, schwarzen Ledersessel dahinter, aber er war verwaist und es lagen auch nur wenige Aktenordner und ein einsamer marineblauer Füller darauf; an Überarbeitung litt dieser Herr Kolus wohl nicht.

Ich ging weiter, neugierig. Sollte mich dieser Pomp, dieser Aufwand beeindrucken? Mission accomplished, ich war beeindruckt. Und verwirrt. Ich verstand nicht, was mich unversehens in die geschäftliche Upper Class katapultiert hatte und warum ich hier stand, im schlagenden Herzen des angesagtesten Nightlife-Unternehmens des Rhein-Main-Gebietes. Was wollten die, wer auch immer „die“ waren, von mir? Der Raum war so hoch wie eine Kathedrale und seltsam geschnitten, ein langgezogenes Rechteck, an dessen schmaler Basis sich die Tür befand, durch die ich gerade gekommen war und das sich wie der Bug eines Schiffes zu einer gebogenen Spitze verjüngte. Die Wände schienen weiß zu sein. Genau sagen konnte ich es nicht, weil das Licht gedimmt war und alle Helligkeit vom Bug ausging, der in der gesamten Schräge vom Boden bis zur Decke mit unendlich vielen rechteckigen Fenstern in mattschwarzen Rahmen verglast war. Durch die Fenster konnte ich über die gesamte Stadt sehen und selbst über einige der Hochhäuser, die von der Straße aus so riesig ausgesehen hatten. Es war, als ob ich aus einem Flugzeug auf die Erde hinabsah. Jeder vorsichtige Schritt brachte mich näher zur erleuchteten Bugspitze und ich machte eine Gruppe von Sesseln im Scheitelpunkt der  Seiten aus. Ich biss die Zähne zusammen, um nicht mit offenem Mund zu starren.

„Kommen Sie doch näher.“

Auf einem honigbraunen Chesterfield-Sessel, einem dieser üppig gepolsterten Lederungetüme, bei denen Rücken- und Lehne gleich hoch sind, saß ein Mann. Er war es, der gesprochen zu haben schien, aber ich konnte mir dessen nicht sicher sein, weil er mit dem Rücken zur Fensterfront saß und sein Gesicht im Schatten lag. Ich hätte ihn eigentlich genauer sehen müssen, denn der Himmel war bedeckt und das, obwohl ich das Gebäude bei strahlendem Sonnenschein betreten hatte. Aber da er genau im Mittelpunkt des Schiffsbugs saß blinzelte ich ins Licht, während mein unbekannter Gastgeber, der keine Anstalten machte, aufzustehen und mir entgegenzukommen, meines in voller Beleuchtung sah.

„Bitte verzeihen Sie, dass ich Ihnen nicht entgegenkomme.“ Die sanfte Stimme floss wie Butter und Melasse auf mich zu, mild und warm und irgendwie fettig. Ich mochte sie nicht. Instinktiv trat ich einen Schritt zurück. Doch dann riss ich mich zusammen. Es war nicht notwendig, dass ich meine Klienten mochte. Ich hatte den Kerl, der herausfinden wollte, wie seine Freundin von seinen Seitensprüngen erfahren hatte, nicht gemocht und auch nicht die Frau, die ihrem ehemaligen Verlobten hinterherspioniert hatte und so wie sie gab es viele, die ich eher weniger als mehr mochte. Ich sehe den Sinn meiner Arbeit darin, denen zu helfen, die Angehörige vermissen, die Angst haben, sei es um ihre Liebe, ihr Leben und das ihrer Lieben oder die sich verfolgt fühlen. Dafür arbeite und stehe ich. Kross hatte mich um Hilfe für seinen Mandanten ersucht und jetzt war ich dabei, diesen Mandanten zu treffen und obwohl dessen Stimme all die kleinen Härchen auf meinem Körper in stillem Protest aufstehen ließ, würde ich mir erst erzählen lassen, was sein Problem war, bevor ich entschied, ob ich den Auftrag annahm oder nicht. Wie es aussah hatte er gesundheitliche Probleme, wenn er sitzen blieb und sich dafür entschuldigte, also ging ich auf ihn zu, meine Hand ausgestreckt, um ihn zu begrüßen. Vielleicht war er gelähmt, oder war verletzt. Mitleid überwältigte meine Vorsicht. In meinem Kopf formten sich schon die Fragen, die er haben mochte: Werde ich je wieder gehen können? Hat eine anstehende oder künftige Operation Aussicht auf Erfolg? Wenn es nicht klappt, wie komme ich in meiner Zukunft zurecht? Was wäre …

„Willkommen, Frau Kellen“, drang seine Stimme durch meine Überlegungen.

Jetzt konnte ich sein Gesicht sehen. Es war wenig bemerkenswert, so wenig, dass ich morgen sehr wahrscheinlich an ihm vorbeigehen würde, ohne ihn zu erkennen. Er musste in den Vierzigern oder Anfang der Fünfziger sein und hochgewachsen, wenn man bedachte, dass seine Schultern so hoch über den Seitenlehnen seines Sessels aufragten, dass er seine Unterarme bequem auf dem Leder ruhen lassen konnte, ohne dass es aussah, als ob er gleich abheben wollte. Sein Gesicht wies kaum Falten auf, aber es war so mager, dass ich mich in meiner Annahme, dass er krank war, bestätigt fühlte. Sein dunkles Haar war dicht und akkurat gescheitelt und er trug zu einer hellen Chino ein dunkelblaues Sakko und ein weißes Hemd mit einem grafischen Muster, Knoten oder so, in verschiedenen Brautönen. Ich beugte mich vor und nahm seine ausgestreckte Hand. Sein Händedruck war fest, aber seine Hand war so mager, dass ich seine Knochen durch seine Haut spüren konnte und seine Haut klamm. Ich war froh, als ich sie wieder loslassen konnte.

„Bitte entschuldigen Sie meine Unhöflichkeit, aber ich möchte King George nicht wecken. Er mag das gar nicht.“

Ich folgte seinem Blick und sah, dass auf seinem Schoß ausgestreckt ein Mops lag. Der Hund hatte genau den Crèmeton der Hose seines Herrchens, was wohl der Grund war, dass ich ihn nicht sofort wahrgenommen hatte, aber auch, weil er absolut regungslos im Schoß meines Gegenübers lag. Anders als die wenigen Möpse, die mir in meinem bisherigen Leben begegnet waren, schien dieser keine Probleme mit seiner Atmung zu haben, denn er lag auf seinem Rücken und schlief ohne zu schnarchen oder nach Luft zu ringen. Ich sah den Hund an, auf meinen Lippen eine Bemerkung wie „schöner Hund“ oder „der ist aber lieb“, als ich realisierte, dass sich dessen Brust überhaupt nicht bewegte.

Was sollte das? Erwartete dieser Mann ernsthaft, dass sich ein ausgestopfter Hund beschwerte? War ich von Irren umgeben?

Ich zwang mich zu einem Lächeln. „Hunde können schwierig sein.“

Sein Lächeln spiegelte meines mit sehr weißen, sehr regelmäßigen Zähnen. „Wir werden uns ausgezeichnet verstehen“, sagte er und in meinen Ohren klang es zufrieden. „Nehmen Sie doch Platz.“ Er wies auf den Sessel zu seiner Linken.

Ich ging die paar Schritte zum angegebenen Sessel und setzte mich. Das Leder war kalt und glatt und der obere Rand der Armlehnen reichte mir bis zu den Ohren. Sessel eins, Anna null - es war klar, dass nicht ich diesen Sessel dominierte, sondern er mich. Mart Kolus dagegen dominierte seinen Sessel und seine Dominanz reichte weit darüber hinaus. Ich rutschte auf dem zu glatten Leder so weit nach vorn, dass es mich nicht vollständig schluckte und in dem Prozess begriff ich: Die himmelhohen Fenster, die ausgefeilte Positionierung der Sitze darunter, der lange Weg, den Besucher durch den Raum zurücklegen mussten und die überdimensionierten Möbel, die einzig und allein auf den Mann vor mir, den ich inzwischen auf mindestens zwei Meter Lebendmaß schätzte, zugeschnitten waren: Das alles war geschaffen, um zu beeindrucken, oder eher, um zu dominieren. Das hier war ein Thronsaal. Wow. Wo auch immer ich hier hineingeraten war, es lag weit außerhalb meiner Liga.

„Kann ich Ihnen etwas anbieten?“, drang Kolus‘ Stimme durch meine Gedanken. „Ein Glas Champagner vielleicht? Oder hätten Sie lieber Kaffee oder Tee? Oder bevorzugen Sie Wasser?“

„Danke, aber nein“, sagte ich schnell, bevor er mir auch noch Canapés oder Kuchen anbieten konnte. „Bitte sagen Sie mir doch, was ich für Sie tun kann. Herr Kross war nicht sehr deutlich, was das betrifft.“

Mart Kolus lächelte. „Das sind Anwälte nie. Ist das nicht ihr Geschäft? Aber in diesem Fall hat er nach meinen Anweisungen gehandelt. Ich wollte, dass er Sie zunächst kennenlernt. Man muss doch wissen, mit wem man Geschäfte macht, nicht wahr?“

Das war eine Feststellung, aber er ließ es wie eine Frage klingen. Ich nickte. „Das verstehe ich.“ Irgendwie.

Es war warm hier drinnen. Vielleicht hätte ich doch um ein Wasser bitten sollen. Und etwas stimmte nicht mit den Fenstern. Draußen war es bedeckt, aber ich fühlte mich, als ob ein glühendheißer Suchscheinwerfer auf mich gerichtet wäre. Ich rutschte etwas zur Seite, um aus dem direkten Licht zu kommen, aber das Licht stach mir weiter in die Augen. Dann eben nicht. Die paar Minuten, bis dieses Meeting vorbei war, würde ich es schon aushalten.

Der Butler – wie hieß er noch gleich – materialisierte neben Kolus und reichte ihm mit einer steifen Verbeugung etwas auf einem silbernen Tablett. Klischee, Klischee!

Mit einem flauen Gefühl im Magen sah ich, was Kolus herunternahm und auf das niedrige Tischchen vor sich legte: ein Holzkästchen, das Holzkästchen mit den Karten, von denen ich gehofft hatte, dass ich sie nie wieder in meinem Leben sehen musste. Kolus schien mein Unwohlsein von meinem Gesicht ablesen zu können, denn er lächelte beruhigend und lehnte sich wieder zurück. Dieses Mal legte er seine Hände verschränkt in seinen Schoß.

„Über die Jahre hinweg haben wir diese Karten und andere Gegenstände einer Menge Leuten im sogenannten“, er hob beide Hände und krümmte Ziege- und Mittelfinger, um Anführungszeichen darzustellen, „‚magischen Geschäft‘“, er ließ die Hände wieder sinken, „gezeigt. Niemand, das versichere ich Ihnen, hat jemals so eine deutliche Reaktion gezeigt, wie Sie. Das war der Grund“, fuhr er fort und hob eine Hand, wie um mir zu zeigen, dass er den Einwand, der mir auf der Zunge brannte, schon bedacht hatte, bevor ich ihn aussprach, „warum Herr Kross es nicht für notwendig befand, Sie im Vorfeld der Konsultation zu warnen. Nach all der Zeit erwartete er einfach nicht mehr, dass jemand unsere Hoffnungen so befeuert.“

Hoffnungen? Befeuert? Dieser Mann hatte gut reden. Seine befeuerten Hoffnungen hatten mich fast umgebracht. Die Erinnerung an den allumfassenden, abgrundtiefen Schmerz sprang mich an. Das Gefühl, nicht atmen zu können, in einem Schmerz zu ertrinken, der zu groß für mich war, hatte die ganze Zeit hinter meinen Augen gelauert, bereit loszuspringen und mich zu überwältigen, sobald etwas, ein Wort, ein Geruch, ein Anblick, es befreite. Ich brannte! In meinen Fingerspitzen, da wo sie die alten Karten berührt hatten, pulsierte glühende Lava im Rhythmus meines Blutes. Die Welt um mich herum zog sich zusammen und lastete auf mir wie ein Berg aus rotglühendem Eisen. Ich  konnte nicht atmen, mich nicht bewegen, nichts fühlen als das allgegenwärtige glühende Brennen. Ich keuchte, weinte, schrie. Oder dachte ich nur, dass ich es tat? Meine Welt war rotglühendes Inferno, das mich in seinem Zentrum langsam verbrannte. Durch den grellroten Schmerz sah ich Mart Kolus, der mich gelassen beobachtete.

„Alles gut?“, fragte er.

Nein!, schrie alles in mir, aber ich nickte nichtsdestotrotz, so wie jeder nickt, der gefragt wird, ob alles okay ist. Ein Reflex. Also nickte ich und die Angst und der Schmerz waren plötzlich weggefegt, so schnell und spurlos, als ob ich mir alles nur eingebildet hätte. Aber nur fast. Meine Finger brannten weiter wie die Hölle.

„Welche Hoffnungen?“, fragte ich. Zu meiner Überraschung klang meine Stimme ruhig und gefasst.

Kolus sah mich lange an, als wolle er verstehen, wer ich war und wie ich tickte und während er mich musterte, musterte ich ihn.

Was auch immer ich vom berühmt-berüchtigten Herrscher des Rhein-Main-Nachtlebens erwartet hatte: Kolus sah aus wie der Nachbar von Nebenan. Von seinem peniblen Haarschnitt bis zu seinem halboffiziellen Outfit, das man in Bankerkreisen wahrscheinlich Casual Friday-Outfit nannte, so casual, wie Armani und Co eben sein konnten, atmete er Normalität. Ich hatte keine Ahnung von Markenklamotten – meine kaufte ich im Internet, das sparte Zeit und Geld und außerdem gab es derzeit niemand Speziellen in meinem Leben, sodass es auch keinen Grund gab, meine bequem geschnittenen Jeans und Shirts gegen ein sexy Outfit einzutauschen - aber ich erkannte Qualität, wenn ich sie sah. Sein Gesicht war angenehm anzusehen, Er war glatt rasiert, hatte eine kräftige, leicht gebogene Nase und einen breiten, gut geschnittenen Mund. Seine Augen lagen im Schatten, alles, was ich erkennen konnte, war, dass sie hell sein mussten. Alles in allem der nette Nachbar, den man bat, die Post entgegenzunehmen oder die Blumen zu gießen, wenn man in den Urlaub fuhr, ein Mann, mit dem man es gern zu tun hatte. Bis auf die Stimme. Ich mochte sie nicht. Bevor ich darüber nachdenken konnte, was genau mich daran störte, fuhr er fort:

„Das, was ich Ihnen jetzt erzähle, geschieht unter dem Siegel der Verschwiegenheit. Falls Sie jemandem davon erzählen, wird dies unangenehme Konsequenzen für Sie haben. Herr Kross hat dazu einige Papiere vorbereitet. Bitte lesen Sie alles durch und unterschreiben Sie dann. Diese Papiere beinhalten neben einer Verschwiegenheitserklärung, die vertragliche Regelung unserer Zusammenarbeit und eine Honorarvereinbarung.“

Echt jetzt?

„Nein.“

Seine Augenbrauen schossen nach oben. „Wie bitte?“

Ich sprang auf, doch Kross stand auf einmal neben mir und legte eine Hand auf meine Schulter. „Bitte“, sagte er.

„Finger! Weg!“, zischte ich. Das Gewicht auf meiner Schulter verschwand augenblicklich. Ich zwang mich zur Ruhe und sah Kolus an:

„Ich unterschreibe nichts, was mein Anwalt nicht vorher geprüft hat. Diese ganzen Papiere hätten Sie mir längst zuschicken können. Sagen Sie jetzt nicht, dass Sie noch nie etwas von E-Mails gehört haben. Dachten Sie, das hier“, ich wies mit einer Geste auf den Raum um mich herum, „beeindruckt mich so sehr, dass ich mit mir machen lasse, was Sie sich vorstellen? Danke für die Einladung, aber ich gehe jetzt.“

„Bitte bleiben Sie“, drängte Kross. „Es ist ungeheuer wichtig für uns, dass Sie verstehen, dass es hier um mehr geht, als eine Spielerei. Es geht hier um Leben und Tod.“

Ich schnaubte. Wenn er dachte, mich damit zu beeindrucken, war er schief gewickelt. Die Phrase „um Leben und Tod“ habe ich schon bei einer Pizzabestellung gehört.

„Hören Sie“, sagte ich in einem, wie ich annahm, ruhigen und versöhnlichen Ton, „es ist sehr schmeichelhaft, dass Sie denken, ich könnte Ihnen bei Ihrem Problem helfen, aber ich bin nicht die Richtige, wenn es um Geschäftsgeheimnisse und Verschwiegenheitsverträge geht. Ich kann Ihnen nicht sagen, wer Sie ausspioniert und wenn Sie mir hundert Kartensets vorlegen. So funktioniert Kartenlegen nicht. Suchen Sie sich eine gute Detektei, da sind Sie besser bedient. Ach ja, und was diese Karten betrifft: Ein guter Chemiker sollte herausfinden können, was damit nicht stimmt. Wenn Sie mich bitte entschuldigen würden: Ich muss drei vermisste Personen finden. Gehen Sie mir aus dem Weg.“

Für eine, zwei Sekunden, schien die Welt stillzustehen, dann räusperte sich Kolus. „Verzeihen Sie, das wusste ich nicht. Selbstverständlich haben Sie keine Zeit zu verschwenden, aber bitte hören Sie sich zunächst an, was ich Ihnen zu sagen habe. Ich denke, unsere Interessen kreuzen sich. Wir könnten einander helfen.“

Ich überlegte. Suchte die Falle, aber ich fand keinen Grund, nicht wenigstens zuzuhören. Das Angebot von Hilfe klang zu verlockend, um es nicht wenigstens anzuhören. Ich setzte mich wieder.

„Also gut: Wie können wir einander helfen?“

Kolus ließ sich Zeit. „Glauben Sie an Magie?“, fragte er nach einer langen Zeit, als ich schon an meiner Entscheidung zu zweifeln begann.

Damit hatte ich überhaupt nicht gerechnet. „Die Magie eines Augenblicks oder die Hokus-Pokus-ich-ziehe-einen-Hasen-aus-meinem-Zylinder-Magie?“, schnappte ich. „Was soll diese Frage jetzt? Haben Sie keine drängenderen Probleme?“

Kolus hob beschwichtigend seine Rechte. Der Hund wachte auf, wandte den Kopf zu mir und knurrte. Kolus tätschelte abwesend seinen Kopf. Der Hund ve3rstummte, aber er behielt mich im Auge.

„Das genügt mir“, sagte Kolus und in seiner Stimme schwang ein Lächeln. „Sie sind also eine Ungläubige in einem magischen Beruf. Nein“, er hob die Hand wieder, „nicht ungeduldig werden. Ich erkläre Ihnen alles, aber ich muss etwas ausholen. Dreihundert Jahre kann man nicht in zwei Sätzen abhandeln.“

„Schießen Sie los.“ Und das schnell! Meine Geduld war erschöpft und ich nahm an, dass man es mir ansah.

Er sah mich eigenartig an, vielleicht gefiel ihm meine saloppe Ausdrucksweise nicht, vielleicht auch nicht das Drängen in meiner Stimme oder mein Blick. Damit konnte ich leben. Mit seinen Spielchen nicht.

„Meine Familie ist alt, sehr alt“, begann Kolus, gerade, als ich meine Geduld zu verlieren begann. „Alle meine Vorfahren haben sich für die Wissenschaften interessiert, für Medizin, Astronomie, Astrologie, Okkultismus, Spiritismus, Mystizismus. Einer meiner Vorfahren, Urgroßonkel Anton, forschte im Bereich des menschlichen Geistes. Der Grund dafür war, dass er mehr über das Wie und Warum der speziellen Eigenschaften und Fähigkeiten meiner Familie herausfinden wollte. Seine Forschungen waren neu, umstritten und kosteten ein -Vermögen. Um sie zu finanzieren heiratete er die Tochter einer lange mit unserer verfeindeten Familie. Ein zusätzlicher Vorteil war, dass jetzt nichts und niemand mehr seine Forschungen behinderte.“

„Von welchen Eigenschaften reden Sie?“

Einer seiner Mundwinkel zuckte, wohl das Äquivalent eines Lächelns, „Darüber zu sprechen ist mir leider untersagt. Aber seien Sie versichert, dass Sie trotzdem verstehen werden. Es gab einen dritten Grund, warum er Elisabethe heiraten wollte. Auch in ihrer Familie gab es außergewöhnliche Begabungen.“

Ich schaltete ab. Die Genealogie dieses Herrn interessierte mich nicht besonders. Ich horchte erst auf, als ich das Wort Hexe hörte.

