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Prolog

Chris Delaire tastete sich die schmalen Stufen zu Dancer’s Kellerbar hinab. Die Bar wurde seit Jahren als Geheimtipp unter jenen gehandelt, die ungestört von lauter Musik und lauernder Presse ihr Bier trinken und einfach nur reden oder ihre Ruhe haben wollten. Dancer’s, die Bar Elliot Taggerts, eines ehemaligen Jockeys, gehörte zu LA, wie die Strandpromenade zu Malibu. Nur, Strände konnte er überall finden, einen Laden wie Dancer’s, in dem er sich so wohlfühlte, wie in einer alten, ausgewaschenen Jeans, nur selten. Chris hatte eine Vorliebe für Sportbars. Wenn er keine Lust hatte, zu reden, fand sich immer jemand mit einem Sack alter Geschichten. Er konnte einfach dasitzen, zuhören und seine Gedanken schweifen lassen - der richtige Ausklang für einen verdammt ungemütlichen und dazu noch frustrierenden Tag. Vielleicht würde ihn eine von Elliots alten Geschichten soweit ablenken, dass er vergaß, dass es auf der ganzen Welt keinen Bassisten zu geben schien, der ihm das Gefühl gab, der richtige für Hadessphere zu sein. Elliot hatte es gut: Er musste nur darauf achten, dass das Bier für seine drei Gäste nicht ausging und dass einer von den dreien eine Geschichte von dem größten Rennpferd aller Zeiten hören wollte: Nijinski! Chris schüttelte den Kopf, für Elliot gab es nur dieses eine Pferd, obwohl er es selbst nie geritten hatte, schwärmte er davon, wie andere Männer von Marilyn Monroe oder Rihanna. Nun gut, jeder hatte seinen eigenen Geschmack. Elliot war sogar so weit gegangen, seine Bar nach diesem Gaul zu nennen. Da ihm Nijinski wohl für diese Gegend zu exotisch klang oder er verhindern wollte, dass einer der Gäste den Namen seines Lieblings nicht korrekt aussprach, hatte er der Bar den Namen Dancer’s gegeben - nach Nijinski, den man wegen seiner typischen Tänzelei seinerzeit auch den Tänzer genannt hatte. Nijinski war nach einem berühmten russischen Balletttänzer benannt worden, das erzählte Elliot jedem, der es hören wollte und auch jedem anderen und er deutete auf die Bilder und Zeitungsausschnitte an den Wänden und erzählte seine Geschichten und war zufrieden. Ein wenig dieser Zufriedenheit nahmen auch die Gäste mit, wenn sie die Bar wieder verließen. Chris hoffte, dass für ihn in dieser Nacht ebenfalls ein Stück Zufriedenheit abfiel.

Ihm fiel der ungewöhnliche Geräuschpegel auf, als er sich die schlecht beleuchteten Stufen in die Tiefe hinabtastete. Als er um die scharfe Biegung der Treppe kam, konnte er in den überfüllten Barraum sehen. Elliot feierte offenbar eine Party. Noch mit dem Fuß auf der letzten Stufe und während er noch überlegte, ob er wieder kehrtmachen sollte, entdeckte ihn Elliot und winkte ihn begeistert zu sich. Chris erwiderte das Winken mit einem Nicken und bahnte sich seinen Weg durch die Gäste bis zu dem Ecktisch, an dem der ehemalige Jockey gut gelaunt den Rummel verfolgte. Selbst wenn man nicht gewusst hätte, womit sich Elliot früher sein Brot verdient hatte, würde seine Profession jedem ins Gesicht springen. Elliot war klein, drahtig und seine Haut war so faltig und von Wind und Wetter gegerbt, dass sie wie zerknautschtes Leder aussah. Wenn das nicht genügte, war der glänzend-rote Blouson seines alten Rennstalls, den er immer trug, ein todsicherer Hinweis.

„Was ist denn hier los? Hast du Geburtstag oder was wird hier sonst gefeiert?“, rief Chris gegen den auf- und ab brandenden Lärm an.

„Keine Feier, normales Geschäft“, rief Elliot sichtbar stolz. „Bist lange nicht mehr hier gewesen. Seit ein paar Wochen ist’s jeden Abend voll wie auf dem Flughafen.“

Chris angelte sich mit einem Fuß einen Hocker heran und setzte sich neben Elliot, zum einen, um nicht mehr darauf angewiesen zu sein, von Elliots Lippen zu lesen und zum anderen aus geschäftlichem Interesse. Die Ideen eines, der seine Bruchbude praktisch über Nacht zum florierendem Unternehmen gemacht hatte, konnte man, modifiziert, immer auch im eigenen Interesse nutzen.

„Und wie hast du das geschafft?“

Der Unterschied war in der Tat frappierend. Wo sich früher ein paar Eigenbrötler mittleren Alters an ihrem Bier festgehalten hatten, nippte jetzt jugendliches, aufgekratztes Partyvolk an grellfarbigen Cocktails. Hinter der Bar aus dunklem Holz mit der vom vielen Anlehnen blinden Messingreling, die immer noch die alte war, wirkte knackige Jugend am steten Nachschub für die durstige Meute. Ein blonder Mann, dessen geschmeidige Lässigkeit eher auf den Catwalk als hinter einen Tresen gepasst hätte, war offensichtlich die treibende Kraft. Unbeschwert strahlend, als seien dreihundert durstige Gäste die Erfüllung seiner geheimsten Träume, schien er an mehreren Stellen gleichzeitig und überall unentbehrlich zu sein und alles maßlos zu genießen. Zuckersüße Serviererinnen, bei deren äußeren Qualitäten jeder Mann innere Werte für irrelevant halten musste, tänzelten mit ihren Tabletts zwischen den Tischen hindurch, erfüllten erfüllbare Wünsche und erweckten unerfüllbare.

„Wenig Schauspielschule und viel Schönheitschirurgie.“ Elliot las Chris’ Gedanken mühelos. „Gott segne die Filmindustrie.“

„Und die vielen arbeitslosen Starlets“, ergänzte Chris.

„Arbeitslose Schauspieler kriege ich jederzeit“, schnaubte Elliot. „Aber einen wie Julian bestimmt nie wieder. Jeden Abend, wenn ich den Laden aufschließe, bete ich, dass er wieder zur Arbeit erscheint. Vielleicht ist es missgünstig von mir, dass ich mich darüber freue, wenn er kein Engagement als Schauspieler bekommt, aber das Hemd ist mir näher als die Jacke.“

„Schauspieler, eh?“

Chris sah sich den Barmann genauer an. Knapp über zwanzig mit dem gebräunten, durchtrainierten Körper eines Surfers und dem Lächeln eines verruchten Engels war er der Traum einer jeden Frau zwischen dreizehn und achtzig. Dieser Julian sah zu gut aus, als dass ein Hauptdarsteller mit Überlebensinstinkt ihn neben sich geduldet hätte und er strahlte genau die Vitalität aus, die auf der Bühne und im Film so gut wirkte. Ohne Beziehungen würde er es nicht leicht haben.

„Ich weiß nicht, was er als Schauspieler taugt, aber als Barmann ist er das Geschenk des Himmels“, stellte Elliot zufrieden fest. „Er wirbelt hier alles durcheinander. Nichts ist mehr, wie es einmal war, aber die Leute, die mir immer versichert haben, dass sie ein ruhige Bar einer lauten und Platz dem Gedränge vorziehen, drängeln sich seit kurzem in rauen Mengen um einen Platz am Tresen. Es gab Abende, da standen sie in Doppelreihen da. Und dieser Teufelskerl managt alles ohne mit der Wimper zu zucken. Er kennt jeden Namen, merkt sich jede Macke und wenn du zweimal hier warst, bringt er dir unfehlbar deinen bevorzugten Drink. Die Leute lieben ihn. Letzte Woche hat er mit den Gästen gewettet, dass er an dem Abend keinen Hunderter an Trinkgeld zusammenbekommen würde. Falls doch, würde er am folgenden Abend im Rock bedienen. Er bekam das Geld, niemand hätte sich das entgehen lassen wollen. Am nächsten Abend war der Laden noch voller. Schöne Beine hat er, das muss der Neid ihm lassen. Ich hätte nie gedacht, dass die Frauen auf Männer im Kilt so stehen.“ Er kicherte. „Aber er setzte noch einen drauf: Am nächsten Abend legte er eine Show hin, wie ich sie nicht mehr gesehen habe, seit diese rassige Tänzerin aus Kuba im „Havana“ aufgetreten ist. Himmel, der Junge ist gut, ich hätte ihn nicht erkannt, als er hier ankam. Schwarze Locken bis zum Hintern, ein Make-up, das jede Diva vor Neid erblassen lässt und ein Kleid, das dem Begriff sündhaft eine ganz neue Bedeutung verlieh. Er hat Wort gehalten und den ganzen Abend in diesem Fummel bedient. Seitdem hat er sich jeden Abend etwas anderes einfallen lassen. Gestern hat er mit den Gästen die Getränkekarte 'rauf- und runter gesungen. Das heißt, er stolzierte auf dem Tresen hin und her und dirigierte, die Gäste haben gesungen - diejenigen, die vor Lachen überhaupt noch einen Ton herausgebracht haben.“

„Seit wann hast du eine Getränkekarte?“

„Selbstverständlich habe ich die! Da drüben.“

Elliot deutete auf die mit Kreide auf die verblassten roten Backsteine geschriebene Auflistung. „Sündhaftes Zeug, das. Und jeden Abend eine neue. Lass dir doch von ihm selbst erzählen, was er so zusammenmixt.“

Chris grinste und sah zu dem Mann hinüber, der strahlender Mittelpunkt eines Pulks aufgedrehte Leute war und gerade versuchte, sich mit einem hoch über dem Kopf gehaltenen Tablett aus der ihn umgebenden Drängelei zu winden. Er strahlte, warf hier und da eine Bemerkung in ein Gespräch ein, versäumte es nicht, bewundernde Blicke und Komplimente zu verteilen, vergaß jedoch nie, dass er derjenige war, der die Räder am Laufen hielt. Chris bemerkte, dass er ständig den Blickkontakt mit den Gästen suchte, die anderen Bedienungen in ständiger Bereitschaft hielt und sofort eingriff, wenn die Stimmung in irgendeiner Ecke des Raumes abzukühlen begann.

Elliot winkte und Julian ließ seine Drinks in der Obhut eines anderen jungen Mannes und zwängte sich zu seinem Arbeitgeber durch.

„Es ist Zeit für eine Pause, Chef. Ich bin schließlich keine Maschine.“

„Setz dich zu uns, Julian und trink' ein Bier mit uns.“

Julian ließ sich nicht lange bitten und setzte sich auf den einzigen noch freien Stuhl in der gesamten Bar.

„Hi, ich bin Julian“, stellte er sich Chris vor. „Aber das hat Ihnen der alte Schwätzer schon verraten, auch dass ich ihn mit meinem hohen Verdienst ruiniere und dass seine Frau scharf auf mich ist, stimmt’s?“

„Fast getroffen. Das mit der Frau hat er aber vergessen.“

„Verdrängt“, knurrte Elliot.

„Was treibt Sie in die Stadt?“, erkundigte sich Julian, während er drei Finger in Richtung zur Bar hob. Eines der Mädchen brachte drei Dosen Bier. Er dankte ihr mit einem Lächeln, das keineswegs weniger warm war, als das, mit dem er die weiblichen Gäste bedacht hatte.

