„Aufstehen, die Sonne lacht und du hast lange genug geschlafen!“
Die fröhliche Stimme riss Warren Denning aus todesähnlichem Schlaf. Er knurrte. Für eine Antwort, selbst für die der Störung angemessene Verwünschung, fehlte ihm die Kraft. Alles, was ihm an Energie noch verblieben war, benötigte er, um die Millionen glühender Adern in seinem Schädel daran zu hindern, jetzt und sofort zu zerbersten.
„Verschwinde“, stöhnte er, als rohe Hände das Laken von seinem Körper zerrten. Die Luft war kalt und sie biss in seine Haut wie ein Raubtier in rohes Fleisch.
„Die Dusche wartet, und eine Kanne Kaffee. Schwarz und heiß wie die Hölle und wenn du brav bitte sagst, bekommst du sogar Zucker“, lockte der sadistische Folterknecht.
Warren versuchte, ein Auge zu öffnen, um erkennen zu können, wer dieser rohe Mensch war und ob er sich tatsächlich so amüsierte, wie es sich anhörte.
„Oh, du bist das!“
Er hatte kaum noch eine Erinnerung an die vergangene Zeit, aber dass Chris Delaire der Sadist war, der ihn in den Pool geworfen hatte, daran erinnerte er sich. Gut, er hatte ihn auch wieder herausgefischt, aber das war schließlich nicht mehr, als man erwarten konnte. Irgendwann würde er sich revanchieren. Sobald er die Augen mehr als nur einen Spalt weit öffnen konnte. Sobald seine Zunge nicht mehr wie ein dicker, pelziger Wurm an seinem Gaumen klebte. Sobald es ihm gelungen war, das Inferno in seinem Schädel soweit einzudämmen, dass sein Gehirn nur noch auf kleiner Flamme brutzelte. Sobald er überhaupt wieder etwas Ähnliches war, wie ein menschliches Wesen. Im Moment wollte er nicht zu genau darüber nachdenken, was er war.
Mühsam rappelte er sich auf und kauerte sich auf der Bettkante zusammen. Mit beiden Händen versuchte er, seine Schädeldecke daran zu hindern, zu zerplatzen.
„Trink das, dann geht es dir gleich besser.“
Ein hohes Glas, gefüllt mit einer gelbbraunen Flüssigkeit, erschien vor seinen Augen. Der Geruch von Zitrone und etwas scharfem, pfeffrigen, reizte seine Nasenschleimhäute.
„Was ist da drin?“, fragte er mühsam. Misstrauisch versuchte er, das Glas und seinen Inhalt genauer ins Auge zu fassen - vergeblich. Mit der Schärfeeinstellung seiner Augen schien etwas nicht in Ordnung zu sein.
„Willst du es wirklich wissen?“
War das ein Lachen, das in Chris Delaires Stimme mitschwang? Ja, der Sadist amüsierte sich königlich auf seine Kosten.
„Ja. Nein. Ach, gib schon her!“
Alles, was auch nur im geringsten versprach, das entsetzliche Dröhnen in seinem Schädel und das elende Gefühl in seinen Eingeweiden einzudämmen, war ihm willkommen und wenn es ein Gebräu aus der Hölle war. Warren, abgehärtet durch vier Wochen härtesten Trinkmarathons, schloss die Augen, um die Scheußlichkeit, die er gerade im Begriff war, zu sich zu nehmen, nicht auch noch sehen zu müssen, aber auch, weil das entsetzlich klare Morgenlicht spitze Nägel in seine Augäpfel rammte, holte tief Luft und schluckte das Gebräu mit Todesverachtung hinunter.
Eine halbe Sekunde verging, eine Sekunde, zwei, dann explodierte etwas in seinem Innern. Warren presste seine Arme um seinen Magen, der sich aus seinem Körper heraussprengen und über den weißen Teppichboden verteilen wollte.
„Was war das?“, keuchte er.
„Ein altes Hausmittel, das Beste, was es gegen Kater gibt“, antwortete Chris. Das Lachen in seiner Stimme war jetzt nicht mehr zu ignorieren und er hätte ihn gern seine Faust schmecken lassen, aber er brauchte beide Hände, um seine Innereien in sich zu behalten.
„Wirkt immer, glaub mir, ich kenn' mich da aus. Es schmeckt gar nicht schlecht, wenn man sich erst einmal daran gewöhnt hat. Ist nur Zitronensaft, Salz, Olivenöl …,“
Warren quälte sich auf die Füße und taumelte auf die Tür zu, die ihm die rettende zu sein schien. Chris öffnete sie zuvorkommend, während er ungerührt fortfuhr: „Getrocknete chinesische Kräuter, vier Aspirin und ein Esslöffel gemahlene Chilies für den Geschmack.“
Die restlichen Zutaten ersparte er dem Patienten, der genug damit zu tun haben würde, die reinigenden Kräfte des bewährten Mittels zu überstehen, ohne noch die wirksamsten Ingredienzien zu kennen. Da er alles Menschenmögliche veranlasst hatte, um Warren der menschlichen Gesellschaft zurückzugeben, verließ Chris das Schlafzimmer, um die versprochene Belohnung zu holen. Er wusste, dass alles, nach dem Warren in ein paar Minuten verlangen würde, höllenschwarzer Kaffee und ein tiefes Loch sein würde. Den Kaffee konnte er besorgen, ein Loch, das tief und schwarz genug war, um Warren ein Versteck vor seinen Problemen zu bieten, gab es auf der ganzen Welt nicht. Aber das musste Warren selbst herausfinden und damit zurechtkommen musste er auch ganz allein. Er hatte sich schon übermäßig eingemischt, als er Warren sozusagen entführt und bei seinem Freund Ben in dessen Kneipe untergebracht hatte. Chris, der Warrens krampfhafte Bemühungen, auch den letzten Rest Alkohol von sich zu geben, selbst durch die geschlossenen Tür vernehmen konnte, erinnerte sich schaudernd an seinen letzten Kater und beeilte sich, den Ort der inneren Reinigung hinter sich zu lassen. Während er in Richtung Küche eilte, um einen Kaffee zu brauen, der sich an Warrens Magenwänden festfressen und einen ausreichenden Ersatzreiz zu denen des Aufwachtrankes bieten würde, sann er über die Zufälle des Lebens nach. Wenn Pat Connors nicht ohne Vorwarnung ihre gemeinsame Band verlassen hätte, hätte Charles Hayden, seines Zeichens Keyboarder und Gründer von Hadessphere, keinen Grund gehabt, seine Frustration in einem wochenlangen Marathon exzessiver Feierei abzubauen. Er selbst hätte nicht alles darangesetzt, seinen Freund dabei nach Kräften zu unterstützen und damit wäre es nicht dazu gekommen, dass er Warrens Bekanntschaft gemacht hätte. Anders als jeder normal denkende Mensch in LA hatte Charles, der wirklich eine Seele von Mensch war, Warren Denning, der nach einem tätlichen Angriff auf seine Frau zum Paria abgestempelt worden war, nicht die helfende Hand verweigert. Er hatte Warren in jede Bar und zu jeder Party mitgeschleppt und deutlich gemacht, dass er dessen Anwesenheit nicht nur tolerierte, sondern begrüßte. Nach allem, was Chris wusste, hatte Warren in einem Anfall von Eifersucht seine Frau Cherry mit dem Gesicht voran in einen Spiegel gestoßen. Cherry war schreiend und aus einer tiefen Wunde auf ihrer Stirn blutend geflüchtet, bevor Schlimmeres hatte geschehen können. Die Gerichtsverhandlungen und die Scheidung hatten Warren in den Ruin und die völlige Isolation getrieben. Was Cherry und das Gesetz nicht geschafft hatten, hatte Warren mit seiner hochfahrenden und uneinsichtigen Haltung erledigt. Inzwischen gab es auf der ganzen Welt keine Handvoll Menschen mehr, die für Warren auch nur einen Finger krumm machen würden. Zu Chris' inzwischen großem Bedauern war er einer davon. Vor gut einer Woche hatte er Warren aus einem Pulk verärgerter Barbesucher geholt, die drauf und dran gewesen waren, den betrunkenen Trottel zu lynchen, der es darauf angelegt hatte, die ganze Welt zu provozieren.
Unglücklicherweise hatte gerade zu diesem Zeitpunkt sein Freund Rafael „Viper“ Estes von ihm verlangt, ihm bei einer finanziellen Transaktion behilflich zu sein. Chris war stolz auf sein Verhandlungsgeschick und seine Fähigkeit, Geldbewegungen zu begreifen und zu nutzen. Deswegen hatte er der Herausforderung nicht widerstehen können, seine Geschicklichkeit auch bei einem komplexen Grundstückskauf zu beweisen. Der enge Zeitrahmen, den ihm Rafael gesetzt hatte, aber auch die offensichtliche geistige Instabilität seines Freundes, der nicht nur sein gesamtes Vermögen auf Spiel zu setzten bereit, sondern auch drauf und dran gewesen war, sich überstürzt zu binden, hatte sein Eingreifen auch dringend notwendig gemacht. Wie es sich inzwischen herausgestellt hatte, war es mehr als nur gut gewesen, dass er seinem Impuls nachgegeben und stehenden Fußes nach New York geflogen war. Rafael hatte es geschafft, sich einen guten Teil der New Yorker Unterwelt zum Feind zu machen und es hatte der Findigkeit seiner Familie und einer ganze Menge Freunde bedurft, ihn aus dem Schlamassel zu befreien. Rafael war aus dem Zusammenprall roher Kräfte schwer verletzt aber immerhin lebendig hervorgegangen, außerdem hatte sich eine Liebe im Feuer bewährt und würde hoffentlich für immer bestehen. So weit so gut. Zu diesem Zeitpunkt waren Warrens Probleme die weniger drängenden gewesen und deswegen hatte er ihn in seiner Stammkneipe geparkt. Der Inhaber, Big Ben Franklin, hatte seine Anweisungen zwar widerwillig, aber strikt befolgt und Warren mit dem versorgt, was der verlangt hatte. Chris hatte nicht wissen können, dass Warrens Exil länger dauerte, als die beiden Tage, die er dafür veranschlagt hatte, aber er hätte wissen müssen, dass Warrens Sinn einzig und allein auf Alkohol gerichtet gewesen war. Als er sich des Problems Warren eine Woche später wieder bewusst geworden war, war er dann doch überrascht gewesen, wie sehr es sich inzwischen ausgewachsen hatte. Bens Begrüßung hatte dann auch nicht nur die Freude über die Begleichung der inzwischen horrenden Rechnung, sondern auch eine Erleichterung ausgedrückt, die Chris sofort nachvollziehen konnte, als er Warrens ansichtig geworden war. Warren hatte bereits schlimm ausgesehen, als ihn Chris in der Ecke abgesetzt hatte, in der er anscheinend inzwischen angewachsen war, aber was er dann zu sehen bekommen hatte, war kaum mehr als lebendig zu bezeichnen gewesen. In dieser einen Woche hatte ein heruntergekommener Musiker die Metamorphose zu einem völlig verkommenen hinter sich gebracht.
