Das Licht
„Amar*! Mein kleines Sorgengespinst!“
Amar schwieg bedrückt.
Die Strahlen blendeten ihn und die nur all zu vertraute Stimme hallte in seinem Kopf wieder.
Nicht noch eine fruchtlose Audienz!
„Du weißt, dass du die Sache selbst in der Hand hast.
Dir wurde diese Zeit und die Chance gegeben, alle Aufgaben zu erfüllen zu deren Ausführung du nicht fähig warst. Du solltest dich glücklich schätzen, denn normalerweise ist der Tod Gesetz und lässt einem nicht viel Wahl, wenn ich ehrlich mit dir sein soll...
Menschen, deren versäumte Aufträge nicht verziehen werden können (ich muss dir jetzt wohl keine Beispiele nennen, oder?) werden zwangsläufig an den einzigen Ort transferiert der Ihrer würdig ist...
Denk darüber nach, kleiner Nebelschwaden, es muss etwas geben...!“
Amar zwang sich, seine wahre Reaktion nicht zu zeigen, er wollte für seine Unwissenheit nicht noch mehr bestraft werden. Aber er konnte nicht umhin zu bezweifeln, dass ihm nicht geholfen werden konnte.
Das Licht bedingte den Tod genauso wie das Leben.
„Vielleicht solltest du versuchen noch Einiges über Dich selbst herauszufinden um deinen Unzulänglichkeiten auf den Grund zu gehen...
„Unzulänglichkeiten“ dachte er verbittert, doch verkniff sich einen missmutigen Ausruf.
„Vor Kurzem hat eine Familie den törichten Versuch unternommen mich und meine Gesetze zu verspotten.
Das ewige Leben wollten sie!... das Keinem vergönnt ist, der sich nicht einmal der Bedeutung eines einzigen Augenblicks bewusst ist.
Er ist ein Geschenk.
Diese Toren konnten ihrer Habgier nicht Herr werden. Eine Aufgabe, die ihnen hätte angemessen sein müssen.
Ich ließ ihre, von jeglichem Leben verlassenen Körper, bestehen, ihre Seelen gebunden an deren bloße Existenz.
Jede Nacht kehren Ihre Geister an den Ort der Bestattung zurück,
auf der Suche nach ihrer weiteren Bestimmung und Erlösung.
Sie wissen nicht , was sie erwartet, ist ihre Suche beendet, dennoch sehnen sie sich danach.
Entledige sie ihrer Aufgabe und schicke sie wohin sie gehören!“
Das Licht verblasste und ließ Amar schließlich im Dunkeln zurück.
Hartnäckige Halluzinationen...
Die Friedhofspforte quietschte ohrenbetäubend in der Stille.
Ylenia spürte die Gänsehaut auf ihren nackten Armen als sie die Zweige der Tannen rascheln hörte. Ganz leise, verschwörerisch. ..Wollte sie es wirklich tun?
Doch seltsamerweise war es ihr nicht, als hätte sie die Wahl umzukehren. Es ging nicht darum was sie wollte, begriff sie tief im Innern. Selbst wenn es jetzt zu Schütten begonnen hätte, hätte sie nicht stoppen können immer weiter den grauen Betonweg hinauf zugehen.
Sie fror und zitterte. Lief zwischen den hohen, dunklen, unfreundlichen Bäumen hindurch.
Bis sie erschrak.
Ein Schrei irgendwo aus dem Schwarz um sie her. Er ging ihr durch Mark und Bein: Aaaaaaaaaaaaaaaaah!!!!!! Jurek!!!!!!
Und es war nicht nur das, als sie um sich sah und hochblickte lief ihr ein kalter Schauer über den Rücken und sie merkte wie ihr Tränen der Angst in die Augen stiegen. Das konnte doch nicht war sein!!! Eine Bluttriefende Leiche, ein Mann, hing direkt vor ihr auf einem Fahnenmast. Einem Fahnenmast der zuvor nicht da gewesen war! Mit offenem Mund stand sie dort, ohne einen Ton, geschweige denn einen passenden Schrei hervorzubringen. Aber sie rührte sich nicht vom Fleck und ihr Kiefer klappte wieder zu, als sie plötzlich ziellos in die schwarzen Äste einer Tanne blickte, die sich reglos über ihr erhob. Die Leiche war verschwunden. Ihr Herz raste, sie drehte sich nochmals um, nach einer Spur suchend die ihr bewies, dass sie nicht verrückt geworden war. Irgendwas...