„Meine Spezialmarke“, erklärte er, während er Chris und Elliot je eines reichte.

„Arbeit“, antwortete Chris. „Wir waren den ganzen Tag im Studio und wie es aussieht, werden wir den Rest unseres Lebens dort verbringen.“

„Ich hörte, dass Sie Probleme haben, Ersatz für Pat Connors zu bekommen.“

Chris nahm einen Schluck aus der Bierdose, seufzte befriedigt und wischte sich eine winzige Schaumspur von der Oberlippe.

„Englisches Bier“, sinnierte er. „Sind Sie Engländer? Sie haben keinen Akzent.“

Julian verzog einen Mundwinkel zu einem halben Lächeln, genau genommen war es also nur ein Viertel-Lächeln, sprechender Ausdruck dafür, dass er bemerkt hatte, wie demonstrativ sie aneinander vorbeiredeten.

„Ja. Der Nebel in London ist wirklich so dicht und es regnet jedes Mal, wenn man ein Picknick vorbereitet hat. Möchten Sie die Niederschlagswerte der letzten Woche?“

Chris lachte. „Ich wollte nicht unhöflich sein, ich wollte nur abschalten.“

Julian lachte: „Schon verstanden. Wenn ich hier rauskomme, will ich auch keinen Ton über Umsatz und Einkauf mehr hören.“

„Einkäufe kann man auf den nächsten Tag verschieben. Wir haben ein Problem mit Pats Nachfolge – und derzeit sieht es nicht so aus, als ob wir es überhaupt lösen können.“

„Es kann doch nicht so schwer sein, einen anständigen Bassisten zu finden.“

„Elliot sagte mir, Sie wären Schauspieler. Sagen sie nicht, dass Sie auch etwas von Musik verstehen?

„Oh, ich bin ein Allroundtalent. Natürlich verstehe ich etwas von Musik. Gitarre ist das Ding mit sechs Saiten, Bass ist das mit nur vier“, nickte Julian. „Daraus folgt, dass Bass einfacher zu spielen ist. Wo liegt dann das Problem?“

Chris schloss für eine halbe Sekunde die Augen. Es wäre zu schön gewesen ...

„Vergessen wir das“, seufzte er.

Julian lachte laut auf und erhob sich. „Du hättest dein Gesicht sehen sollen: als ob ich dir einen unsittlichen Antrag gemacht hätte.“ Er beugte sich über den Tisch zu Chris und erklärte: „Habe ich aber nicht. Musik ist gar keine so komplizierte Sache. Wenn du erst einmal begriffen hast, dass dein Instrument dir zeigt, was es braucht, musst du nur die Musik darin freilassen. Du öffnest dich für die Musik und sie kommt zu dir - so einfach ist das. Es ist nicht der Unterschied zwischen vier und sechs Saiten, der Unterschied liegt darin, ob du das begreifst.“

Abrupt unterbrach er sich und starrte auf seinen erhobenen Zeigefinger, dann schüttelte er den Kopf und grinste leichthin, als wolle er seinen eindringlichen Worten die Ernsthaftigkeit nehmen. „Wenn der alte Geizhals mich nicht so beschäftigen würde, hätte ich wirklich Lust, mir anzuhören, was die Jugend von heute so draufhat. So wirst du mich entschuldigen müssen - meine Gäste warten und mit jeder Sekunde, die verrinnt, verschwindet etwas von meinem Trinkgeld in anderen Taschen.“

Er trank seinen letzten Schluck aus seiner Dose und erhob sich.

„Noch eins?“

Chris reagierte auf den fragenden Tonfall mit einem uninteressierten Nicken. Zugehört hatte er nicht mehr seit Julians unerwartetem Ausbruch, er dachte über das nach, was Julian ihm gesagt hatte. Nur ein guter Musiker hatte den Instinkt, auf sein Instrument zu hören, auf die Antwort zu warten, die das Instrument dem gab, der sich ihm hingab. Ein Ton war niemals nur ein Ton, er war die Essenz aus Können und Instinkt des Musikers zusammen mit der Qualität des Instruments, angereichert mit allen Emotionen, des Stücks, des Materials und des Komponisten. Musik war lebendig, fließend, sie veränderte sich mit dem Leben, klang niemals gleich sondern war immer der Ausdruck von vitalem Austausch. Das nicht nur zu begreifen, sondern dieses Wissen umzuwandeln, zeigte den wahren Künstler.

„Ein Kapitalist, wie er im Buche steht“, mischte sich Elliot in Chris’ Gedanken. „An manchen Tagen kassiert er an Trinkgeld so viel, wie ich an Umsatz in früheren Zeiten.“

„Beschwer’ dich nicht, alter Mann. Wenn du mein Trinkgeld willst, schmeiß mich raus und beweg deinen eigenen Hintern.“

„Den Teufel werd’ ich tun“, brummte Elliot uns sah Julian nach, der sich wieder ins Gewühl stürzte und sofort einen gewagten Flirt mit einer in rote Seide gekleideten Blonden begann.

„Nicht eine von Ihnen würde ihn von der Bettkante stoßen“, sinnierte Elliot. „Er weiß das ganz genau und trotzdem fängt er mit keiner etwas an. All die Wochen geht er allein nach Hause, wo immer das auch sein mag, und er kommt auch allein. Kein Ehering, keine Anrufe von eifersüchtigen Frauen - aber er macht nicht den Eindruck, dass er sich irgendetwas versagt. Wenn du verstehst, was ich meine.“

Chris verstand sehr gut, er selbst hielt es ebenso: Keine Komplikationen bei möglichst ausgeglichenem Hormonhaushalt.

„Du wirst ihn nicht lange behalten können“, meinte er. „Es wird nicht lange dauern und eine Erbin wird ihn sich kapern. Oder es gibt da draußen einen Regisseur, der genau so einen sucht, wie ihn. Verflucht, ich würde ihn für Hadessphere wollen, wenn er mehr draufhätte, als gutes Aussehen und ein bisschen auf der Gitarre herumklimpern.“

Elliot seufzte. „Glaubst du, das weiß ich nicht? Aber bis dahin sehe ich zu und genieße.“

Chris grinste. „Was dagegen, wenn ich mich anschließe?“

 

Kapitel 1

Der Raum sah aus, wie nach einem Einbruch. Julian strich sich die wirren Locken aus den Augen, um das Chaos in seiner ganzen Bandbreite auf sich wirken zu lassen. Beide Türen des Medikamentenschranks standen offen. Tablettendöschen und -packungen waren aus den Fächern gerissen und geöffnet worden, der Inhalt war im Waschbecken und auf dem Boden verstreut.

Julian starrte auf die Ansammlung leerer Verpackungen und auf die bunte Mischung verschreibungspflichtiger Medikamente, für die jeder Junkie zu morden bereit wäre. Nach und nach hatte er in den letzten Monaten alles gehortet und auch eingenommen, was er hatte auftreiben können, Psychopharmaka, Barbiturate, Antidepressiva, alles was der Markt hergab. Gestern, so schien es, hatte er des Guten zu viel getan. Was war eigentlich geschehen? Er hatte wieder einmal nicht schlafen können, wie so oft in den letzten Monaten und eine Schlaftablette genommen. Oder waren es zwei gewesen? Nach dem Wein zum Essen mit Bianca und dem ganzen Gin, nachdem sie ihn in einem Wutanfall vor die Tür gesetzt hatte, konnte er sich nur an diese beiden Tabletten erinnern. Irgendwie waren die Abende in seinem Appartement in der letzten Zeit immer gleich, trinken, umhergehen, aus einem Fenster starren und wieder trinken, bis es ihm zu viel wurde und er sich mit einer Flasche ins Bett verzog. Manchmal setzte er sich an sein Keyboard, aber das, was herauskam, wenn er versuchte zu komponieren, hätte einen ausgeglicheneren Menschen als ihn in Raserei versetzt, also ließ er es ganz sein. Sein Leben war ein ständiges Auf und Ab, zerrissen zwischen Langeweile und Übersättigung. Er sah keinen Sinn mehr darin, als „Mr.-Body-and-Smile“ zu gelten und wusste doch nicht, ob er es ohne die Aufmerksamkeit der Massen würde aushalten können.