„Wenn ich nicht fürchten müsste, dass er bald den Löffel abgibt, würde ich sagen: Lass ihn hier“, hatte Ben leise gesagt. „Der Iceman hat noch kein Wort geredet, seit er hier ist, und er schert sich um niemanden, aber er stört auch keinen. Ab und zu setzt sich jemand zu ihm und redet sich seinen Frust von der Seele und freut sich, weil es jemanden gibt, der ihm zuhört, ohne ihn zu unterbrechen. Als ob er das könnte, er sieht durch alle hindurch, als ob er bereits nicht mehr von dieser Welt wäre.“ Ben hatte bedauernd und irgendwie abschließend mit dem Kopf genickt. „Glaub mir, ich kenne mich aus: Er ist bereits weit über das Stadium hinaus, in dem man von besoffen reden kann. Schaff ihn in eine Klinik und vergiss ihn. Den Schaden repariert keiner mehr.“
Chris hatte wieder einmal einen guten Rat ignoriert, Warren in seinen Wagen verfrachtet und ihn zu sich nach Hause gebracht. Der Einfachheit halber hatte er Reinigung und Ausnüchterung vorgenommen, bevor Warren seinem Haus das Gleiche hatte antun können, wie seinem Wagen. Er hatte Warren, der kaum mitbekam, was um ihn herum vorging, zum Pool geschleppt und ihn dann kurzerhand hineingeworfen. Warren war wie ein Stein untergegangen. Nach erschreckend langer Zeit, als Chris sich bereits seiner Schuhe entledigt hatte, um ihm nachzuspringen, war Warren prustend, nach Luft ringend und um sich schlagend wieder aufgetaucht. Mit Hilfe seines Faktotums Wylie hatte Chris ihn herausgezogen, in ein Gästezimmer verfrachtet und ihn dann der heilenden Wirkung des Schlafes überlassen. Aber das war keine Lösung für alle Zeiten. Vierundzwanzig Stunden später hatte Chris das Problem so direkt angegangen, wie es seinem Temperament entsprach. Warren hatte vielleicht keine Lust, wieder auf eigenen Beinen zu stehen und der Welt ins Gesicht zu sehen, aber er würde merken, dass es einfacher war, sich dem Leben zu stellen, als ihm. Chris lächelte. Er hatte noch einige Pfeile im Köcher, falls Warren sich als widerspenstiger erweisen sollte, als gut für ihn war.
Unterdessen starrte Warren entgeistert in die wässrig roten Augen, die ihn aus dem kleinen Streifen Gesicht zwischen einem Wust verfilzter dunkler Locken und einem wild wuchernden Bart aus dem Spiegel entgegen stierten. Er kannte den Kerl nicht. Er würde sich niemals mit jemandem einlassen, der aussah, als sei er gerade unter einem verrotteten Baumstumpf hervorgekrochen. Oder doch? Mühsam versuchte die gärende Masse in seinem Schädel das Konglomerat aus verquollenem, teigig bleichen Fleisch und verfilzter Behaarung als ein ihr bekanntes menschliches Wesen zu identifizieren, aber so sehr sich der verbleibende Rest seines Gehirns bemühte, er scheiterte. Jeder Gedanke an das, was vor dem unfreiwilligen Bad im eiskalten Pool vorgefallen war, riss schmerzhaft an den bebenden Nervenfasern, die in dieser Dichte und Empfindlichkeit in keinem anderen Wesen auf Gottes weiter Erde angesammelt sein konnten. Auch jeder andere Denkvorgang scheiterte an der Unmöglichkeit, es mit diesem Schmerz aufzunehmen. Warrens Blick fiel auf Hände, die sich um die Kante eines Waschtischs aus weißem Marmor krampften. Er fürchtete den Moment, an dem er loslassen und ohne diesen letzten Halt auskommen musste. Chris' giftiges Gebräu hatte seine Innereien samt und sonders in die Kanalisation befördert und lediglich eine kraftlose zitternde Hülle zurückgelassen, die es schwerlich bis zur Dusche oder, was wichtiger war, zurück zum Bett schaffen würde. Zu seinem unendlichen Bedauern war es Menschen nicht möglich, auch ihr Gehirn auszukotzen, auch wenn er sein Möglichstes getan hatte, und jetzt schrie das Feuer in seinem Kopf nach Abkühlung. Alles, was zumindest kurzzeitig Linderung versprach, war ihm willkommen. Wasser! Er taumelte die wenigen Schritte zu einer grau verglasten Duschkabine und schaffte es noch, mit bebenden Fingern den Kaltwasserhahn aufzudrehen, bevor seine Beine unter ihm nachgaben. Er versuchte noch, sich an der glatten weißen Marmorwand festzukrallen, aber seine Fingernägel fanden keinen Halt. Hilflos glitt Warren zu Boden, während nadelspitze Wasserstrahlen auf ihn herabprasselten und sich in seine fiebrig heiße Haut bissen. Warren versuchte verzweifelt, wieder auf die Beine zu kommen, aber seine Beine gaben nach und er hatte kaum die Kraft, den Kopf abzuwenden, um nicht zu ersticken. Sein Kopf pochte im Rhythmus seines Blutes. Er griff an die Stelle, die am meisten schmerzte und als er seine Hand zurückzog, waren seine Fingerspitzen rot. Blut. Es dauerte Ewigkeiten, in denen er nicht mehr tun konnte, als zuzusehen, wie sich sein Blut mit dem Duschwasser mischte und in einem langsamen Strudel um den Abfluss kreiste, bis es schließlich darin versickerte.
Nach gefühlten Jahrhunderten hörte der Eisregen endlich auf. Ein virtuos vorgetragener Schwall von Flüchen ließ Warren den Kopf heben und er begegnete Chris' entgeistertem Blick, der, die Hand am Wasserhahn, auf ihn herabstarrte.
„Ganz meiner Meinung“, krächzte Warren.
Warren Denning sah von seinem Notenstapel auf, gerade als Chris Delaire seine Gitarre beiseite stellte, um Faye zuzusehen, die händeringend in der Garderobe der Band auf und ab lief. Sie trug, wie alle im Raum, Bühnengarderobe.
Anders, als er und seine vier männlichen Kollegen, die das Thema Bühnengarderobe entspannt sahen und ebenso entspannt auf ihren Auftritt warteten, war Faye das reinste Nervenbündel. In ihrem hautengen Corsagenanzug aus schwarzem Leder hastete sie rastlos auf und ab.
„Warum tu' ich mir das an?“, murmelte sie. „Ich könnte an der Hotelbar sitzen, oder am Pool, mit einem exotischen Drink mit einer hübschen Blüte drauf, oder auch nur zusehen, wie sich fünf Männer die Seele aus dem Leib spielen, aber nein, ich muss meine Finger ja überall drin haben! Dieses Mal wird es nicht gut gehen - ich spüre es.“
Sie seufzte abgrundtief. Die hell angestrahlten Spiegel an der Längsseite des Raumes reflektierten das Bild einer zutiefst verzweifelten, aber außerordentlich schönen Frau. Fayes feuerrote Locken fielen, von einer goldenen Spange in Form eines Drachens nur maßvoll gebändigt, über ihre rechte Schulter, ein geradezu aufsehenerregendes Make up, für das sie eine geschlagene Stunde hatte stillsitzen müssen, verwandelte sie in eine exotische Verlockung.
„Wie lange dauert es noch?“, fragte sie Colin, als sie auf ihrer Wanderung an seinem Platz vorbeikam, ohne jedoch eine Antwort zu erwarten. Colin „Hawk“ Arden, der Drummer der Band, schüttelte seine mitternachtschwarze Mähne über die Schulter zurück, schwang seine Beine vom Fensterbrett und schmunzelte. „Es sind genau fünf Minuten vergangen, seit du das letzte Mal gefragt hast.“
Faye warf ihm einen mitleidheischenden Blick zu und setzte ihre Wanderung fort.
„Ich werde die Texte vergessen“, prophezeite sie düster, „oder stolpern und der Länge nach hinschlagen oder mich übergeben.“
Ihr Lamento machte wenig Eindruck. Chris und Colin unterhielten sich leise, Rafael, der etatmäßige Gitarrist der Band, hing mit geschlossenen Augen auf einem Stuhl, die Beine rücksichtslos mitten in den Raum gestreckt, wo sie Fayes Bahn stören mussten. Ab und zu öffnete er ein Auge, seufzte und schüttelte nachsichtig den Kopf.
Julian Loring, der Bassist, saß am entgegengesetzten Ende des Raumes. Abgeschirmt durch die Kopfhörer seines Smartphones summte er leise vor sich hin, seine schulterlangen, blonden Locken wippten sanft im Takt der Musik, die nur er hörte. Hin und wieder tippte er etwas auf die Oberfläche seines I-Pads oder kritzelte etwas auf ein Blatt Papier, das aussah wie ein Kassenzettel aus einem Schnellrestaurant und ganz nebenbei blätterte er in einem Manga. Fayes Ausbruch quittierte er mit einem Schulterzucken und einem halben Lächeln.
Warren folgte der unruhigen Wanderung des jüngsten Bandmitglieds mit den Augen. Die Ankündigung, dass Faye den Platz von Charles Hayden einnehmen sollte, der ein paar Monate zuvor Opfer eines Mordanschlags geworden war, hatte wie eine Bombe eingeschlagen. Anfängliche Vermutungen, es handele sich um eine von Chris’ Marotten, ein Zugeständnis an seine - zugegebenermaßen attraktive – Frau, die vermutlich nicht mehr als durchschnittliche künstlerische Fähigkeiten besaß, waren schnell verstummt. Bereits nach dem ersten Auftritt hatte Faye das Publikum restlos von dem überzeugt, was die Band bereits nach fünf Minuten Probe gewusst hatte. Die Verbindung von Talent und Schönheit, gepaart mit der ungekünstelten Begeisterung, mit der sie an ihre neue Aufgabe heranging, hatte ihr die Herzen der Fans zufliegen lassen. Nachdem sie ihre anfängliche Unsicherheit überwunden hatte, genoss sie es, auf der Bühne zu stehen. Lediglich das Lampenfieber hatte auch nach vier Monaten nicht nachgelassen. Anfangs hatten sie noch versucht, sie abzulenken oder zu beruhigen, aber recht bald hatten sie herausgefunden, dass Faye dieses Ritual brauchte. ‚Den Meiler hochfahren’ hatte Julian den Vorgang respektlos genannt. Warren schmunzelte: Faye hatte ihre Betriebstemperatur fast erreicht. Gleich würde sie mit ihnen auf die Bühne stürmen, strahlend, explosiv und vibrierend vor Lebensfreude.
Vier Monate zuvor hatte es nicht danach ausgesehen, als ob für sie ein normales Leben überhaupt wieder denkbar sein würde. Charles, der Gründer von Hadessphere und ihrer aller Freund, war ermordet worden und sein Mörder hatte auch Faye entführt. Chris war es nur um Haaresbreite gelungen, sie zu befreien. Derart tiefgreifende Erlebnisse hinterließen Spuren, keiner wusste das besser als er. Er war mit seinen Problemen zurechtgekommen und Faye würde das auch – irgendwann. Bis dahin half ihr ihre Selbstdisziplin, einen einigermaßen normalen Eindruck zu hinterlassen; sie hatte sogar darauf bestanden, die Band zu ihren Auftritten zu begleiten. Doch er, wie jeder andere, der sie genauer kannte, wusste, wie schlecht sie schlief, dass sie kaum etwas aß und dass sie außerordentlich schreckhaft war. Chris hatte sich zwar nach Kräften bemüht, konnte jedoch nicht ständig an ihrer Seite sein. Nachdem er mitbekommen hatte, wie panisch Faye reagierte, wenn sie sich bedrängt fühlte, hatte er ihr einen Schutzengel zur Seite gestellt. Harold „Stone“ Matthews, Mitglied von Chris' Motorradclub „Warlords“, vermittelte ihr bereits durch seine Anwesenheit ein Gefühl der Sicherheit. Wie ein Felsen ragte seine massige Gestalt mit den muskelbepackten Armen und dem kahlen, tätowierten Schädel hinter Faye auf, wo immer sie ging und stand. Dass er als Ex-Navy-Seal in allen legalen und illegalen Kampfmethoden bewandert war, war auch kein Nachteil. Dennoch - nach zwei Tagen nannte Faye ihn Stony, eine Woche später hatte sie ihm seine gesamte Lebensgeschichte entlockt und behandelte ihn, wie einen kleinen Bruder. Seine fast hilflosen Versuche, ihre Beziehung auf eine geschäftliche Basis zu stellen, hatte sie mit ihrem strahlendem Lächeln weggefegt. Obwohl Stone unwirsch und kurz angebunden blieb, schien er es nicht über sich bringen zu können, Faye zurückzuweisen, die es sich in den Kopf gesetzt hatte, dass er es war, um den man sich kümmern musste.