„Eine Hexe?“ Das war lächerlich.

Kolus lächelte. „Ah, habe ich jetzt Ihre Aufmerksamkeit? Ja, Elisabethe war eine Hexe. Mein Uronkel wusste das nicht, es war ein gut gehütetes Geheimnis in ihrer Familie. Wir reden hier vom Anfang des achtzehnten Jahrhunderts. Magie und Aberglauben waren den Menschen damals sehr viel realer als heute. Und die Angst von Hexen oder Frauen, die als Hexen verschrien waren, wegen einer Missernte oder eines unnatürlich erscheinenden Todes verbrannt, gepfählt oder geköpft zu werden, war allgegenwärtig. Die beiden heirateten und bekamen sechs Kinder, fünf Mädchen und einen Jungen. Als sie herausfanden, dass ihr einziger Sohn eine Hexe war, waren sie gleichermaßen entzückt wie verängstigt. Nie zuvor hatte es so etwas gegeben.“

„Ein Hexer“, korrigierte ich automatisch.

„Ich bedauere, Ihnen widersprechen zu müssen, aber Jonathan von Vrieshard war eine Hexe. Die Gabe der Hexerei vererbt sich ausschließlich über die weibliche Blutlinie. Im Gegensatz dazu erwerben Hexer ihre Kunst im Laufe ihres Lebens durch das Anhäufen von Wissen. Entgegen allem, was bis dahin bekannt war, wurde Jonathan als Hexe geboren.“

Ich nickte und er fuhr fort: „Jonathan war wissbegierig und sein Vater unterrichtete ihn in den Geheimen Wissenschaften, stolz, dass sein Erbe seine Forschungen weiterführen wollte. Die Gene seiner Eltern, in ihm kombiniert, gaben ihm eine Macht, die es bisher nicht gegeben hatte. Seit frühester Kindheit arbeitete er wie ein Besessener, um das Wissen seines Vaters zu erfassen und das seiner Mutter zu erspüren, doch Jonathans Mutter starb, als er gerade zehn Jahre alt war, danach nacheinander seine Schwestern, in jedem Jahr eine. Sie waren nicht krank, sie hatten keine Unfälle, es gab keine Hungersnot oder Seuchen, sie starben einfach. Die Sterblichkeit war damals hoch, Medizin, wie wir sie heute kennen, gab es nicht. Es gab keinen Grund, ihn dafür verantwortlich zu machen, dennoch stürmte ein aufgehetzter Mob die Burg und ermordete alle, die darin waren: Männer, Frauen, Kinder, selbst das Vieh und die Hunde.“ Er sah mich an und als er weitersprach zitterte seine bisher beherrschte Stimme. „Sie zerstörten alles, woran er gearbeitet hatte und setzten die Burg in Brand. Alles, was in Generationen an Wissen und Magie aufgebaut worden war, wurde innerhalb einer Nacht zerstört.“

Er schien erschüttert, auch wenn das Ereignis einige Jahrhunderte in der Vergangenheit lag. Wie sollte ich reagieren, was sagen? Gab es eine Formel, um Verständnis für Trauer oder Verlust zu bekunden? Wenn, hatte ich sie noch nicht entschlüsselt. Aber es gab so etwas wie Höflichkeit.

„Das tut mir leid“, murmelte ich. Mit Verlusten kannte ich mich aus.  

Er nahm meine Beileidsbekundung zur Kenntnis, indem er leicht den Kopf neigte, dann sprach er weiter: „Doch die Gier der Massen war zu groß. Bevor sie alles in Brand setzten, raubten sie, was sie nur wegtragen konnten, darunter unbezahlbare Kostbarkeiten, wie Bücher, Dokumente, aber auch Kunstgegenstände, Schmuck, kultische Figuren und viele Gegenstände, deren magische Eigenschaften nicht sofort erkennbar waren. Seit dieser Zeit versucht meine Familie, ihr Eigentum wieder zurückzuerlangen. Das Problem ist, dass es aus dieser Zeit wenig dokumentierte Geschichte abseits von Tagebüchern und Kircheneinträgen gibt. Was wir haben ist Volksglaube und Märchen, geschmückt mit Aberglauben und Mythen. Bis vor einigen Jahren das Oberhaupt unserer Familie starb, hatten wir nur einen sehr kleinen Teil unseres Familienerbes zurückerworben. Leider starb mit ihm der letzte, der noch einen Funken der Familienmagie sein eigen nennen konnte und damit auch der Letzte, der die magische Signatur der Stücke erkennen konnte. Seitdem ist die Familie auf der Suche nach jemandem, der uns beim Aufspüren helfen kann.“

„Das Kartendeck war eines davon?“

Er nickte. Meine Gedanken rasten. Der erste war: Bin ich eine Hexe? Alle anderen stürmten dann gleichzeitig auf mich ein. Warum sonst sollte ich so etwas können? War ich mit diesem Mann über die Generationen hinweg verwandt? Oder war alles ein Zufall? Was wären die Konsequenzen, wenn ich eine Hexe wäre? Wäre ich dann eine weiße oder eine schwarze Hexe? War alles ein Schwindel, um mich glauben zu lassen, dass ich besondere Kräfte habe? Aber warum? Meine Gedanken polterten durcheinander wie Felsbrocken in einer Moräne. So kam ich nicht weiter.

„Was wollen Sie von mir?“

Kolus hatte meinen inneren Konflikt aufmerksam verfolgt. Jetzt lachte er leise. „Wie Ihre Tante: geradeheraus ohne Umschweife.“ Das Lächeln erlosch so plötzlich, als ob ein Licht ausgeknipst worden wäre. Er beugte sich vor.

„ Jemand nutzt die Magie meiner Familie, um unglaubliche Verbrechen zu begehen. Ich bitte Sie, helfen Sie mir, herauszufinden, wer diese Person ist und damit auch, sie unschädlich zu machen.“

„Dafür ist die Polizei zuständig.“

Er schnaubte, ein profanes Geräusch, das so gar nicht zu seiner Inszenierung von Perfektion und Zivilisierung passen wollte. „Ich bitte Sie: Wieviel Erfolg hatte die Polizei bei der Suche nach ihren vermissten Personen?“

Er nickte, als ich nichts antwortete. „Genau. Und jetzt sage ich Ihnen, warum wir einander helfen können: Wenn Sie die Stadt so gut kennen würden, wie ich, würden Sie erfahren, dass bereits seit Monaten Menschen spurlos verschwinden. Das ist an sich nichts Ungewöhnliches, Menschen verschwinden nun einmal manchmal, aus den verschiedensten Gründen, Doch hier gibt es ein Muster. Anfangs waren es Durchreisende, Obdachlose, Junkies, alles Menschen, die so schnell nicht vermisst würden, inzwischen sind es immer mehr Männer und Frauen, die in gefestigten Beziehungen und stabilen Arbeitsverhältnissen stehen. Keiner ist über Dreißig und keiner hat gesundheitliche oder finanzielle Probleme.“

„Und was hat das mit meinen vermissten Personen zu tun?“

„Können Sie sich das nicht denken?“

„Sie glauben, dass sie dazugehören?“ Ich schüttelte energisch den Kopf. „Unmöglich. Eine Frau hat mich noch angerufen, während ihr, ich weiß nicht was, passiert ist, eine andere wurde vor einem Zeugen entführt, das passt nicht zu Ihrem ungeklärten Verschwinden. Außerdem: Ich kannte sie nicht, als das alles passiert ist, woher also kamen Sie auf die Idee, dass unsere Fälle irgendwelche Gemeinsamkeiten haben?“

Ich wollte nur heraus hier. Warum verplemperte ich meine Zeit mit diesen Hirngespinsten? Ich musste zu Jan, herausfinden, wie es ihm ging, ob ich irgendetwas tun konnte, um ihm zu helfen, seine Freundin wiederzufinden. Und um zu ergründen, ob Mirjas Fall damit in Verbindung stand.

„Sie glauben mir nicht“, stellte Kolus fest. „Das ist nicht verwunderlich, schließlich kennen wir einander nicht. Warum also sollten Sie mir vertrauen? Aber“, und jetzt huschte ein amüsiertes Lächeln über sein Gesicht, das erste wirkliche Zeichen dafür, dass er zu Gefühlen fähig war, „Sie können Ihren Fähigkeiten vertrauen. Legen Sie diese Karten im dreifachen Jagdrad aus. Ja, ich weiß“, unterbrach er mich, bevor ich fragen konnte, wie er dieses Muster kannte, das niemand außer meiner Tante legte und selbst sie hatte es, soviel ich weiß, nur einmal getan, „dass ich eigentlich nicht davon wissen könnte, aber, wie ich bereits sagte Sie sind Ihrer Tante sehr ähnlich. Ich kannte sie. Leider ist es zu spät, um sie darum zu bitten. Ich kann nur hoffen, dass sie Ihnen ihr Wissen in dem Maße weitergegeben hat, wie es für diesen delikaten Fall vonnöten ist.“

Ich starrte ihn an. Das Jagdrad war verboten! Ich hatte ein einziges Mal gesehen, wie Tante Anna es legte. Sie hatte Türen und Fenster verschlossen und geglaubt, sie sei allein, weil ich bei einer Freundin übernachten würde. Aber wir hatten uns gestritten und ich war nach Hause gekommen und hatte mich auf die Treppe ins Obergeschoss verkrochen, um ja, traurig zu sein. Ihr verstohlenes Verhalten hatte mich neugierig gemacht und ich hatte sie beobachtet. Zu meinem Erstaunen hatte meine Tante ihre Karten auf dem Boden im Wohnzimmer ausgelegt in einem Rhythmus und einem Muster, wie ich es noch nie zuvor gesehen. Sie hatte lange auf die Karten gestarrt, so lange, bis ich schon geglaubt hatte, sei sie in eine Art Trance verfallen, aber dann hatte sie aufgesehen, die Karten zusammengerafft und mich ausgescholten. Und sie hatte gesagt, dass ich niemals jemandem sagen dürfte, was ich gerade gesehen hatte. Ich hatte mich daran gehalten. Sie anscheinend nicht.

„Ich kann es nicht.“

„Wie bitte?“

„Ich weiß, dass es das Jagdrad gibt“, erklärte ich, „aber meine Tante hat es mir nie beigebracht. Ich kann Ihnen nicht helfen.“

So, das war’s. Ich erhob mich. „Danke, dass sie an mich gedacht haben, aber ich kann Ihnen nicht helfen. Viel Glück auf der Suche nach Ihren Erbstücken.“

Kolus seufzte und hinter mir hörte ich ein weiteres Seufzen. Egal, nur raus hier. Ich hatte kein gutes Gefühl gehabt, herzukommen und ich hatte Recht gehabt. Es war reine Zeitverschwendung gewesen.

„Bitte versuchen Sei es wenigstens noch einmal mit diesen Karten“, sagte Kolus und hielt mir das bewusste Kartendeck entgegen. Wie zum Teufel hatte er es sie aus dem Kästchen geholt? Ich hatte nichts mitbekommen. „Ich verspreche Ihnen, dass Ihnen dieses Mal nichts geschehen wird. Die Dinge sind nur, nun“, er lächelte wieder, „aufgeregt, wenn sie gefunden werden.“

Oh Gott, ich war bei lauter Irren gelandet.

„Also gut.“ Alles, damit dieser Besuch so schnell wie möglich endete.

Ich nahm die Karten. Nichts geschah. Ich entspannte mich.

Kolus‘ Butler brachte einen niedrigen Tisch, den er vor mich stellte. Es war ein hübsches Stück, ein wahrscheinlich wertvoller antiker Beistelltisch aus dunklem Holz mit hellen, samtgolden schimmernden Blatt- und Rankenintarsien. Ich konzentrierte mich und legte die Karten in einem oft praktizierten, steten Rhythmus aus, eine Reihe, die nächste, die nächste … Ich wurde ruhiger. Das hier war etwas, womit ich mich auskannte. Die Karte mit der Kriegerin lag vor mir und sie war so normal, wie die anderen Karten. Ich musste lächeln. Also war der Vorfall bei mir zuhause nicht meine Schuld gewesen. Noch eine Karte, der Turm, dann die letzte Karte. Ich legte sie auf ihre Position und sah das ganze Bild.

 

Kapitel 6

Ich stand an meiner Gartenpforte, die Arme bequem auf dem dunklen, sonnenwarmen Holzrahmen aufgestützt und sah die Straße hinunter. Es war schon eine ganze Zeit, dass ich hier stand, denn ich hatte gesehen, wie Frau Heimrich ihre Einkäufe aus dem Kofferraum ihres Datsun wuchtete und die drei Plastikkisten dann nacheinander in ihr Haus schleppte und das, obwohl ihr Mann im Garten saß und sich die Sonne auf den Bauch scheinen ließ. Ich verstand nicht, warum sie sich so behandeln ließ. Jeden Tag um Punkt zwölf verlangte er sein Mittagessen und wenn es auch nur zwei Minuten später auf dem Tisch stand, konnte die ganze Nachbarschaft hören, wie er sie als faul und nutzlos beschimpfte. Und man hörte nie ein Widerwort von ihr. Nie. Und das machte mich unglaublich wütend. Seit Horst Heimrich in Rente war, hatte er keinen Handschlag mehr getan. Seine Frau dagegen arbeitete ganztags als Verkäuferin und managte dazu Haus, Mann, Garten und alles was dazugehörte, ohne je ein gutes Wort dafür zu ernten. Seit ich wieder hier lebte hatten wir ein einziges Mal miteinander gesprochen, das war, als wir nebeneinander an der Bushaltestelle gestanden hatten. Damals hatte sie mich angesprochen, was eine Sitzung bei meiner Tante kostete. Ich hatte es ihr gesagt, aber sie war nie gekommen. Wie auch, ihr Göttergatte bewachte sie wie ein Schießhund.

Die Mautner-Zwillinge waren vom Fußballtraining heimgekommen, hatten ihre Fahrräder in den Vorgarten gefahren und dort auf dem Weg stehen lassen, wieder einmal, ohne sie abzuschließen. Zweimal schon waren ihre Räder in diesem Jahr gestohlen worden, aber bereits am nächsten Tag hatten sie neue gehabt und mit jedem neuen Kauf waren die Räder eine Klasse auffälliger und teurer geworden. Wenn die Zwillinge beim Fußball nur halb so gut waren, wie ihre stolzen Eltern ständig verkündeten, waren die Bikes sicherlich in Aussicht auf künftige Bundesliga-Einnahmen gekauft worden, denn die Mautners hatten es nicht so dicke, wie man so schön sagt. Er war irgendwie im Außendienst einer Bekleidungsfirma und sie ging putzen, um die Lücken aufzufüllen - oder neue Räder zu kaufen, denn wahrscheinlich wartete der Dieb der Vorgängerräder bereits hinter einer Hausecke auf Nachschub.

So langsam musste Leona aber kommen. Ich kannte sie jetzt seit drei Jahren und jedes einzelne Mal, wenn wir uns verabredet hatten, war sie zu spät gekommen. Meistens waren es nur ein paar Minuten, aber es war auch schon vorgekommen, dass sie mich mehr als eine Stunde warten ließ oder ich sie anrufen und irgendwo loseisen musste. Leona gab zu, chronisch unpünktlich zu sein und sie war auch wirklich bemüht, sich zu bessern, aber es klappte irgendwie nie. Ich akzeptierte es, so wie ich auch einen Regenguss oder einen Mückenstich akzeptiert hätte. So war sie eben. Außerdem wettete ich immer heimlich mit mir, welche unglaublich abenteuerliche Entschuldigung sie wieder vorbringen würde. Bis auf eine Alien-Entführung hatte sie bis jetzt, glaube ich, schon alles vorgebracht. Ich war gespannt, was sie jetzt wieder aufgehalten hatte. Aber so lange hatte sie mich noch nie warten lassen.

Aus dem Augenwinkel sah ich eine Bewegung. Ich drehte den Kopf nach rechts und hob den Arm, um zu winken, aber dann ließ ich ihn wieder sinken. Nicht Leonas …….., sondern ein weißer Oberklassewagen kam um die Ecke und glitt die Straße entlang. Ich hörte keinen Motor. Es musste ein Elektroauto sein. Er war riesig, weiß, flach und so schnittig wie ein Rennwagen. So einen hatte ich noch nie gesehen. Ich interessiere mich nicht besonders für Autos, aber bei einem wie diesem sah auch ich zweimal hin.

Der Wagen zog vor mit quer über die Straße und hielt direkt vor mir an. Die Fahrerscheibe fuhr nach unten und ich konnte den Fahrer sehen. Sein Gesicht war lang und schmal, glattrasiert und wies kein Fältchen auf, aber sein Haar war von einem so glänzenden Weiß, dass es wie Silber schimmerte. Es stak in wilden Strähnen aus seinem Schädel, als ob er es seit Jahren nicht gekämmt hätte. Er trug ein mattrotes T-Shirt und Ketten aus Silber und Leder um den Hals und beide Handgelenke. Seine Hände, die leicht auf dem Lenkrad lagen, waren mit seltsamen Zeichen tätowiert und er hatte kurze, schwarz lackierte Fingernägel. Er wandte sich mir zu und lächelte. Eigentlich war es kein richtiges Lächeln, nur eine sehr sparsame Version, ein Zucken seiner Mundwinkel. Etwas stimmte nicht mit seinem Gesicht. Ich kniff die Augen zusammen und sah genauer hin. Es war etwas mit seinem rechten Auge. Als er sich weiter zu mir drehte, konnte ich es erkennen, Genau, als das Licht darauf fiel, konnte ich ein rotes Tattoo erkennen. Es war, ja, ein Stern mit unregelmäßigen Zacken, der längste lief an seiner Wange herunter bis fast zu seinem Mundwinkel, aber das Tattoo war anscheinend alt, denn die Farbe war so ausgebblichen, als ob sich über dem Tattoo eine neue Schicht Haut gebildet hätte. Was für ein dummer Gedanke, schalt ich mich. Das Lächeln des Mannes wurde zu einem echten Lächeln und das Tattoo war verschwunden. Eine Spiegelung? Genau, die Sonne war heute sehr grell und etwas musste das Sonnenlicht reflektiert haben. Trotzdem … Ich starrte. Er betrachtete mich mit milder Neugier, so als ob ich ein Tier in einem Zoo sei. Es fühlte sich an wie eine Ewigkeit bis er sprach.

„Du bist also aufgewacht.“                                                                               

Er hatte eine angenehme Stimme, akzentfrei und viel jünger, als es sein weißes Haar vermuten ließ. Ich war noch immer in Gedanken bei diesem Tattoo, dass ich nicht sofort erfasste, was er gesagt hatte, aber dann …

„Aufgewacht? Es ist heller Tag.“

Er lächelte wieder, dieses angedeutete Lächeln mit gerade einmal leicht angehobenen Mundwinkeln.

„Tatsächlich? Du scheinst mir einiger Dinge sehr sicher zu sein.“

Das war eine eigenartige Weise, eine Fremde anzusprechen. Vielleicht war er doch schon alt und hatte mich auf seinen Knien geschaukelt, als ich noch ein Baby gewesen war.

„Kennen wir uns?“, fragte ich.

„Nein“, antwortete er. „Aber ich wollte dich kennenlernen.“

„Warum?“

Wieder dieses feine Lächeln. „Warum nicht?“

Ich liebe Leute, die sich die Würmer aus der Nase ziehen lassen. Nicht!