Aber wenn er es nicht gewesen war, der dieses Chaos in seinen Medikamentenbeständen angerichtet hatte, wer war es dann gewesen? Julian entschied, die Entscheidung darüber, was zu tun und die Überlegungen zu dem, warum alles geschehen war, auf die Zeit nach seiner Espresso-Orgie zu verschieben. Espresso war das einzige, was ihn nach diesen bleischweren Nächten wieder soweit auf die Beine brachte, dass er geradeaussehen konnte. Er hoffte, dass ein Espresso oder auch mehrere die Lücke in seinem Gedächtnis ein wenig schließen konnten. Aber es musste etwas geschehen. Oder nicht? War es seine Bestimmung unmerklich langsam immer tiefer im Dunkel zu versinken? Eigenartig: Es war etwas daran, dass man vorsichtig sein sollte mit dem, was man sich wünschte. Als Jugendlicher hatte er sich verzweifelt gewünscht, etwas anderes zu sein, als der Sohn und Erbe eines Industriellen der englischen Oberschicht. Er hatte gegen alles rebelliert, wofür sein Vater und sein Imperium standen, und er hatte voller Enthusiasmus jede Rebellion unterstützt, wenn sie nur gegen ihn und damit gegen das Establishment gerichtet war. Als ultimatives Zeichen seines Widerstands hatte er schließlich sein Studium abgebrochen und war Bassist in einer Rockband geworden. Seine Entscheidung hatte bei seiner Familie Entsetzen und Abscheu ausgelöst, er jedoch hatte sich zum ersten Mal in seinem Leben wirklich frei gefühlt. Bis er es jedoch soweit geschafft hatte, hatte er fast zwei Jahre lang auf der schmalen Kante zwischen freiem Leben und Verhungern gelebt. Es war reiner Zufall gewesen, dass Chris Delaire an einem Abend ins Dancer’s gekommen war, in dem er seinerzeit als Kellner gejobbt hatte. Danach war es kein Zufall gewesen, sondern Neugier, die ihn am nächsten Tag in den Triple-M-Studios hatte aufkreuzen lassen, um den Castings zuzusehen. Er hatte eine solide Musikausbildung, spielte Klavier, Geige und Violoncello und hatte das eine oder andere Musikinstrument ausprobiert und er hatte seine Virtuosität mit denen der Anwärter auf den vakanten Posten des Bassisten von Chris' Band Hadessphere verglichen. Nach ein paar Stunden war er davon überzeugt gewesen, es mit allen Bewerbern aufnehmen zu können, nach zwei Tagen war er davon felsenfest überzeugt gewesen. Das Problem war nur, dass er bis zu diesem Tag niemals einen E-Bass in der Hand gehabt hatte. Kurzerhand hatte er seinen Wagen versetzt, um ein gebrauchtes Instrument kaufen zu können. Wochenlang war er jeden Tag aufgetaucht, hatte beobachtet, zugehört und gelernt, die Nächte hatte er damit zugebracht, das Gelernte zu vertiefen. Irgendwann hatte er die Zeit für gekommen gehalten, eine Chance für einen Außenseiter zu fordern - und er hatte die winzige Chance, nein, den Hauch einer winzigen Chance genutzt und war er Bassist der Rockband Hadessphere geworden. Inzwischen war er reich, berühmt, begehrt – und obwohl er sich zuerst im Himmel gefühlt hatte, belastete ihn seine Prominenz inzwischen immer mehr. Er hatte es einfach satt, die Person zu sein, die er über die Jahre hinweg geworden war; sein Hadessphere-Profil hatte nichts mehr mit der Person gemein, die er wirklich war. Bisher hatte noch keiner etwas von seinen Problemen bemerkt. Seit Warren Denning, der Iceman, seine Frauenphobie überwunden hatte und ganz in seinem brandneuen Eheglück aufging, hatte auch der Letzte der Band, mit dem er außerhalb der Auftritte ein Fass aufmachen konnte, seine Freiheit gegen die eheliche Fessel getauscht. Es musste etwas daran sein, Warren war seitdem regelrecht aufgetaut, so offen, wie nie zuvor und geradezu peinlich glücklich. Warren hatte sich wie ein Idiot verhalten und es war ein echtes Wunder, dass Kim ihm verziehen hatte. Aber wenn er es recht bedachte hätte er, Julian, es vorgezogen, dass Kim es nicht getan, sondern sich nach einem anderen Mann ganz in ihrer Nähe umgesehen hätte und dann auf ihn gestoßen wäre. Zum Teufel, wenn er nicht so übervorsichtig gewesen und ihr klargemacht hätte, dass er jedem Flirt zugeneigt war, aber ganz gewiss keine feste Bindung anstrebte, hätte mehr aus ihrem Flirt werden können, viel mehr. Kim war ein echtes Goldstück, aber Männer waren wohl allesamt kurzsichtig. Sie sahen den Schatz unter ihren Augen nicht, Talmi in der Ferne aber umso besser. Er hatte zu spät realisiert, dass er auf Gold gestoßen war, aber er hatte gute Miene zu einem verlorenen Spiel gemacht, als Kim und Ice schließlich ihre Differenzen bereinigt und zueinander gefunden hatten. Das konnte er inzwischen wirklich gut. Lächeln und dabei mit den Gedanken weit weg sein, war gar nicht so schwer. Es war eine einfache Übung, schließlich hatte er inzwischen einige Erfahrung als Schauspieler und er spielte mühelos auf der Klaviatur von Liebe bis Hass. Er musste nur den Kopf etwas in den Nacken legen, die obere Zahnreihe gerade so weit entblößen, dass man die Eckzähne sehen konnte und dabei die Augenwinkel leicht anspannen, gerade so, als ob ihn die Sonne blendete, dann konnte man aus der Entfernung kaum erkennen, dass das strahlende Lächeln eigentlich eine schmerzliche Grimasse war. Wenn nur diese verdammten Kameras nicht wären! Die Kamera war unbestechlich, sie zeigte jede auch noch so geringste Regung, auch ob sie echt oder gefälscht war. Er war aber immer auf der Hut. In den vergangenen fünf Jahren hatte er eine ungeheure Routine erworben, in der Öffentlichkeit zu sein, was er zu sein vorgab. Ein lautloses Lachen schüttelte ihn. Zu sein, was er sein wollte, korrigierte er sich. Oberflächlich betrachtet hatte er erreicht, was jeder Mensch sich nur erträumen konnte. Er war reich, viel reicher, als mancher es sich vorstellen konnte, weil er erfolgreich an der Börse spekuliert hatte und wenn er wollte, würde er keinen Tag seines Lebens mehr einen Finger rühren müssen. Er war berühmt und als Ladykiller berüchtigt und wenn er nicht auf der Bühne stand und seinen Charme versprühte, führte er das Leben eines Playboys. Inzwischen war er zu der Überzeugung gelangt, dass, wer hundert Frauen kennengelernt hatte, alle kannte und ihm nichts Neues mehr bevorstand, was eine deprimierende Aussicht für einen Mann war, der gerade einmal achtundzwanzig Jahre auf dem Buckel hatte. Sein Problem war, dass er für den Rest seines Lebens auch nicht wusste, was er stattdessen mit sich anfangen sollte. Nur eines wusste er: Es fehlte etwas in seinem Leben, das dem Verbleib auf dieser Welt einen echten Grund gab. Seit Längerem schon fühlte er sich gelangweilt, inzwischen kotzte ihn der ganze Zirkus an. Gut, nicht gerade, wenn er auf der Bühne stand. Oder doch? War es nicht so, dass auch bereits auf dem Weg zur Bühne dieses lähmende Gefühl seine Bewegungen beeinträchtigte, diese tiefe Müdigkeit, gegen die anzukämpfen immer schwieriger wurde? Was war letzte Woche in Idaho gewesen, als er am liebsten weggelaufen wäre und nur der Griff zu seinen bewährten bunten Freunden ihm die innere Ruhe wiedergegeben hatten, diesen Gig durchzustehen? Er hatte es immer genossen, ein Star zu sein, auf dem Präsentierteller zu leben und hatte sogar mehr als das Seine dazu getan, für die Öffentlichkeit interessant zu sein und zu bleiben. Irgendwie war er davon ausgegangen, es könne immer so weitergehen. Er wusste nicht mehr, wann dieses Leben begonnen hatte, ihn anzuöden. Es musste ein schleichender Prozess gewesen sein, so langsam und unmerklich, dass es bereits zu spät gewesen war, als er sich dessen bewusstgeworden war. Trotzdem hatte er wie bisher weitergemacht. Anfangs, weil er diesen Überdruss für eine vorübergehende Erscheinung gehalten hatte, später, weil er niemanden mit lächerlichen Problemchen hatte belästigen wollen. Die Lorings hatten noch nie etwas vom Verzärteln gehalten. Sei stark und siege war das Motto des Hauses und Julian hatte es mit der Muttermilch aufgesogen. Er war stark geblieben und hatte dagegen angekämpft, aber gesiegt hatte er nicht. Inzwischen spielte sich sein Leben zwischen Reizüberflutung und totaler Stille ab und er hatte in den letzten Monaten gelernt, beides zu fürchten.

Er musste raus, dorthin, wo es Musik gab und laute Stimmen, die die Stille fraßen und Frauen, deren Gier seinen Körper betäubte. Er musste irgendwohin, wo er die schrille Ablenkung von den Gedanken fand, die seine Seele erstickten.

 

*

Das glühende Rot des Sonnenuntergangs tauchte die Stadt in flammenden Schein, spiegelte sich glutrotgolden in den Fenstern der Hochhäuser und tanzte auf dem heißen Asphalt. Dort hinten war die Market Street, die sich wie der ungeduldige Federstrich eines Kindes quer über die ordentlichen Linien des Stadtplans erstreckte. Weiter hinten war der Financial District mit den Hochhaustürmen, und direkt vor ihr der Golden Gate Park. Sie liebte diese Stadt seit dem Tag, an dem sie hier angekommen war. Aber diese Brücke hier liebte sie auf eine ganz besondere Weise. Und die Bucht natürlich, die zu jeder Tageszeit ihren eigenen, immer anderen Zauber hatte. Vom Wasser stiegen bereits Nebelschwaden auf, noch schleierdünn, aber sie wusste, dass in einer Stunde, wenn die Sonne bis zum Morgen nur noch Erinnerung sein würde, die roten Brückenpfeiler in einem Bett aus Zuckerwatte stehen würden. Zuerst würde sie das Wasser nicht mehr sehen können, dann würden die Nebel langsam ihre kalten Finger nach der Brücke ausstrecken und sie dann liebevoll umfangen. Diese Momente liebte sie, wenn die Brücke in den Wolken zu schweben schien, wenn ihre sonnenbeschienenen Stahltrossen und Träger aus einem wogendem Nichts heraus ihre harmonischen Bögen bis in die Unendlichkeit streckten. Oder den Moment, wenn die Dämmerung heraufzog und sie auf das Lichtermeer ihres San Francisco sah, wenn die roten Rücklichter der Autos wie Blut in die eine, die Scheinwerfer wie Funken die andere Richtung flossen, ein harmonischer lautloser Reigen, einer der vielen zauberhaften Einblicke, die diese Stadt gewährte. Es waren diese Momente, die Gedichte in ihr entstehen ließen, spontan, ganz ohne ihr Zutun. Sie sammelte sie in ihrem Herzen für die Zeiten, in denen sie den Trost der Erinnerung brauchte. Wenn sie nach Hause kam, schrieb sie sie auf, ja, aber nicht, um sie zu verkaufen. Sie wusste, dass niemand außer ihr sie je zu sehen bekommen würde, aber die Worte, die Bilder darin und die Gefühle, wärmten sie, wenn sie es am dringendsten brauchte.

Jessie Grant fröstelte und bohrte ihre Fäuste tiefer in die Taschen ihres grauen Sweaters. Es war kühl geworden auf ihrem bevorzugten Aussichtsplatz und sie hatte nicht daran gedacht, eine Jacke mitzunehmen. Aber den Moment, an dem die Sonne unterging, wollte sie noch abwarten. Sie liebte Sonnenuntergänge. Unheilbar romantisch sah sie darin ein Symbol für all das, was erstrebenswert, aber meist unerreichbar war: Liebe, Glück, Vertrauen und Sicherheit. Sie bezweifelte, dass es für jemanden wie sie etwas davon geben würde. Für sie gab es nur Träume; träumen jedoch durfte sie und sie tat es ausgiebig. Sie träumte Gedichte voller Licht und Harmonie und Geschichten voller Liebe und Vertrauen, wissend, dass es Tagträume bleiben würden, aber für den Moment waren sie Trost und Halt und Gott wusste, dass sie beides brauchte.

Jessie stopfte eine vorwitzige Haarsträhne unter die Kapuze ihres Sweatshirts und zog die Kordel fester zusammen. Der Wind war eisig und langsam bekam sie auch Hunger. Seit mehr als fünf Stunden stand sie hier oben auf der Golden Gate Brücke, länger als sonst, wenn sie hierherkam, um nachzudenken. Dies war der Platz, den sie als den ihren betrachtete, seit sie vor zwei Jahren in dieser Stadt angekommen war, mittellos, lediglich mit einer Reisetasche voller Erinnerungsstücke und voller Hoffnung, ein neues Leben beginnen zu können. Sie hatte Arbeit gefunden, schneller und leichter, als sie es sich in ihren kühnsten Träumen ausgemalt hatte. Ein kleines Schild an einem der Läden im Mission District hatte darauf hingewiesen, dass jemand gesucht wurde, der Bücher liebte. Auf einem ihrer ersten nächtlichen Streifzüge hatte sie das Schild gesehen. Ein Buchladen. Nicht besonders groß, nicht aufsehenerregend, eher unscheinbar. Nicht einmal Schaufenster gab es, der Laden musste einmal eine Kellerwohnung gewesen sein. O’Grady’s Books stand auf einem Schild über der hölzernen Eingangstür. Als das Schild eine Woche später immer noch im Fenster hing und ihre Ersparnisse auf einen kläglichen Rest zusammengeschrumpft waren, hatte sie sich endlich überwunden und war in den Laden gegangen, um nach dem Job zu fragen. Jessie lächelte traurig. Wie hatte eine Sache, die so wunderbar begonnen hatte, so schrecklich enden können?