Damals hatte ein Konzert im New Yorker Madison Square Garden auf dem Plan gestanden. Bei der Tonprobe am Vormittag des Konzerts hatte sich Faye, in Chris' Lederjacke gekuschelt, in der ersten Zuschauerreihe in einen dafür nicht im geringsten geeigneten Stuhl zusammengeringelt. Sie war blass gewesen und hatte vor Kälte gezittert. Er war gerade auf dem Weg gewesen, ihr einen Kaffee zu bringen, als Lani ihm zuvorgekommen war und ihr einen Becher vor's Gesicht gehalten hatte. Ihr war es offensichtlich nicht zu kalt gewesen, obwohl sie mit ihrem Mann Rafael den größten Teil des Jahres in ihrer Heimat Hawaii lebte. In ihren ausgeblichenen Jeans und dem figurbetonten, tintenblauen Pullover hatte sie wie immer zum Anbeißen ausgesehen. Auch wenn nicht an Lanis Kleidung exotisch war, hatte sich das Flair der Südsee in jeder ihrer harmonischen Bewegungen, dem samtigen Sahneton ihrer Haut und ihrem strahlenden Lächeln gezeigt, das jedoch eine Spur Besorgnis enthalten hatte, als sie Faye gemustert hatte. Faye hatte sich erfreut aufgerappelt, die viel zu langen Ärmel der Jacke zurückgeschoben und den Becher entgegengenommen.
„Himmel, ist der heiß“, hatte sie gelacht und ihre Finger abwechselnd am Becher gewärmt und in den viel zu kalten Julimorgen geschüttelt. „Viel zu heiß, aber ich liebe dich dafür! Hast du auch einen für Stony?“
Er war inzwischen nahe genug gewesen, um das zu hören und auch, um Stones hilfesuchenden Blick aufzufangen.
„Stone ist im Dienst, er möchte nicht abgelenkt werden“, hatte er gesagt, wissend, dass er genauso gut hätte versuchen können, einen Bulldozer mit der Hand aufzuhalten.
„Besorg' ihm trotzdem einen. Er nutzt mir wenig, wenn er erfroren ist.“
Lani hatte leise geseufzt und Stone ihren eigenen Becher gegeben. Die Frau hatte gute Instinkte. Wie es aussah, hatte sie den Blick des Vaters ihres noch ungeborenen Kindes in ihrem Nacken gespürt. Rafael führte sich auf, als habe noch nie eine Frau ein Kind zur Welt gebracht. Er hatte ein Gespür dafür entwickelt, wenn sie sich etwas in seinen Augen ungesundes gönnte, wie zum Beispiel Kaffee. Oder Donuts, vielmehr die Glasur darauf. Lani knabberte rosa Zuckerguss, als ob es kein Morgen gäbe, für das Gebäck hatte sie keine Verwendung.
Lani hatte sich ohne Hast umgewandt und Rafael zugelächelt. Dessen Blick hatte alles ausgedrückt, von der Befriedigung über die verhinderte Koffeinzufuhr bis zu einer gelinden Drohung, in absehbarer Zukunft ernsthaft über ihr Suchtverhalten zu reden, während er gemächlich zum Bühnenrand geschlendert und vor Lani in die Hocke gegangen war.
Die beiden hatten eine angeregte, aber, wie es aussah, nicht ganz konfliktfreie Unterhaltung begonnen, die er ausgeblendet hatte, während er Faye gefragt hatte, ob es ihr gut gehe. Er kam nicht dagegen an, sie weckte den Beschützerinstinkt in ihm – und in jedem anderen männlichen Wesen über drei. Dabei konnte sie recht gut auf sich aufpassen. Sie hatte es mit Chris aufgenommen, als der sich am absoluten Nullpunkt seiner Karriere, mehr noch, seines ganzen, verdammten Lebens, befunden hatte und Freund und Feind mit seinem höllischen Temperament in die Flucht geschlagen hatte. Sie hatte ihm nicht nur sein Leben zurückgegeben, sondern ganz nebenbei auch seine Karriere, seine Selbstachtung und seine Reputation restauriert – eine reife Leistung für eine Frau, die Mühe gehabt hatte, ihr eigenes Leben einigermaßen in den Griff zu kriegen. Für ihre Mühen hatte sie nun Chris Delaire, Rockstar und Frauenheld par excellence und das Paradebeispiel eines unangepassten und schwierigen Menschen, als Ehemann. Faye hatte – wie er nicht anders erwartet hatte – geantwortet, dass es ihr gut gehe, abgesehen von der Kälte, die sie, die seit Jahren in LA gelebt hatte, so nicht Mitte Juli in New York erwartet hätte. Sie hatten ein paar belanglose Scherze ausgetauscht, aber da Faye ihm in Chris Motorrad-Lederjacke, Boots und einem knielangen Flanellhemd, dessen Ärmel ihre Hände bedeckt hatten und sogar noch ein gutes Stück darüberhingen, für die Ostküstenkälte gut gerüstet erschienen war und sie sich auf ihren Kaffee konzentriert hatte, hatte sich seine Aufmerksamkeit mehr auf das offensichtliche Streitgespräch zwischen Rafael und Lani gerichtet. Rafael, der das Reden übernommen hatte, hatte gereizt gewirkt, Lani dagegen besorgt. Was auch immer die beiden zu diskutieren gehabt hatten, schien Lani nicht behagt zu haben, aber ihre, wenn auch spärlichen, Einwände, waren von Rafael mit von schroffen Handbewegungen unterstrichenen Argumenten davon gefegt worden. Lani war offensichtlich nicht überzeugt gewesen und nach einigen weiteren Argumenten hatte sie sich unwirsch abgewandt, nur um Chris kurz darauf etwas mit den Augen zu signalisieren. Wenn er Lani nicht in dieser Sekunde angesehen hätte, hätte er es übersehen, aber so traf ihn dieser eine Moment des Verstehens wie ein Schlag.
Chris, der während der gesamten Probe, so schleppend sie bisher gelaufen war, Faye nicht aus den Augen gelassen hatte, hatte seine Gitarre beiseite gelegt und war zum Bühnenrand gekommen und in den Zuschauerraum heruntergesprungen. Er hatte ein paar Worte mit Lani gewechselt und dabei einen zunehmend besorgten Eindruck gemacht, schließlich war er eilig mit ihr in Richtung auf den Ausgang verschwunden. Auffällig war, dass er nicht einfach neben ihr gegangen war, sondern den Arm um ihre Schultern gelegt und sie an sich gezogen hatte. Es lag etwas Vertrautes, Intimes in dieser Geste und das hatte sein Misstrauen geweckt. Lani und Chris? Das hätte er niemals vermutet. Sie war schwanger von Rafael und soweit er wusste, stimmte es in ihrer Ehe, und Chris schien ebenso verrückt nach Faye zu sein, wie sie nach ihm. Aber im Leben gab es keine Gewissheiten und Sicherheit war eine Illusion, das hatte er auf die ganz harte Tour erfahren müssen. Aber er würde sich nicht mehr überraschen lassen. Die Band hatte nach dem Tod von Charles Hayden eine Zeit lang auf der Kippe gestanden und sie hatten es nur um Haaresbreite geschafft, sich zum Weitermachen zu motivieren. Wenn Chris und Lani eine Affäre hatten, würde das der Band den Rest geben und es gab nichts, was er tun konnte, um den Zusammenbruch zu verhindern. Immerhin wusste er jetzt, woran er war. Besser informiert, als angeschmiert – sagte man das nicht immer?
Da es ohne den Leadsänger ohnehin nicht weitergehen würde, hatte er sich selbst einen Kaffee besorgt und zwei kurze Telefonate geführt. Auf dem Weg zurück hatte er Chris und Lani gesehen, die sich hinter die Bühne gestohlen hatten.
„... ansehen, nur für den Fall, dass die Sache eskaliert“, hatte er Chris lachend sagen gehört.
„Viper ist nicht so!“
Chris hatte aufgelacht. „Nein, aber Angel!“
Er war ihnen vorsichtig gefolgt, aber nicht vorsichtig genug, denn Chris hatte ihn bemerkt. Anstatt verlegen zu sein, hatte er breit gegrinst und ihn herangewinkt und mit der Hand auf die Bühne gewiesen. Zusammen hatten sie zugesehen, wie Faye auf den herablassend lächelnden Rafael losging. Den Anfang hatten sie wohl versäumt, was er ewig bedauern würde, aber Faye hatte ihr Pulver noch lange nicht verschossen gehabt. Lani, Chris und er waren nicht die einzigen Zuschauer gewesen; vor der Bühne hatten sich die Bühnenarbeiter und die Bodyguards versammelt und sich prächtig amüsiert, sogar Stones Schultern hatten vor unterdrücktem Gelächter gezuckt.
Colin und Julian hatten sich diskret abgewandt gehabt, um ihre Heiterkeit nicht zu deutlich zu zeigen, wissend, dass Rafael mehr als nachtragend war.
Chris hatte Lani einen Stuhl herangezogen und sich rittlings auf einen zweiten gesetzt, er selbst hatte sich einen guten Aussichtspunkt etwas näher am Geschehen gesucht und gemeinsam hatten sie sich angehört, was Faye von rücksichtslosen Menschen hielt, deren erklärtes Lebensziel es sei, ihren Mitmenschen das Leben zur Hölle zu machen. Mit deutlichen Worten hatte sie Rafael klargemacht, was sie davon hielt, Gegenstand seiner ganz speziellen Aufmerksamkeiten zu sein.
Chris hatte lächelnd den Kopf geschüttelt. „Er hat es nicht anders gewollt.“
„Er will ihr nur helfen, und dir auch“, hatte Lani geflüstert, offensichtlich bereit, die hehren Motive ihres Mannes zu verteidigen, aber eher noch, eine von Chris' gefürchteten Temperamentsausbrüchen zu verhindern, doch Chris auffallender Gleichmut hatte sie innehalten lassen. „Du hast das nicht zufällig mit Viper abgesprochen?“
„Könnte mir mal einer sagen, was hier los ist?“, hatte er eingeworfen. Irgendwann musste er den Faden verloren haben.