Ich zählte im Geiste die Fakten zusammen. Ein Kunde konnte er nicht sein, jemanden wir ihn hätte ich mir gemerkt, auch wenn er Tante Annas Kunde gewesen wäre. Er schien wohlhabend zu sein. Sein Wagen sah extrem teuer aus, folglich bewegte er sich außerhalb meines Bekanntenkreises. Die Leute, mit denen ich zu tun hatte, waren Studenten oder Kunden, die es sich vorher zweimal überlegt hatten, ob sie dreißig Euro für eine Erstberatung ausgeben sollten und selbstverständlich meine Nachbarn. Aber hier war nicht das Villenviertel, dies hier war der ländliche Ausläufer eines ehemals bäuerlich geprägten Stadtteils mit kleinen Grundstücken und Häusern, denen man ansah, dass sich die Erstbesitzer jeden Stein mühsam vom Mund abgespart hatten. Während ich überlegte, tanzten seine Finger in einer Melodie auf dem Lenkrad, die nur er zu hören schien. Die Bewegungen waren schnell, virtuos und ich ertappte mich dabei, dass ich versuchte, herauszufinden, nach welcher Melodie er es tat. Ich wusste, ich kannte sie. Nur ein, zwei Sekunden mehr und ich hätte es.

„Wenn du etwas wissen willst, frag die Katze.“

„Katze? Welche Katze?“

Er sah mich lange an, geduldig, als ob ich eine besonders langsame Schülerin wäre, aber er noch nicht alle Hoffnung aufgegeben hätte, dass ich - eines Tages – vielleicht – den Sprung zum intelligenten Menschen schaffen würde.

Dann dämmerte es mir: „Katzen kennen alle Antworten – aber sie verraten sie nicht.“ Das hatte Tante Anna immer gesagt – neben anderen langweiligen Dingen wie: ‚Noch ist nicht aller Tage Abend‘ oder ‚Sieh‘ nicht zu lange in einen Abgrund. Er könnte zurückschauen‘.

Er lachte leise. „Schlaues Kind. Vergiss‘ es nicht.“

Jetzt hatte ich genug. Niemand spielte Spielchen in meinem eigenen Garten mit mir. Nun, außer Kross und wenn ich es recht betrachtete, auch Santini. Aber drei waren eindeutig einer zu viel.

„Wer sind Sie und was wollen Sie?“, fragte ich. Ich hätte einfach gehen können, oder ihn ignorieren oder viele andere Dinge tun, als mich auf ein Gespräch einlassen, aber ich hatte nicht vor, das Feld zu räumen.

„Wie gesagt, ich wollte dich kennenlernen“, sagte er. „Es gibt nicht mehr viele wie dich. Genau genommen, gab es in ewigen Zeiten nur zwei und beide waren Versager. Vielleicht triffst du bessere Entscheidungen als sie, vielleicht nicht - es wird interessant sein, es zu beobachten.“

Ich schluckte. Jetzt wurde es doch zu abartig. Auf dem eigenen Territorium nicht zurückweichen ist eine Sache, sich mit einem Psychopathen eine verbale Auseinandersetzung zu liefern, eine ganz andere - eine, die man Dummheit nennt. Ich bin nicht dumm, darum wollte ich mich abwenden, aber ich stellte fest, dass ich mich nicht rührte. Nicht, dass mich etwas zurückgehalten hätte, ich blieb nur einfach, wo ich war, Ich stand einfach da und sah meinen Besucher an – wie ein Standbild. Aber ich konnte denken und als ich es versuchte, erkannte ich, dass ich sprechen konnte.

„Von wem sprechen Sie, warum waren sie Versager und welche Entscheidungen haben sie getroffen?“

Er sah mich nur an. Irgendwann hatte ich genug davon und winkte ab. „Ach, vergessen Sie’s. Verschwinden Sie oder ich rufe die Polizei!“

Ha! Wie klang das? Ich war immer schon dafür, direkt zur Sache zu kommen.

„Bemüh‘ dich nicht, ich weiß jetzt, was ich wissen muss“, antwortete er ungerührt, ganz offensichtlich wissend, dass meine Drohung nur heiße Luft war. Er hatte jedes Recht, auf der Straße anzuhalten und wer wollte ihn daran hindern, jemanden anzusprechen? Solange er mein Grundstück nicht gegen meinen Willen betrat, war er im Recht. Es lag allein an mir, die unerwünschte Unterhaltung zu beenden. Was ich jetzt auch tat. Ich wandte mich ab.

„Wir sehen uns wieder“, rief er.

Ich sah über die Schulter zurück. „Bestimmt nicht.“

Er ignorierte meine Antwort. „Bis dahin vergiss mich nicht.“

Etwas flog durch die Luft auf mich zu. Das Tattoo auf seinem Gesicht blitzte blutrot auf, ein Winken, ein schnelles Grinsen, dann setzte sich der Wagen lautlos in Bewegung. Instinktiv griff ich zu. Das Ding war klein, länglich, kühl und wog mehr, als so ein kleines Ding wiegen sollte. Ich öffnete meine Hand und es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis ich begriff, was ich da hielt, doch dann schrie ich und ließ das Ding fallen. Vor mir lag ein Finger! Dieser unheimliche Kerl hatte mir einen Finger zugeworfen und ich hatte ihn gefangen. Ich rieb meine Hand an meiner Jeans und konnte dennoch das schreckliche Gefühl auf meiner Hand, nicht loswerden. Ich starrte wie gebannt auf den Finger, der klein und unschuldig auf dem gepflasterten Weg lag. In meinem Kopf wirbelten Gedanken umher wie Schneeflocken in einem Wintersturm. Warum sollte mir ein völlig Fremder so etwas antun? Und hatte er einer anderen Frau etwas noch Schlimmeres angetan? Dass der Finger einer Frau gehört hatte, stand außer Zweifel, er war klein, schlank und der Nagel war in einem hübschen Rosa lackiert. Am unteren Ende des Fingers, da, wo er abgetrennt worden war, steckte ein schmaler goldener Ring mit einem kleinen Diamanten. Wer schnitt einer Frau den Finger ab? Und warum? Ich musste die Polizei rufen, doch ich konnte meine Augen nicht von dem schrecklichen Anblick lösen. Dann dämmerte es mir: Ich kannte diesen Ring! Vor nicht einmal vierundzwanzig Stunden hatte ich ihn an Mirja Daniels Hand gesehen. Mirja! Meine Knie geben nach und ich sackte zu Boden. Fassungslos starrte ich auf den Beweis, dass Mirja etwas zugestoßen war. War sie tot? In Kriminalfilmen konnte der ermittelnde Beamte gleich erkennen, ob ein abgetrennter Finger von einer lebenden oder einer toten Person stammte. Ich beugte mich vor. Woran konnte man das sehen? War Mirja noch zu retten? Ich kramte in meiner Jeanstasche nach einem Tempo. Panik und Ekel schüttelten mich, aber ich faltete es auf und benutzte es, damit den Finger aufzuheben. Ich hätte ein Foto machen können, aber ich hatte, warum auch immer, mein Handy nicht dabei, und ich konnte ein so wichtiges Beweisstück nicht einfach im Freien liegenlassen. Ich traute der Katze nicht und in der alten Buche zwei Grundstücke neben meinem nistete ein Elsterpaar. Die würden sich einen glänzenden Ring nicht entgehen lassen, noch dazu, wenn er mit einer hübschen Mahlzeit geschmückt war.

Ich atmete tief ein, um mich zu fassen und griff zu. Aber da war nichts. Ich hob das Tempo an und ein dünner Rauchfaden stieg dort auf, wo der Finger eine Sekunde zuvor noch gelegen hatte. Ich starrte auf die leere Stelle. Wie konnte das geschehen? Ich hatte doch keine Halluzinationen!

Etwas kratzte in meiner Nase. Dann musste ich husten. Die dünne Rauchfahne blühte auf und plötzlich war überall Rauch. Meine Augen brannten, meine Kehle brannte, als ob ich Schwefeldämpfe einatmete und ich presste beide Hände vor Mund und Nase, um mich zu schützen. Ich versuchte, auf die Beine zu kommen. Nur weg hier, war alles, was ich denken konnte. Doch ich schaffte es nicht. Ich bekam keine Luft und der Rauch wurde immer dichter und schwärzer und ich hatte Angst, das Bewusstsein zu verlieren.

„Alles ist gut“, sagte eine Stimme. „Öffnen Sie die Augen.“

Ich riss die Augen auf und sah Guthmann, der mit einem Büschel Federn vor meinem Gesicht herumwedelte, deren Spitzen glommen und die bestialisch nach verbrannten Haaren stanken. Wer zum Teufel hatte Federn im Haus und wie um alles in der Welt kam er dazu, sie anzuzünden und mir ins Gesicht zu halten?

„Genug!“ Mehr brachte ich nicht heraus. Meine Lungen schrien nach Sauerstoff und ich versuchte vergeblich, die versengte Luft vor mir mit beiden Händen wegzuwischen. Ich konnte nicht atmen, alles war voller Rauch und durch die Schwaden sah ich Kolus, der sich aufgerichtet hatte und mich beobachtete, aber ich konnte seinen Gesichtsausdruck nicht deuten. Ich hatte auch keine Lust, zu raten, alles in mir schrie Flucht. Ich musste hier raus! Meine Beine gaben fast unter mir nach, als ich aufsprang, aber ich fing mich und stieß Guthmann beiseite, der seine Arme nach mir ausgestreckt hatte, um mich aufzuhalten, vielleicht aber auch, um mich aufzufangen, wenn ich stürzte. Ich stolperte durch den Wohnraum und in den Aufzug, der dankenswerterweise offenstand. Ich hieb auf die Anzeige „E“ und hätte fast vor Erleichterung geweint, als sich die Tür schloss und er sich in Bewegung setzte. Nach einer gefühlten Ewigkeit, in der ich ständig damit rechnete, dass der Aufzug stoppte und der Sicherheitsdienst die Tür öffnete und mich abführte, erklang ein sanfter Gong und der Aufzug hielt an. Die Tür öffnete sich so langsam, dass ich am liebsten mit meinen Fäusten dagegengehämmert hätte, doch endlich war ich frei und ich rannte, nein, taumelte auf den Eingang zu, ohne nach links oder rechts zu sehen und endlich, endlich war ich wieder an der frischen Luft und sog in tiefen Zügen Sauerstoff ein.

Ich schaffte es auf zitternden Beinen bis zur nächsten Ecke, dann musste ich mich übergeben. Ich hatte seit dem vergangenen Mittag nichts gegessen, deshalb erschöpften sich meine Bemühungen in krampfhaftem, trockenen Würgen, das meinen ganzen Körper wie in einer Schraubzwinge zusammenpresste, bis ich mich, erschöpft und schwer atmend, wieder aufrichten konnte. Die wenigen Passanten machten einen Bogen um mich, manche sahen mich peinlich berührt an, die meisten aber taten so, als ob ich gar nicht da wäre. Ich ging so schnell es mir möglich war in die Richtung, in der mein, nein, Leonas, Wagen stand. Nur weg hier! Meine Kehle tat weh und in meinem Magen breitete sich ein Gefühl aus, als ob ich dort morgen einen Riesenmuskelkater haben würde. Etwas stimmte nicht mit mir: Erst gestern diese Kopfschmerzen, dann heute das. Eine Grippe vielleicht? Nicht unmöglich, aber doch eher unwahrscheinlich. Es war Juli und damit keine Grippesaison, außerdem konnte ich mich nicht erinnern, jemals eine Grippe gehabt zu haben. Warum also ausgerechnet jetzt aus dem Nichts heraus? Es musste etwas anderes sein.

Eine Hand legte sich auf meine Schulter. Ich sprang fast aus meiner Haut vor Schreck.

„Sie verdammte Idiotin“, sagte eine nur allzu vertraute Stimme. „Was haben Sie sich nur dabei gedacht?“

Santini! Und ich hatte gedacht, der Tag könnte nicht schlimmer werden. Ich wischte seine Hand von meiner Schulter und ging so ruhig weiter, wie meine zitternden Knie es zuließen.

„Verschwinden Sie!“

„Den Teufel werde ich“, knurrte er verhinderte meine Flucht einfach dadurch, dass er seine Schritte meinen anpasste und so leicht neben mir blieb, als sei es das selbstverständliche auf der Welt. „Sie sehen aus, als ob Sie gleich umkippen“, bemerkte er nebenbei. „War wohl nicht so toll beim König der Vampire, wie Kross es Ihnen versprochen hat.“

Seine Stimme troff vor Sarkasmus, aber der war im Moment an mich verschwendet. Vampire?“, warf ich hin. „wovon reden Sie?“

Wenn ich mich nicht gleich setzen konnte, würde ich einfach umfallen. Aber bis es soweit war würde ich nicht nachgeben.

„Sind Sie wirklich so dumm oder tun Sie nur so?“, fragte er gereizt. „Leona hat Sie gewarnt und dennoch konnten Sie nicht schnell genug hierher kommen.“ Er wartete, aber ich war nicht mehr zu mehr imstande, als mich vorwärts zu bewegen. Nach etlichen weiteren Metern seufzte er und sagte in demonstrativ vernünftigem Tonfall: „Kommen Sie ich bringe Sie heim.“

Nur über meine Leiche! Allein die Vorstellung, dass er fast eine Stunde Zeit haben würde, mir meine Fehler aufzulisten, garniert mit Sarkasmus und als Kirsche obendrauf noch Anweisungen für meine Zukunft, machte seinen Vorschlag zu einer Drohung.

Der Verkehr auf der Straße vor uns stockte und ich nutzte die Chance. Ich stieß Santini zur Seite und rannte zwischen den Autos auf die andere Seite. Ich hörte ihn fluchen und wusste, dass er mir folgte, aber der Verkehr lief wieder an und er kam nicht so schnell vorwärts, wie er vielleicht gehofft hatte und wie es notwendig gewesen wäre, um mich aufzuhalten. Ich hielt mich nicht damit auf, mich nach ihm umzudrehen, sondern rannte weiter in die Richtung, in der Leonas Wagen stand. Als ich endlich davor stand, atmete ich erleichtert auf.

„Geben Sie mir den Schlüssel!“

Alles um mich explodierte und ich muss gute dreißig Zentimeter hoch gesprungen sein, aber ich landete wie ein Weichei auf wackligen Knien.

„Wie haben sie mich gefunden?“, fragte ich schwach, während Santini mir die Wagenschlüssel entwand.

„Tracker“, antwortete er lakonisch, dabei wackelte er mit seinem Handy vor meinem Gesicht, einem schwarzen, extrem flachen Modell, das gleichzeitig teuer und gefährlich aussah.

Mist! Ich hätte nie erwartet, dass Leona für ihr Auto so eine ausgeklügelte Diebstahlsicherung hatte. Wie jeder zeitgemäße Mensch hatte ich von so etwas gehört, aber ich hatte mich nie ernsthaft damit beschäftigt, denn, ernsthaft: Wer klaut ein so altes Auto wie ihres?

Ich wehrte mich nicht mehr, als er die Beifahrertür öffnete und mich unsanft auf den Beifahrersitz schubste. Die Wagentür schlug hinter mir zu und ich saß einfach nur da und wartete, bis er eingestiegen war und den Wagen startete. Er schwieg. Ich auch. Doch als sich die Stille immer mehr auf mich senkte, dumpf, schwer, dunkel, und ich es immer schwerer fand, zu atmen, gab ich auf:

„Und jetzt?“

Ich hasste es, dass meine Stimme so schwach klang. Ich hatte den Kampf immer der Nachgiebigkeit vorgezogen, aber jetzt klang ich so demütig, dass es mir bis ins Innerste peinlich war. Aber das weckte mich auf. Der Impuls, ins Lenkrad zu greifen, den Wagen in den Graben zu lenken und auf Santini einzuschlagen, bis er nur noch ein blutiger Klumpen aus Fleisch, Haut und Knochen war, traf mich mit der Wucht einer Kanonenkugel. Der Aufprall presste die Luft aus meinen Lungen und das Blut aus meinem Gehirn. Meine Lungen schrien nach Sauerstoff und alles, woran ich denken konnte, war der nächste Atemzug und wie ich ihn bekommen konnte. In meiner Angst und Verzweiflung sah ich mich nach Hilfe um, aber ich sah nur Santini und dass er mich aus den Augenwinkeln beobachtete, während er gleichzeitig die Straße im Auge behielt. Ich hasste ihn dafür, dass er war, wer er war und ich hasste ihn noch mehr, weil er solche Macht über mich hatte. Ich kämpfte mit aller Macht gegen das Ersticken an und jeder erkämpfte Atemzug war einer, der mich mit mehr Sauerstoff versorgte, bis ich endlich, endlich nicht nur keuchte, sondern wirklich atmete. Santini registrierte es und nickte.

„Besser?“, fragte er, ohne die Augen von der Fahrbahn zu nehmen. Aber er sagte nichts weiter und ich wusste auch nicht, was ich sagen sollte, also schwiegen wir die nächsten zehn, fünfzehn Minuten. Dann, als ich schon dachte, dass er auf die Autobahn fahren wollte, bog er nach rechts ab und folgte einer schmalen Straße, die schließlich in einen Feldweg mündete. Er fuhr den Weg entlang, was uns beide trotz der guten Federung des Wagens ordentlich durchschüttelte, bis der Weg schließlich auf einem Parkplatz vor einem großen, zweistöckigen Gebäude mündete, über dessen verglastem Eingang in müdem Rot und unmotivierter Schrift der Name ‚Whereabout‘ prangte. Der ganze Aufbau schrie Supermarkt, aber es waren weder Menschen noch Einkaufswagen zu sehen.

„Wo sind wir?“, fragte ich. Meine Stimme klang wie meine und für einen Moment wunderte es mich, dann war ich dankbar für ein kleines bisschen Normalität. Ich fühlte mich auch wieder normal. Die Übelkeit, die mich gerade noch in ihren Klauen gehalten hatte, war nur noch Erinnerung genau wie meine Vorstellung von Gewalt, aber das machte nichts besser. Je mehr ich mich meinem eigentlichen Ich näherte, umso deutlicher drängte die Erinnerung an das in den Vordergrund meiner Gedanken, was ich in den Karten gesehen hatte, bevor ich diesen eigenartigen Traum gehabt hatte. Ich würde alles dafür geben, mich nie wieder daran erinnern zu können, aber das Wissen darum brodelte wie eitrige Lava in meinem Gehirn und ich war auf eine perverse Art dankbar, dass ich mich mit Santini auseinandersetzen musste. Jede Ablenkung war mir willkommen.

Aber das Grauen war hartnäckig, es war wie Wasser, das durch jeden auch noch so winzigen Spalt in meiner Abwehr sickerte und sich hinter jeden Gedanken klammerte, bereit, seine kranke Schrecklichkeit in mein Leben zu injizieren. Alles in mir begehrte dagegen auf, rebellierte, kämpfte mit aller Macht darum, mich nicht zu verlieren, aber es war, als ob das Dunkel, die Perversität, einen stärkeren Willen hätte, als ich. Santini war der Strohhalm, der mich vor dem Untergang rettete und ich konzentrierte mich mit aller Macht auf ihn.

„Das ist mein Laden“, antwortete er. Es lag kein Stolz in seiner Stimme, er stellte nur eine Tatsache fest. Von Leona wusste ich, dass er ein Fitness-Studio betrieb, aber ich hatte mir nie die Mühe gemacht, mir vorzustellen, wie es aussehen könnte, ob es groß und luxuriös, klein und billig oder absolut verkommen war. Nachdem ich in seinem Haus gewesen war, hätte ich dann doch gedacht, dass er mehr Sinn für Ästhetik hätte. Das Gebäude vor mir sagte nur, dass weder er noch sonst jemand sich darum scherte, wie es aussah. Es war ein langgestreckter zweistöckiger Kasten, dessen schwachgelbe Farbe schon einige Jahre Witterung hatte aushalten müssen, das Rot des nüchternen Schriftzugs über der gläsernen Eingangstür entbehrte jeder Strahlkraft, dazu ließen die senkrechten Gitterstäbe vor den Fenstern im ersten Stock eher an ein Gefängnis denken und weniger an ein auf Gewinn ausgerichtetes Unternehmen. Alles wirkte, als ob der Laden schon seit Jahren geschlossen wäre. Dennoch war der Parkplatz nicht verwaist, es standen einige Autos hier und die sahen überhaupt nicht nach Schrott aus.