Damals hatte sie zum ersten Mal den melodischen Dreiklang der alten Ladenglocke gehört. Der süß-dumpfe Duft nach altem Papier und Leder, gemischt mit Pfeifentabak und jenem Geruch, der alten Gebäuden anhaftete, die undefinierbare Mischung aus Feuchtigkeit und Zeit hatte sie vom ersten Moment an geliebt, weil er so anheimelnd gewesen war. Sie schloss die Augen, um die Tränen zurückzuhalten. Aber das machte alles nur noch schlimmer. Sie sah wieder alles vor sich, so wie es an jenem sonnigen Vormittag im August vor zwei Jahren gewesen war:

Der Laden war nicht so klein gewesen, wie es von außen den Anschein gehabt hatte. Er musste wirklich einmal eine Wohnung gewesen sein, es gab keinen Verkaufsraum, sondern mehrere verwinkelte kleine Räume und Gänge, jeder randvoll mit dunklen Holzregalen, jedes einzelne bis zur Decke reichend und überladen mit alten und neuen Büchern.

Während sie versuchte, sich zurechtzufinden, ohne ein Geräusch zu verursachen, das O’Grady in seiner Ruhe stören hätte können, hatte O'Grady ihre Anwesenheit anscheinend völlig vergessen gehabt. Er war völlig in seinen Folianten vor sich an seiner Theke vertieft gewesen. Die einzige Ordnung in seinem Laden war wohl die, dass O’Grady nichts anderes als Bücher verkaufte. Aber die waren weder nach Autoren noch nach Sachgebieten oder nach irgendwelchen erkennbaren Kriterien geordnet. Sie schreckte auf, als ein Auto mit schrillem Hupen an ihr vorbeifuhr. Es war wieder kalt, sie war allein und hatte die Arbeit verloren, die sie liebte und sie hatte immer noch keine Ahnung, warum. Sie hatte Angst. Wovon sollte sie leben? Was war, wenn sie ihre Miete nicht mehr bezahlen konnte?

 

*

Er war bereits zweimal an dieser Stelle vorbeigefahren und hatte am Rande registriert, dass jemand dort stand. Es war zu kalt, um auf der Golden Gate Brücke herumzustehen, nur um des Vergnügens willen. Hatte er die stille Gestalt beim ersten Mal nur unbewusst registriert, hatte er sie beim zweiten Vorbeifahren bewusst angesehen. Sie stand ganz still und verloren immer noch an der gleichen Stelle und der beißende Wind zerrte an der viel zu weiten Sportkleidung. Die kleine Gestalt hatte etwas Verlorenes, Trauriges. Ein Junge, vierzehn, höchstens fünfzehn und er stand bestimmt nicht so lange da, weil er gerne Abgase einatmete. Sein erstes Rendezvous vielleicht und sie hatte ihn versetzt. Kein Wunder, dass er deprimiert aussah.

Er hatte die Stelle gerade passiert, inzwischen vollständig davon überzeugt, dass nicht jeder Passant ein potentieller Selbstmörder war, auch wenn er erbarmungswürdig aussah, als ein ungutes Gefühl ihn noch einmal den Kopf wenden und erkennen ließ, wie sich seine gerade aufgelösten Befürchtungen zu bewahrheiten drohten. Gerade noch hatte der Junge ruhig in die Ferne gestarrt, im nächsten Augenblick zog er sich am Geländer hoch und beugte sich darüber. Mit einem Fluch riss Julian den Lenker scharf herum und fuhr quer über die Gegenfahrbahnen, riss das Vorderrad hoch und kam auf dem Gehweg zu stehen, gerade als der Lebensmüde von den Bremsgeräuschen der geschnittenen Verkehrsteilnehmer und das plötzliche, wilde Hupen erschreckt seinen Griff löste.

Julian griff blindlings zu, erwischte eine Handvoll Sweater und zerrte den überraschend leichten Körper mehr rasch als zartfühlend aus der Gefahrenzone.

„Was zum Teufel denkst du dir dabei?“ donnerte er.

Erschrockene dunkle Augen starrten ihn aus einem blassen Gesicht an, ein aufgerissener Mund formte einen unhörbaren Schrei. Sein Gefangener versuchte panisch, sich aus seinem Griff zu winden. Viel konnte er nicht gegen ihn ausrichten, dafür war er zu schmächtig, aber nach einem Blick auf sein Gesicht verstärkte der Kleine seine Bemühungen in einem Maß, das nur mit extremer Panik erklärbar war.

Julian hatte eine dreitägige Sauftour hinter sich und stank nach Schweiß, Sex und Alkohol. Er war sich dessen so wenig bewusst, wie der Tatsache, dass er in der gesamten Zeit weder eine Dusche noch ein Rasiermesser zu Gesicht bekommen, geschweige denn benutzt hatte. Er hatte ein rotes Bandana nach der Art der Biker um seinen Kopf geschlungen, darunter lugte ein goldener Ohrring und verschwitzte lange Haarsträhnen hervor. Die Anspannung hatte sein Gesicht verzerrt und das Zappeln des unbelehrbaren Selbstmordkandidaten in seinem Griff war auch nicht dazu angetan, seine Stimmung zu verbessern.

„Wie heißt du?“ herrschte er ihn an.

 

Sein ungepflegtes Äußeres zusammen mit der Tatsache, dass er ihr mit seinem Bike fast in die Hacken gefahren war, hätte auch ein weniger ängstliches Mädchen freiwillig in die Bucht springen lassen. Jessie hatte diese Wahl nicht. Der Mann war furchterregend, eine große, breite Gestalt in schwarzem Leder mit einem leuchtend roten Piratentuch. Seine schwarze Sonnenbrille verbarg seine Augen, aber sie spürte, wie sein stechender Blick sich durch ihre Augen bis in ihre Gedanken bohrte. Sein Mund war eine harte Linie inmitten eines ungepflegten Bartgestrüpps und über dem Steg seiner Sonnenbrille standen zwei tiefe, senkrechte Falten. Ein Pirat. Sie warf sich herum, wollte weg, so schnell und so weit, wie möglich, aber er hatte ihre Absicht wohl erkannt und umklammerte ihren Oberarm mit seiner Pranke so fest, dass die Spuren davon wohl noch in einer Woche zu sehen sein würden. Und er war wütend. Ungeheuer wütend.

Sie starrte ihn mit offenem Mund an. Wenn sie die Wahl gehabt hätte, wäre sie lieber über das Geländer in die Bucht gesprungen, als sich dieser massiven, körperlichen Bedrohung auszusetzen. Aber diese Wahl ließ er ihr nicht.

„Nun?“

Ein nachdrückliches Rütteln an ihrem Arm unterstrich seine Ungeduld. Seine Faust, die den Stoff zermalmte, war riesig. Er war riesig.

„Mouse“, flüsterte sie. Ob er sie bei dem Rauschen des Verkehrs nicht verstehen konnte oder ob ihm das als Information nicht ausreichend war, konnte sie nicht erkennen, nur schien es ihn nicht gnädiger zu stimmen. Seine Brauen schoben sich ein Stück weiter zusammen und die beiden senkrechten Falten dazwischen schienen sich noch tiefer in seine Stirn zu graben.

„Eigentlich, Jessie“, beeilte sie sich zu erläutern. „Aber die meisten nennen mich Mouse.“

„Also gut, Jesse.“

Die Brauen verschwanden wieder unter seiner Sonnenbrille und die Falten waren zwar noch erkennbar, aber deutlich weniger tief. Vielleicht würde er doch nicht sofort gewalttätig werden.

„Ich tu dir nichts, also hör auf zu zittern. Aber du wirst jetzt auf dieses Bike klettern und dann bringe ich dich zu deinen Eltern. Wo wohnst du?“

„Ich kann allein gehen.“

„Wenn du klug bist, antwortest du nur und widersprichst nicht.“

Nach einem Blick auf die wieder dichter zusammengezogenen Brauen des Piraten nahm Jessie den Rat als den besten an, den sie an diesem Tag erhalten hatte. Was war schon eine kurze Fahrt mit dem Motorrad gegen eine Tracht Prügel. Dafür, dass diese Fahrt kurz sein würde, konnte sie selbst sorgen, an der nächsten Kreuzung würde sie abspringen und davonrennen. Bis er das schwere Motorrad abgestellt hatte, war sie längst über alle Berge.

„Mi... Mission.“

Er stieg auf sein Bike, aber ihr Hoffnung, dass er sie losließ erfüllte sich nicht. Nach einem nachdrücklichen Zerren an ihrem Arm kletterte sie unbeholfen hinter ihm auf den Soziussitz. Die Maschine strömte eine angenehme Wärme aus und ebenso sein Körper selbst durch seine Lederkleidung. Seine Hand zerrte ihre Arme nach vorn über seine Taille und drückte sie in der Position fest, die er für einen Beifahrer wohl als angemessen und richtig ansah. Er drehte den Kopf zu ihr zurück und knurrte etwas, das dem Tonfall nach eine Frage war. Sie verstand durch das Rauschen des Verkehrs nichts, entschied jedoch schnell, dass eine zustimmende Antwort auf jeden Fall die ungefährlichere war und nickte. Darauf brach um sie ein dröhnendes, vibrierendes Inferno aus. Die Höllenmaschine setzte sich in Bewegung, jedoch ohne ihr mit dem befürchteten Ruck die Arme aus den Gelenken zu reißen. Trotzdem klammerte sie sich ängstlich an ihrem barbarischen Entführer fest, drückte ihr Gesicht an seinen mit eiskaltem Leder bedeckten Rücken und hoffte auf eine schnelle Gelegenheit zur Flucht. Der Fahrtwind trieb ihr die Tränen in die Augen. Sie blinzelte sie weg. Das Höllengefährt machte einen Lärm, dass die ganze Welt dahinter verschwand. Nicht nur das, das Dröhnen schien sich durch jede Faser ihres Körpers fortzusetzen. Angespannt und auf den günstigsten Augenblick hoffend verfolgte Jessie den Weg der rasenden Bestie durch den Feierabendverkehr. Der Wahnsinnige schien Vergnügen daran zu finden, zwischen langsamer fahrenden Verkehrsteilnehmern hindurch Slalom zu fahren und ihr damit noch rasch ein Bein abzureißen, bevor er ihr endgültig den Garaus machte.

Jessie hatte Todesangst. Sie war ohnehin bis auf die Knochen durchgefroren und der eisige Fahrtwind machte ihre klammen Finger innerhalb kürzester Zeit völlig gefühllos. Jeden Moment würde sie sich nicht mehr halten können und zwischen die dicht aufeinanderfolgenden Autos stürzen, die dann nicht mehr rechtzeitig bremsen konnten. Ein Unfall, würde der Pirat der Polizei sagen, sie hat plötzlich losgelassen. Unbekannte weibliche Leiche würde im Obduktionsbericht stehen und als Todesursache ein paar lateinische Ausdrücke - Aphorismen für die unappetitlichen Details. Und wenn sie nicht auf der Straße starb, drohte ihr ein noch schlimmeres Schicksal. Er war gewalttätig, sein Griff hatte es zur Genüge bewiesen. Wenn es ihr nicht gelang, vor dem Mission Distrikt zu fliehen, wo er unweigerlich anhalten und sie nach ihrer Adresse fragen würde, war es garantiert um sie geschehen.