Der Schrei war verklungen, jedoch nicht in ihren Ohren. Es war eine andere Stille um sie herum, ein Warten, und sie hatte Angst sich zu verraten wenn sie nur einatmete. Dabei hatte sich doch alles nur in ihrem Kopf abgespielt und sie sollte lieber zurückgehen, schlafen und ihre Oma morgen bitten mit ihr zum Nervenarzt zufahren.
So sehr sie sich auch danach sehnte ihre mit zu Berge stehenden Härchen übersäten Arme und Beine rückwärts zu bewegen, selbst dabei das Risiko eingehend in eine Tanne zulaufen: Sie konnte es nicht. Eine penetrante Gegenwart hielt ihren Willen in Ketten.
Die Selbe die sie die Pforte öffnen und eintreten ließ... Einen Schritt vorwärts tun kam gar nicht in Frage. Näher treten. In die Richtung, in der Es auf sie wartete, was immer es war. War es nun die Stimme eines hysterischen Geistes gewesen, (und sie tadelte sich für diesen absurden Gedanken) oder eine arme Schlafwandlerin die mitten zwischen den Schatten aufgewacht war und im Nachthemd über das Gelände irrte. Jaja, letztendlich klebte die Leiche wie ein Weinfleck vor ihren vor Entsetzen und angstvoller Erwartung geweiteten Augen und ließ sich mit keinem guten Fleckenreiniger, und erst recht keiner noch so akzeptablen Erklärung aus dem Weg wischen... Es war sie selber. Ylenia. Sie selbst war total verrücktgeworden!
Sie setzte ihren linken Fuß vor den Rechten. Ihre Lider geschlossen gegen die erdrückende Dunkelheit.
Und als ob es nicht schon alles genug gewesen wäre hörte sie diesmal nicht nur eine Stimme sondern gleich 3. Hilfe!!! Wieviele Menschen schlichen nachts um diese Zeit auf dem Friedhof herum und störten die Totenstille? Trieb dieser alte Friedhof neuerdings alle ungewollten Besucher in den Wahnsinn? (Denn was sie zu Ohren bekam nährte diese Befürchtung...)
"Nein, ich schwöre es, da ist Jemand, ein Mädchen, ein Echtes. Ich bilde es mir nicht ein. Diesmal auf keinen Fall!" (Diese Stimme hatte geschrien, durchfuhr es sie)
"Ja? Komisch, das habe ich irgendwo schon mal gehört, ihr nicht Mädels, Vor 10 Minuten vielleicht, was meint ihr?"
Die Frauenstimme wurde schriller und begann zu keifen.
"Das stimmt nicht, das letzte Mal war vor mindestens 2 Stunden, ihr Fertigmacher!"
"Uiuiuiuiui!!!" konterten zwei sehr junge, hohe Stimmen gleichzeitig.
Sie starrte in die Richting von der sie glaubte dass es von dort aus kam, durch die Tannen und auf die grauen Grabmale auf der rechten Seite des Weges. Diese saßen, wie vermutlich auch die andere vernachlässigte Hälfte, in ihrer jahrhundertealten Erde, mit Efeu und Katzenschwanz überwuchert und ließen sich an dem Schauspiel das sich direkt zwischen ihnen ereignete nicht stören:
3 Geisterkinder saßen auf drei Grabsteinen in der Mitte. Ein Anderes sah von weiterweg zu. Sie beobachteten wie ihre Eltern herumschwebten und im heftigen Streit gestikulierten; ihre weiß-schimmernden durchsichtigen Ärmel durch die Luft wirbelnd. Eine ältere Dame, vermutlich ihre Oma hing kopfüber an einem großen üppigverzierten Stein neben ihnen und summte ein selbstausgedachtes Liedchen, während die Erwachsenen immer lauter wurden und sie verschreckt zu weinen begann.
Ylenia schlug beide Hände vor den Mund und schließlich auch gegen die Stirn um sich selbst aufzuwecken. Doch leider müssen wir uns immer wieder daran erinnern dass Selbstverletzung in einem Traum immer nur Selbstverletzung in einem Traum bleibt und sie nichts anderes tun konnte als in ihre Hände zu beißen um ja kein Geräusch zumachen und die furiosen Phantome auf sich losgehen zusehen. Dass diese ihr nichts anhaben konnten fiel ihr natürlich vor aufsteigender Panik nicht ein.