Ich erwartete, dass er ausstieg und mich ebenfalls dazu aufforderte, doch er saß nur da und starrte auf das Lenkrad vor sich. Das war die ideale Gelegenheit zur Flucht, aber ich saß einfach nur neben ihm und wartete darauf, dass er etwas sagte, etwas tat. Nüchtern betrachtet: Was hätte ich sonst tun können? Weglaufen? Wohin? Wir waren hier am Ende der Welt.

Schließlich seufzte Santini, vielleicht stöhnte er auch, auf jeden Fall war es ein irritiertes Geräusch, das sich fast widerstrebend aus seiner Brust löste.

„Das hier“, sagte er, ohne mich anzusehen, „wird das Gespräch, das Ihre Tante schon vor Jahren mit Ihnen hätte führen müssen. Sie ist ihrer Verantwortung ausgewichen und ich kann es ihr noch nicht einmal verdenken. Niemand gibt gerne zu, dass er die ganze verdammte Scheiße“, er warf mir einen Seitenblick zu, den man mit etwas gutem Willen als entschuldigend interpretieren konnte, „zu verantworten hat.“

Ich sagte nichts, zu geschockt, dass meine Tante irgendetwas mit meiner jetzigen Situation zu tun haben könnte, aber Santini nahm es offensichtlich als Zustimmung, fortzufahren.

„Ihre Tante Anna war nicht die Person, die Sie zu kennen glauben“

Er hob die Hand, als ich den Mund öffnete, um ihm hitzig zu widersprechen. Was erlaubte er sich?

„Lassen Sie mich ausreden, danach können Sie mir alles an den Kopf werfen, was ihnen so einfällt.“

Ich nickte. Je schneller wir hier durch waren, umso schneller kam ich nach Hause und konnte weiter nach Mirja suchen.

„Egal, was Sie jetzt hören, wie es Sie verstören oder wütend machen wird, denken Sie bitte daran: Sie hat Sie geliebt.“

Ich runzelte die Brauen. Jetzt wurde es doch etwas eigenartig. Langsam kroch eine Kälte meinen Rücken hinauf, die wenig mit dem Wetter, dafür sehr viel mit Angst zu tun hatte. Es würde mir nicht gefallen, was er zu sagen hatte.

„Schießen Sie los.“ Was sonst blieb mir zu sagen?

Santini nickte bedächtig. „Ihre Tante, die Sie als Anna Kellen kannten, lernte ich vor Jahren als Arika Simon in Ungarn kennen. Es waren andere Zeiten damals, aber es war auch nicht der Name, mit dem sie geboren wurde, nur der, den sie sich irgendwann anzunehmen entschlossen hatte. In ihrem Leben hat es viele Namen, viele Berufe, viele Geschichten gegeben, nur eines hat sich nie geändert: Ihre Macht und ihr unbedingter Wille, sie zu erhalten.“

„Jetzt reicht’s!“, schrie ich.

Er lachte auf, aber es war keine Spur von Humor darin: „Noch lange nicht, glauben Sie mir!“

Ich zwang mich gewaltsam zur Ruhe. Einarmen. Ausatmen. „Warum erzählen Sie mir das? Selbst wenn es stimmt, war es ihre Sache. Sie wird einen Grund gehabt haben, ihren Namen zu ändern.“

„Den hatte sie und es war ein guter Grund. Ihre Tante war nicht nur eine mächtige Frau, sie hatte auch mächtige Feinde. Und plötzlich, warum auch immer - hatte sie die Verantwortung für Sie. Sie hat alles getan, Ihnen ein relativ normales Leben zu ermöglichen, doch letztendlich musste sie einsehen, dass relativ normal nicht genug war. Um Sie zu schützen hatte sie nur die Wahl, zu verschwinden oder Sie verschwinden zu lassen. Sie entschied sich dafür, Sie verschwinden zu lassen, doch das funktionierte nur eine Zeit lang. Doch etwas muss geschehen sein, das sie veranlasste, Ihr Leben zu lassen und sich selbst ein neues aufzubauen. Irgendwo auf der Welt lebt jetzt eine Frau, deren Namen einmal Anna Kellen gewesen ist. Sie müssen sie deswegen nicht bedauern, sie hat das schon viele Male gemacht. Es ist der Fluch ihrer Art.“

„Sie lügen! Ich habe sie in ihrem Sarg gesehen. Ich habe sie berührt, sie geküsst. Sie! War! Tot!“

Er schnaubte abfällig. „Nichts ist einfacher zu bewerkstelligen, schon gar nicht von jemandem, wie sie es ist.“

„War!“

Er lachte auf, hart, kalt. „Starrsinnig und unbelehrbar. Jetzt bin ich sicher, dass sie mich gehasst hat.“

„Das liegt wohl eher an Ihrer einnehmenden Persönlichkeit.“

Er schnaubte wieder, ließ es aber so stehen.

Ich versuchte, das, was er gesagt hatte, in eine logische Reihe zu bringen, aber da war so viel, das ich nicht wusste, von dem ich noch nicht einmal eine Ahnung hatte, dass ich passen musste. Und es blieben Fragen über Fragen.

„Warum soll sie Sie gehasst haben? Ich habe davon nichts mitbekommen und sie hat mir gegenüber auch nie etwas erwähnt.“ Und weil ich gerade dabei war sprudelten auch die anderen Fragen einfach so aus mir heraus: „Warum war sie gefährlich? Warum soll sie nicht tot sein? Warum soll ich der Grund dafür sein, dass sie gestorben ist?“

Er hob die Hand, aber wenn er geglaubt hatte, mich damit zum Schweigen zu bringen, kannte er mich weniger, als er wohl geglaubt hatte.

„Warum ist ihr Verschwinden der Fluch ihrer Art? Welche Art und welcher Fluch? Und warum soll sie gefährlich gewesen sein? Und wer sind diese Feinde? Und nehmen Sie Ihre verdammte Hand runter, ich frage so lange, bis ich alle Antworten habe. Fangen Sie damit an, warum sie Sie gehasst hat. Ich verstehe das gut und ich kenne sie erst seit drei Jahren.“

Er hatte die Hand sinken lassen, als ich losgesprudelt hatte und jetzt zuckten seine Schultern. Lachte der Kerl etwa über mich? Er wollte gerade mein Leben von den Füßen auf den Kopf stellen und er lachte? Wenn ich nicht schon vorher dazu bereit war, ihn zu erwürgen, hatte ich jetzt jeden Grund dafür. Ich musste eine Bewegung gemacht haben, die ihm das signalisierte, denn er sah auf und mir direkt in die Augen.

„Besser?“, fragte er.

Das irritierte mich so, dass ich ihn mit offenem Mund anstarrte. Wieso fragte er mich, ob es mir besser ging? Nach allem, was er einfach so behauptet hatte? Er war rücksichtslos, ehrabschneidend und gemein und … Ich rang mir den Worten, die ihm so drastisch zeigen sollten, wie absurd seine Frage war, wie er sich über meine Tante geäußert hatte, als ich merkte, dass die Angst und der Ekel, die mich in ihren Krallen gehalten hatten, nicht mehr so präsent waren, noch da, aber der Zorn auf Santini überlagerte alles, peitschte mich aus meiner Erstarrung in etwas, das fast wieder mein übliches Ich war.

Wie sehr ich es auch hasste, dass er mich so einfach manipulieren konnte, so sehr musste ich zugeben, dass es nichts Besseres gibt, als ein kleines Scharmützel, um Stress abzubauen. „Besser“, sagte ich.

„Dann kommen Sie.“

Er stieg aus und ging ohne sich nach mir umzusehen zum Eingang des ‚Werabout‘. Ich folgte ihm.

„Wir gehen in mein Büro“, sagte er, als er die in rotes Metall gefasste Glastür aufriss. „Dort haben wir Ruhe und ich werde versuchen, Ihnen meinen Standpunkt klarzumachen und Ihre Fragen zu beantworten. Tun Sie mir und sich den Gefallen und starren Sie meine Gäste nicht an. Sprechen Sie mit niemandem, nehmen Sie keinen Blickkontakt auf und reagieren Sie nicht, falls jemand Sie anspricht.“

Ernsthaft jetzt? Wir waren jetzt schon oft genug aneinandergeraten, dass er wissen müsste, dass ich schon aus Prinzip gegen seine Anordnung verstoßen würde. Aber wenn ich Antworten bekommen wollte, die über das hinausgingen, was man einer störrischen Jugendlichen zuteilte, musste ich aufhören, mich wie eine solche zu benehmen. Es würde mir alles abverlangen, weil dieser Kerl das absolut Schlechteste in mir zum Vorschein brachte, aber wenn wir weiterkommen wollten, musste sich wenigstens einer von uns wie ein Erwachsener benehmen.

Ich sah auf meine Armbanduhr, ein massives silbernes Ding, das ich von Tante Anna geerbt hatte, dann in Santinis Gesicht. „Einverstanden. Es ist jetzt halb drei. Spätestens um fünf muss ich in Heidesheim bei der Arbeit sein. Den Feierabendverkehr eingerechnet haben Sie eine halbe Stunde.“

Ich ließ offen, wie ich es schaffen konnte, von hier am Ende der Welt zum nächsten Bahnhof zu kommen, aber ich musste es irgendwie schaffen. Ich konnte es mir einfach nicht leisten, diesen Job zu verlieren. Meine Chefin war eine Hexe und die Bezahlung war lausig, aber die Trinkgelder rissen es heraus. Außerdem: Bettler konnten nicht wählerisch sein.

Er nickte bedächtig. „Das wird zwar bei Weitem nicht ausreichen, aber es ist ein Anfang. Dann los. Da ist etwas, das ich Ihnen zeigen möchte. Danach fahre ich Sie, wohin Sie möchten.“

„Das ist alles?“

„Wenn Sie das möchten.“

Was sollte das nun wieder? Aber die Zeit zerrann mir unter den Fingern. Er wartete nicht auf meine Antwort sondern gab mir mit einer knappen Handbewegung zu verstehen, dass ich an ihm vorbei eintreten sollte.

Wir gingen durch eine großzügig bemessene Lobby, deren Boden und Wände mit weißem, schwarz geäderten Marmor oder einem Stein, der Marmor verdammt ähnlich sah, verkleidet war zu einer doppelflügeligen Glastür in einer gläsernen Wand, die ebenfalls in Rot gefasst war – anscheinend Santinis Trademark-Farbe. Santini öffnete den linken Flügel für mich und ein Schwall aus warmer Luft und Geräuschen traf uns frontal, das Klirren von Metall auf Metall, das Knarzen von Leder, dumpfe Schläge, schnell, hart, immer wieder, entferntes Stimmengewirr und unterdrücktes Stöhnen - ich hatte richtig getippt, es war ein Fitness-Studio. Noch drei Schritte und ich stand vor einem brusthohen, roten Metallgeländer, das eine Empore gut fünf Meter über dem Geräteraum sicherte und ich konnte einfach nur starren. Das was nach dem angegriffenen Exterieur erwartet hatte, überwältigte mich mit den Ausmaßen eines Fußballfeldes und einer Ausstattung, die jedem Olympia-Trainingszentrum Ehre gemacht hätte. Die Matten unter mir waren dick und perlgrau, die Wände strahlend weiß und mit roten Akzenten verziert und die gesamte Seite uns gegenüber war bis in die Höhe der Empore verspiegelt. Aber das Überraschendste war, dass die Halle mindestens drei Stockwerke hoch war und eine Decke aus Milchglas hatte. Und es gab ein Trapez! Mit Schaukeln, Seilen, Bändern, Leitern und den unendlich vielen Einzelheiten, die es brauchte, um alles funktionieren zu lassen. Ich hätte gerne gesehen, wie jemand darauf turnte, aber das Trapez war verwaist. Das jedoch konnte man von den Geräten unter uns nicht sagen. Fast jedes Gerät war besetzt mit hochmotivierten, schweißglänzenden Athleten und jeder schien zu wissen, wie er sich an den ultramodernen, mattschwarzen Trainingsgeräten oder –stationen oder wie man diese superspeziellen Geräte auch nannte, am effektivsten selbst folterte. Ich bin Mitglied in einem Fitness-Center und ich gehe auch regelmäßig hin, aber diese Geräte hier sind von denen in meinem Studio so weit entfernt wie ein Schlauchboot von einem Raumschiff. Ich konnte nur starren, bis mich der leichte Druck von Santinis Hand in meinem Rücken daran erinnerte, dass ich es eigentlich eilig hatte.

„Ich dachte immer, du stehst nur auf Blonde“, rief ein Mann zu uns herauf. Schweiß glänzte auf der Haut seiner absurd übermuskulösen nackten Oberarme, aber er grinste über sein ganzes bärtiges Gesicht, während er eine Stange mit Gewichten stemmte, die nach meiner Schätzung gut das Doppelte seines Körpergewichts hatte. Anscheinend belastete es ihn nicht so stark, dass es spöttische Bemerkungen verhindert hatte. Er grinste. Ich auch. Blonde also? Also entsprach Leona seinem Beuteschema. Nett zu wissen.

Santini reagierte lediglich mit einer wegwerfenden Kopfbewegung und ging weiter. Ein paar Pfiffe und gemurmelte Bemerkungen folgten uns, aber er ignorierte sie und ich sah auch keinen Grund, darauf zu reagieren. Das hier war harmlos im Vergleich zu den Betrunkenen im Gasthof Rheinau.

Im Kielwasser von Santini steuerte ich auf eine Tür aus dunklem Holz zu, Santini öffnete sie und wartete, bis ich an ihm vorbei eingetreten war. Die Tür war breit genug, dass ich ihn nicht berühren musste.

Hinter der Tür war ein sehr großes, gut ausgestattetes Büro mit dem gleichen marmornen Boden, weißen Wänden, einem nüchternen Schreibtisch aus Glas und Chrom, auf dem neben einem Stapel mit Akten einer, der fast so hoch war mit Briefen oder Rechnungen oder was auch immer lagen, beide waren sorgsam aufgeschichtet. Ein paar schwarze Stifte lagen parallel zueinander in einer grau-metallenen Stifteschale, ansonsten war die Oberfläche leer, aber peinlich sauber und staubfrei. Der Sessel hinter dem Schreibtisch war aus schwarzem Leder, aber keineswegs opulent. Durchschnittlich, nüchtern, der Stuhl für den normalen Angestellten eben. Hinter dem Schreibtisch gab es ein paar dunkle Aktenschränke und rechts von uns gab es eine Sitzgruppe aus vier schwarzen Ledersesseln, die exakt rechtwinklig um einen niedrigen Glastisch mit Chromrand ausgerichtet waren. Auch sie war nach Funktionalität ausgesucht worden. Es gab keine Pflanzen, keine Bilder, keinen Teppich. Ich fröstelte. Der Kontrast zwischen der Hitze draußen und dem gefühlten Frost in diesem Raum war extrem.

„Nehmen Sie bitte Platz“, sagte Santini und wies auf die Sessel. Ich nahm den, der mir am nächsten stand, Santini den links von mir. Er hielt sich nicht damit auf, mir etwas zum Trinken anzubieten und auch nicht damit, sich zu entschuldigen, dass er mich praktisch entführt hatte.

„Was auch immer Sie von mir halten – und Sie haben nie ein Hehl daraus gemacht – ich bin nicht Ihr Feind. Ich habe meine Abneigung gegenüber Ihrer Tante auf Sie übertragen und dafür entschuldige ich mich. Jetzt aber haben wir einen Berg von Problemen und keine Zeit für Empfindlichkeiten. Wenn wir herausfinden wollen, was vorgeht, müssen wir unsere Kräfte bündeln.“

Das konnte ich akzeptieren. Ich nickte. Ob er es gesehen hatte konnte ich nicht sagen, aber er fuhr fort.

„Was ich jetzt sage, muss Ihnen wie das dumme Geschwätz alter Leute vorkommen, aber es gibt in unserer Welt Dinge, die man nicht mit den Regeln der Wissenschaft erklären kann. Aber sie existieren und viele davon sind feindlich und gefährlich.“

„Halt!“, unterbrach ich. „Wollen Sie mich etwa auch fragen, ob ich an Magie glaube?“

Er lächelte. Es war mehr ein Ausdruck in seinen Augen als ein richtiges Lächeln aber immerhin das erste, das ich je von ihm gesehen hatte.

„Kross“, nickte er.

„Kolus.“

Er musterte mich scharf. „Mart Kolus war da?“

Ich nickte. Er beugte sich vor. „Das ist ungewöhnlich. Beschreiben Sie ihn!“

Da war er wieder, der gute alte Befehlston. Die Welt war doch nicht so aus dem Ruder gelaufen, wie ich angenommen hatte. Ich hätte aufstehen und entrüstet gehen können, schließlich hatte er mir nichts zu befehlen, ich hätte scharf antworten können und die Unterhaltung zu einem abrupten Ende bringen, aber Santini hatte erreicht, dass ich neugierig geworden war. Ich wollte wissen, was er mir zu sagen hatte und wenn ich dafür etwas nachgeben musste, war das in Ordnung.

„Sehr groß, sehr mager. Um die Fünfzig. Dunkles Haar, konservativer Haarschnitt. Weiche Stimme, irgendwie ölig. Er scheint Probleme mit den Beinen zu haben.“ Jetzt da ich es aussprach war ich mir dessen sogar sicher. Die meisten Leute bewegen sich ständig, auch wenn sie sitzen. Sie schlagen die Knie oder die Knöchel übereinander, sie rutschen hin und her, um bequemer zu sitzen und es gibt diese kleinen Bewegungen, die jeder unbewusst macht, aber Kolus war völlig unbeweglich geblieben. Ja, ich war sicher, dass etwas mit seinen Beinen nicht stimmte.

„Er fragte mich, ob ich an Magie glaubte und er bat mich, die gleichen Karten wie gestern nochmals auszulegen in einem Muster, das ich nicht beherrsche. Ich sagte es ihm, aber er bestand darauf, dass ich sie wenigstens auslege – wie auch immer ich wollte. Ich wollte nicht, Sie können sich vorstellen, warum, aber er versicherte mir, dieses Mal wäre nicht wie das letzte Mal, es sei gewesen, weil manche Dinge eben begeistert seien, wenn sie gefunden würden. Es wäre sehr wichtig für ihn, dass ich die Karten befrage, denn jemand missbrauche das magische Eigentum seiner ur-uralten Familie, um unfassbare Verbrechen zu begehen. Und meine Kunden, die ich suche, könnten ebenfalls Opfer dieser Leute sein.“

Ich stockte, unsicher, wie ich fortfahren sollte. Einen Fehler zu machen war nicht schlimm, den gleichen Fehler zweimal zu machen schrie geradezu Dummheit.

„Ich wusste, dass etwas dahinterstecken musste und ich fühlte, dass die Karten gefährlich waren.“ Ich warf Santini einen raschen Blick unter gesenkten Wimpern zu, um mir zu bestätigen, dass er mich nicht ernst nahm, aber er enttäuschte mich, in als er mich mit gesammelter Konzentration ansah. Er bemerkte meinen Blick und bedeutete mir mit einem Nicken, weiterzuerzählen.

„Ich hätte gehen können, aber es gibt Menschen, die sich darauf verlassen, dass ich ihnen helfe. Also legte ich die Karten. Es ging eine Weile gut, aber dann wurde mir schlecht. Ich geriet in Panik und rannte weg. Und Ihnen direkt in die Arme“

Er nickte wieder. Und schwieg.