Er hatte wohl nicht mit einem Fluchtversuch gerechnet, denn am Ende war es ganz einfach. Eine Ampel gab ihr die Gelegenheit dazu und sie nutzte sie. Sie hatte sich bereits in dem Moment bereitgemacht, als der Verkehr zu stocken begann. Der Pirat versuchte, sich zwischen den haltenden Wagen durchzuschlängeln, doch eine Kreuzung war auch für Piraten nur bei Grün zu überwinden. Es war eine Sache von einer Sekunde, sich vom Soziussitz zu schwingen und eine von zwei weiteren, sich zwischen den wartenden Autos durchzuschlängeln und sich hinter eines davon zu ducken. Sie hörte noch sein Brüllen, aber sie wagte es nicht, zurückzusehen und lief geduckt über die Straße zu einem Haus mit einer offenen Eingangstür. Sie huschte hinein, duckte sich in den Schatten und beobachtete, wie er wilde Blicke um sich werfend, den gesamten Verkehr aufhielt, weil er sich weigerte, weiterzufahren. Für einen panischen Moment glaubte sie, seinen Blick auf sich zu spüren, aber es war dann doch nur die Angst, die ihr dieses Gefühl eingegeben hatte, denn er fuhr weiter. Erst, als sie sicher war, dass er nicht wieder auftauchen würde, verließ sie ihr Versteck und machte sich auf den Heimweg. Sie wagte es nicht, die Cable Car-Linie zu benutzen, die fast vor ihrer Haustür hielt, deswegen dauerte es lange, bis sie vor dem Haus im der ruhigen Straße im Castro-Bezirk ankam, aber die lange Jogging-Strecke war ein geringer Preis dafür, dem Piraten entkommen zu sein. Er hatte ihr entsetzliche Angst eingejagt. Gewiss, sie hatte schon oft Angst gehabt in ihrem Leben, eigentlich gab es keinen Tag, an dem sie davon frei gewesen war, aber das Gefühl, das sie an diesem Tag kennengelernt hatte, war anders, eine ganz eigene Erfahrung von Angst. Körperlicher. Dunkler. Mysteriöser. Dabei hatte sie geglaubt alles über Angst zu wissen.

Ihre Hände zitterten so sehr, dass sie kaum den Schlüssel ins Schlüsselloch bekam. Erst nach einer heißen Dusche und einem Imbiss wurde sie etwas ruhiger, aber selbst das Wissen um die beiden Sicherheitsschlösser und die zusätzliche Kette vermittelten ihr nicht die erhoffte Geborgenheit. Es war noch früh am Abend, aber die Aufregungen des Tages würden sie in dieser Nacht ohnehin keinen Schlaf finden lassen. In ihrer Situation wäre es das Vernünftigste, Stellenanzeigen zu lesen, um gleich am nächsten Morgen anrufen zu können. Es würde sie auf andere Gedanken bringen; sie musste sich nur die Zeitungen holen, die, wie immer am Fuß der Treppe lagen. Aber bereits der Gedanke daran, sie relative Sicherheit ihrer Wohnung zu verlassen, ließ sie nach Ausreden suchen. Es wäre ohnehin zu spät. Interessante Stellen waren bereits seit dem Morgen vergeben, die anderen, diejenigen, die für sie infrage kamen, würden auch noch am Abend des nächsten Tages offen sein – und am Tag darauf auch.

 

*

Der kleine Kerl hatte ihn abgezogen!

Julian hatte seine Lederjacke bereits drei Mal durchsucht, er hatte in seinem Appartement alles durchsucht und jetzt klopfte er zum vierten Mal alle Taschen ab, aber da war nicht mehr als eine alte Tankquittung, zwei Kaugummis und ein Kondom, von dem er keine Ahnung hatte, wann um alles in der Welt er es eingesteckt hatte.

Seine Brieftasche und damit seine Kreditkarten waren weg und sein Smartphone fehlte auch. Er hatte getankt und mit einer Kreditkarte bezahlt. Das war vor, warte, ja, etwa vier Stunden gewesen und er wusste auch, dass er sein Mobiltelefon vor ein, zwei Stunden benutzt hatte, weil er eine Nachricht von Julie-Anne erhalten hatte, die ihm so gar nicht gefallen hatte. Julie-Anne war Model und die heißeste Frau unter der Sonne. Julie-Anne … Er schnaubte amüsiert. Julie-Annes Name und seiner ergaben so wunderbare Wortspiele und sie passten auch sonst zusammen, sie, der dunkle, exotische Typ und er, der blonde, nordische und wenn sie gemeinsam bei einem Event auftauchten, spielte die gesamte Presse verrückt. Mit ihren dunklen Locken und der zart gebräunten Haut entsprach sie absolut seinem Jagdschema. Sie waren sich darin einig, dass ihre Karriere vor einer Beziehung rangierte, jedenfalls jetzt und solange ihre Karrieren so gut liefen. Eine ernsthafte Beziehung, Ehe, Kinder - dafür war Zeit, wenn sie älter und ruhiger geworden, die Zukunft geregelt und die Gegenwart langweilig geworden war, also in zehn Jahren, vielleicht waren es ein paar mehr, ganz gewiss jedoch nicht weniger. Er war gerade achtundzwanzig geworden, also hatte er noch genug Zeit, seriös zu werden. Julie-Anne war zwei Jahre jünger und sie würde in zehn Jahren immer noch ein Top-Modell sein und fünfundzwanzig Lebensjahre zugeben, höchstens ein bis zwei mehr, aber bis dahin hätte er gerne ein paar heiße Nächte mehr mit ihr gehabt. Doch das schien nach der Nachricht, in der es lapidar hieß, es wäre keine gute Idee, wenn sie sich weiter träfen, fraglich. Was hatte sie bewogen, ihn abzuschießen, obwohl sie von ihrer Beziehung genauso profitierte, wie er? Mit dem Bassisten einer der derzeit angesagtesten Hard-Rock-Bands zusammen zu sein garantierte ihr die Aufmerksamkeit der Medien, also genau das, was ihren Marktwert zwar nicht großartig steigerte, ihr jedoch Aufmerksamkeit in den Kreisen sicherte, die mit Mode nichts am Hut hatten. Er im Gegenzug genoss die Gesellschaft einer Frau, die nicht nur überaus attraktiv war, sondern darüber hinaus intelligent und eine leidenschaftliche, unersättliche Geliebte. Liebte er sie? Er wusste es nicht. Er war lieber mit ihr zusammen, als mit anderen Frauen, aber er würde nicht darauf wetten, dass es in einem Monat oder einem Jahr noch genau so war. Im Moment genügte ihm das, was sie hatten. Julie-Annes Gefühle waren ähnlich flüchtig, auch sie machte kein Hehl daraus, dass sie sich nicht verlieben wollte.

„Ruf' mich an“, hatte sie mit ihrer dunkel-samtigen, etwas heiseren Stimme, die er unglaublich sexy fand, gesagt, als er morgens ihre Suite im Beverly Hills Hotel verlassen wollte. Es war eine leidenschaftliche Nacht und ein aufregender Morgen gewesen und er war nur gegangen, weil er zwei Stunden später einen Pressetermin mit der Band gehabt hatte. Er hatte eigentlich zurückkommen und die wenigen Stunden, die Julie-Anne noch in LA war, mit ihr verbringen wollen, aber dann waren er und Rafael so heftig aneinandergeraten, dass er wutentbrannt aus dem Berverly Wilshire gestürmt war. Er hatte nur vorgehabt, ein Stück mit seinem Bike zu fahren, ein bisschen Klarheit in seine Gedanken bringen, um dann zu entscheiden, ob er zurückfahren und Rafael den Kopf abreißen oder sich entschuldigen sollte, aber je länger er gefahren war, um so wütender war er geworden. Schließlich hatte er auf die Pressekonferenz gepfiffen und stattdessen die nächste Bar angesteuert. Wie es der Zufall wollte, war er auf ein paar alte Freunde getroffen und zusammen mit ihnen hatte er die Zeit vergessen, den Streit vergessen und auch Julie-Anne - bis sie sich mit der SMS wieder in Erinnerung gebracht hatte. Das war, ja, irgendwann gestern Abend gewesen, aber er war betrunken gewesen und es war ihm einerlei gewesen. Als er am Morgen wieder einigermaßen nüchtern gewesen war, hatte er die Bedeutung der Nachricht erst wirklich erfasst. Es konnte sich nur um ein Missverständnis handeln. Er hatte Julie-Anne angerufen, vielmehr hatte es versucht, aber er hatte nur ihre Mailbox erreicht. Am Tag nachdem sie sich morgens verabschiedet hatten, war sie zu einem Shooting nach Kapstadt geflogen und er wusste, dass sie immer noch dort sein musste. Er hatte genug Ahnung vom Model-Geschäft, um zu wissen, dass sie zu beschäftigt sein würde, um seinen Anruf zu jeder Tageszeit anzunehmen, aber er war es gewohnt, dass sie seine Anrufe so schnell wie möglich beantwortete. Nach acht Stunden noch nicht einmal eine SMS bekommen zu haben, hatte an seinem Selbstverständnis genagt und als er schließlich eine bekommen hatte, war sie gehalten gewesen, es in Grund und Boden zu hämmern. Aber er war ein großer Junge. Ein paar Drinks und einige Runden Poolbillard mit ein paar Freunden später war er bereit gewesen, um sie zu kämpfen. Er hätte das Problem inzwischen bestimmt schon aus der Welt geschafft, wenn ihm der kleine Kerl auf der Brücke nicht dazwischengekommen wäre. Was hätte er tun können? Ihn sehenden Auges in die Tiefe springen lassen? Unmöglich. Er hätte nichts anderes tun können, als ihn daran zu hindern. Er hatte dafür keinen Dank erwartet, aber dass der Kleine bei der ersten Gelegenheit geflohen war, hatte ihn doch überrascht. Schockiert, um präzise zu sein. In seiner Welt bedankte man sich, wenn einem geholfen wurde. Der Junge sah es anscheinend anders. Vielleicht war es seine Masche, vorzugeben sich in die Tiefe stürzen zu wollen und dann hilfsbereiten Mitmenschen die Taschen zu leeren. Wie hieß es doch immer so schön: Keine gute Tat bleibt unbestraft.

Aber der Kleine hatte sich den Falschen ausgesucht. Er würde sich sein Eigentum zurückholen und bei dieser Gelegenheit dem Kerl die Abreibung seines Lebens verpassen. Julian schnaubte abfällig. Wenn es wirklich seine Masche war, vorzugeben, sich umbringen zu wollen, dann würde er ihn wieder an der gleichen Stelle antreffen, vielleicht nicht gleich heute, aber morgen oder an einem anderen Tag. Das Problem war, dass er keine Ahnung hatte, wie der Kleine aussah. Die Kapuze seines übergroßen Sweaters hatte sein Gesicht im Schatten gelassen, deswegen hatte er nur kurz weit aufgerissene, dunkle Augen gesehen, ein spitzes Kinn und üppige, fast feminine Lippen. Es war zu wenig für eine eindeutige Identifikation, aber er war Musiker und er würde die Stimme des Jungen jederzeit wiedererkennen. Wenn er dafür jeden verdammten Tag jeden Touristen vor und auf der Golden Gate Brücke ansprechen musste, würde er es tun, um den Kerl zu finden: Mouse oder Jesse oder wie auch immer er wirklich hieß. Er würde ihn bis in das Loch verfolgen, in dem er sich verkroch.