Chris kicherte. „Ich bin das Opfer eines Komplotts. Lani kam zu mir und sagte, sie fühle sich nicht sehr gut und bat mich, sie ins Hotel zu begleiten. Sie kam ein wenig ins Schwimmen, als ich sie im Wagen fragte, warum sie sich nicht von Viper fahren ließ und murmelte etwas von einem Streit. Du bist die schlechteste Lügnerin auf diesem Planeten, Liebling. Lass es dir von Viper beibringen oder versuch's mit einem geheimnisvollem Lächeln.“
Lani war errötet. „Du warst so besorgt und ich habe mich wirklich schlecht gefühlt, dass ich dich angelogen habe.“
„Deswegen hat sie gleich alles gebeichtet und wir sind an der nächsten Kreuzung umgekehrt. Kurz und gut: Viper hat von Lani verlangt, sie solle mich von der Bühne holen, koste es was es wolle. Er ist davon überzeugt, dass er sich Angel vornehmen muss, weil es kein anderer kann. Ich würde sie zu sehr verhätscheln und wenn er die Sache jetzt nicht in die Hand nähme, würde sie uns in Tränen zerfließen.“
„Wie du es erzählst, klingt es schrecklich. Er mag sie und er kann es nicht mit ansehen, wie sie leidet. Vielleicht hat er ja recht und es ist gut für sie, wenn er sie aufzurütteln versucht, denkst du nicht?“, fragte Lani.
„Nein. Es hat keinen Sinn, jemanden so unter Druck zu setzen, Angel schon gar nicht. Sie stellt dann sofort die Stacheln auf. Es dauert einfach seine Zeit, bis sie alles endgültig verarbeitet hat. Es ist nicht nur die Erinnerung an die Entführung, die ihr so zu schaffen macht, sie hat irrsinnige Angst, dass mir wieder jemand auflauert und sie dann nicht in der Nähe ist, um es zu verhindern. Das ist der eigentliche Grund ihrer Anspannung und auch das kann nur die Zeit heilen. Viper muss natürlich wieder alles übers Knie brechen. Du wirst es nicht glauben, aber es gibt Ehemänner, die die Wünsche ihrer Frau tatsächlich respektieren.“
„Oh, das tut Viper auch“, hatte Lani gelassen geantwortet. „Sobald ich sie ihm in den Schädel gehämmert habe. Still jetzt, ich will hören, wie es weitergeht.“
Sie hatten ihre Aufmerksamkeit wieder der Bühne zugewandt, wo sich Rafael redlich bemüht hatte, ein weiteres Scheit ins Feuer zu legen.
„Nachdem dein Held dich so schmählich verlassen hat und du ganz allein der grausamen Kälte ausgeliefert bist - soll Stone dir noch eine Decke bringen oder soll er dich lieber ins Hotel zurücktragen?“ Er hatte gegrinst, seine Blicke und seine Haltung hatten reinen Spott ausgedrückt. „Oder willst du nicht lieber aus deinem grünen Schlafsack krabbeln und dich bewegen? Vertritt doch einfach den faulen Kerl, den du geheiratet hast, damit wir heute noch fertig werden. Ein Mikro halten wirst du ja können, oder reichen die Kräfte nicht?“
Faye hatte auf ihr gescholtene Hemd herabgesehen. Der Saum hatte fast bis zu ihren Knien gereicht und sie hatte die Ärmel mehrfach umkrempeln müssen, bis ihre Hände zu sehen waren, zweifellos hatte sie sich auch hier aus Chris' Bestand bedient.
„Du willst, dass ich mich aufwärme? Erzähl mir nicht, dass es dir darum geht. Gib doch einfach zu, dass du ohne halbnackte Frau auf der Bühne keinen geraden Ton rauskriegst.“
„Mit einer Mumie vor Augen hat’s mir jedenfalls die Stimme verschlagen.“
Faye hatte ihr Kinn gehoben und Rafael wütend angefunkelt, dabei hatte sie sich erbittert das Hemd über ihren Kopf gezerrt und es Rafael wie einen Fehdehandschuh vor die Füße gefeuert. Über Fayes Hemd hatte man geteilter Meinung sein können, das knappe schwarze Top, das sie darunter getragen hatte, hatte hörbar Zustimmung bei allen Zuschauern gefunden.
„Ich bin ausgezogen. Also spielen wir dein Spiel, Rafe - aber nur dieses eine Mal!“
Wenn Rafael es darauf angelegt gehabt hatte, Faye wütend zu machen, hatte er Erfolg gehabt. Ihn Rafe zu nennen, war vergleichbar damit, einen Tiger am Schwanz zu ziehen. Faye war zierlich und zart wie der Engel, den Chris sie nannte, aber sie hatte keine Angst, den berüchtigten Menschenfresser zu reizen. Man musste sie lieben, das kleine Mädchen mit den Kämpferherzen.
Rafael hatte seine Gitarre genommen und er hatte seinen Posten verlassen und war ebenfalls zu seinem Platz geschlendert. Warum abseits stehen, wenn es mittendrin richtig interessant zu werden versprach?
„Dann zeig' mal, was du kannst“, hatte Rafael gelockt. „Womit möchtest du anfangen, ‚Nowhere to go’ oder lieber ‚Ironclad’?“
Faye hatte so entschieden den Kopf geschüttelt, dass ihr Haar wild um ihr Gesicht geflogen war.
„Nein! Entweder ‚Serpent’s Lair’ oder ‚Defiance’. Wenn schon will ich dich wenigstens anbrüllen können.“
Julian hatte losgeprustet, seinen Heiterkeitsausbruch jedoch sofort durch einen Hustenanfall getarnt, Rafael hatte sich ein sparsames Lächeln erlaubt.
„Okay, dann ‚Serpent's Lair’.“
Faye hatte Chris' Mikrophon aus der Halterung genommen und dem betont desinteressiert blickenden Rest der Band zugenickt.
„Tut mir leid, dass eure Pause beendet ist, aber Rafe ist nur glücklich, wenn er jemanden auf die Palme bringen kann. Also, fangt an zu klettern!“
Warren hatte Faye nicht aus den Augen gelassen, die mit gesenktem Kopf und leicht gegrätschten Beinen, das Mikrophon locker in der Hand auf ihren Einsatz gewartet hatte. Serpent's Lair war eines seiner Lieblingsstücke, ein von hetzendem Schlagzeugrhythmus und schrillen, gewagten Gitarrenriffs dominiertes Lied über das Geflecht alltäglicher Korruption und die Schwierigkeiten, sich nicht darin zu verfangen.
Langsam, die Augen geschlossen, hatte Faye den Kopf gehoben, anscheinend unberührt von den hämmernden Bässen und dem fordernden Rhythmus des Schlagzeugs. Fast zögernd hatte sie das Mikrophon an die Lippen gehoben, um dann unvermittelt herumzufahren und Rafael die ersten Töne mit wilder Intensität entgegenzupeitschen. Faye setzte ihre Aggression gekonnt um. Ihre Interpretation war emotional, treibend, voller Spannung und Ausdruckskraft gewesen. Sie hatte zu jedem Zeitpunkt gewusst, was sie tat und wie die Effekte zu setzen waren. Anders, als die Aufnahmen, die er seinerzeit in Chris’ Studio gehört hatte, war dies kein Sich-treiben-lassen, sondern die eindrucksvolle Demonstration musikalischen Könnens. Zweimal hatte Faye neu angesetzt.
„Noch einmal“, hatte sie entschieden. Eine Perfektionistin.
Jeder hatte sehen können, wie Rafael genoss, eine Gitarre im Arm zu haben. Nach dem Tod von Charles Hayden, Bandgründer und Pianist der Band, war es an Rafael als Allround-Talent gewesen, Charles' Platz einzunehmen. Rafael war ein exzellenter Pianist und er hatte das Beste für die Band gewollt, aber er war nun einmal mit Leib und Seele Gitarrist. Das, was sie versucht hatten, würde immer Stückwerk bleiben, das war ihm damals klar geworden. Sie waren der Entscheidung ausgewichen, einen Nachfolger für Charles zu suchen und damit hatten sie sich etwas vorgemacht. Der unverkennbare Hadessphere-Sound lebte gerade durch den Kontrast der extrem gegensätzlicher Gitarrentechniken, Rafaels zuckendem Stakkato auf der einen und seiner eigenen kühlen, fast mathematisch-präzisen Beherrschung auf der anderen Seite. Es musste etwas geschehen. Wenn Chris nichts tat, würde er etwas unternehmen müssen.
Er hatte einen Seitenblick auf Lani geworfen, die wie gebannt jeder von Rafaels eleganten, geschmeidigen Bewegungen gefolgt war. Ihre Augen leuchteten auch nach fünf Jahren Ehe, wenn sie ihren Mann auf der Bühne sah.
Faye hatte sich vor Rafael aufgebaut und ihm das Mikrofon geradezu gegen die Brust geworfen. „Bist du zufrieden? Du hast deinen Willen durchgesetzt, jetzt lass mich in Ruhe!“
Sie hatte Lani und Chris hinter der Bühne entdeckt und war strahlend und winkend auf sie zugeeilt. „Und sag' nie wieder Feigling zu mir“, hatte sie über die Schulter zurückgefaucht.
Rafael hatte gegrinst und hinter ihrem Rücken zwei Finger zum Siegeszeichen gehoben, dann hatte er sich an das Grüppchen Zuschauer gewandt: „Was ist mit euch? Habt ihr nichts zu tun?“
Die Gruppe hatte sich nur zögernd und unter Murren aufgelöst und Rafael hatte einige, wenig schmeichelhafte, seine menschlichen Qualitäten betreffende, Bemerkungen aufgeschnappt. Er hatte Fayes Bluse aufgehoben, war ihr gefolgt und sie ihr gereicht, als er sie eingeholt hatte.
„Steel meint, dass du zum Problem wirst“, hatte sie täuschend freundlich gemurmelt, als sie in ihre Bluse geschlüpft war.
„So?“
Rafael hatte erreicht, was er wollte und war in entsprechend großzügiger Stimmung gewesen. „Meint er das?“
„Ja, obwohl ich es nicht ganz so überspitzt formuliert hatte“, hatte Chris gelacht. „Wir haben es eben schon kurz angesprochen: So geht es nicht weiter!“
Rafael hatte höflich fragend eine Braue gehoben.
„Es geht einfach nicht, dass du dich am Flügel ausruhst, während du als Gitarrist gebraucht wirst“, hatte Warren eingeworfen.
„Wir verstehen ja, dass man ab einem gewissen Alter lieber sitzt, aber du musst bedenken, dass die Interessen der Band vorgehen“, hatte Colin gegrinst. Natürlich hatte er sich die Gelegenheit nicht entgehen lassen, Rafael zu reizen. Die beiden lebten für ihre kleinen Streitereien – Brüder eben. Halbbrüder, wie Rafael nie müde wurde, zu betonen.
Faye hatte gefeixt, Lani beide Hände gehoben, um zu demonstrieren, dass sie nur unbeteiligte Zuschauerin war.
„Wie habt ihr euch das vorgestellt? Willst du es machen, Hawk, oder hat jemand von euch einen Pianisten gefunden, der zu uns passt? Ihr wisst alle, wie lange es dauert, bis ein Neuer das gesamte Repertoire draufhat.“
Colin und Julian hatten sich angesehen; im Grunde hatten sie mit ihm übereingestimmt, beide sahen gespannt auf Chris, der die Diskussion in Gang gebracht hatte.
„Ich hatte vor, Angel zu bitten, es zu tun.“
Chris’ Stimme hatte so unverfänglich geklungen, als ob er eine Bemerkung über den Nebel unter der Golden Gate Brücke gemacht hätte. Faye, die sich gerade mit einem widerspenstigen Knopf abgeplagt hatte, hatte ihn mit offenem Mund angestarrt.