Ich schwieg auch hatte ihm nicht alles erzählt, aber mehr brachte ich jetzt einfach nicht über mich. Warum auch? Santini hatte mich nicht wirklich überzeugt, dass er der Krieger an meiner Seite sein wollte.

„Also gut“, sagte er und an seinem betont neutralen Ton war unschwer zu erkennen, dass er wusste, dass ich ihm einiges verschwieg, er es aber vorerst dabei belassen wollte.

„Das heißt wohl, dass ich jetzt dran bin. Also gut: Es ist ungefähr fünfzehn Jahre her, als Ihre Tante zu mir kam und mich bat, Sie zu beschützen.“

„Mich?“, entfuhr es mir. Ich konnte es nicht fassen. Mich? „Wieso? Ich war noch ein Kind. Warum hätte ich einen Aufpasser gebraucht?“

Kinder brauchen keine Bodyguards. Jedenfalls nicht die, deren Mütter sich gerade einmal so finanziell über Wasser halten konnten.

„Nur Geduld. Sie wollte mir nicht sagen, warum, bevor ich zusagte, aber sie bot mir sehr viel Geld, viel mehr, als es eine solche Aufgabe erforderte, und als ich mich nicht überreden ließ, drohte sie mir.“

„Tante Anna?“ Ich lachte ihm ins Gesicht. „Meine Tante war der liebenswerteste Mensch der Welt. Sie hätte nie jemanden bedroht. Schon der Gedanke daran ….“ Ich schüttelte mich.

Santini schien unbeeindruckt. „Ich dachte mir schon, dass Sie keine Ahnung haben, wer sie war. Ich zeige es Ihnen.“

Wie von Geisterhand öffnete sich ein Fach des mittleren Büroschranks und zeigte einen Bildschirm. Genau so unvermittelt wurde das Bild hell und zeigte ein Büro, nicht unähnlich dem, in dem ich mich gerade befand. Die Kamera musste sich in einer Ecke ziemlich hoch oben befunden haben, denn sie deckte so ziemlich den ganzen Raum ab bis auf den Bereich direkt darunter. Dort musste sich wohl die Tür befunden haben, denn zunächst sah ich nur den Kopf einer Frau mit üppigem dunklen Haar, das sie in einem lockeren Dutt trug. Die Frau ging auf den Schreibtisch zu. Ihr folgte ein Mann, den ich als Santini identifizierte. Die Frau, das sah ich erst, als sie sich halb umwandte und in den Besuchersessel vor dem Schreibtisch setzte, war Tante Anna. Ich konnte mich an meine Tante nur mit kurzem Bob erinnern, ohne ein einziges graues Haar, obwohl sie fast sechzig gewesen war, aber diese Frisur stand ihr sogar noch besser. Ich fragte mich, warum sie so prächtiges Haar abgeschnitten hatte. Sie trug ein figurbetontes dunkles Kostüm, das sie schlanker erscheinen ließ, als ich sie in Erinnerung hatte. Die Farbe konnte ich nicht ausmachen, weil die Aufnahme in Schwarz-Weiß war, aber ich war sicher, dass ich es nie zuvor gesehen hatte. Gut, die Aufnahme war fünfzehn Jahre alt, wenn ich Santini glauben konnte, und selbst die sparsamste Person tauscht in dieser Zeit Klamotten aus, aber der Stil war einfach nicht ihrer, weder der ihres Kostüms noch der ihrer Frisur. Sie sah aus wie die toughe Managerversion meiner gemütlichen Tante. Ich beugte mich vor, um besser sehen zu können.

„Ich habe im Personenschutz gearbeitet“, fuhr Santini fort, „aber das war schon damals lange vorbei und ich hatte nicht die Absicht, wieder damit anzufangen. Sie hatte mich zwei Jahre zuvor schon einmal darum gebeten und ich hatte abgelehnt. An diesem Tag rief sie mich wieder an und erneuerte ihre Bitte. Ich lehnte wieder ab, aber sie bestand darauf, mit mir persönlich zu reden. Ich wusste bis zu diesem Zeitpunkt nicht, dass ich sie kannte.“ Die Aufnahme zeigte, dass Tante Anna und Santini über den Schreibtisch hinweg heftig miteinander stritten. Beide gestikulierten heftig und ich wünschte, es wäre auch eine Tonaufnahme gewesen. So war es für mich einfach nur ein Streit.

„Ja, das ist meine Tante und das sind Sie. Was genau wollen Sie mir damit zeigen?“

„Warten Sie ab.“

Auf dem Bildschirm sah ich, wie Tante Anna plötzlich aufsprang und um den Schreibtisch herumging. Sie sah so wütend aus, wie ich sie noch nie gesehen hatte und dann, plötzlich und vipernschnell fuhr ihre Hand an seine Kehle und sie hob ihn mit dieser einen Hand aus seinem Sessel und drückte ihn gegen die Wand. Sie brachte ihr Gesicht ganz nah an seines und ich nahm an, dass sie etwas zu ihm sagte. Santinis Gesicht wurde dunkler und er umklammerte ihre Hand, aber er schien ihren Griff nicht brechen zu können. Es war so irreal. Santini war ein durchtrainierter Mann und auch wenn Tante Anna nicht viel kleiner als er gewesen war, war es unwahrscheinlich, dass sie eine solche Kraft hätte aufbringen können.

So plötzlich wie sie ihn gepackt hatte so plötzlich ließ sie ihn wieder los, wandte sich ab und ging. Auf dem Bild sah ich Santini, der vorsichtig seinen Hals betastete und ihr nachsah. Für einen kurzen Augenblick sah ich ihr Gesicht ganz klar. Es war ihres und doch nicht, so glatt und kalt und ohne jede Emotion. Und da war noch etwas. Ich versuchte, es zu fassen, aber ich wusste, dass ich es finden würde, wenn ich nur genau nachdachte. Der Bildschirm wurde grau, aber ich starrte immer noch darauf, in Gedanken versunken. Was war so anders an ihr gewesen?

„Sie war wütend. Das kann ich verstehen, aber warum machen Sie so eine Geschichte daraus? Wahrscheinlich haben Sie sie bis auf Blut gereizt.“

„Möglich. Wenn ein einfaches Nein dafür genügt.“

Ich schnaubte nur.

„Was hat sie gesagt?“ Vielleicht brachte mich das auf das, was mich so beschäftigte. Irgendetwas war falsch an diesen Bildern.

„Sie sagte, dass sie noch einmal wiederkommen würde und wenn ich ablehnte, müsste ich einen hohen Preis bezahlen.“

„Wann war das?“, fragte ich und wies auf den Bildschirm. Irgendwo musste ich ja anfangen mit dem Fragen.

„Am zwölften September 2004, kurz vor Mitternacht.“

Da war ich fünf Jahre alt, und es musste so um die gleiche Zeit gewesen sein, als meine Mutter und ich Hals über Kopf bei Tante Anna ausgezogen waren. Zufall?

„Das macht alles keinen Sinn für mich. Reden Sie endlich Klartext. Ihre halbe Stunde ist fast um und ich weiß nicht viel mehr als vorher.“

Er atmete scharf ein und langsam wieder aus. Dann nickte er langsam. „Sie haben recht: Reden wir nicht mehr um den heißen Brei herum. Ihre Tante ist eine Hexe. Sie beherrscht die Elemente wie niemand vor ihr. In ihren jungen Jahren hat sie Wirbelstürme und Erdbeben ausgelöst, einfach, weil es ihr Spaß machte, später hat sie sich für Springfluten und Feuerstürme sehr gut bezahlen lassen. Ihre Ahnenlinie ist makellos, wenn man in Kategorien von magischer Macht und Einfluss denkt. Sie entstammt einer der mächtigsten Hexenlinien der europäischen Geschichte. Heute gibt es noch drei von ihnen, die, die sich nicht in internen Kämpfen aufgerieben haben, wurden im Lauf der Jahrhunderte von der Kirche und den unterschiedlichsten Glaubensvereinigungen ausgemerzt. Wir unterscheiden zwischen weißen und schwarzen Hexen. Weiße hexen nutzen die Kräfte der Natur, um zum Beispiel Krankheiten zu heilen. Ihre Kräfte dienen dem Guten. Geht eine Hexe darüber hinaus, wechselt sie auf die Seite der schwarzen Hexen. Gemeinsam ist ihnen, dass es ihnen um Macht geht und dafür überschreiten sie jede menschliche Grenze. Sie haben sicher schon Geschichten über geheime, bestialische Hexenriten gehört – glauben Sie mir, Ihre Vorstellungskraft reicht nicht einmal für einen Bruchteil dessen, was dort geschieht. Um die Machtfülle Ihrer Tante zu erlangen, muss eine Hexe Dinge tun, die Hannibal Lector wie das Sandmännchen aussehen lassen. Sie hätte mich an diesem Tag“, er wies mit dem Kinn auf den Bildschirm, „ohne Anstrengung töten können, aber sie brauchte mich und deswegen zog sie es vor, ein Zeichen zu setzen.“

Er hob den Kopf und zog den Ausschnitt seines Shirts leicht nach unten. Über die gesamte Vorderseite seines Halses und so breit wie meine Hand verlief eine Narbe, weiß gegen seine gebräunte Haut und verformt und zusammengezogen wie eine alte Brandverletzung, mit etwas Fantasie war der Abdruck einer Hand zu erkennen, bei dem vier Finger nach links und der Daumen nach rechts wiesen. Tante Anna war Linkshänderin gewesen und auf dem Video hatte sie Santini mit der linken Hand gewürgt. Einen Bluterguss hätte ich verstanden, aber doch keine bleibende Narbe! Das war nicht sie! Und dann war noch ihr Gesicht gewesen, das so fremd ausgesehen hatte. Was war es, das mich so daran gestört hatte? Was war anders gewesen? Und dann dämmerte es mir: In ihrem Gesicht war nichts mehr von der Güte, dem Humor und der Weichheit zu sehen, die ich mit ihr verband. Wenn ich in jenem Moment mit im Raum gewesen wäre, ich hätte Angst vor ihr gehabt. Aber kann ein Mensch sich so verstellen? Wer war Tante Anna wirklich? Die liebenswerte Tante, die mich aufgenommen und durch die Trauer begleitet hatte oder die Bedrohung mit den kalten Augen?

„Und ist sie wiedergekommen?“

Er nickte. „Vor drei Jahren. Sie sagte, ich würde es bereuen, wenn ich ablehne. Ich lehnte ab. Da nahm sie mir meinen Sohn.“

„Sie hätte niemals jemanden ermordet!“, keuchte ich.

Er lächelte müde. „Nein, das hat sie tatsächlich nicht getan. Ihre Erfahrung, weit Schlimmeres anzurichten, ist grenzenlos und in meinem Fall hat sie sich selbst übertroffen. Ich war geschlagen, doch sie kannte keine Gnade. Sie nahm meinen Sohn als Geisel. Als Konzession für mein Einlenken, wenn es eine solche war und nicht verschärfte Strafe, durfte ich meinen Sohn leiden sehen. Sie bestimmte, dass ich in das Haus neben Ihrem zog und sie forderte von mir, dass ich jede Sekunde ihres Tages auf sie aufpasste. Glauben Sie mir, einen aufsässigen Teenager zu bewachen, ohne dass sie es bemerkt war nicht gerade das Highlight meines Lebens, zumal es nie den leisesten Hinweis darauf gab, dass Sie in Gefahr waren - bis gestern.“

„Meinetwegen sind Sie neben uns eingezogen? Ich fasse es nicht! Was ist mit Ihrem Sohn? Geht es ihm gut?“ Und dann brach es aus mir heraus: „Bin ich auch eine Hexe?“

Mein Bild von Hexen bewegte sich zwischen Bibi Blockberg und der Hexe aus Hänsel und Gretel. Was es für mich bedeuten würde, eine Hexe zu sein und, wie Santini es ausgedrückt hatte, einen Serienmörder in den Schatten stellen zu können – wollen – müssen – schüttelte mich geradezu vor Panik.

Santini hatte meinen inneren Kampf schweigend beobachtet, jetzt schüttelte er den Kopf. „Nein“, sagte er bestimmt. „Wir wissen ganz sicher, dass Sie keine Hexe sind. Wir wissen aber auch, dass Sie nicht mit Ihrer Tante verwandt sind.“

„Wer ist ‚wir‘?“, fragte ich schwach. Was kam noch? Das alles war einfach zu viel für mich. Und doch musste ich versuchen, so viele Informationen wie möglich zu sammeln. Ordnen konnte ich sie später, wenn ich zu Hause war. Allein. Und was Tante Anna betraf, die anscheinend oder vielleicht nicht meine Tante sein sollte, würde ich das tun müssen, was ich seit ihrem Tod vermieden hatte: Ich musste ihre persönlichen Unterlagen und Gegenstände durchforsten, bis ich Antworten hatte.

„Hermann Gerwin und ich“, antwortete Santini. „Er hat für mich nachgeforscht, aber er konnte lediglich herausfinden, dass Ihre Mutter nicht Ihre Mutter und Ihre Tante nicht Ihre Tante war. Wie auch immer Anna Kellen die Spuren verwischt hat, sie hat es gründlich getan. Also: Wer sind Sie? WAS sind Sie?“

Er hatte sich nicht bewegt, aber es fühlte sich an, als ob seine Persönlichkeit sich wie eine riesige Welle auf mich stürzte. Ich wich instinktiv zurück und hob beide Hände, um ihn abzuwehren.

„Was wollen Sie von mir?“, wollte ich sagen, als über mir zusammenschlug, was ich eben im Eifer des Gefechts überhört hatte. „Meine Mutter?“, flüsterte ich.

Mit einem Satz hatte er mir meine Welt unter den Füßen hervorgezogen. Ich fiel ins Bodenlose. Schock, Angst, Trauer und Wut gewitterten in mir und dann war da auf einmal gar nichts mehr, nur eine unendliche Leere.

„Wer sind meine Eltern?“ Meine Stimme war nur noch ein zaghaftes Flüstern.

Er schüttelte den Kopf. War zu erwarten. Wenn er es gewusst hätte, hätte er es mir aufs Brot geschmiert. Ich musste hier raus, nachdenken, nachforschen, Entscheidungen treffen, aber allein und unbeobachtet. Heute Abend würde ich es nicht mehr schaffen, aber morgen früh würde ich im Keller anfangen, dem einzigen Raum im Haus, in dem ich noch nie war. Tante Anna hatte es mir nie verboten, aber schon der Gedanke daran, die Kellertreppe hinunterzugehen, war mir unbehaglich gewesen. Der Instinkt eines Kindes? Ich würde es herausfinden. Nur eines noch: „Was ist mit Ihrem Sohn?“

Wenn ihm meinetwegen etwas geschehen war würde das ewig auf meiner Seele lasten.

„Seba?“ Er zuckte die Schultern. „Hat Leona es Ihnen nicht gesagt? Es geht ihm gut.“

„Seba? Der Seba, der gestern …?“

Er nickte und ich atmete erleichtert auf. Ein Problem weniger, drei blieben noch. Zeit, mein Handy zu checken. Ich sprang auf. „Ihre Zeit ist um. Fahren wir.“

Er erhob sich ebenfalls und als ich zur Tür gehen wollte, stellte er sich mir in den Weg. Ich schob mich an ihm vorbei, aber er fasste mich am Oberarm und hielt mich so, dass ich ihn ansehen musste.

„Erzählen Sie mir, was Ihnen so auf der Seele brennt, dass es Ihnen egal ist, dass Ihre Tante eine der mächtigsten Hexen der Menschheitsgeschichte ist.“

Er sah, dass ich zögerte und fuhr fort: „Einen Teil weiß ich ja schon und ich habe Ihnen meine Hilfe angeboten. Das Angebot steht. Lassen Sie es raus, vielleicht hilft es Ihnen, alles einmal auszusprechen.“

„Wie bei der Beichte?“

Er grinste. „Direkt beim Papst.“

Ich wollte zurückgrinsen, aber es klappte nicht. Stattdessen fing ich wie ein Wasserfall an zu reden. Alles sprudelte aus mir heraus, meine Angst, meine Sorgen, Mirja, ihr Freund, Jan und seine Freundin, meine Unfähigkeit, meinen Job ordentlich zu machen, das Gefühl, im Dunkeln gelassen zu werden vor allem von Leona, die ich immer für meine Freundin gehalten hatte, und um meinen Job, den ich wahrscheinlich in einer Stunde verlieren würde. Gut, ich hatte noch einen anderen, aber nächtliches Putzen von Büros brachte keine Trinkgelder und wie ich es auch anstellen würde: Falls mir wirklich jemand nachweisen würde, dass ich für die Schäden in meiner Straße verantwortlich wäre, würden meine Schulden ins Unermessliche steigen, selbst wenn meine Haftpflichtversicherung zahlen würde, würde sie wahrscheinlich versuchen, das Geld von mir zurückzufordern. Würde, würde, würde – mein Leben war eine einzige Unsicherheit und das mit jeder Minute mehr. Ich hatte es eigentlich nicht vorgehabt, darüber zu reden, aber dann platzte aus mir heraus, dass ich eine Vision in Kolus‘ Büro gehabt hatte bis hin zu Mirjas Finger. Ich wollte ihm auch erzählen, was mir die Karten gezeigt hatten, doch die Worte schafften es einfach nicht über meine Zunge. Ich bin eine Verfechterin davon, auf das eigene Bauchgefühl zu vertrauen und ließ es dabei. Es war trotzdem eine ganze Menge, was ich loswerden musste und ich redete und redete und Santini hörte zu – eine Premiere auf beiden Seiten. Schließlich war ich fertig, sprichwörtlich. Ich atmete so heftig, als ob ich gerade einen Marathon gelaufen wäre und er sah so vorsichtig auf mich herab, als ob er erwartete, dass ich jeden Moment in Tränen ausbrechen wollte, als ein Krachen uns auffahren ließ. Beide schraken wir auf und sahen zur Tür, die geradezu aus den Angeln gerissen gegen die Wand prallte und zurückschlug, aber eine schlanke Blonde hielt sie mit ausgestrecktem Arm auf, während sie zuerst uns musterte, bis ihr Blick sich an mich heftete, als ob ich eine giftige Natter wäre oder eine scharfe Handgranate, die jede Sekunde explodieren könnte. Sie hatte die Figur einer Ballerina, ätherisch, aber stählern und ihr strahlend goldenes Haar, das sie in einem üppigen, bewusst nachlässig gewundenen Zopf trug, fiel über eine Schulter nach vorn bis zu ihrer Hüfte. Als wäre das nicht schon genug wirkte ihr Outfit als ob es aufgesprüht worden wäre. Zwischen dem pinkfarbenen Top und der mattschwarzen Leggins blitzte ein handbreiter Streifen zart gebräunter Haut, darunter Bauchmuskeln, die ich auch gern gehabt hätte, aber im Leben nicht erreichen würde – zu viel Schokolade und zu wenige Trainingseinheiten. Schwarze Balenciagas machten kleine quietschende Geräusche auf dem polierten Holzboden, als sie auf mich zukam. Ja, ich erkenne hochwertiges Schuhwerk, auch wenn ich meine Sneakers beim Discounter kaufe und ich erkenne eine Gefahr, auch wenn sie sich mir nicht vorstellt.

„Doris, raus!“, bellte Santini.