Julian zerrte sich seine Kleider vom Leib und ließ sie auf dem Weg zum Badezimmer achtlos auf den Boden fallen. Er trat in die Dusche, einen Kubus aus freischwebend anmutenden Glasflächen, so groß, dass er für eine ganze Footballmannschaft ausreichend gewesen wäre. Als der erste eisige Wasserstrahl auf seine verschwitzte Haut traf, schnappte er nach Luft, aber dann war die Kälte angenehm und er ließ sich gegen eine der mattgrauen Glasflächen sinken und das Wasser die Spuren der Ausschweifungen der letzten Tage von seiner Haut spülen. In dem Maß, in dem er sich besser fühlte, wuchs sein Wunsch, die Sache zwischen sich und Julie-Anne in Ordnung zu bringen. Er würde verdammt sein, wenn er sich die Chance auf ein Wiedersehen von einem Kleinganoven torpedieren ließ. Er würde Julie-Anne anrufen und nicht lockerlassen, bis er sie überzeugt hatte, dass ihre Verbindung das Beste war, das ihnen beiden passieren konnte. Und gleich danach würde er sich um diese diebische Maus kümmern.

 

Letztendlich war alles viel einfacher gewesen, als er gedacht hatte. Julie-Anne war anscheinend geschmeichelt von seinen unermüdlichen Bemühungen, sie zu erreichen, denn nach seinem sechzehnten Anruf in vier Stunden nahm sie das Gespräch an. Sie war kurz angebunden, aber er ließ sich davon nicht abschrecken.

„Ich habe dich vermisst“, begann er das Gespräch. „Ehrlich, wirklich und unendlich“, erwiderte er auf ihr kurz angebundenes „Wirklich?“ Auf der anderen Seite der Leitung war es einen Augenblick still, dann hörte er einen Seufzer, ob aus Rührung, Erleichterung oder Verzweiflung konnte er nicht feststellen, aber er nutzte seine Chance und bestürmte sie mit Komplimenten und Liebesbezeugungen, bis sie schließlich lachte und ihn einen schrecklichen Schmeichler nannte. Er wollte sie nicht verlieren. Wann würde er wieder eine Frau wie sie finden, eine, deren messerscharfer Verstand es mit seinem aufnehmen konnte, eine, die seinen sexuellen Hunger verstand und befeuerte und die ihn, ein nicht zu unterschätzender Vorteil, nicht in die Ehefalle locken würde, einfach, weil sie ihre Freiheit zu sehr schätzte? Sie hatte ihm noch eine Chance gegeben, eine allerletzte, wie sie betont hatte, aber er wusste, wann er gewonnen hatte. Er würde für seinen Fehler bezahlen müssen, soweit kannte er Julie-Anne, aber das nahm er in Kauf. In Julie-Annes samtbraunen Augen zu versinken, war ihm Einiges wert. Seine Gedanken schweiften ab, er sah Augen, die dunkler waren, als Julie-Annes, voller Schatten und Geheimnisse und Angst. Er rief sich zur Ordnung. Er war überreizt und wütend. Dass er an den kleinen Dieb denken musste, war ganz natürlich, bedachte man, wie professionell er ihn ausgenommen hatte. So etwas ließ keiner gern auf sich sitzen.

Er lächelte grimmig. Jetzt, da er die Sache mit Julie-Anne geregelt hatte, konnte er sich seinem zweiten Problem widmen – und es so gründlich lösen, dass keine Fragen mehr offenblieben.

 

*

Hab‘ ich dich! Julian lächelte grimmig. Der Inhaber der kleinen Bäckerei war sich sicher gewesen, den Jungen gesehen zu haben, den Julian ihm beschrieben hatte und nicht nur das: Er war sich sicher gewesen, dass er irgendwo in der Gegend wohnte, weil er oft an den Wochenenden vorbeikam, meist sehr früh morgens, und einen Bagel oder ein Croissant kaufte. Es war ohnehin ein Wunder, dass sich überhaupt jemand nach der sparsamen Beschreibung, die er geben konnte, an den Jungen erinnerte. Name Jesse, nennt sich auch Mouse, dunkler Sweater, dunkle Hose, tief ins Gesicht gezogene Kapuze, blass, klein, schmächtig, dunkle Augen, spitzes Kinn, schnell, wie ein Wiesel – mehr an Beschreibung hatte er nicht aufzuweisen. Aber wer war er, sich zu beschweren, wenn es doch funktionierte?

„Sie wissen nicht zufällig, aus welcher Richtung er kam oder wohin er ging?“, hatte er gefragt, aber nur ein Schulterzucken geerntet. Aber es war ein Anfang gewesen. Er hatte in der Straße jedes Geschäft, jedes Restaurant und jedes Café aufgesucht und immer die gleichen Fragen gestellt, am nächsten Tag die in den angrenzenden Straßen und als er nicht weiterkam, hatte er Leute auf der Straße angesprochen. Es war ernüchternd gewesen, immer nur Kopfschütteln zu ernten, aber er hatte verbissen weitergemacht. Drei Tage später war traf er schließlich am westlichen Rand des Franklin Square auf eine Gruppe von Jugendlichen, die dort mit ihren Skateboards Kunststücke übten. Zunächst erntete er misstrauische Blicke, aber nachdem klar wurde, er sie nicht vertreiben wollte und ein paar anerkennende Worte für die Boards gefunden hatte, lockerte sich die Stimmung auf. Er stellte seine Frage ohne große Hoffnung auf Erfolg und sah Interesse, aber kein Erkennen auf den Gesichtern, als einer der Jungs, ein schmächtiger Kerl mit Dreadlocks und karierten Skatershorts zu einem viel zu weiten T-Shirt in neongrün, nickte und in Richtung Westen wies. „Ich wohne in der Guerrero und da habe ich einen, wie du ihn beschreibst, gesehen“, sagte er. Er grinste breit. „Ein paar Mal nachts, als ich mich 'rausgeschlichen habe. Komischer Typ, schleicht um die Ecken, als ob seine Mom ihn mit dem Besen im Anschlag verfolgt. Ich hab' ihn mal abgesprochen, aber da ist er gerannt, als ob die Höllenhunde hinter ihm her wären.“ Er grinste: „Oder eine Katze.“

Julian blieb noch ein paar Minuten, fachsimpelte, kritzelte seinen Namen auf Shirts, Boards und den einen oder anderen Unterarm und verabschiedete sich dann. Guerrero Street war ein weiterer Hinweis, aber weit entfernt von seinem ersten. Er konnte Monate suchen, ohne auch nur einen Schatten von Mouse zu sehen zu bekommen. Wenn er etwas erreichen wollte, musste er zum Tatort zurück, sprich, er musste die kleine diebische Elster in flagranti erwischen. Er schwang sich auf sein Bike und fuhr nach Hause. Dort tauschte er seine auffällige Harley gegen einen noch auffälligeren Spider. Als er aus der Tiefgarage kam, hatte sich dichter Nebel über die Stadt gelegt. Julian lächelte grimmig. Wenigstens hatte er ein Dach über dem Kopf, wenn er die nächsten Stunden am Fuß der Golden Gate Brücke Wache schob.

 

*

„Carl? Ich dachte ihr seid bis morgen in San Diego? Warte, ich schließe auf.“

Die Stimme war dunkler als tiefschwarzer Samt und so sanft und melodisch, wie ein Liebeslied, bis auf einen winzigen, spröden Nachklang, eine gebrochene Note am Ende, wie ein Schluchzer. Die weiche Modulation fand Widerhall irgendwo unterhalb seines Brustbeins. Etwas stimmte in der Tat nicht mit ihm - wieso sonst reagierte er so stark auf die Stimme eines diebischen Jungen? Immerhin war er hier richtig, diese etwas rauchige Resonanz erkannte er wieder. Er lächelte grimmig, gleich würde jemand eine Überraschung erleben. Ein Schlüssel drehte sich im Schloss, noch einer, dann wurde ein Riegel zurückgeschoben. Verständlich, dass der kleine Bursche ein so großes Sicherheitsbedürfnis hatte, betrachtete man die Profession, der er nachging.

Absolut sicher im Bewusstsein, dass sein Gegenüber die Tür, die er gerade bereitwillig zu öffnen im Begriff war, ihm ebenso schnell wieder vor der Nase zuschlagen würde, sobald er seiner ansichtig geworden war, machte sich Julian bereit, sich gewaltsam Einlass zu verschaffen. Betrachtete er es recht, erwartete er nicht nur, dass Mouse sich weigerte, die Tür zu öffnen, er freute sich regelrecht darauf, dass Mouse ihn zwang, die Tür aus den Angeln zu treten. Genau das wäre ihm am liebsten, es würde ihm eine gewisse Vorabbefriedigung verschaffen und dem jugendlichen Verbrecher einen Vorgeschmack auf das, was ihm bevorstand. Die Tür öffnete sich jedoch ohne Zögern.

Julian, der sich zum Sturm auf die Festung bereitgemacht hatte, konnte den Schwung, mit dem er sich Einlass verschaffen wollte, nicht mehr abbremsen und taumelte mitten hinein in das strahlendste Lächeln der Welt. Er stoppte abrupt und hielt sich im Türrahmen fest. Ohne jeden Zweifel, das war das Gesicht mit den hungrigen dunklen Augen und dem spitzen Kinn, das seit zwei Tagen einen Gutteil seiner Gedanken beschäftigt hatte. Jetzt enthüllte sich ihm, was die Sweater-Kapuze vor ihm verborgen hatte: langes, schwarzes, seidig glänzendes Haar, einen milchweißen Teint und zauberhaft gemeißelte Wangenknochen. Mouse war ein Mädchen! Unzweifelhaft! Entgegen jeder Vorstellung, die er sich von diesem Wiedersehen gemacht hatte und entgegen jeglicher Wahrscheinlichkeit und Logik stand er vor dem Traumbild einer Frau, die jeden Mann zum Niederknien veranlasst hätte. Sie schreckte nicht vor ihm zurück, sie schien zwar im ersten Moment überrascht, doch schien es eine angenehme Überraschung zu sein. Noch nie hatte er Augen wie ihre gesehen, dunkelblau und unergründlich wie die irische See, beschattet von langen, dunklen Wimpern und verborgenen Träumen. Und sie hatte Sterne in den Augen. Ihr Lächeln war die reine Verheißung, kirschrote Lippen wie Rosenblüten auf schimmernden Perlen - eine Zauberfee direkt aus einem der irischen Märchen, die ihm sein Kindermädchen immer vorgelesen hatte. Sie lächelte zu ihm auf, als habe sie ein ganzes Leben lang auf ihn gewartet.

Julian nahm die unausgesprochene Einladung an und zog sie n sich. Ihre Taille war so zierlich, dass seine Hand ihre gesamte Mitte bedeckte und sie war so zart und biegsam, wie eine Tänzerin. Und weich, sanft, nachgiebig. Er küsste sie. Ihre Lippen waren weich, zart wie Schmetterlingsflügel und genauso flüchtig. Einen Augenblick, nur einen Wimpernschlag lang, schwebte er im gleißenden Zentrum des Universums und es drehte sich nur um ihn, dann stieß sie ihn zurück und der Reigen der Sterne zersplitterte. Julian kam sich betrogen vor, als habe man ihm etwas entrissen, auf das er einen lebenslangen Anspruch gehabt hatte.