„Du spinnst.“
Chris hatte ihren Blick erwidert, Aufmunterung, Vertrauen und Liebe in seinen Augen. „Du weißt, dass du es kannst und wir brauchen dich.“
Er hatte sie an sich gezogen und über ihren Kopf hinweg seine Freunde der Reihe nach angesehen. „Hat jemand Einwände?“
Niemand hatte geantwortet und Chris hatte ihnen keine Chance gegeben, ihre Überraschung abzuschütteln und ihr Schweigen rücksichtslos als Zustimmung interpretiert: „Na also, dann ist das geklärt. Wir haben einen neuen Pianisten und Keyboarder.“
Niemand hatte protestiert, alle hatten mit dem gleichen Ausdruck absoluter Überraschung auf Faye herabgesehen.
„Ihr seid ja verrückt“, war es aus ihr herausgebrochen. „Ihr müsst verrückt sein. Wie könnt ihr einfach zustimmen, ohne zu wissen, was ich kann?“
Faye hatte klein und hilflos ausgesehen, ein kleines Mädchen inmitten einer Gruppe von Raubeinen, in deren entschlossenen Mienen der unbedingte Wille zu erkennen gewesen war, sie, wenn es denn nicht anders zu bewerkstelligen war, zu ihrem Glück zu zwingen.
Sie alle waren sich im Klaren darüber gewesen: Wenn es etwas gab, das Chris außer Faye etwas bedeutete, dann war es die Band. Wenn er der Meinung war, dass sie Rafaels Potential hatte, und sein Vorschlag hatte genau das besagt, dann war es auch so.
„Ich bin absolut sicher, dass ihr verrückt seid.“
Nacheinander hatte Faye zu ihnen aufgesehen, zu Colin, der ihr aufmunternd zugezwinkert, zu Julian, der ihr zugenickt, zu ihm und schließlich zu Rafael, der sie nachdenklich gemustert hatte. Dem Ausdruck in seinen Augen nach zu urteilen war er schon dabei gewesen, einen Probenplan aufzustellen.
„Wisst ihr, ich bin auch verrückt - ich versuch' s!“
Mehr hatte sie nicht sagen müssen. Fünf erwachsene Männer hatten sich wie ausgelassene Kinder benommen und sie im Triumphzug zurück auf die Bühne geschleppt.
Aus dem Augenwinkel hatte er mitbekommen, dass sich Lani unauffällig davonmachte. Als er sich den Kaffee geholt hatte, hatte er zwei Kartons mit Donuts bemerkt. Lani würde sie auch gesehen haben.
Lani hatte sich seitdem auf blauen Zuckerguss verlegt. Faye hatte den Sprung ins kalte Wasser besser verkraftet, als man hätte erwarten können. Nach den harten Proben musste ihr der erste öffentliche Auftritt wie die reinste Erholung vorgekommen sein. Bis dahin, hatte sie sich beklagt, hatten sie sie nur zum Schlafen von der Bühne gelassen. Selbst unterwegs ergab sich immer eine Möglichkeit, zu proben, ob im Flugzeug, im Bus oder im Hotel. Wie auch immer, es hatte sie von ihren Grübeleien abgelenkt und dafür gesorgt, dass sie nachts wie eine Tote schlief. Langsam kehrte auch ihr Appetit zurück. Die Adrenalinschübe auf der Bühne bekamen ihr ebenfalls, sie lebte von Tag zu Tag mehr auf.
„Es ist soweit. Seid ihr fertig?“
Madeleine steckte nur kurz den Kopf zur Tür herein. Sie wollte so schnell wie möglich zum Hotel zurück. Lani, die nach eigenem Bekunden jetzt entsetzlich schwanger war, hatte es vorgezogen, in ihrer Suite zu bleiben. Rafael hatte sie gebeten, Lani nicht stundenlang allein zu lassen.
Chris schlüpfte in seine Lederjacke. Er zog Faye an sich und fuhr ihr mit gespreizten Fingern durchs Haar. Faye schlug ihm auf die Finger.
„Hände weg! Wenigstens einmal möchte ich mit einer ordentlichen Frisur auf die Bühne gehen.“
Chris grinste ohne das geringste Anzeichen von Reue und küsste sie auf die Nase.
„Kein Mensch achtet auf deine Frisur, wenn du so etwas trägst“, schmunzelte Warren und wies auf Fayes hautengen Anzug.
„Schön, nicht?“
Faye sah nicht ohne Stolz an sich herab. Man konnte sehen, wie sie das Gefühl von Leder auf ihrer Haut genoss und inzwischen hatte sie einen beachtlichen Fundus, aus dem sie schöpfen konnte. Dieser Anzug war das neueste Prachtstück ihrer Kollektion. Sie ließ die kurze Jacke über ihre Schultern gleiten und präsentierte ihrem beeindruckten Publikum einen prachtvollen schwarz-roten Drachen, von Lani kunstvoll auf die Haut ihres Rückens gemalt.
„Gefällt es euch? Deswegen hat es heute etwas länger gedauert.“
„Sehr beeindruckend!“ Chris schmunzelte. Ganz sicher würde er sich das gute Stück später näher ansehen.
Faye schlüpfte rasch wieder in ihre Jacke. Warren fuhr Faye mit gespreizten Fingern durchs Haar und verschwand. Auch Julian und Colin bemühten sich, ihrer Frisur im Vorbeigehen den Rest zu geben.
Als letzter bequemte sich Rafael aus seinem Stuhl. „Na, dann wollen wir mal.“
Er musterte Fayes Anzug mit ernsthaftem Interesse. „Sag mal, wie bist du da eigentlich 'reingekommen?“
Faye lachte: „Genau wie du.“ Sie wies auf seine hautenge, schwarze Lederhose. „Eingeschweißt.“
Rafael grinste und schlüpfte in einen schwarzen, mit flatternden handbreiten Lederstreifen besetzten, Mantel. Er fing Fayes anerkennenden Blick auf und schüttelte entschieden den Kopf.
„Denk gar nicht erst daran, du bekommst ihn nicht! Halte dich an Steels Sachen - sofern der arme Kerl überhaupt noch ein einziges Stück sein eigen nennen kann.“
Aufgebracht sah sie sich nach einem Wurfgeschoss um. Rafael lachte und beeilte sich, aus der Gefahrenzone zu kommen.
„Fünf Minuten“, rief er über die Schulter zurück. „Erzähl es ihr, aber mach’s kurz.“
Chris gab den Versuch auf, wie ein armes Waisenkind auszusehen, das kein einziges Kleidungsstück sein eigen nennen konnte und zog Faye lachend an sich. „Sie haben dich alle durchschaut. Ich nehme an, zum Geburtstag schenken sie dir ihre alten T-Shirts.“
Faye lehnte sich an Chris' Brust und ließ ihre Hände unter seine Jacke schlüpfen. Schon immer hatte sie eine Vorliebe für T-Shirts mit originellen Aufdrucken gehabt und Chris' Schrank hatte sich als wahre Fundgrube erwiesen. Unglücklicherweise waren seine Lieblingsstücke, meist schon verblichen vom häufigen Waschen, auch ihre Favoriten. Ihre Raubzüge in seinen Schrank kommentierte er mit grässlichen Drohungen, die jedoch wenig Erfolg zeigten.
„Lenk' jetzt nicht ab“, sagte sie. „Welche Neuigkeiten meinte Viper?“
„Ray hat angerufen, als du bei Lani warst. Er bittet uns, sofort zu kommen. Ich wollte es dir erst nach dem Gig sagen, aber vielleicht ist es besser, wenn du es gleich erfährst. Es ist sinnlos, die Dinge vor sich herzuschieben.“
Beklommen sah Faye auf Chris' düsteres Gesicht. „Es ist doch nichts Schlimmes geschehen?“ fragte sie atemlos.
Chris wiegte zweifelnd den Kopf. „Wie man' s nimmt. Ich würde eine Hochzeit nicht unbedingt als nichts bezeichnen.“
Faye juchzte und sprang in Chris' Arme. „Ray heiratet?“
Als er nickte, jubelte sie entzückt. „Wie wunderbar, ich kann es nicht glauben. Was hat er gesagt? Wer ist die Braut? Helena? Ich hab’s doch gewusst! Wann fliegen wir?“
„Langsam! Wo steht geschrieben, dass alle Chefärzte ihre Sekretärinnen heiraten?“
Chris versuchte, Fayes handgreifliche Begeisterung in gemäßigtere Bahnen zu lenken und löste ihre Arme so weit von seinem Hals, dass er wieder atmen konnte.
„Rays Braut, wie du so schön sagtest, heißt Veronica und er hat sie vor drei Monaten auf einem Kongress kennengelernt. Ray sagte etwas, das wie „ich fühle mich, wie vom Blitz getroffen“, klang und dann verlor er sich geschlagene zehn Minuten in Superlativen. Wie es aussieht, steht dieses Wunderwesen kurz vor der Heiligsprechung. Wir werden uns das junge Glück morgen ansehen können, Madeleine ist gerade dabei, den Rückflug für uns alle zu organisieren. Wir fahren nach dem Gig direkt zum Flughafen.“
Rays Hochzeitseinladung war zwar extrem kurzfristig ergangen, bewies jedoch eine sorgfältige, auf den Tourplan der Band abgestimmte Disposition. Abgesehen davon fand Chris es ausgesprochen rücksichtsvoll von Ray, Faye nicht durch eine übermäßig frühe Vorankündigung des frohen Ereignisses von ihrer eigenen Hochzeitsreise abzulenken. Nachdem Faye zugestimmt hatte, ihn zu heiraten war Chris kein Risiko mehr eingegangen und hatte sie praktisch auf ihrem Krankenbett geheiratet. Es war eine kleine Feier im engsten Kreis gewesen. Nach der Tournee sollte die offizielle Hochzeitsfeier stattfinden.
„Veronica? Das klingt nett.“
Faye sah etwas enttäuscht aus, offensichtlich hatte sie etwas anderes erhofft. Auch er hatte bemerkt, dass zwischen Ray und Helena eine gewisse Spannung geherrscht hatte und Faye hatte anscheinend etwas als unterschwellige sexuelle Anziehung interpretiert, was lediglich Unverträglichkeit der Charaktere gewesen war. Faye hob eine Schulter und mit dieser fatalistischen Geste nahm sie Abschied von einer lieben Vorstellung. „Ich mag Helena. Hoffentlich hat sie sich nicht tatsächlich Hoffnungen gemacht. Aber dass Ray nun die Frau fürs Leben gefunden hat, ist einfach fantastisch. Es gib so viel, das ich wissen will und du schrecklicher Kerl stehst einfach nur da und amüsierst dich.“ Sie rüttelte ihn an der Schulter, um ihn an seine Pflichten zu erinnern.
„Erzähl mir alles von ihr, wie sieht sie aus, was hat Ray sonst noch erzählt?“
Chris hatte trotz des begeisterten Wortschwalls des nach eigenem Bekunden glücklichsten Mannes der Welt nur vage Vorstellungen von einer Überfrau, die die körperlichen Vorzüge eines Top-Models mit dem Intellekt einer Nobelpreisträgerin und der umfassenden Güte einer Mutter Teresa in sich vereinte.