Doris warf ihm einen Blick zu, der ihn sofort in eine Fackel verwandelt hätte, wenn Blicke zünden könnten, aber sie ignorierte ihn und steuerte unbeirrbar auf mich zu, die Fäuste geballt und Mord im Blick. Wenn ich eines gelernt hatte in meinem Leben, dann das, dass man Tyrannen nicht entkommen kann. Man kann sie ignorieren und hoffen, dass sie ihrerseits einen selbst ignorieren – eine vergebliche Hoffnung – man kann erdulden, was sie einem antun – eine unendliche Leidensgeschichte und eine die den Tyrannen überaus glücklich macht – oder man wehrt sich. Tyrannen sind Raubtiere und wie alle Raubtiere riechen sie Schwäche. Sie treten aggressiv auf und meist noch im Rudel und ersticken damit Widerstand schon im Keim. Meine pazifistische und überaus harmonische Erziehung hatte mich nicht auf die harten und mitunter grausamen Gepflogenheiten an den immer neuen Schulen vorbereitet, die unsere häufigen Umzüge mit sich brachten und ich hatte eine Menge Prügel einstecken müssen. Ich weiß nicht mehr, welche Schule es war, aber es war ein paar Tage nach meinem zwölften Geburtstag und es nieselte, als drei Mädchen, die hübschesten und beliebtesten der Stufe, die mich seit Wochen zu ihrem Opfer auserkoren hatten, auf mich zukamen. In den Wochen zuvor hatten sie mir meinen Zopf abgeschnitten, meine Schulbücher verbrannt und mir immer wieder mein Taschengeld gestohlen und ich, gutes Kind, das ich war, hatte still gehalten und nicht gepetzt, aber an diesem Tag war meine Leidensfähigkeit erschöpft gewesen. Ich hatte um mich geschlagen, nicht wie das kleine Mädchen, das ich war, sondern wie ein in die Enge getriebenes Tier, das um sein Leben kämpft. Ein blaues Auge für Micaela und eine blutende Nase für Viola hatte ich Ruhe, solange ich auf dieser Schule war. In der nächsten Stadt wartete ich nicht mehr darauf, gemobbt zu werden, sondern machte klar, dass ich mich wehren würde. Bald war auch das nicht mehr nötig, ich demonstrierte genug Selbstvertrauen, dass niemand mehr auf die Idee kam, dass ich ein einfaches Opfer war. Ich erkannte also eine Gefahr, wenn ich sie sah.

Es waren nur fünf Schritte von der Tür bis zu dem Platz, wo ich stand und sie war schnell, aber mein Körper reagierte, bevor mir die Gefahr richtig bewusst wurde.

Die Blondine hatte wohl damit gerechnet, dass ich zurückweichen würde, als sie wie eine Dampflok auf mich zustürmte, nicht damit, dass ich ihr entgegenkam, meinen rechten Unterarm in Höhe ihres Schlüsselbeins, und konnte nicht mehr zurückweichen, als sie der Schlag traf. Es war eigentlich kein Schlag, mehr ein Aufprall, weil sie nicht mehr schnell genug bremsen konnte und als ich vorwärtsging stolperte sie zurück, bis sie mit dem Rücken gegen die Wand neben der Tür prallte. Sie starrte mich an, ihre perfekten rosa Lippen formten ein tonloses „O“ und bevor sie ihre Sinne wieder beisammenhatte beugte ich mich zu ihr und flüsterte: „Versuch es erst gar nicht, Lorelei!“

Sie wurde bleich und starrte mich an, als ob sie einen Geist sähe, aber sie fing sich schnell. „Du hast hier nichts zu suchen“, zischte sie. „Er gehört mir!“

Beinahe hätte ich gelacht. Wie kam sie nur darauf? Beinahe hätte ich sie gefragt, aber Santini unterbrach die Unterhaltung, bevor sie interessant werden konnte.

„Du gehst jetzt“, sagte er zu ihr und sein frostiger Ton verursachte bei mir eine Gänsehaut. Blondie war anscheinend aus härterem Holz gemacht als ich oder sie konnte ihn gut genug, dass sie wusste, dass er nur bellte, aber nicht biss, denn sie versuchte zu argumentieren:

„Aber sie ist …“

„Nein!“

„Aber ich will doch nur ...“

Er drehte sie um und schubste sie auf die offene Tür, die einer ihrer Begleiter für sie aufhielt. Als er sich mir zuwandte, winkte ich ab.

„Versuchen Sie erst gar nicht, mir alles zu erklären“, sagte ich. „Glauben Sie mir, für einen Tag waren das mehr als genug an schlechten Neuigkeiten. Bringen Sie mich jetzt zurück. Ich muss das alles erst einmal verarbeiten.“

Der Rückweg zog wie ein Traum an mir vorbei. Wie er es versprochen hatte, brachte Santini mich vor dem Rheinau und das sogar pünktlich. Er fuhr vor den Haupteingang und ließ mich aussteigen. Gerade als ich die Tür schließen wollte, sagte er beiläufig: „Übrigens, an Ihrer Stelle würde ich nicht damit hausieren gehen, dass Sie einen Vampir als Kunden haben. Der Mann, den Sie in Frankfurt getroffen haben, war nicht Mart Kolus. Er heißt Jon Bakker und er ist so etwas wie der firmeneigene Papagei.“

Ich schlug kommentarlos die Tür zu und ging. Er fuhr weg. Vielleicht habe ich ihm das Wort abgeschnitten, vielleicht war er auch fertig  damit, mich auf meinen Platz zu verweisen – ich achtete nicht darauf, so sehr war ich damit beschäftigt, alle Informationen in eine logische Reihenfolge zu bringen. Ich begann meine Schicht, arbeitete und hatte das Gefühl, dass mein Lächeln eher eine Grimasse und meine Antworten wie auswendig gelernt klangen, aber niemand schien etwas Ungewöhnliches zu bemerken. Ich nahm Bestellungen auf, servierte, räumte ab und war dankbar, dass ich den Job schon so lange machte, dass mir die Handgriffe so selbstverständlich waren wie Atmen.

Es war spät, als endlich alles aufgeräumt war und wir gehen durften. Unsere Chefin hatte heute alles besonders pingelig kontrolliert und ich war einfach nur froh, dass alles vorbei war. Ich verabschiedete mich mit einem Nicken von Jenny, die wie ich seit zwei Jahren hier arbeitete und mit der ich gut auskam. Sie sah so müde aus, wie ich mich fühlte. Vielleicht lag es daran, dass die Gäste heute besonders anstrengend gewesen waren, dafür aber weniger Trinkgeld gegeben hatten. Es war immer ein auf und ab, morgen würde es besser werden. Wenigstens hatte sie es nicht weit bis nach Hause, sie wohnte nur ein paar Straßen vom Rheinau entfernt in dem kleinen Haus ihrer Eltern in der Ortsmitte.

Der Abend war angenehm nach der Hitze des Tages und ich blieb stehen und atmete dankbar die klare Abendluft ein. Ich hatte mit Santini nicht ausgemacht, dass er mich abholen sollte, war zu sehr mit meinen Gedanken beschäftigt gewesen, um daran zu denken und er hatte es von sich aus nicht angeboten. Wenn ich es recht betrachtete hatte es keinen Grund für ihn gegeben, es zu tun, wir standen immer noch nicht auf so gutem Fuß miteinander. Es waren nur ein paar Schritte zur Bushaltestelle. Wenn ich Glück hatte, erwischte ich noch den Bus um halb elf, wenn nicht, musste ich eine Stunde warten oder ein Taxi rufen.

Der Parkplatz war links von mir und nur ein Auto stand da. Als ich vorbeiging blendeten die Scheinwerfer zweimal kurz auf.  Die Fahrertür öffnete sich und ich machte mich schon zur Flucht bereit, als ich sah, wer ausstieg. Und jetzt erkannte ich auch das Modell.

„Leona?“

Ich konnte es nicht glauben. Was sollte ich sagen, was tun? Aber sie enthob mich einer Antwort

„Anna“, rief sie und rannte über den gekiesten Parkplatz auf mich zu. Im Licht ihrer Scheinwerfer sah ich, wie elegant sie es schaffte trotz ihrer unglaublich hohen Absätze schnell zu rennen. Auf mich zu! Sie warf mich fast um, als sie mich umarmte und beides traf mich wie ein Pfeil ins Herz. Ich hatte sie schlecht behandelt und sie kam zu mir und tat … das?

„Es tut mir leid“, sagte ich.

„Unsinn“, murmelte sie in mein Haar, anscheinend nicht bereit, mich so schnell loszulassen. „Wenn du mich gefragt hättest, ich hätte dich nie, nie allein dorthin fahren lassen. Verstehst du?“ Sie packte mich an den Oberarmen und hielt mich von sich ab. „Wir sind Freundinnen und Freundinnen helfen einander, auch wenn sie unterschiedlicher Meinung sind!“

Ich fiel ihr um den Hals und drückte sie. Das nach diesem Tag zu hören machte mich einfach nur glücklich.

„Ich bring‘ dich heim“, sagte Leona. „Auf dem Weg kannst du mir erzählen, was los war.“ Sie warf mir einen vorsichtigen Blick zu, anscheinend darauf vorbereitet, dass ich abblockte, aber ich war zu froh, sie zu sehen, um an etwas anderes zu denken, als daran, dass ich endlich jemandem alles erzählen konnte, der mich verstand.

Ich lud alles ab, was in mir war wie ein Müllauto auf der Deponie und Leona fuhr durch die Dunkelheit und hörte zu. Ab und zu nickte sie ohne die Augen von der Straße zu nehmen und sie machte in regelmäßigen Abständen diese brummenden Geräusche, die dem Erzählenden  - mir - zeigen sollten, dass man zuhörte und die gleichzeitig beruhigend und aufmunternd wirken sollten. Es wirkte. Ich erzählte ihr alles, selbst und gerade das, was ich Santini verschwiegen hatte. Bei ihr fiel es mir leicht. Sie war meine Freundin, nicht mein widerwilliger Gefängniswärter. Ich war gerade bei Santinis Behauptung angelangt, dass der Mann, den ich als Mart Kolus kennengelernt hatte, nichts anderes war als ein bedeutungsloses Sprachrohr, als wir in meine Straße einbogen.

„Denkst du, dass der richtige Mart Kolus ein Vampir ist?“, fragte ich. Es schien eine gewisse Dringlichkeit in meiner Stimme gelegen zu haben, denn Leona antwortete nicht gleich, sondern fuhr zu meinem Haus, stellte den Motor ab und sah mich an.

„Nein“, sagte sie bestimmt.

Und ich wusste, dass sie log.

 

Kapitel 7

„Wenn du das nächste Mal zu den Vampiren gehst: Nimmst du mich mit?“

Annika lachte, amüsiert, aber auch ein wenig überrascht. „Hast du nicht gesagt, dass du nicht an so einen Quatsch glaubst?“

Ich zuckte müde mit den Schultern, obwohl sie es durchs Telefon nicht sehen konnte. Annika war seit meinem Abschlussjahr auf dem Gymnasium meine Freundin, was mir immer noch wie ein Wunder vorkam. Sie war die beliebte Schülersprecher-Blondine, ich die unbemerkte Neue, sie die Einserschülerin, die sich ihre Studiengänge aussuchen konnte, ich die Durchschnittsschülerin, die gerade so durchkam, sie kannte Gott und die Welt, ich hatte weder familiäre noch soziale Verbindungen – ich habe nie verstanden, was sie an mir gefunden hat, aber wir verstanden uns auf Anhieb und das blieb so auch als sie in Freiburg studierte. Immer wenn sie ihre Eltern besuchte trafen wir uns zum Essen oder für einen Spieleabend oder auf einen Cocktail und hatten immer Spaß zusammen. Seit sie wieder in Mainz lebte, sahen wir uns öfter. Vielleicht funktionierte es, weil wir uns so lange kannten, vielleicht, weil wir in vielen Dingen den gleichen Geschmack hatten. Wir liebten Dr. Who, The Orville und Game of Thrones und wir konnten uns stundenlang darüber ereifern, welche Folge die beste war und welcher Charakter der authentischste. Sie wusste alles über meine Arbeit mit den Karten und sie war offen für meine Ansichten und die Ergebnisse, die ich ihr präsentierte, auch wenn das eine unendliche Reihe von Diskussionen um das Für und Wider mit sich brachte. Vertraute ich ihr? Ja. Deswegen erzählte ich ihr auch, was geschehen war.

„In den letzten beiden Tagen ist so viel passiert, ich habe so viele schräge Dinge getan…“ Ich lachte verlegen, weil ich nicht wusste, wie ich es sagen sollte, weil es mir peinlich war, weil, ach, weil ich alles andere war, als eine Heldin und dennoch plante, mich in die Höhle der Löwen, aka Vampire, zu schleichen. Und ja, Annika hatte recht, ich hatte die ganze Untote-Horror-Clubszene, die sie so toll fand, immer lächerlich gefunden. Aber da ich seit der Sitzung mit Kross nicht mehr geschlafen hatte, hatte ich massig Zeit zum Nachdenken gehabt. Wenn ich Vampir wäre, würde ich mich da nicht am besten dort verstecken, wo mich niemand suchen würde? Bei all den geschminkten Fake-Vampiren der Clubszene würde ein bleicher Untoter mehr oder weniger nicht auffallen und da alles in der Nacht stattfand, entspräche das alles seinem biologischen Rhythmus. Und wenn ich herausfand, dass alles nur ein verkaufstechnischer Hit war, hatte ich nicht mehr verloren als ein paar Stunden Schlaf, die wahrscheinlich ebenso unruhig sein würden, wie in der letzten Nacht.

„Ich weiß, du glaubst daran“, sagte ich so diplomatisch, wie ich konnte. „Und du weißt, dass es mir bisher schwergefallen ist, paranormale, magische oder mythische Ereignisse als real zu akzeptieren.“ Wenn das nicht höflich umschrieben war … Hoffentlich erinnere sich Annika nicht an einige meiner eher drastischen Kommentare, wenn sie mir von ihren wochenendlichen Erlebnissen erzählt hatte. „Aber die Sitzung mit diesem Herrn Kross hat mich wirklich erschüttert und zu wissen, dass die Karte, die er mir gegeben hat, von einem Mann ist, von dem selbst ich gehört habe, dass er ein Vampir ist, macht mich neugierig. Ich weiß nicht, was bei dieser Sitzung passiert ist und ich fühle mich seitdem“, ich suchte verzweifelt nach dem Begriff, der meinen Zustand beschrieb, scheiterte jedoch auf der ganzen Linie, „…eigenartig“, endete ich lahm. „Ich weiß nicht, wie ich es ausdrücken soll, aber ich fühle mich, als ob ich blind in einem Labyrinth herumirre und wenn dieser Mart Kolus irgendetwas dazu beitragen kann, dass ich herausfinde, wie ich herauskomme, tanze ich in einem seiner Blut- und Untoten-Clubs, bis ich Antworten habe.“

Am anderen Ende der Leitung war es lange still, so lange, dass ich schon befürchtete, Annika irgendwie beleidigt zu haben, doch dann hörte ich, wie sie tief seufzte. „Es wird nicht das sein, was du erwartest“, sagte sie. Ihre Stimme klang anders, als sonst, nicht so leicht, übersprudelnd, wie Champagner in einem Kristallglas, sondern irgendwie schwer, bedeutsam. „Du musst sicher sein, dass du das wirklich willst.“

Zu beschäftigt mit dem abrupten Umschwung in ihrer Stimmung, um aufmerksam zu sein, murmelte ich irgendwas, aber sie nahm es anscheinend als Zustimmung.

„Eines musst du wissen“, fuhr sie fort und jetzt war sie wieder die alte Annika mit dem sprudelnden Lachen in ihrer Stimme. „Mit deinen Klamotten kommst du da nicht ’rein. Die würden dich damit sogar aus der Warteschlange kicken.“

Ich schnaubte verächtlich. Warum hatte jeder etwas an meinem Kleidungsstil auszusetzen? „Was ist falsch an Jeans und einem T-Shirt?“

„Alles!“ Sie lachte wieder. „Warum diskutieren wir überhaupt? Du verstehst es ja doch nicht. Komm einfach vorbei und du kriegst etwas von mir. Das wird Spaß machen.“

Oh ja, ungefähr so viel wie eine Wurzelbehandlung. Ich mochte Kleidung, die sich meinen Bedürfnissen anpasste, die bequem war und pflegeleicht und billig, wenn möglich - nichts davon würde mich in einem der angesagten Clubs an den Türstehern vorbeikommen lassen. Hier war Annika die Expertin. Sie liebte Mode, lebte Mode, atmete Mode, was bedeutete, dass sie den ganzen Tag lang shoppen konnte, auf High Heels und ohne jedes Anzeichen von Anstrengung, ganz im Gegensatz zu mir, die nach einer Stunde mit offenen Blasen an den Füßen und akutem Espressobedarf im nächsten Cafè kollabieren würde. Ich war bereit, Opfer zu bringen, Sexappeal inclusive, und wenn sie mir dafür etwas aus ihrem riesigen Fundus lieh – wer war ich, um das auszuschlagen? Wir verabredeten uns für den gleichen Tag um vier Uhr, weil ich vorher noch eine Lesung hatte.

Es war eine einfache Lesung und ich war erleichtert darüber. Immer und immer wieder war mir das Telefonat mit Mirja durch den Kopf gegangen, deswegen rief ich danach bei der Polizei an und fragte, ob man sie hatte ausfindig machen können. Ich hätte es mir sparen können, denn sie sagten mir, wenn ich keine Angehörige sei, könnten sie mir keine Auskunft geben. Es machte wenig Sinn, das Netz zu durchsuchen mit nichts als einem Vornamen, also tat ich das, wofür ich normalerweise bezahlt wurde. Welche Karten sollte ich nehmen? Ich hatte die freie Auswahl. Eigentlich machte es keinen Unterschied, ob ich eines von Tante Annas antiken Sets auslegte oder ein anderes, das mir gerade an diesem Tag gut gefiel, im Notfall hatten es im Urlaub am Tegernsee auch schon einmal Schafkopf-Karten getan, doch dieses Mal zog es mich zu einem Set, das ich noch nie benutzt hatte. Ich kannte es gleichwohl, aber das Format war für meine Hände zu groß und daher unbequem. Ich nahm es trotzdem. Manchmal musste man sich eben auf seine Instinkte verlassen und gerade jetzt hatte ich das Gefühl, dass in diesem Fall der Wahl der Waffen eine besondere Bedeutung zukam.

Ich setzte mich an den Tisch und legte die Karten in einem großen Halbkreis aus. Tante Anna hatte mir das Muster gezeigt; es sei gut, um verlorene Dinge wiederzufinden, hatte sie gesagt. Nun, Mirja war verloren und ob Dinge oder eine Frau, ich hoffte, dass der Suchkreis mir einen Weg zeigte, sie zu finden. Wenigstens um Jan musste ich mir derzeit keine allzu großen Sorgen machen. Nachdem ich kurz nach eins nach Hause gekommen war, hatte ich ihn unzählige Male angerufen und wenigstens zehn Mal auf seine Mailbox gesprochen, bis er irgendwann gegen drei schließlich abgenommen und so laut „Lass mich in Ruhe!“, gebrüllte hatte, dass ich vor Schreck fast mein Handy hatte fallen lassen. Danach hatte er das Gespräch abgebrochen, aber ich war nur erleichtert, weil er es offensichtlich gesund irgendwohin geschafft hatte. Ich würde später nach ihm sehen. Oder morgen. Blieben Mirja und ihr Liebster. Zum mehr als tausendsten Mal seit Tante Annas Tod wünschte ich mir, dass ich besser aufgepasst hätte, wenn sie die Karten las, dass ich mehr Fragen gestellt, mehr Interesse gezeigt hätte, aber ich hatte meine Chance vertan und musste mit meinem Versagen leben. Ich musste mich nur konzentrieren. Das ist genug, ich muss mich nicht in Trance versetzen, um die Karten zu lesen, ich muss mich nur für die Erfahrung öffnen. Ich achte darauf, ruhig und entspannt zu sein, alles in meinen Gedanken auszublenden, das nichts mit den Karten vor mir zu tun hat und das Muster vor mir wird Fakt. Ich sehe keinen Film vor mir und ich höre keine Stimmen, ich weiß einfach, nun, einfach Dinge. Nicht immer ist es angenehm, was ich über die Menschen herausfinde, die zu mir kommen, nicht immer kann ich herausfinden, was sie unbedingt wissen wollen und oft genug befinde ich mich in einem Dilemma, ob ich ihnen wirklich sagen soll, was ihr Leben für sie bereithält. Das ist auch der Grund, warum ich mir nicht selbst die Karten lege. Es ist schlimm genug, dass ich oft genug traurige Dinge, die ich erfahre, noch tagelang mit mir herumschleppe; schlimme Dinge zu erfahren, die mir in meinem künftigen Leben noch passieren - nein danke.