Den Bruchteil einer Sekunde lang sah er ihre weit aufgerissenen, erschreckten Augen, bevor sie floh. Julian folgte ihr wie im Traum. Aus der Richtung, in die sie gerannt war, hörte er Metall klirren und er folgte dem Klang. Entkommen würde sie ihm nicht, das Haus war schmal, die Dachwohnung entsprechend klein und durch die Dachschräge wirkte sie noch kleiner. Es duftete nach Blumen, Tomaten und Gewürzen. Ein Sofa mit einem kitschigen rosa-weißen Rosenbezug stand mitten im Raum, davor ein amateurhaft lackierter weißer Couchtisch. Zwei weiß lackierte Türen führten vom zentralen Wohnraum in andere Räume und am Ende des Wohnraums trennte ein Counter den Wohnbereich von einer kleinen Küche. Dort stand sie, in der Hand ein Fleischmesser so lang wie ihr Unterarm. Sie starrte ihn mit ihren dunklen Sternenaugen an. Das grelle Mittagslicht blitzte bedrohlich auf dem blanken Stahl, aber weder die Klinge, die direkt auf sein Herz zeigte, noch ihre trotzig-aufrechte Haltung ließen sie gefährlich wirken. Nicht einmal entschlossen. Eher verzweifelt. In die Ecke gedrängt. Panisch. Er ging auf sie zu, dabei suchte er verzweifelt nach Worten, die es ihm ermöglichten, sie zu beruhigen, aber noch bevor er eines davon herausbrachte, richtete sie das Messer gegen sich und hielt es sich an die Halsschlagader. Sie sprach kein Wort, zitterte nur wie Espenlaub und schien lediglich darauf fixiert, dass er den einen, den entscheidenden Schritt vorwärts machte, der es ihr unmöglich machte, etwas anderes zu tun, als ihm auf die einzige Weise zu entkommen, die ihr die gravierende Divergenz ihrer Körperkräfte ließ. Alles Blut in seinen Adern gefror.

„Mach keinen Unsinn, Mädchen“, flüsterte er.

Das hatte er nicht gewollt. Kein Fehler war es wert, dafür sein Leben wegzuwerfen. Ohne ihren Blick loszulassen, hob er betont langsam beide Hände, so dass seine Handflächen offen und in Schulterhöhe möglichst wenig an Bedrohung ausdrückten. Genau so behutsam tastete er sich Schritt für Schritt rückwärts, bis er annehmen konnte, die Distanz zwischen sich und Jessie gelegt zu haben, die ihrem Sicherheitsbedürfnis entsprach. So wie sie ihn ließ auch er sie nicht einen Moment aus den Augen. Julian versuchte die Situation daraufhin einzuschätzen, ob bei einer Kurzschlusshandlung ihrerseits für ihn die Chance bestand, mit einem entschlossenen Sprung das Schlimmste zu verhindern, doch diese Chance war verschwindend gering. Die Entfernung mochte bei jemandem ausreichen, der nicht absolut entschlossen war, aber Jessies Angst war zu deutlich, um Vabanque damit zu spielen. Irgendwann würden ihre angespannten Muskeln anfangen zu zittern, sie würde erkennen, dass sie ihre Drohkulisse nicht länger aufrecht halten konnte und dieses Wissen würde ihren Überlebensinstinkt besiegen. Dann würde ein winziges Zucken in ihre Richtung genügen, um eine Katastrophe auszulösen.

„Wir können über alles reden“, beschwor er sie.

„Gehen Sie!“

Ihre Stimme knirschte wie gemahlenes Glas. Angst. Nackte Angst. Zuviel Angst für seine Bedürfnisse. Er kannte sich in zwischenmenschlicher Psychologie nicht aus, hatte nie Interesse daran gehabt, da seine Beziehungen auf wundersame Weise auch funktionierten, ohne dass er sich Gedanken darüber machte, aber er fühlte instinktiv, dass ihre Panik zu groß war, dass bloßer Rückzug sie beruhigt hätte. Die Bedrohung, dass er zurückkam wäre für sie weiterhin latent vorhanden und selbst er wusste, dass Druck, der zu groß wurde, entweder Angriff oder Flucht auslöste. Er war nicht religiös, aber sein Stoßgebet um Weisheit und einen guten Plan kam aus tiefster Seele.

„Hör mal“, rief er, „jeder macht mal einen Fehler. Ich verstehe, dass du Angst hast, aber ich will dir nichts tun. Wenn du Geld brauchst, finden wir eine Lösung – aber mach um Himmels Willen keinen Blödsinn!“

„Gehen Sie!“

„Erst wenn du das Messer weglegst!“

Heftiges Atmen war der einzigen Antwort, die er bekam. Da vom Himmel auch keine Antwort auf sein Hilfeersuchen kam, entschied er sich, die Sache in seine eigenen, ungeübten Hände zu nehmen. In seiner Jugend hatte er recht erfolgreich Rugby gespielt und seit der Karriere als Bassist mehr als eine brenzlige Situation erlebt – sehr zu seinem Amüsement. In beiden Fällen war Überraschung das Mittel zum Erfolg gewesen. Was konnte jemanden überraschen, der in seiner eigenen Wohnung überfallen wurde? Wie konnte er Jessie dazu bewegen, zu reden, statt den endgültigen, nicht reversiblen Ausweg zu wählen? Was war der Schlüssel zu diesem Mädchen?

„Wenn du nicht weiterweißt, setz dich auf deinen Hintern und denk nach“, hatte seine Großmutter mütterlicherseits, die für ihre derbe Diktion berüchtigt war, immer gesagt. Zum ersten Mal in seinem Leben nahm Julian diesen Rat an. Er ließ sich auf den Boden nieder und kreuzte seine Beine im Schneidersitz.“

„Ich gehe, wenn wir geredet haben.“

Schweigen antwortete ihm. Sie stand mit dem Rücken zum Herd, eine Hand um die Kante der Arbeitsplatte gekrampft, die andere hielt das Messer. Der Ausschnitt ihres dunkelblauen, knielangen Kimonos klaffte auseinander, aber ihr langes schwarzes Haar verhüllte, was er vielleicht gezeigt hätte. Ihr Haar war aufsehenerregend, es floss wie ein mondbeschienener, nachtschwarzer Strom bis zu ihrer Taille. Er kannte Models, die für Haar wie dieses gemordet hätten. „Jessie?“

Langes Schweigen.

„Ich kann dich unmöglich mit diesem Messer allein lassen.“

War das ein abfälliges Schnauben, das er da hörte oder ein Schluchzen? Immerhin war es eine Reaktion.

„Warum gehen Sie nicht endlich? Ich weiß nichts von Ihrer Brieftasche und ich will mit Ihnen nichts mehr zu tun haben. Ich rufe die Polizei.“

Wenn sie ein Mobiltelefon greifbar gehabt hätte, hätte sie längst den Notruf wählen können. Sie hatte es nicht getan, was den Schluss zuließ, dass sie entweder keines hatte oder kein Bedürfnis hatte, den Hütern des Gesetzes näher zu kommen als unbedingt notwendig.

„Und dann?“ rief er. „Ich will nur mein Eigentum zurück. Leg' das verdammte Messer weg, gib' mir meine Brieftasche und das iPhone zurück und ich verschwinde. Keine Anzeige, keine Polizei, kein Aufsehen – was hältst du davon?“

Schweigen.

„Jessie?“

„Ich kann Ihnen nichts zurückgeben, was ich nicht habe. Warum glauben Sie mir nicht? Wie hätte ich das anstellen sollen? Ich wollte ja nicht einmal mit Ihnen fahren, Sie haben mich dazu gezwungen. Ich werde Sie wegen Kidnappings anzeigen, wenn Sie nicht sofort verschwinden.“

Die Verzweiflung in ihrer Stimme war deutlich. Sollte, konnte er ihr glauben oder war sie nur sehr gut, sich aus brenzligen Situationen herauszureden? „Gesetzt den Fall, ich glaube dir. Dann bleibt immer noch das Messer. Ich kann unmöglich gehen, wenn ich befürchten muss, dass du damit Blödsinn anstellst.“

„Blödsinn?“ Sie lachte. Eine Spur von Hysterie schwang darin mit, aber das war nicht verwunderlich. Es wäre verwunderlich gewesen, wenn sie es als normal aufgefasst hätte, in ihrer eigenen Wohnung überfallen zu werden. Immerhin war sie nicht in Tränen zerflossen, etwas, wofür er dankbar war. Und erleichtert.

„Na also. Einigen wir uns darauf, dass wir zusammen gelacht haben und jetzt beste Freunde sind. Also, wenn ich verspreche, nicht über dich herzufallen, könntest du dann das Messer auf die Arbeitsplatte legen? Am besten schiebst du es ganz weit von dir und dann reden wir. Okay?“

„Wie haben Sie mich gefunden?“

Es war, als hätte sie ihm nicht zugehört. Sein Charme hatte auch schon besser gewirkt. Aber jetzt war nicht die Zeit, darüber nachzudenken, was er hätte besser machen können. Er steckte bis zum Hals in Schwierigkeiten und musste versuchen, Jessie und sich selbst herauszureden. Reden konnte er. Seine Freunde sagten, er könne einen Felsen zum Schmelzen überreden. Er hoffte, dass sie seine Fähigkeiten richtig eingeschätzt hatten, sonst wusste er nicht, was er tun sollte.

Ihre Augen waren weit aufgerissen, aber fest auf sein Gesicht gerichtet, ihr kleiner, zarter Körper so angespannt, dass sie zitterte, auch die Hand, die das Messer hielt. Es schien ihr wichtig zu sein, zu wissen, wie er sie gefunden hatte, wichtiger jedenfalls, als zu wissen, wer er war oder warum er nicht einfach bei der Polizei Anzeige erstattet hatte. Er überlegte fieberhaft. Nichts sprach dagegen, ihr die Wahrheit zu sagen, nämlich dass er in den letzten beiden Tagen jeden einzelnen Brückenarbeiter und die Leute in der Überwachungszentrale der Brücke nach ihr, das hieß, nach einem Jungen mit ihrem Äußeren, ausgefragt hatte. Zu seiner Überraschung war sie keine Unbekannte für diese Leute gewesen. Ihre Aussagen bewegten sich zwischen „Kommt ziemlich oft, aber immer zu einer anderen Zeit“ bis zu „Netter Junge, steht immer an einer anderen Stelle“, aber allen Aussagen gemeinsam war, dass sie außer einem Nicken als Gruß nie zu jemandem gesprochen hatte. Und: Wie er hatte keiner gewusst, dass der nette Junge eigentlich ein Mädchen war. Er müsste völlig beschränkt sein, wenn er daraus nicht schloss, dass sich Jessie versteckte, vor dem Gesetz, ihren Eltern oder einem Ehemann oder Gläubigern oder jemandem, an den er im Traum nicht denken würde. Aber das war im Moment zweitrangig. Wichtig war, dass er sie nicht noch damit verunsicherte, wie einfach es im Grunde gewesen war, sie aufzuspüren.

„Es war ein Zufall. Ich habe dich auf der Straße gesehen und bin dir gefolgt. Dann habe ich mich durch die Geschäfte der Gegend gefragt.“

Wieder Schweigen. Sie gehörte wirklich nicht zur mitteilsamen Sorte.