„Stell dir einen blonden Großrechner mit dem Maßen 90-60-90 und einem Heiligenschein vor und polstere die Ecken mit Daddy's Millionen“, lachte er. „Sie würde mich zu Tode langweilen, noch ehe die Flitterwochen um sind.“
Faye kicherte. „Unsinn. Sie scheint genau das Richtige für Ray zu sein. Aber dich sollte ich verprügeln! Wie konntest du mich so erschrecken? Aber ich bin viel zu glücklich. Ich liebe Hochzeiten, du nicht auch?“
Faye war aufgeregt und zappelig. Chris betrachtete sie belustigt. Er hatte dieses quecksilbrige Wesen tatsächlich einmal für eine ruhige, sanfte Frau gehalten. Sie war sein ganzes Glück und er war entschlossen, dieses Glück mit beiden Händen festzuhalten.
„Wie viel Zeit bleibt uns noch von den fünf Minuten?“, fragte sein ganzes Glück in diesem Moment.
„Etwa zwei Minuten. Wieso fragst du? Du willst doch nicht etwa gewalttätig werden?“
Faye legte den Kopf in den Nacken und schenkte Chris ein verheißungsvolles Lächeln.
„Ich wollte nur darauf hinweisen, dass mein Lippenstift absolut kussecht ist.“
„In diesem Fall ...“
Chris neigte den Kopf und hauchte dicht an ihren Lippen: „... weiß ich, wie wir die verbleibenden viereinhalb Minuten nutzen.“
Es war vier Monate her, seit sie Faye an diesen Flugplatz gebracht und ihr nachgewinkt hatte – eine Ewigkeit. Jetzt waren es nur noch Minuten, bis sie sie wiedersah und die schienen sich noch einmal bis in die Unendlichkeit auszudehnen.
Kimberly Robertson lief unruhig in der VIP-Lounge des internationalen Flughafens von Los Angeles auf und ab. Der lichtdurchflutete Raum mit den tiefen, silbergrauen Sesseln, den zwanglos verstreuten, niedrigen Glastischchen in schwarz und hellgrau und einer gut ausgestatteten Bar an der Längsseite des Raumes, an der einige wenige Geschäftsleute saßen und sich gelangweilt mit ihren Drinks oder elektronischen Spielzeugen aller Art beschäftigten, war ihr fast zur zweiten Heimat geworden. Mit ihrer unendlich langen Liste an Flugmeilen war sie eine bekannte Größe an diesem Flughafen und an ein paar anderen auch, und die Tatsache, dass sie in regelmäßigen Abständen für die Werbeagentur, für die sie arbeitete, Prominente abholte, trug noch zu ihrem Bekanntheitsgrad bei. Sie hatte ein sehr gutes Personen- und Namensgedächtnis und kannte die meisten Angestellten in der Abflughalle und das zahlte sich an Tagen wie diesem aus. Die Leute waren dankbar für ein Lächeln oder ein freundliches Wort und es war ihr ein Bedürfnis, die Menschen in ihrer Umgebung glücklich zu machen. Die meisten Leute honorierten ihre Bemühungen, obwohl sie auch hatte erfahren müssen, dass jede Regel ihre Ausnahmen hatte. Doch Nörgler gab es überall, von denen würde sie ihr Leben nicht bestimmen lassen.
Sie hatte Faye mehr vermisst, als sie es sich vorzustellen vermocht hatte. Faye war ihre Freundin, seit sie vor sechs Jahren in das Appartementhaus gezogen war, in dem Faye lebte, aber genauer betrachtet war Faye mehr: Sie war ihre Familie. Zwar lebte ihre leibliche Familie glücklich und zufrieden in der Nähe von Willow Springs, Missouri, und sie hatten miteinander ein gutes Verhältnis, aber ihr Verhältnis zu Faye war enger, es war mehr eine Seelenverwandtschaft. Vielleicht war es ihr deshalb so schwergefallen, zu akzeptieren, dass ihre gemeinsamen Zeiten ein und für allemal zu Ende waren. Sie hatte zwar jede Menge Bekannte in Los Angeles, aber nur wenige Freunde und keine so enge Freundin, wie Faye. Eigentlich hatte sie Faye ja nicht verloren, sie war immer noch ihre beste Freundin, aber sie hatte geheiratet und lebte nun in San Francisco und ganz nebenbei hatte sie Karriere gemacht und war nun der neue, strahlende Stern am Rockhimmel. So wie Faye ihren bürgerlichen Namen abgelegt hatte und nun Angel genannt wurde, so war die Zeit der Pyjamaabende vor dem Fernseher und Frauengespräche zu Ende. Faye - Angel - war jetzt glücklicher, als je zuvor in ihrem Leben und sie gönnte ihr von Herzen alles Glück dieser Welt. Faye hatte genug Schweres in ihrem Leben erlebt, um sich ihren Anteil an Glück redlich verdient zu haben. Und, alles was recht war: Wenn Fortuna sich dazu entschloss, ihr Füllhorn über jemandem auszuschütten, tat sie es reichlich. Faye hatte nicht nur den absoluten Frauenschwarm Chris Delaire geheiratet, den Sänger einer der populärsten Rockbands der Staaten, wenn nicht der ganzen Welt, sie war auch das neueste Mitglied seiner Band, die neue Keyboarderin und Pianistin von Hadessphere.
Kim seufzte und setzte ihre unruhige Wanderung fort. Sie wartete jetzt schon eine gute Stunde und das, obwohl sie zu spät gekommen war - um eine halbe Stunde zu spät, um genau zu sein. Sie war rechtzeitig von ihrem Büro losgefahren, eigentlich viel zu früh, aber den Auffahrunfall auf dem Highway kurz vor dem Flughafen und die daraus resultierende Vollsperrung hatte sie nicht vorhersehen können.
Die goldenen Kettchen an ihren Knöcheln klingelten leise. Kim betrachtete zufrieden ihr Spiegelbild in der deckenhohen Verglasung hinter der Bar an der Längsseite des Raumes. Sie liebte ihre neuen Schuhe, abgefahren und sexy wie sie waren. Zierliche, hautfarbene Lederriemchen strahlten von ihrem Fußrücken zu ihren Zehen und ihren Knöcheln und ringelten sich mehrfach um ihre Fesseln, dabei klingelten die vielen goldenen Blüten, Blätter und Glöckchen, mit denen die Lederriemen besetzt waren, bei jedem ihrer Schritte und betonten, dass es wirklich schön geformte Fesseln waren waren. J-Saxx, der neueste und angesagteste Schuh-Designer am amerikanischen Modehimmel hatte ein Vermögen für dieses Modell verlangt – oder eine überragende Werbekampagne. Er hatte seine Kampagne bekommen und sie diese Schuhe und zwei weitere, ebenso aufsehenerregende Paare als Bonus. Faye würde einen Blick darauf werfen und nicht mehr aufhören können, zu lachen. Faye wusste alles über ihre Schuh-Obsession und sie verstand sie sogar bis zu einem gewissen Punkt. Fayes Punkt war immer der Preis gewesen. Kim sah an sich herab. Die Schuhe setzten einen grandiosen Kontrapunkt zu ihrer pfirsichfarbenen Hose, deren Saum gerade ihre Knöchel erreichte, und dem himbeerfarbenen Top mit dem asymmetrischen Ausschnitt, das ihre durchtrainierten Schultern ins rechte Licht rückte.
Bevor Kim sich überlegen konnte, ob sie ihre Tüten doch abstellen und sich irgendwo einen bequemen Platz suchen sollte, öffnete sich die Glastür auf der gegenüberliegenden Seite des Raumes. Eine uniformierte Angestellte suchte ihren Blick und lächelte ihr ihr zu. Mit einer einladenden Geste wies sie auf den Ausgang zum Terminal. Kim nickte ihr strahlend zu und eilte zum Ausgang. Die Privatmaschinen landeten auf einem eigenen Feld und die Passagiere hatten den Vorteil einer beschleunigten Abfertigung und eines direkten Zugangs zur Halle. Sie kannte sich hier aus. In ihrer Werbeagentur hatte sie als Mädchen für alles angefangen und eine ihrer ersten Aufgaben war es gewesen, Kunden vom Flugplatz abzuholen und in die Agentur zu begleiten. Es war gut, zu wissen, wo Faye und die Band auftauchen würden, bevor die Presse es wusste. Kim lebte lange genug in LA, um den Trubel zu kennen und einen großen Bogen darum zu machen.
Kim prüfte die auffälligen Boutiquetaschen auf Vollständigkeit: Lindy's pinkfarbene Streifen, Punk in Schwarz-Weiß, Dreamtime in Rot mit silbernem Schriftzug, Evermore's Mint und Weiß und das ekstatische blau-grüne Farbgewitter von Toss's - alles da - und eilte auf die Glastür zu. Die freundliche Angestellte nickte ihr zu und öffnete zuvorkommend die metallene Schleuse für sie. Kim kam sich vor wie der Weihnachtsmann, als sie schwer beladen den Gang entlang hastete. Der Tag war heiß, die Sonne brannte durch das Glasdach und auf ihre bloßen Arme. Sie hätte die Tüten im Wagen lassen sollen; es hatte eigentlich keinen Grund gegeben, sie mitzunehmen, außer vielleicht, sie Faye gleich zu zeigen. Sie war so aufgeregt gewesen, als sie erfahren hatte, dass Faye und die Band auf dem Weg zu Ray Conellys Hochzeitsfeier irgendwo in Napa Valley hier in LA zwischenlanden würden und sie hatte alle Termine an diesem Tag abgesagt, um wenigstens ein paar Stunden mit Faye verbringen zu können. Sie hatten sich so viel zu erzählen, mehr, als in die wenigen Stunden zu pressen war, und das ließ ganz gewiss nicht genug Zeit, um mit Faye ein anständiges Kleid und die passenden Accessoires für die Trauung kaufen zu können. Kim lächelte, gefangen in Erinnerungen. Faye war ein brillanter Kopf und sie war immer eine erfolgreiche Businessfrau gewesen, deren scharfem Verstand so schnell nichts entging – außer den Modetrends der letzten zwanzig Jahre. Für Faye war die Kombination aus schwarzem Hosenanzug und weißer Bluse die ultimative Kleidung für alle Gelegenheiten und wenn die letzten Monate sie nicht völlig verändert hatten, würde sie genau so auf Ray Conellys Trauung aufschlagen wollen, absolut davon überzeugt, dass sie angemessen gekleidet war. Aber für Ausnahmesituationen wie diese gab es Seelenverwandte: um zu helfen, wenn Not am Mann war– oder der Frau.
Kim war gerade am genannten Gate angekommen, als Faye hereinstürmte.