Doch jetzt liegt ein Muster vor mir und es ist meine Aufgabe, dieses Muster zu interpretieren.

Eine Stunde später gab ich auf. Meine Augen brannten und ich konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen. Es war, als ob ich versuchte, durch eine Milchglasscheibe zu sehen. Ich spürte, dass Mirja da war, ich spürte, dass es ihr schlecht ging und sie verzweifelt versuchte, mich zu erreichen – irgendjemanden zu erreichen, der ihr helfen konnte. Es war, als ob die Welt in einen sehr dichten, unheimlich kalten Nebel gefangen wäre und Mirja und ich die einzigen Menschen darin. Meine Erleichterung darüber, dass sie lebte, dass ich sie zwar mehr erahnen als sehen konnte, wurde getrübt durch die Tatsache, dass ich immer noch keine Ahnung hatte, wo ich nach ihr suchen sollte.

Dann war es auch schon Zeit, zu Annika zu fahren. Ich wäre lieber zu Jan gefahren, um zu sehen, wie es ihm ging, aber Annika würde es nicht ohne eine ausgedehnte Kleiderorgie machen. Ich war bereit, dieses Opfer zu bringen.

 

Der Abend begann unspektakulär. Annika und ich standen fast am Ende einer unglaublich langen Reihe von Hoffenden vor dem angesagtesten Club in Frankfurt. Er musste es sein, anders war dieser Auflauf nicht zu erklären. Ich hatte gegoogelt und wie erwartet eine Menge schicker Partybilder von hippen Menschen und ab und zu einen Promi gesehen und dazu jede Menge blass geschminkter Schauspieler in wallenden Capes. Kein Bild von dem geheimnisvollen Mart Kolus, nicht eines. Annika war fest davon überzeugt, dass es Vampire gab und sie hatte mir hoch und heilig versprochen, dass ich in diesem Club wirkliche, echte, Vampire treffen würde. Ich hatte keinen Grund, daran zu zweifeln, dass sie ihr Möglichstes tun würde, mir ein unvergessliches Vampirerlebnis zu bescheren. Schließlich versuchte sie seit zwei Jahren mich von ihrer Community zu überzeugen – seit dem Tag, an dem der Club eröffnet worden war. Jetzt hatte sie es geschafft: Ich war dabei, mit ihr dieses, wie sie sagte, unglaubliche Erlebnis mit ihr zu teilen und selbst wenn ich nicht an diese Vampirlegende glaubte musste ich es irgendwie schaffen, diesen Oberguru Mart Kolus zu sprechen. Irgendetwas ging hier vor und es betraf mich und ich musste unbedingt herausfinden, wie und warum.

Es ließ sich mühsamer an, als ich erwartet hatte. Wir standen seit einer halben Stunde an und die Schlange hatte sich seitdem keinen Zentimeter näher in Richtung auf den hell erleuchteten Eingang bewegt. Um uns herum waren alle gut gelaunt, unterhielten sich, machten Selfies und waren alles in allem so geduldig wie ich ungeduldig war. Mir war kalt. Es war zwar Juli und entsprechend schwül, aber das kurze Kleid, das mir Annika aufgedrängt hatte, vermittelte mir das Gefühl, in meiner Unterwäsche herumzustehen. Es bestand lediglich aus schwarzem Tüll, auf das in einem willkürlichen Zickzack schwarze Stoffstreifen aufgenäht waren, die gerade so meine Brüste und meinen Hüften bedeckten. Ich hatte es schon zu gewagt empfunden, als ich es in Annikas Schlafzimmerspiegel gesehen hatte, aber als wir auf dem Weg hierhin an einem Schaufenster vorbeigekommen waren und ich bemerkt hatte, dass schon aus zwei Metern Entfernung der Tüll kaum noch sichtbar war und ich herumlief wie ein Gruftiegroupie in Geschenkverpackung wollte ich zurück. Ich bin gewiss nicht prüde, der Beweis sind meine Bikinis, die mehr Deko als Bekleidung sind, aber ich wäre niemals, niemals, halbnackt durch eine Stadt gewandert. Und gerade war ich unterhalb von halbnackt. Ich hätte mehr Aufsehen erwartet, als wir die beiden Straßen vom Parkhaus zu unserem jetzigen Standort überquert hatten, aber als wir ankamen, stellte ich fest, dass die Streifen über den strategisch wichtigen Stellen meines Körpers schon fast das Maximum dessen waren, was man – oder in diesem Fall Frau – trug. Ich fühlte mich trotzdem unwohl, aber ich versuchte, so auszusehen, als ob ich jeden Tag so zurechtgemacht darauf wartete, dass, ja, dass sich eine Tür öffnete, hinter der Vampire lauerten. Anders als ich hatte Annika kein Problem mit ihrem Outfit. Ihr sehr knappes chilirotes Kleid war über und über mit üppigen Volants besetzt und wäre sonntagstauglich gewesen – an der Achtjährigen, der sie es anscheinend geklaut hatte. Dafür waren Annikas schenkelhohe schwarze Stiefel mit den Zwölf-Zentimeter-Killerabsätzen absolut bordelltauglich. Sie war der Hingucker in der Warteschlange und sie genoss jede Sekunde.

„Wie lange müssen wir hier warten?“, fragte ich. „Eine halbe Stunde länger und deine Schuhe haben mich umgebracht.“

Annika lachte. „Du wärst eine entzückende Leiche, aber denk kurz nach, wo wir gerade sind.“

„Oh! „ Ich lachte, so wie sie es erwartete. „Dann also Plan B: Lassen die auch Leute ohne Schuhe rein?.

„Niemals. Aber um deine erste Frage zu beantworten: Nicht mehr länger.“

Sie winkte einem massigen Mann in dunklem Anzug am Kopf der Schlange zu, den seine Kleidung als Security-Mitarbeiter und seine Haltung als Führungskraft auswies. Sein kahler Schädel bewegte sich ein paar Millimeter nach unten, was Annika wohl als zustimmendes Nicken interpretierte, denn sie packte meine Hand und zog mich hinter sich her an all den hoffnungsvoll Wartenden vorbei. Ein winken zu den beiden Securities am Eingang, dann waren wir durch und folgten den anderen Glücklichen ins gelobte Land.

„Was ist mit den anderen?“, fragte ich und wies mit einer Kopfbewegung zu den Wartenden hinter uns. Nett von mir, nicht wahr? Als ob ich nicht schon oft zu denen gehört hatte, die den Glücklicheren nachsahen.

Annika lachte nur und zog mich weiter durch einen mit Absperrgittern und Kameras gesicherten Bereich bis in einen mit Schwarzlicht ausgeleuchteten Gang, der in einen riesigen Raum führte, der so voll mit Leuten, dröhnenden Beats und pulsierenden Lichteffekten war, dass ich für einen Moment den Impuls spürte, mich in einer Ecke zusammenzurollen, mir die Ohren zuzuhalten und zu schreien. Was war los mit mir? An jedem anderen Abend hätte ich die Lautstärke genossen, den treibenden Beat, die Schwere der Drums, das Gefühl, dass die Musik in jede meiner Poren dringt, sie vibrieren lässt und mich jeder Ton, jeder Beat mit Energie auflädt, aber heute war um mich herum alles nur überlaut und überwältigte meine Sinne. Annikas Hand in meiner war meine Rettungsleine in diesem pulsierenden Zuviel. Sie schien davon nicht irritiert zu sein, denn sie tauchte geübt durch die stroboskopischen Untiefen und zog mich weiter wie ein Unterwasser-Scooter einen Taucher. Manchmal hielt sie an, warf heitere Bemerkungen nach links und rechts, die ich über den Lärm nicht verstehen konnte, lachte und behielt doch einen steten Kurs auf das Ziel, das irgendwo im Herzen dieses pulsierenden Infernos lag.

„Wir sind da“, verkündete sie schließlich, nachdem wir mindestens ein Dutzend andere, riesige Räume und Ebenen durchquert hatten, jeder in einem anderen Stil eingerichtet, jeder mit einem anderen Rhythmus und anderem Licht, aber jeder einzelne ein intensiver Angriff auf meine Sinne.

Ich sah mich um. Nichts an diesem Ort schien mir anders, als die Räume vorher. Vielleicht waren die Bässe etwas dumpfer, die Scheinwerfer zuckten in einem anderen, langsameren, Rhythmus und das Lichtspektrum schien ein wenig mehr ins Bläuliche zu spielen, aber alles in allem war es sehr dunkel, sehr laut und übervoll, also alles, was einen erfolgreichen Club ausmachte. Das hier war ein Fehler. Wie hatte ich nur annehmen können, dass ich Antworten in einer Menge zuckender Idioten finden würde, die sich auf bleich schminkten und in schwarze Vampirumhänge hüllten oder sich praktisch bis auf die Haut auszogen, damit die aufgemalten Bissmale auf ihrem Hals auch gut auffielen. So viel zu ‚es gibt mehr zwischen Himmel und Erde‘, bla, bla, bla.

Ich wollte es Annika gerade deutlich machen, was ich von dem allen hier hielt, als ihr Gesicht plötzlich so sehr aufleuchtete, dass ich es sogar durch das Blitzgewitter der Scheinwerfer sehen konnte.

„Hi Sven“, rief sie über meine Schulter jemandem zu. Ich drehte mich um, um zu sehen, wer dieser Sven war und sah einen hochgewachsenen Mann mit schulterlangem, hellblonden Haar in einem – wer hätte es geahnt – weißen Piratenhemd mit weiten Ärmeln und schwarzer, hautenger Hose, der sich selbstversunken zu einer Musik bewegte, die wenig mit dem heftigen Rhythmus aus den Lautsprechern, aber sehr viel mit heißem, langsamen, leidenschaftlichen Sex zu tun hatte. Auf ihren Ruf hin wandte er sich um. Wow! Dieser Sven sah fantastisch aus. Sein Gesicht war ein Lehrstück in Harmonie: breite Stirn, gerade, kräftige Nase, hohe Wangenknochen und ein breiter, sinnlicher Mund über einem Kinn, das aussah, als ob Raffael, Leonardo, Donatello und Michelangelo an einem großen, gemeinsamen Projekt gearbeitet hätten – die Künstler, nicht die Turtles.

Er entdeckte sie und kam auf uns zu.

„Hi Süße“, sagte er. Seine Stimme war unglaublich sanft wie sonnenwarmer Honig und doch konnte ich ihn über all den Lärm zu verstehen. Er umarmte sie und hauchte einen Kuss auf ihre Schläfe. „Was treibst du so? Wir haben dich hier lange nicht mehr gesehen.“

Er fasste sie an den Schultern und hielt sie ein wenig von sich ab, während er ihr prüfend ins Gesicht sah. „Bezaubernd wie immer“, entschied er dann. Er lächelte und kniff ein Auge zu. „Es ist Donnerstag und der große Meister beehrt uns ausnahmsweise mit seiner Anwesenheit. Wie hast du davon erfahren? Hast du dich endlich doch entschieden, dem inneren Kreis anzugehören?“

Annika lachte. „Nicht in tausend Jahren.“

Sein Lächeln vertiefte sich. „Aber danach. Vielleicht? Ich bin bekannt dafür, nie die Hoffnung zu verlieren.“

Sein Blick schweifte zu mir. Wow. Diese Augen. Sie waren blau, was ich bereits bemerkt hatte und was an sich nichts Besonderes ist, aber seine waren von einem so intensiven Blau, dass sie von innen heraus zu strahlen schienen. Wunderschön. Außergewöhnlich. Ich konnte den Blick nicht abwenden. Sie erinnerten mich an etwas. Es war wichtig. Oder auch nicht. Auf jeden Fall war es schön, in dieses Blau zu sehen. Es war, als ob sich der Himmel geöffnet hatte und mir seine Geheimnisse offenbarte. Ich ging einen Schritt näher.

„Hast du uns eine neue Tänzerin mitgebracht?“, murmelte er.

Tänzerin? Ein Lachen stieg in mir auf, aber es schaffte es irgendwie nicht aus meiner Kehle heraus. Ich tanzte ungefähr so gut wie ein Boot auf schwerer See. Aber mit ihm? Der Gedanke war verführerisch. Einfach loslassen, in diesem flirrenden Blau schweben, davonschweben …

Ein harter Stoß in meine Rippen ließ mich aufschrecken. Ich musste in paarmal blinzeln, bis meine Augen wieder fokussierten und ich mich erinnerte, wo ich war. Annika stand neben mir und ich stand viel zu nah bei ihm. Ich berührte ihn fast. Wie hatte es dazu kommen können? Gerade ich, die so sehr auf meinen persönlichen Abstand achtete? Sie sah mich nicht an, sondern ihn, aber der Stoß war ganz sicher von ihr gekommen. Peinlich berührt wurde mir klar, wie sehr ich diesen Kerl angehimmelt hatte, einen Kerl, den ich gerade einmal zwei Minuten kannte.

„Keine Tänzerin“, lachte Annika. „Sie ist meine Freundin und wir wollen nur zusammen einen schönen Clubabend verbringen.“

„Wie heißt deine entzückende Freundin?“

Jemanden die Person, die neben dir steht, nach deinem Namen fragen zu hören, katapultiert dich umgehend in die Kategorie taub oder unter zwei Jahre und dieses Wissen machte mich wütend. Eine bissige Antwort lauerte auf meiner Zunge, aber um sie abzufeuern wäre es nötig, ihn anzusehen und ich hatte Angst, mich wieder zu verlieren. Bis eben war ich überzeugt davon, dass dieses Sich-Verlieren eine Erfindung von Schreiberinnen schwülstiger Liebesromane war. Vielleicht war es nur eine kurze Abwesenheit gewesen, hervorgerufen durch die eigenartige Beleuchtung hier, aber ich traute mich nicht, die Probe aufs Exempel zu macht. Also tat ich so, als ob ich die Frage nicht gehört hatte, wandte den Kopf, dass ich ihn nicht mehr ansehen musste und überließ es Annika, die Unterhaltung fortzuführen.

Die Menge schien noch dichter geworden zu sein, das tiefe, unterschwellige Wummern war inzwischen nicht nur spürbar, sondern auch über die Musik und die Unterhaltungen hörbar. Am anderen Ende des Raumes, dort, wo schon die ganze Zeit die Lasershow bunte Blitze und Muster an die Wand und die Decke warf, wurde es heller und ich bemerkte, dass die Aufmerksamkeit der Menge sich dahin wandte. Annika ignorierte es. Sie runzelte die Stirn und starrte auf Svens Hemdkragen.

„Wo ist Ham?“, fragte sie.

Er seufzte. „Der Terminator hat ihn gekriegt.“

Annikas Augen weiteten sich, dann legte sie tröstend eine Hand auf seinen Oberarm. „Das tut mir leid“, sagte sie leise. „Ich mochte ihn.“

Er nickte. „Danke. Er war schon alt, deshalb war er nicht mehr schnell genug. Ich hätte ihn in einen Käfig sperren sollen, aber das wollte ich ihm nicht antun. Er war immer frei.“ Ein Lächeln, fast nur ein Hauch, flog über sein Gesicht. „Der Terminator hat seinen Kopf gefressen und den Rest in mein Bett gelegt. Aufs Kopfkissen.“

„Grundgütiger! Ich hätte mir die Seele aus dem Leib geschrien.“

Er lächelte milde. „Es ist seine Natur. Wir alle leben nach unserer Natur. Ich hab‘ ihn gelobt, was für ein guter Jäger er doch ist und der mottenzerfressene, alte Kerl hat mich angesehen, als ob er sagen wollte: ‚Dich krieg ich auch noch.‘ Viellicht schafft er es ja eines Tages – irgendwie. Wer weiß …“Seine Stimme verlor sich und er sah durch uns hindurch und ging, nein, glitt davon. Wir sahen ihm nach, als die Menge ihn verschluckte.

„Armer Kerl“, murmelte Annika. „Ham war sein ein und alles.“

„Sein Hund?“

Sie schüttelte den Kopf so heftig, dass die vielen Glöckchen an ihren Ohren klingelten.

„Ham ist, nein, war, Luis‘ Ratte. Er hat ihn überall mit hingenommen. Der Kleine wohnte in seinem Ärmel, aber wenn er jemanden mochte, kam er heraus und ließ sich streicheln. Luis ist Schauspieler und er ist ein echter Poser, aber Ham war viel mehr als ein Accessoire für ihn.“

Ich schüttelte mich. Ich mochte Tiere, aber die Vorstellung, dass eine Ratte mit ihrem ekligen nackten Schwanz auf meinem Körper herumturnte, verursachte mir eine Gänsehaut.

„Und der Terminator?“

„Ist der Kater seiner Mutter. Ich weiß nur, was er erzählt hat und demnach ist er riesig, aber klapperdürr und hat nur ein Auge. Das andere hat er anscheinend bei einem Kampf verloren, genauso wie ein paar große Stücke seines Fells, die nie wieder nachgewachsen sind. Seine Mutter hat ihn verletzt auf der Straße gefunden und sie ist verrückt nach ihm. Der alte Bandit, wie Luis ihn nennt, liebt sie auch – und hasst jeden anderen. Er patrouilliert durch das riesige alte Haus, das Luis und seine Mutter bewohnen und attackiert jeden, den er für einen Eindringling hält, Luis eingeschlossen. Luis‘ Reflexe sind besser, als seine, also hat er sich anscheinend jetzt auf psychologische Kriegsführung verlegt.“

Armer Kerl, dieser Luis. Zu wissen, dass ein Tier dich so sehr hasst, dass er dein Lieblings-Haustier tötet, ist unglaublich traurig.

„Und was ist mit: ‚Hast du es ihr endlich gesagt?‘ Was gesagt?“

„Dass er ein Vampir ist, Hase.“

Ich starrte sie an. „Ein Vampir?“

Sie sah mich ungläubig an, dann lachte sie. „Du wolltest doch mit mir zu den Vampiren kommen. Mehr Vampire…“ sie wies mit einer großartigen Geste um sich, „…findest du nirgendwo.“

Kein Scheiß? Ich sah mich um. Es war zu dunkel, zu laut und viel zu heiß für meinen Geschmack und dieses ganze Vampirmysterium nervte mich langsam. Ich hatte gedacht, dass ich es für einen Abend aushalten konnte, mitzuspielen, aber ich stellte fest, dass sich alles in mir dagegen sträubte. Wenn ich jetzt ging, konnte ich mir ein Taxi rufen. Bis zum Bahnhof wäre es nicht allzu teuer und die S-Bahn würde mich sogar noch zu einer zivilen Zeit zurückbringen. Aber dann hatte ich keinen anderen Plan. Bleiben oder feige abhauen? Wie ich es auch drehte und wendete, ich hatte keinen Plan B. Es gab keinen anderen Weg, als zu bleiben, auch wenn ich wusste, dass ich es bereuen würde. Der Beat, die ganze Zeit ein stetiges Wummern unter meinem Brustbein, schien mir irgendwie erwartungsvoller, drängender, treibender geworden. Ich fühlte ihn unter meiner Haut, wie etwas Lebendiges, das zuckend und summend jede Zelle von mir überschwemmte. Ich ertappte mich dabei, unruhig über meine Arme zu streichen, meinen Hals, meinen Bauch, aber das Gefühl wurde nur stärker. Das hier war nicht meine Musik und die zuckenden Laser, die wie dürre Finger durch die Dunkelheit stachen, machten es nicht besser. Nun gut. Ich konnte es so lange aushalten, bis ich herausgefunden hatte, was es mit diesen Vampiren auf sich hatte. Wenn ich Glück hatte, war der große Meister, von dem dieser Sven gesprochen hatte, der Obermuckel, der für das ganze hier verantwortlich war. Dann musste ich nur schaffen, ihn in ein Gespräch zu verwickeln, in dessen Verlauf ich, großartige Detektivin die ich war, alle meine Fragen beantwortet bekam. Ich seufzte, doch in dem Lärm um mich herum hörte ich es nicht einmal selbst. Ich kratzte mich am Hals und erschrak. Meine Schlagader lag wie ein glühendes Kabel auf meiner Haut und pulsierte wie verrückt. Ich war doch sonst nicht so empfindlich. Ich musste hier heraus und so schnell wie möglich, bevor ich noch einen Schlaganfall bekam. Wohin? Ich sah mich um. Auf der Ebene unter mir zuckten Körper eng an eng im Rhythmus der Beats, vom Lasergewitter zu einem irren Marionettentanz verzerrt. Musik und Licht schienen hier oben weniger aggressiv oder weniger mitreißend, denn die Gäste tanzten oder tanzten nicht und unterhielten sich und an einer in düsterem Rot angestrahlten Bar, die eine Seite der riesigen Plattform einnahm, räkelten sich wunderschöne, fast nackte Frauen und Männer auf hochbeinigen Barhockern und nippten an roten Drinks - die Tänzer, nahm ich an, die wohl gerade Pause hatten. Direkt um mich herum war es ziemlich voll, aber niemand tanzte. Die Leute redeten miteinander oder standen einfach so herum und sahen mich an. Mich? Warum? Ich sah mich um, konnte aber Annika nirgends entdecken. Ich hatte sie gebeten, mich mitzunehmen, wenn sie zu den Vampiren ging und genau das hatte sie getan. Mehr konnte ich nicht erwarten, obwohl es nett gewesen wäre, wenn sie mir eine Einführung in diese schräge Welt gegeben hätte. Das Pochen an meinem Hals wurde schmerzhaft, aber ich traute mich nicht mehr, meine Finger an meinen Hals zu legen. Nur nicht auffallen. Ich wollte gehen, doch der die Menge um mich herum schien sich immer enger um mich zuzuziehen. So musste sich ein Shark-Mitglied gefühlt haben, der im Gebiet der Jets gestellt wurde. Was hätte ein Shark in meiner Situation getan?