„Hör zu, Jessie. Ich bin wirklich nicht der Teufel, ich will dich weder ermorden noch will ich dich vergewaltigen. Ich bin ein ganz normaler Mann, der im Moment keine Ahnung hat, was er tun oder sagen soll. Vielleicht fangen wir ganz am Anfang an: Sag' mir doch einfach, was du auf der Brücke wolltest. Ich habe dich dort stehen sehen, als ich in die Stadt fuhr. Als ich etwas später zurückkam, standst du immer noch da und ich wunderte mich. Schließlich war es verdammt kalt. Dann fingst du an, dich am Geländer hochzuziehen und ich befürchtete, dass du dir etwas antun wolltest.“

„Ich wollte den Nebel unter der Brücke besser sehen können.“

Julian lächelte erleichtert. „Ich entschuldige mich in aller Form für meine Fehleinschätzung. Verzeihst du einem alten, übervorsichtigen Mann, dass er dich gezwungen hat, mit ihm zu fahren?“

„Gehen Sie, wenn ich es tue?“

Ohne seine Brieftasche, ohne die Scheckkarten und das iPhone und mit mehr Fragen als Antworten? Ein vorsichtiger Blick auf Jessie zeigte ihm, dass sie sich keine Spur entspannt hatte. Was auch immer sie vor ihm verbarg, er würde es heute nicht herausfinden. Julian wusste, wann er geschlagen war. Es war an der Zeit, sich zurückzuziehen und seine Truppen neu zu ordnen.

Er erhob sich langsam und tastete sich Schritt für Schritt rückwärts zur Eingangstür zurück, beide Hände in Schulterhöhe und mit den Handflächen zu ihr. Fast an der Tür begann er gerade, sich zu entspannen, als sein Blick in einen Spiegel fiel. Ein Wilder mit verfilztem Haar, das ihm in langen, fettigen Strähnen ins bärtige Gesicht fiel, starrte ihn daraus an. Kein Wunder, dass sie geglaubt hatte, er wolle ihr ans Leben. Er zögerte. Sollte er zurückgehen und versuchen, die davon zu überzeugen, dass er nicht so schlimm war, wie er aussah? Doch dann schüttelte er den Kopf. Wenn möglich, würde er damit alles noch schlimmer machen. Jessies Gesicht tauchte hinter dem Türrahmen zu der kleinen Diele auf. Sie beobachtet jeden seiner Schritte mit angstvoller Aufmerksamkeit. Als er die Eingangstür hinter sich ins Schloss zog, atmete er auf, wissend, dass seine Erleichterung nichts war im Vergleich mit ihrer.

 

Kapitel 2

Die Türklingel riss Jessie aus dem Schlaf. Sie sah auf ihren Wecker. Neun Uhr? Das bedeutete, dass sie gerade einmal zwei Stunden geschlafen hatte. Seit drei Tagen arbeitete sie bis Mitternacht als Küchenhilfe in einem Restaurant. Wenn ihre Schicht endete, füllte sie in einem Supermarkt Regale auf und putzte in zwei Bäckereien, bevor sie nach Hause ging. Carl und Seymour waren es bestimmt nicht, sie waren längst im Nebenhaus, wo Carl seine Anwaltskanzlei und Seymour seine Psychologie-Praxis hatte, bei der Arbeit. Für sie war es einfacher, anzurufen, als bei ihr zu klingeln. Der Briefträger? Sie erwartete kein Paket, kein Päckchen, nicht einmal eine Rechnung. Fakt war, dass der Briefträger nicht einmal wusste, dass sie existierte. Ihr Briefkasten war lediglich das Sammelbecken für sämtliche Werbeflyer der Gegend und die Post, die in Carls Briefkasten keinen Platz mehr fand. Sie hatte auch schon eines Morgens einen angebissenen Hamburger darin gefunden. Aber es konnte ein Handwerker sein. Deshalb wohnte sie ja in diesem Haus, als Mädchen für alles und Aufpasser, solange die Renovierungsarbeiten andauerten, die aus einem heruntergekommenen Geschäftshaus ein gemütliches Wohnhaus machten, in dem die beiden einziehen wollten.

Sie griff ihren Kimono vom Fußende ihres Bettes und warf ihn sich über. Im Gehen verknotete sie den Gürtel und strich ihr Haar aus ihren Augen. Sie flocht es für die Nacht immer zu einem Zopf, aber die Flechten lösten sich im Lauf der Nacht immer auf und morgens sah sie aus wie eine Vogelscheuche. Auf nackten Füßen huschte sie zur Tür. Sie sah durch den Spion. Was sie zu sehen bekam war ein Meer von zartrosa Rosen, gerade aufgeblüht und so viele, dass sie das ganze Blickfeld des Spions ausfüllten.

„Ihr seid verrückt. Mein Geburtstag war doch schon.“

Sie riss die Tür auf, doch der Mann hinter dem Strauß war nicht Carl. Es war auch nicht Seymour und auch nicht Oliver, der Bote des Blumenladens am Ende der Straße. Sie sprang zurück und versuchte, die Tür zu schließen, doch der Mann hinter den Blumen stellte blitzschnell einen Fuß in die Tür. Als sich der Strauß senkte erkannte sie ihn: Es war der Pirat. Sie wusste es genau, obwohl er an diesem Morgen anders aussah, als an dem Tag, an dem er sie entführt hatte. Sein Gesicht war glattrasiert und sein Haar hing ihm nicht ins Gesicht, sondern war aus seiner Stirn zurückgekämmt und fiel in weichen Wellen über seine Schultern. Sie hatte sein Haar als dunkel in Erinnerung, aber jetzt sah sie, dass es alle Schattierungen von goldbraun bis elfenbeinweiß aufwies. Auch seine Augen waren nicht nur braun, es sah aus, als ob goldene Funken darin tanzten. Es waren wunderschöne Augen und für einen Moment verspürte sie das verrückte Verlangen, sich in dem goldenen Braun zu verlieren, alles zu vergessen, alles zu riskieren, aber sie riss sich vor dem Abgrund zurück.

„Sie!“, brachte sie heraus.

„Ja ich.“

Seine Stimme war so, wie sie sie in Erinnerung hatte, samtig mit dem Hauch eines unbekannten Akzents, eine dunkle Vibration in ihrem Innern, tief drinnen unter ihrem Brustbein. Er breitete die Arme aus und lächelte breit. Es gelang ihm, trotz der an und für sich lächerlichen Haltung mit der Bäckertüte in der einen und den Blumen in der anderen Hand überhaupt nicht lächerlich zu wirken. Eher rührend. Oder ... Jessie suchte angestrengt nach dem passenden Begriff. Worte waren ungemein wichtig. Für alles gab es das richtige Wort. Es zu suchen war ihr ein Bedürfnis, es zu finden eine Freude, gab es ihr doch das Gefühl, ein weiteres Stück im Puzzle ihres Lebens gefunden und heimgebracht zu haben.

„Hey, ich bin völlig harmlos“, unterbrach seine Stimme ihre Grübelei, gerade als ihr das ultimative Wort auf der Zunge gelegen hatte. Jessie blinzelte. Es war irgendetwas zwischen unverschämt aufregend und wahnsinnig gutaussehend gewesen. Oder war es eher wahnsinnig aufregend gewesen? Aber harmlos? Das war er ganz gewiss nicht. Zwar machte er einen zivilisierteren Eindruck als bei ihrer letzten Begegnung, aber das bedeutete gar nichts. Seine hellbraune Lederjacke war, anders als der grobe schwarze Panzer, an den sie sich geklammert hatte, als er sie auf seinem Motorrad entführt hatte, von bester Qualität und schmiegte sich über seine Schultern wie helle Schokolade an einen Donut. Darunter trug er ein dunkelblaues Shirt mit Knopfleiste, deren oberste drei Knöpfe offenstanden und ihr einen flüchtigen Blick auf die gebräunte Haut über seinen Schlüsselbeinen gewährte. Harmlos? Jessie bezweifelte, dass dieser Mann eine Vorstellung von der Bedeutung des Wortes hatte, ihrer Definition entsprach er definitiv nicht. Sie stemmte ihre Schulter gegen die Tür und versuchte, sie ins Schloss zu drücken, aber sein Stiefel stand felsenfest. Angst stieg in ihr auf, gleichzeitig heiß und kalt und so lähmend, dass ihre Beine unter ihr nachzugeben drohten. Ihr Herz trommelte ein wildes Stakkato gegen ihre Rippen und sie atmete heftig, weil ihre Lungen nicht genug Sauerstoff zu finden schienen.

„Ich habe Ihre Brieftasche nicht gestohlen“, keuchte sie, während sie sich mit ihrem ganzen Gewicht gegen die Tür stemmte. „Ich weiß nicht, wo sie sein könnte. Ich weiß es wirklich nicht. Bitte glauben Sie mir doch!“

Ihre Stimme zitterte und es war ihr unendlich peinlich, dass sie es nicht verhindern konnte. Aber was erwartete sie? Sie war ein Feigling, war es immer schon gewesen.

„Ich weiß“, antwortete er. Er hob beide Hände, als ob er ihr zeigen wollte, dass er keine Bedrohung war, aber sein Fuß blieb da, wo er war. Rosen und Gebäck waren keine Waffen, Rachsucht schon. Sie umklammerte den Türgriff fester und stemmte sich weiter gegen die Tür.

„Ein Freund hat sie gefunden und mir zurückgegeben. Ich möchte mich in aller Form für meinen Übergriff gestern entschuldigen.“

Die Erleichterung überfiel sie wie eine riesige, eiskalte Woge, so stark und so kalt, dass sie zitterte, wie ein Blatt im Wind und ihre Hände, die den Türknauf hielten, keine Kraft mehr hatten.

„Das ist schon in Ordnung. Auf Wiedersehen“, stieß sie hervor. Mit letzter Kraft versuchte sie, seinen Fuß mit ihrem zurückzudrücken, aber sie war barfuß und er trug schwere Stiefel und schien es noch nicht einmal zu bemerken.

„Wenn du die Tür ein kleines Bisschen weiter öffnest, wäre ich imstande, dir die Blumen durchzureichen.“ Seine Stimme klang amüsiert, kein bisschen wütend und auch nicht angestrengt, betrachtete man, dass er versuchte, sich gewaltsam Zutritt zu ihrer Wohnung zu verschaffen. „Sei gnädig und komm mir ein wenig entgegen. Ich habe wenig Übung darin, zerknirscht zu sein und ich denke nicht, dass ich mich daran gewöhnen möchte.“

„Sie müssen nicht zerknirscht sein. Gehen Sie einfach und ich rufe nicht die Polizei.“

„Ich möchte mich nur für mein grobes Verhalten entschuldigen. Am Sonntag war ich einfach nicht ich selbst. Ich hatte genug Probleme, um genug vom Leben zu haben und vielleicht dachte ich deshalb, dass du von der verdammten Brücke springen wolltest. Und als ob das nicht genug wäre, vermisste ich, nachdem du mich so abrupt verlassen hattest, meine Brieftasche. Ich hätte nachdenken sollen - aber ...“ Er hob beide Schultern, ließ sie mit einem Seufzer wieder fallen und grinste zerknirscht: „... das habe ich nicht getan. Und gestern war ich einfach überrascht.“

„Überrascht?“

„Ich hatte einen

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Tag der Veröffentlichung: 07.02.2015
ISBN: 978-3-7438-8025-2

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