„Kimie!“, schrie sie und rannte mit ausgebreiteten Armen auf sie zu. Ihre Locken wehten wie ein brennendes Banner hinter ihr her und sie strahlte wie die Sonne selbst. Kim ließ ihre Tüten fallen und umarmte sie lachend, weinend, überglücklich und ohne auf die Reisenden und die Blitzlichter der plötzlich aufgetauchten Pressefotografen zu achten. Faye zu umarmen war, als ob man an eine Starkstromleitung kam, vibrierend, stark, vital, aufregend, so als ob man das Leben selbst berührte. Faye lachte, weinte und redete auf sie ein, aber sie selbst war auch nicht viel besser. Sie konnte die Tränen nicht zurückhalten und sie konnte auch ihr lautes, glückliches Lachen nicht zurückhalten und verhindern, dass sie auf die Einkaufstaschen trat, die über den spiegelnden Boden gesegelt waren, als sie sie im Überschwang des Wiedersehens von sich geschleudert hatte. Einerlei. Faye war wieder hier. Hinter ihnen staute sich der Rest der Band hinter dem Gate und das Blitzlichtgewitter nahm zu, bis sie die Augen zukneifen musste. Kim schaffte es, ihren kühlen Kopf wiederzuerlangen. Sie zog Faye beiseite und drängte sie in eine Nische. Chris folgte ihnen. Er grinste breit und nickte ihr zu, seine Art, ihr zu zeigen, dass er sie mochte und dass er verstand, was sie mit Faye verband. Er und sie hatten gemeinsam um Fayes Leben gekämpft und das verband sie. Sie betrachtete ihn als ihren Freund. Eine strahlende und ununterbrochen redende Faye auf einer Seite und den Strom der durch das Gate drängenden Band auf der anderen Seite zu handhaben bedurfte einiges an Koordination, aber sie hatte schon schwierigere Situationen gemeistert.
„Der Weihnachtsmann hat angerufen. Rudolph will sein Zaumzeug wieder.“
Ihn nicht! Seine Stimme hätte sie überall erkannt, das dunkle Timbre mit genug Samt darin, um von Vollmondnächten am Ufer des Mississippi zu träumen und gerade so viel Schroffheit in den Konsonanten, um an ihren Nervenenden zu reiben: Warren Denning. Seit er das erste Mal einen Blick auf sie geworfen hatte, hasste er sie. Warum? Sie wusste es nicht und sie hatte es auch in Monaten nicht geschafft, es herauszufinden. Sie hatten sich niemals vorher getroffen, sie hatten keine gemeinsamen Bekannten, nicht einmal entfernte, anscheinend war sie gerade auf seinem Radar aufgetaucht, als er einen Feind gebraucht hatte. Bei ihrer ersten Begegnung hatte er sie eine rosa Zuckerstange genannt. Mit viel gutem Willen hätte man es ein missglücktes Kompliment nennen können, aber nur, wenn man sein Gesicht nicht gesehen hatte. Sie hatte es aus nächster Nähe gesehen und es war keine Erinnerung, der sie gerne nachhing. Danach waren sie noch einmal heftig aneinandergeraten und danach hatte es eine Zeitlang so ausgesehen, als ob er ihr aus dem Weg ginge, wofür sie dankbar gewesen war, aber zu ihrem Bedauern hatte der Frieden nicht lange angehalten. Warren Denning hatte ganz offensichtlich Gefallen daran gefunden, sie zu hassen. Sobald sie in Fayes Nähe war, selbst wenn sie mit Julian, mit dem sie einen lockeren, unverbindlichen Flirt laufen hatte, eine Party besuchte oder wenn sie nur auf einer der Partys auftauchte, die die Bandmitglieder – einzeln oder als Paar oder Gruppe – besuchten, Warren verfolgte sie mit seinem Misstrauen. Von ihm belauert zu werden war zu einer Konstante in ihrem Leben geworden, aber darauf hoffen, dass er sie vor einer Vergewaltigung in einem Parkhaus oder einer dunklen Gasse rettete, sollte sie besser nicht. Ganz sicher wäre er davon überzeugt, dass alles allein ihre Schuld wäre.
Sie hätte sich denken können, dass Warren gemeinsam mit der Band wegen Rays Hochzeit zurückflog. Ray hatte die ganze Band eingeladen und damit auch Warren. Soweit sie es mitbekommen hatte, waren Ray und Warren, der allgemein als verstockt, rücksichtslos und arrogant verschrien war, außerordentlich gut miteinander ausgekommen, was allein schon fast ein Wunder war, denn Ray war offen, charmant und entgegenkommend. Doch dass Warren Rays Einladung angenommen hatte, hätte sie nicht erwartet. Er war einfach nicht der Typ, zwei glückliche Menschen in den Hafen der Ehe zu begleiten, wahrscheinlicher war es nach ihrer Meinung – und gewiss nicht nur ihrer allein – dass er darauf aus war, dass das glückliche Paar nicht mehr ganz so glücklich in die Flitterwochen startete. Aber zuvor hatte er anscheinend noch jede Menge negativer Energie übrig und die gedachte er, an ihr auszuleben. Es wäre ja zu schön gewesen, einfach nur mit ein paar Freunden Wiedersehen zu feiern. Betont langsam drehte sie sich um und musterte Warren kühl von Kopf bis Fuß. Er hatte sich verändert, seit sie ihn zum letzten Mal gesehen hatte. Damals war er glatt rasiert gewesen und sein langes dunkles Haar war in einem ordentlichen Pferdeschwanz gebändigt gewesen. Heute fielen seine Locken offen über seine Schultern und in sein Gesicht und ein struppiger Bart bedeckte den ganzen unteren Teil seines Gesichts. Nur seine Augen waren die gleichen, von einem blassen, silbrigen Grün und so kalt, dass es sie fröstelte. Es war, als ob man in die Augen eines Berglöwen blickte, berechnende Intelligenz und ein Hunger, der sie erschauern ließ. Aber sie waren wunderschön. Gefährlich schön.
„Wen haben wir denn da?“, lächelte sie. „Bigfoot? Oder ...“, sie sah an ihm herab. Er trug ein khakifarbenes T-Shirt und Tarnfleckhosen, dazu Kombatboots. Nett, endlich hatte er sein Äußeres seinem Innern angepasst. „... Rambos Bruder?“ Sie schnippte mit den Fingern. „Nein, halt, sag jetzt nichts, ich komme gleich darauf. Genau: Crazy Harry!“
„Extra für dich. Gefällt es dir?“ Er zeigte zwei Reihen weißer, regelmäßiger Zähne, aber sie ließ sich nicht täuschen. Liebenswürdigkeit lag nicht in seinem Charakter.
„Wirklich? Das ist zu süß von dir, wirklich rücksichtsvoll. Je weniger ich von dir sehe, um so besser.“
„Recht so, gib's ihm“, lachte Faye. „Er hatte schon den ganzen Flug über schlechte Laune, aber er muss sie nicht an dir auslassen.“
„Wenn man weiß, was einen bei der Landung erwartet, kann man ja mal schlechte Laune haben“, knurrte er.
Faye schnaubte. „Stell' dich nicht so an, bloß weil du einen Anzug anziehen sollst. Nimm' dir ein Beispiel an Steel, der hat sich auch nicht beklagt und der hasst Anzüge noch mehr als du.“
Warren grinste und jetzt war es ein echtes Grinsen, das seine Augen erreichte. „Steel wird dafür auch anständig entschädigt, da halte ich jede Wette, aber wer entschädigt mich?“ Er sah zu Kim. „Entschädigst du mich, Imp?“ Er ließ seinen Blick gemächlich über sie gleiten, von ihrer Stirn bis zu ihren Zehen. Kim wusste, dass es die Retourkutsche für ihre offensichtliche Musterung zuvor war. Sollte er doch. Sie musste ihm nicht gefallen. Aber dass er sie als kleinen, hässlichen, boshaften Dämon bezeichnete, ging eindeutig zu weit.
„Aber sicher, Süßer“, gurrte sie. „Ich könnte deinen Bart anzünden. Würde dir das gefallen?“
Sie wandte sich ab, ohne eine Antwort abzuwarten und zog die kichernde Faye mit sich. In diesem Augenblick kamen Rafael Estes und seine Frau Lani aus dem Gang. Rafael sah wie immer aus, wie aus dem Ei gepellt. Hochgewachsen und schlank, mit klassischen Zügen, intensiv grünen Augen und dem langen, tiefschwarzen Haar, das er heute streng im Nacken zusammengebunden trug, war er ein echter Hingucker. Vor seiner Hochzeit mit der schönen Lani war er ein schlimmer Junge gewesen, aber die Zeiten waren endgültig vorbei. Man musste nur in sein Gesicht sehen, um zu wissen, dass er Lani absolut ergeben war. Lani schwebte neben ihm in einem dunkelblauen, mit bunten Blumen bedruckten Plisseekleid, ihr taillenlanges, dunkelgoldenes Haar schwang bei jedem ihrer Schritte und ihr strahlendes Lächeln war wie ein Sonnenaufgang. Wenn Kim nicht gewusst hätte, dass Lani im siebten Monat schwanger war, sie hätte es nie vermutet. Lani zeigte keine der Anzeichen einer fortgeschrittenen Schwangerschaft, ihre Fesseln waren immer noch schlank und ihr Gang so beschwingt, als ginge sie auf Wolken. Sie war die schönste Schwangere, die Kim je unter die Augen gekommen war. Glückliche Lani. An Lanis anderer Seite ging die Frau, die Kim erst beim Abflug kennengelernt hatte, Madeleine. Sie und Lani unterhielten sich angeregt, lachten und schienen sich ausgezeichnet zu verstehen. Madeleine war die Lebensgefährtin von Colin Arden, Rafaels Halbbruder. Colin kam hinter ihnen durch die Tür. Er trug schwarze Jeans und ein weißes T-Shirt, das seine bronzene Haut zur Geltung brachte. Sie hatte schon immer eine Vorliebe für Drummer gehabt, aber Colin war aus dem Rennen und nur ein Freund. Er und Madeleine hatten Schwierigkeiten in ihrer Beziehung gehabt und sie erst ausräumen können, als Colin bei der Suche nach Faye angeschossen worden war. Die Angst um ihn hatte Madeleine dazu bewogen, Vergangenes ruhen zu lassen und ihm noch einmal eine Chance zu geben. Offensichtlich hatte Colin seine zweite Chance genutzt. Er sah glücklich aus, seine mandelförmigen, schwarzen Augen lächelten, als er sie sah und er tippte zwei Finger an einen imaginären Hut. Madeleine lächelte ihr strahlend zu und ihre Lippen formten ein lautloses 'Hi'. Sie sah ebenfalls nicht aus, als ob sie einen Interkontinentalflug hinter sich hatte, im Gegenteil, jedes Haar ihres schulterlangen silbrig-blonden Bobs saß perfekt, ihre helle Haut war makellos und ihre himmelblauen Augen leuchteten. Sie trug einen orangefarbenen Jumpsuit, dessen Oberteil aus verschiedenen gestuften Stofflagen bestand, die in der Taille von einem silbernen Gürtel mit blauen Steinen zusammengefasst wurden, die die Farbe ihrer Augen hatten. Der satte Orangeton war eine gewagte Farbe für eine Blondine, zumal eine mit so blasser Haut und Madeleine hätte eigentlich von deren Intensität erschlagen sein müssen, aber sie hätte keine bessere Wahl treffen können.
„Bist du endlich fertig damit, mit der Presse zu kokettieren? Wenn ja können wir ja endlich hier 'raus.“
Warren. Wieder einmal. „Warum gehst du nicht? Ich bezweifle, dass dich jemand vermissen würde.“
Warrens Gesicht tauchte dicht vor ihrem auf. „Ich würde ja gerne, aber falls es deiner Aufmerksamkeit entgangen ist: Ich spiele hier den Packesel für dich.“ Geziert hielt er ihr die flache Hand vors Gesicht, darauf aufgereiht die Henkel der Einkaufstüten. Die Tüten waren ein wenig zerdrückt aber ein schneller Blick zeigte ihr, dass keine fehlte.