„Die beißen nicht“, raunte eine Stimme in mein Ohr, gerade als ich anfing, die Enge in meiner Kehle als Angst zu identifizieren. „Sie wollen nur spielen.“

„Das befürchte ich ja“, schnappte ich. Angst macht das mit mir: Ich schnappe gegen jeden und jede. Besser austeilen, als einstecken. Im nächsten Augenblick tauchte der Körper zur Stimme in meiner Peripherie auf und – wow! Dieses Prachtexemplar gehörte hinter Glas oder hinter Gitter! Oder in ein Kloster auf einem sehr hohen Felsen. Jedenfalls irgendwohin, wo er in Sicherheit war. Es grenzte an ein Wunder, dass nicht zwanzig halbnackte Frauen – und Männer – an seinen Knöcheln hingen im verzweifelten Versuch, ihn abzuschleppen. Eingedenk der gerade gemachten Erfahrung sah ich ihm nicht direkt in die Augen, sondern auf einen Punkt über seiner rechten Augenbraue. Dort hatte er eine kleine halbmondförmige Narbe, wie ein Fingernagelabdruck, ein guter Punkt, sich festzusehen. Trotzdem konnte ich ohne Schwierigkeiten ausmachen, dass er etwas größer war als ich - was nicht sehr groß ist - dunkles Haar hatte und eine sportliche Figur. Anders als bei den meisten anderen männlichen Gäste, die tanzfreundliche Shirts bevorzugten, trug er ein blütenweißes Hemd und ein dunkles Sakko – was fast schon zu förmlich war für einen Club. Er lächelte leicht und ich gab sein Lächeln um einige Watt verstärkt zurück. Dabei verrutschte mein Blick und ich sah, dass seine Augen sehr dunkel waren. Und intensiv. Sie gaben mir das Gefühl, mit ihm ganz allein zu sein und alles für ihn. Alles! Langsam, Anna, Typen wie er sind meilenweit außerhalb deiner Reichweite! Gerade noch rechtzeitig, bevor ich zerschmolz ruckte mein Blick wieder nach oben.

Er lachte leise, also hatte er es bemerkt. „Gute Strategie, aber nicht notwendig.“

„Nein? Ich gehe da lieber kein Risiko ein.“

Er lachte wieder. Es klang amüsiert, tiefdunkel und erweckte in mir den Wunsch nach unbändigem, esoterischen Sex und mehr…viel, viel, mehr. Ich riss mich zusammen. Was auch immer sie in diesem Club versprühten, würde mich nicht dazu bringen, mich wie eine willenlose Puppe zu verhalten. Es war, als sei ich eine Fliege, die sich aus einer Leimfalle zu befreien versuchte.

Er ergriff meine Hand, beugte sich darüber und ich ahnte seine Lippen mehr als ich sie fühlte, aber dennoch schoss mir das Blut ins Gesicht. Himmel, wie peinlich. Ich sah mich um, aber die Aufmerksamkeit der Umstehenden, eben noch ein Gewicht auf mir, hatte sich von mir weg und auf das immer heller werdende Licht am Ende des Raumes gerichtet. Aber die Hitze seiner Lippen brannte immer noch auf der Haut meines Handrückens. Nicht daran denken …

„Herzlich willkommen in meinem Wohnzimmer, Anna“, sagte er, als er sich wieder aufrichtete. „Ich hätte nicht erwartet, dass wir uns so schnell begegnen. Du hast die direkte Art deiner Tante. Ich bewundere das.“ Seine Augen suchten wieder meine, aber ich sah auf einen Punkt zwischen seinen Augenbrauen.

„Dann sind Sie ….“

„Glen. Das hier ist mein Laden.“

Also nicht Mart Kolus. Blieb die Frage, woher er meinen Namen kannte. Und wo, verdammt nochmal, war Annika?

„Annika hält Hof“, sagte Glens der meinen suchenden Blick richtig interpretiert hatte. Mit einer lässigen Armbewegung wies er auf die rote Bar und folgte seiner Geste und sah Annika, die von Männern umringt auf einem der Barhocker thronte. Es war wie eine Szene aus einem alten Film, die Sirene in Rot, die von Männern umringt an einer Bar sitzt, die Beine elegant übergeschlagen, den Körper in einem seit der Urzeit erprobten erotischen Sinus aufgerichtet, eine Champagnerflöte Glas anmutig erhoben. Gerade warf sie den Kopf in den Nacken und lachte. Ich konnte es nicht hören, aber man konnte sehen, dass ihr Lachen so beschwingt perlte wie der Champagner in ihrem Glas.

„Sie ist eine unserer Favoritinnen“, murmelte Glen. „Ein strahlendes Licht in unserer Dunkelheit.“

Irgendwie war auch dieser Kerl in einem früheren Jahrhundert steckengeblieben. Dann fiel mir etwas auf. „Dein Laden?“, fragte ich. „Ich dachte, das DoomX gehört Mart Kolus.“

Für den Hauch eines Wimpernschlags sah er verlegen aus, aber hob er beide Schultern und spreizte die Hände vor sich, im Versuch, gleichzeitig unschuldig und verlegen zu wirken. „Ich bin der Geschäftsführer. Enttäuscht, dass ich nicht der ganz große Fisch bin?“

Ich schnaubte. „Da ich hergekommen bin, um Mart Kolus zu sprechen: Ja.“

Seine Schultern sackten und er seufzte theatralisch, „Treffer. Versenkt.“ Doch dann grinste er und nickte. „Ich bringe dich zu ihm, aber ich kann nicht versprechen, dass er in der Stimmung ist, mit dir zu sprechen.“

Er legte seinen Arm um meine Schultern, ließ ihn aber sofort fallen, als ich von ihm abrückte. Wir gingen Seite an Seite auf das helle Licht zu. Die Leute, oder, wenn ich Annika glauben wollte, Vampire, machten uns Platz, als wir uns ihnen näherten, bis sie eine Gasse bildeten, die im Zentrum des Lichts mündete. Im Vorbeigehen sah ich, dass die Tänzer und Tänzerinnen die Bar verlassen hatten und wie Fische in einem Strom durch die Menge trieben, ein lasziver Reigen perfekter Körper, die sich aufreizend langsam, doch auf eine eigenartig hypnotische Weise im Rhythmus des schnellen Beats bewegten. Die Gäste schienen es gewohnt zu sein, sie ließen es zu, dass die Tänzer sie berührten, sich an ihnen rieben, ihnen Dinge ins Ohr flüsterten und ihnen deutlich zu verstehen gaben, dass sie zu mehr als tanzen bereit waren. Niemand achtete mehr auf mich und das Pulsieren an der Seite meines Halses ebbte soweit ab, dass es nicht mehr wehtat, sondern nur noch da war.

Das Licht wurde noch heller und ich musste die Augen zukneifen. Als ich sie wieder öffnete war er da: ein Mann, sehr groß, sehr schlank, mit dunklem, kurzgeschnittenen Haar. Seine Haut war leicht gebräunt, sofern ich das bei diesem Licht richtig sehen konnte, und er hatte eine prominente Nase und tiefliegende Augen unter feingezeichneten, steil aufsteigenden Augenbrauen. Ich schätzte sein Alter auf etwa fünfzig, fünfundfünfzig Jahre. Er trug einen Anzug in einem hellen Grau und ein blütenweißes Hemd, dessen oberster Knopf geöffnet war. Er lächelte leicht und hob beide Hände. Jede Bewegung im Raum stoppte, es war, als ob alle den Atem anhielten. Ich stieß den Atem aus, den auch ich unwillkürlich angehalten hatte.

Die Gäste blickten wie hypnotisiert auf diesen Mann, als sei er eine Erscheinung, ein Wunder, die Tänzer dagegen fingen wieder an zu tanzen, langsam, lasziv, unberührt. Es war eine verstörende Inszenierung, die anscheinend für alle, nur nicht für mich Sinn ergab.

Die Erscheinung überblickte den Raum mit einem leichten Lächeln. „Willkommen, Freunde.“

Sein Bass vibrierte unter meinem Brustbein. Ich sah mir den Mann an, der der große Vampirboss sein sollte. Das war also Mart Kolus. Er sah normal aus, keine Spur von Dracula. Mit der sportlichen Figur, dem gebräunten Teint und dem Anzug, der geradezu italienischer Designer schrie, sah er eher aus wie ein Topmanager nach einem Karibikurlaub. Er war glattrasiert und hatte, soweit ich feststellen konnte, kein einziges Fältchen. Sein Haar war dunkel und kurz und als er in meine Richtung blickte, sah ich, dass seine Augen sehr hell waren. Blau. Etwas in ihnen erinnerte mich … Eine Bewegung hinter ihm riss mich aus meinen Überlegungen. Ich richtete meine Aufmerksamkeit auf das Dunkel hinter Mart Kolus. Ein Mann in Schwarz, ihm in Figur und Haltung so ähnlich, dass er wirkte wie sein Schatten, kopierte seine Bewegungen. Er musste schon die ganze Zeit dagewesen sein und wenn er nicht zufällig einen Hauch zu spät in seinen Bewegungen gewesen wäre, als ich gerade hingesehen hatte, wäre er mir wohl nicht aufgefallen. Aber jetzt war ich aufmerksam geworden. Und neugierig. War das ein verdeckter Bodyguard? Die dunkle Kleidung sprach dafür, nicht aber die Position hinter der potenziell zu schützenden Person. Sein Gesicht lag im Schatten. Etwas sagte mir, dass er nicht gerne angesehen werden wollte, aber das machte mich nur noch neugieriger. Ich kniff die Augen zu, um besser sehen zu können, aber der Strahler, der direkt auf Kolus gerichtet war, machte das unmöglich.

„Ich freue mich, dass ihr so zahlreich erschienen seid“, sagte Kolus. „Wie ihr bemerkt habt, ist ein neues Gesicht unter uns. Sie ist mein besonderer Gast.“

Der Strahler traf mich ins Gesicht wie ein Speer. Plötzlich war alles ringsum grellweiß und ich begriff, dass ich mich kopfüber in etwas gestürzt hatte, was weit außerhalb dessen lag, was ich mir in meinen ärgsten Alpträumen ausgemalt hatte. Ich machte einen panischen Schritt zurück und noch einen, aber das Licht folgte mir. Eine Hand streckte sich mir entgegen, eine männliche Hand, die Handfläche nach oben, offen, hilfsbereit. An der Farbe des Sakkoärmels erkannte ich, dass es die von Mart Kolus sein musste. Ich hatte nicht viele Möglichkeiten, also griff ich danach und ließ mir die Stufe zu dem Podest hochhelfen, auf dem er stand und die ich ohne den Scheinwerfer im Gesicht auch sehr gut allein bewältigt hätte. Als ich mich umwandte sah ich, dass Glen ein paar Schritte zurückgefallen war und sich in den Kreis der Bewunderer eingefügt hatte. Ich hatte erreicht, wofür ich gekommen war und jetzt wollte ich nur eines: So schnell weg wie möglich.

Kapitel 8

Mart Kolus beugte sich über meine Hand und deutete einen Kuss darauf an. Seine Lippen berührten meine Haut nicht, aber ich musste dem Drang widerstehen, meine Hand zurückzureißen. Ich tat es nicht, zu tief eingeprägt waren die Manieren, die mir meine Mutter eingebläut hatte. „Kleines“, hatte sie immer gesagt, „du machst Menschen unglücklich, wenn du unhöflich bist.“ Sie hatte nichts davon gesagt, ob Vampire unter den Sammelbegriff Mensch fielen und auch nichts darüber, ob ich nicht besser auf meinen Instinkt hören sollte, wenn meine Haut sich anfühlte, als ob sie meinen Arm hinauf flüchten wollte, um Kolus‘ Lippen zu entgehen. Als er sich wieder aufrichtete lächelte er. Mit geschlossenen Lippen! Vampire machten das so, das weiß jeder, der jemals einen Film gesehen oder einen Vampir-Liebesroman gelesen hatte. Schuldig in meinem Fall. Aber dieser Vampir hier - und wenn ich meinem Körper trauen sollte, der wie in Gänsehaut gepanzert war, war er ein Vampir - hatte nichts von der magischen Anziehung der dunklen Prinzen aus den Fantasy-Romanzen. Er sah so normal aus, wie man es sich nur vorstellen konnte, sein Handkuss war zwar altmodisch gewesen, aber schien für ihn natürliche Höflichkeit zu sein und er hatte ihn auch nicht dazu benutzt, mich näher an sich zu ziehen und er schielte auch nicht auf meine Halsschlagader. Warum also war mir, als ob ich in ein Spinnennetz geraten war? Ich entzog ihm meine Hand. Und jetzt?

„Herzlich willkommen, Anna“, sagte er und wieder fühlte es sich an, als ob seine Stimme tief in mir einen Widerhall fand.

„Ich darf doch Anna sagen?“, fuhr er fort. „Ich habe so viel von Ihnen gehört, es kommt mir vor, als ob wir uns schon gut kennen.“

Ich fand meine Stimme wieder. „Frau Kellen, bitte. Wenn Sie mich nicht mit ihren Stellvertretern abgespeist hätte, könnten wir jetzt auf einer anderen Basis reden.“

Er warf den Kopf in den Nacken und lachte. „Kross hatte Recht. Sie sind die wahre Erbin Ihrer Tante.“ Er wurde wieder ernst und verbeugte sich leicht. „Entschuldigen Sie meine Anmaßung, Frau Kellen. Bitte begleiten Sie mich in mein Büro. Wir haben wichtige Dinge zu besprechen.“

Mit einer eleganten Bewegung, als öffne er einen Fächer, wies er ins Dunkel zu links von mir, er machte einen Schritt auf mich zu und ich sah, dass er im Begriff war, seine Hand in meinen Rücken zu legen, wieder in dieser altmodischen Art, als sei ich ein zartes Fräulein in irgendeinem früheren Jahrhundert. Ich hätte mich in die angezeigte Richtung wenden sollen, geleitet wie ein Schaf, das man aus einem Gatter in ein anderes trieb. Ich rührte mich nicht.

„Sie hätten mich bereits gestern kennenlernen können. Auch schon vorgestern. Ein Anruf hätte genügt und ich hätte Ihnen sagen können, ob ich Ihnen helfen kann, aber Sie mussten unbedingt Spielchen spielen und sogar jetzt hören Sie nicht damit auf. Es reicht! Schicken Sie mir keine von Ihren Handlangern mehr, rufen Sie nicht an und schreiben Sie nicht. Im Gegenzug vergesse ich, dass ich jemals in diesem Laden hier war.“

Er musterte mich. Sein Gesicht verriet nichts und ich konnte in seinen Augen auch nicht lesen, was er dachte oder fühlte, doch ich wusste, dass er im Geiste alle Möglichkeiten durchdeklinierte, wie er mich dazu bringen konnte, das zu tun, was er wollte.

„Ich verstehe, dass Sie die Weise, wie wir…“, Kolus zögerte kurz und fuhr dann fort: „…wie ich mit Ihnen Kontakt gesucht habe, aufbringt und ich würde Ihnen diesen gern erläutern. Ich würde Sie nicht darum bitten, mit mir zu kommen, wenn es nicht wichtig wäre. Ich zeige Ihnen etwas, das alles erklärt.“

Er wirkte ehrlich und ich fühlte den Drang, nachzugeben. Dann wäre dieser Abend keine verlorene Zeit, ich bekäme Antworten und könnte mit der Sache abschließen. Gerade war ich noch wütend gewesen, jetzt überlegte ich, ob er vielleicht doch Gründe haben konnte, mich so zu überfallen. Doch dann dachte ich an meine verbrannten Hände und der Moment war vorbei.

„Bitte“, rang er sich schließlich nach einer gefühlten Ewigkeit ab. Zu spät.

„Es war ein Fehler, herzukommen“, fasste ich meine Überlegungen zusammen. „Suchen sie sich jemand anderen.“

Aber er hörte nicht zu. Sein Blick ging über meinen Kopf hinweg in die Ferne und er schien zu … wittern? Oh Gott, ich musste wirklich hier raus!

„Tiere sind hier nicht willkommen“, schrie plötzlich jemand. Ich kannte die Stimme nicht und strengte mich an, in der diffusen Menge das Tier zu sehen und den achtlosen Menschen, der es in einen lauten Club mitgebracht hatte. Die Menge teilte sich wie weiland das Rote Meer doch statt eines Hundes oder einer Katze sah ich Seba. Keine Möglichkeit, ihn nicht zu erkennen, seine freundliche Persönlichkeit war klar auf sein Gesicht geschrieben. Er musterte Kolus mit zusammengezogenen Brauen und einem Blick, als wolle er ihm an den Kragen gehen. Jetzt. Er trug eine dunkle Hose aus einem weich fallenden Material und ein dunkles Hemd, dessen Ärmel bis über die Ellenbogen aufgekrempelt waren. Nicht modisch, eher casual, keine Uhr, kein Schmuck - ich fragte mich, wie er an den Türstehern vorbeigekommen war. Neben ihm stand ein schmaler, schwarz gekleideter Mann, der ihm gerade einmal bis ans Kinn ging und der ihn mit genau dem gleichen Blick von Herausforderung und Verachtung ansah, wie Seba Kolus. Er sah nicht schlecht aus mit seinem schmalen Gesicht und den schwarzen Locken, die sein schmales intelligentes Gesicht umrahmten. Er trug goldene Ringe in seinen Ohren und eine Menge davon auch an seinen Fingern und sah ganz und gar nicht so aus wie jemand, der Schlägereien suchte. Anders als Seba.

„Sie geht mit mir“, sagte er. Seine Stimme war überdeutlich zu vernehmen, weil jemand die Musik gestoppt hatte und niemand, wirklich niemand, auch nur einen Ton sagte.

„Seba Alexanderson, wie überraschend. Was verschafft uns die Ehre?“ Okay, auch Kolus beherrschte Herausforderung.

Seba würdigte ihn keiner Antwort sondern marschierte unbeeindruckt auf die Bühne zu und sprang mit einem mühelosen Satz herauf.

„Begleitung nach Hause gefällig?“ fragte er mich.

 

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Tag der Veröffentlichung: 25.05.2018

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