„Danke“, sagte sie knapp und wollte sie ihm abnehmen, aber Warren schloss seine Finger zur Faust und beugte sich noch näher zu ihr. „Der Presserummel hier ist bestimmt ein Geschenk des Himmels für dich. Gewöhn' dich nicht dran. Ich habe dich gewarnt: Wenn du Angel ausnutzt, wirst du es bereuen. Das ist ein Versprechen.“
„Und wie kommst du auf die Idee, dass ich mir etwas von dir vorschreiben lasse?“
Aber Warren ließ die Tüten einfach vor ihre Füße fallen, wandte sich wortlos ab und ging mit großen Schritten zum Ausgang.
Faye seufzte und bückte sich nach den Taschen. „Lass' ihn. Du weißt doch, dass er manchmal komisch ist. Was hast du da drin? Bis Weihnachten ist es doch noch eine ganze Weile hin.“
Kim löste mühsam ihren Blick von Warrens Rücken. Jetzt, da er er weg war, fielen ihr all die Antworten ein, die sie ihm hätte geben können, scharfe, sarkastische Retouren auf seine Beleidigungen, die ihn in den Boden gestampft hätten. Aber was hatte sie aufzubieten gehabt? 'Und wie kommst du auf die Idee, dass ich mir etwas von dir vorschreiben lasse?' Sie erinnerte sich, das zu ihrer Mutter gesagt zu haben. Damals war sie dreizehn gewesen und die Wirkung auf sie war ungefähr die gleiche gewesen wie die auf Warren. Dieses Mal hatte sie sich von ihm überrumpeln lassen, aber das würde nicht wieder vorkommen. Sie nahm Faye die Tüten ab und hakte sich bei ihr unter.
„Ich war für die Hochzeit einkaufen. Und stell' dir vor, ich habe für dich das entzückendste Cocktailkleid gefunden, das du dir vorstellen kannst, karibikblau, ganz schlicht geschnitten, aber mit einem unglaublich raffinierten Ausschnitt. Sexy eben. Du wirst der Hingucker des Tages sein. Und ja, Schuhe und eine Tasche habe ich auch gekauft und weil ich schon dabei war, noch einen allerliebsten kleinen Hut.“
„Ein Hut? Für mich?“ Faye lachte laut auf. „Ich habe in meinem ganzen Leben noch keinen getragen. Falls du es noch nicht bemerkt hast: Ich bin nicht gerade der elegante Typ.“
Lachend wies sie auf ihr übergroßes weißes T-Shirt mit dem Aufdruck 'I love Melbourne' und ihre eher nach dem Aspekt der Bequemlichkeit ausgesuchten Jeans. Chris, der die Unterhaltung mit nachsichtigem Lächeln verfolgt hatte beugte sich zu ihr und flüsterte ihr etwas ins Ohr. Faye gluckste und warf ihm unter gesenkten Wimpern einen Seitenblick zu, der Kim erahnen ließ, dass Chris andere Prioritäten setzte, als Kleidung.
„Lasst uns ins Hotel fahren und dann will ich meine Frau mit diesem Hütchen sehen“, schmunzelte er.
„Lüstling“, flüsterte Faye ihm zu und zog Kim mit sich.
Es war schön, Faye so glücklich zu sehen, aber dennoch fühlte Kim einen kleinen Stich. Wie wahrscheinlich war es, dass es auf einen Mann gab, der so gut zu ihr passte, wie Chris zu Faye?
„Wo ist eigentlich Dandy?“, fragte sie. „Ist er nicht mit euch zurückgeflogen?“
„Direkt hier, Schönste aller Schönen“, raunte eine Stimme an ihrem Ohr und starke Arme legten sich um ihre Taille. Julian „Dandy“ Loring passte seine Schritte ihren an und ging neben ihr durch die Phalanx der Reisenden zum Ausgang. Von seinem blonden Haar, das ihm in wilden Locken über die Schultern fiel, über ein weißes Hemd und ausgebleichte Jeans, die Kims geschultes Auge mühelos als Designerware der höchsten Kategorie einstufte und schwarzen Stiefeln, die zu unauffällig aussahen, als etwas anderes zu sein, als höchste Schuhmacherqualität, war Julian „Dandy“ Loring das Paradebeispiel eines Lebemannes. Der Hauch eines britischen Akzents trug noch zu diesem Eindruck bei, doch mehr noch war es sein Verschleiß an Models, Flugbegleiterinnen und Starlets. Julian war abenteuerlustig, charmant, großzügig und so wenig ernstzunehmen, dass er genau das war, was der Arzt einer Frau verschrieb, die sich nur selten erlaubte, etwas zu essen und stattdessen viel zu viel arbeitete und vorhatte, genau das dazu zu nutzen, Karriere zu machen. Obwohl sie High Heels trug, war er einen halben Kopf größer als sie. Sie liebte es, an der Seite von hochgewachsene Männern zu gehen. Sie geben einem das Gefühl, beschützt zu sein. Diese Sicherheit war trügerisch, sicher, doch was wäre das Leben ohne Illusionen?
Julian blieb stehen und da sein Arm immer noch um ihre Taille lag, auch sie. Er zog sie noch enger an sich und küsste sie. Seine Lippen waren fest, kühl und sie bewegten sich erfahren über ihre und etwas tief in ihr reagierte darauf. Sie mochte es, von ihm geküsst zu werden; würde nicht jede Frau genießen, von einem erfahrenen und rücksichtsvollen Mann geküsst zu werden? Dennoch wusste sie, dass niemals mehr zwischen ihnen sein würde, als erotisch aufgeheizte Freundschaft. Sie genoss den Flirt auf Teufel-komm-raus mit ihm und Julian genoss es fast noch mehr, mit einer attraktiven Frau gesehen zu werden, von der er wusste, dass sie ihn nicht in eine feste Beziehung drängen würde. Solange sie diese Balance wahren konnten, profitierten sie beide von einem aufregenden, aber sicheren Flirt. Es war keine Sache für immer. Irgendwann würde Julian die Frau finden, die ihm das Gefühl gab, dass er nicht mehr ohne sie leben konnte und sie hoffte, dass er dann den Instinkt hatte, das Richtige zu tun. Viel Hoffnung hatte sie nicht; die Männer, die sie kannte, tendierten dazu, ihr Liebesleben in den Sand zu setzen.
„Was hat dich aufgehalten?“, fragte sie atemlos. „Eine Flugbegleiterin, die noch kein Date mit 'nem Rockstar hatte?“
Julian lachte. „So was gibt's nicht. Aber um deine Frage zu beantworten: Ich hatte mein Mobiltelefon verlegt. Ernsthaft! Ich konnte nichts dafür, dass die Chefstewardess mir unbedingt helfen wollte, es zu finden.“
Kim tätschelte Julians Schulter. Der Mann hatte eine riesige Zielscheibe auf seiner Brust. Eigentlich konnte er einem leidtun. Aber er sah nicht so aus, als ob er sehr darunter litt.
„Hauptsache, du bist jetzt da. Was stellen wir zuerst an?“
*
Es war dunkel. War es Nacht oder war er tot? Sein Gesicht brannte wie Feuer, jeder Atemzug war so mühsam, als ob er flüssiges Blei einatmete und sein Körper war eine einzige, schmerzgärende Wunde. Also war er nicht tot. Wenn er tot wäre, würde er nichts mehr spüren. Das war es jedenfalls, was man ihm in der Sonntagsschule gesagt hatte, Erlösung, das Abstreifen der irdischen Hülle und so weiter. Seine leibliche Hülle war jedenfalls noch da und sie bereitete ihm all die Qualen, die eigentlich für das Fegefeuer vorgesehen waren. Er versuchte, in der Dunkelheit um sich herum etwas zu erkennen, doch da war nichts. Entweder er befand sich in einem Keller, einem Verlies oder einem sonstigen Loch ohne Fenster, oder es war mitten in der Nacht. Nirgendwo sah er Licht, es gab keine Straßenbeleuchtung, keine Reklameschilder, keine beleuchteten Fenster, es gab überhaupt nichts, an dem er sich hätte orientieren können. Er riss seine Augen weit auf und versuchte, zu fokussieren, aber alles, was er sah, war allumfassende Schwärze. Doch halt, weit über ihm schien die Dunkelheit transparenter, ein schmales Viereck, das dunkelgrau und nicht schwarz zu sein schien. Er schloss die Augen wieder. Sie offenzuhalten war so anstrengend, als ob Zementblöcke darauf drückten. Er atmete tief ein und versuchte es erneut. Dieses Mal konnte er Mauern identifizieren, hohe, schwarze Mauern, die sich um ihn herum in den Nachthimmel reckten.
Wo war er und wie kam er hier her? Die Schmerzen machten ihn verrückt, er konnte keinen klaren Gedanken fassen. Alles, was geschehen war, schien sich in der allumfassenden Dunkelheit zu verkriechen. Sein Kopf dröhnte und in seinem Mund war der metallisch-faule Geschmack von geronnenem Blut. Er drehte mühsam den Kopf zur Seite und spuckte es aus. Mit der Zunge tastete er seine Zähne ab und es überraschte ihn, dass anscheinend noch alle in seinem Kiefer saßen. Vorsichtig tastete er nach seinem Gesicht, seinen Schläfen, seinem Kopf und er fand eine klaffende Wunde an seinem Hinterkopf. Was auch immer er hier getan hatte, es war ihm nicht gut bekommen. Immerhin funktionierten seine Hände noch. Er tastete über seine Brust, seinen Bauch. Er hatte in seinem Leben genug körperliche Auseinandersetzungen überstanden, um Prellungen zu identifizieren und als nicht gefährlich einzustufen. Das hier war schlimmer. Ein paar seiner Rippen waren hinüber und die klebrige Flüssigkeit war zweifellos Blut. Sein Rücken war noch schlimmer dran, jede Bewegung verursachte brennende Schmerzen, als ob ihm jemand immer wieder einen glühenden Schürhaken ins Fleisch stieß. Er richtete sich auf, versuchte es jedenfalls, aber der Schmerz, der durch sein Rückgrat jagte, ließ in mit einem gellenden Schrei wieder zurückfallen. Er schloss die Augen, atmete langsam und gleichmäßig und versuchte sich klarzuwerden, ob er liegenbleiben und auf Hilfe warten, oder versuchen sollte, sich selbst zu helfen. Der Schmerz in seinem Rücken hatte nachgelassen, aber er war sich bewusst, dass er bei jeder neuen Bewegung mit einer neuen Attacke rechnen musste. Dieses Mal hatte er es mit einer ernsthaften Verletzung zu tun, aber das was, wie und warum entzog sich ihm. Wenn er sich nur erinnern könnte! Er wälzte sich auf die Seite, aber so vorsichtig er sich auch bewegte, konnte er spüren, wie die Bruchstücke seiner Rippen aneinander rieben und sein Rückgrat stand in hellen Flammen. Er wartete, bis die Schmerzen abebbten, dann hob er vorsichtig den Kopf und sah sich um. Seine Augen hatten sich an die Dunkelheit gewöhnt und er konnte jetzt mehr als nur den Himmel über sich erkennen. Er lag in einer schmalen Gasse, die an einem Ende in eine beleuchtete Straße mündete. Das andere Ende verlor sich in der Dunkelheit. Es hatte geregnet, unter dem süßlich-faulen Gestank von Abfall konnte er den charakteristischen Geruch von nassem Asphalt ausmachen. Er registrierte, dass er fröstelte. Es war, Moment, Ende April, und das machte es unwahrscheinlich, dass er in New
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Tag der Veröffentlichung: 11.05.2014
ISBN: 978-3-7396-2572-0
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