Langsam begann sich das Blut in ihren Adern ein wenig zu erwärmen.
Sie befühlte ihr Gesicht und spürte die Druckstellen in denen sich ihre spitzen Fingernägel bei dem Anblick, den ihre Augen hilflos ertragen mussten, festgekrallt hatten. Es tat sogar ein Bisschen weh. Doch obwohl sich ihre Glieder gelockert hatten konnte doch ihr Verstand noch immer nicht verarbeiten was Ylenias Eindrücke ihr weismachen wollten: Es gab Geister!
Ohne nachzudenken taumelte sie in eine Richtung, die sie viel zu gut kannte, als das sie irgendwie zu ihrer Beruhigung hätte beitragen können. Dennoch suchte sie Schutz, wenn sie schon nicht den Friedhof verlassen konnte...
Balala stellt sich vor...
Vor dem frischen, mit Blumen bedeckten Grab kniehte sie nieder, blendete alles aus das um sie herum auch immer geschehen mochte und las die Inschrift auf dem Grabmal, die sich in ihre Erinnerung eingebrannt hatte und sie seit einer Woche nicht mehr in Ruhe ließ. Wenn es sie nachts schon hierher verschlug konnte sie Brendan ebenso gut einen Besuch abstatten.
Ihr heißgeliebter Cousin war am Samstag zuvor bei einem Autounfall ums Leben gekommen und seit dem war er immer in ihren Gedanken gewesen.
Fast hatte sie Schuldgefühle ihn vergessen zu können, obwohl sie fest davon überzeugt war, dass der Schmerz nie nachlassen würde.
Während ein leichter Nieselregen einsetzte, begannen die Tränen aus ihren Augen hervorzubrechen, sie murmelte leise, liebkosende Worte vor sich hin und bemerkte nicht, wie ihre Kleidung immer feuchter und schwerer wurde.
Ein Hecheln hinter ihr riss sie aus ihren unterdrückten Weinkrämpfen. Gehetzt riss sie ihren Oberkörper herum und ihre nassen, langen Haare klatschten ihr ins Gesicht: Es war ein Hund. Ein sehr Großer, die Zähne in seinem großen Maul gebleckt, mit triefendem, durchsichtigem Fell das ihm bis zum Boden gereicht hätte, hätte er ihn berührt: Er schwebte, schnüffelnd.
Hätte Ylenia nicht vor Angst gezittert, sie hätte sich geekelt, doch den Hund schien dies nicht zu stören.
Sie hoffte inständig irgendjemand könnte ihr irgendwann eine Erklärung hierfür geben: für seelisch kranke Geister und schwebende Hundephantome.
Irgendeinen mentalen Defekt ihrerseits, denn damit hätte sie besser leben können, als mit der Wahrheit, die sie wahnsinnig zu machen drohte. Für sie lief es auf das Selbe hinaus, doch für Andere war es ein Unterschied.
Die Augen erneut aufgerissen starrte sie durch den Geisterhund hindurch, der sie anknurrte und wünschte sich nichts lieber, als in ihrem warmen, weichen Bett aufzuwachen. Mochte sie noch so schweißgebadet sein.
Doch leider hatte sie ja schon zu Genüge erfahren müssen, dass sie sich nicht aufwecken konnte.
Der Professor packt aus...
„Ich habe sie noch mal gesehen! Sie ist immer noch nicht weg, ich schwöre...!“ kreischte die Frau schon wieder hektisch. Das kleinste Kind spielte Tiefseetauchen und schwebte zwischen den Beinen der Mutter hindurch, wobei es sich, wie ab zu sehen war, in dem vorsintflutlichen, langen Seidenrock verfing und anfing zu jammern.
„Elmo! Hör jetzt auf, oder...!“
„Oder was?“ sagten die beiden, nun lässig auf einem Grabstein hängenden jugendlichen Mädchen. „Bringst du ihn sonst um oder was?“
Alle lachten. Dann wurde es still.
Ein Lichtkreis erhellte die Szene. Elmo guckte irritiert.
„Aber das ist doch nicht normal dass jemand sich solange auf dem Friedhof amüsiert, oder was? Ich meine, selbst wenn wir nicht da wären,... was ist das eigentlich für eine Taschenlampe?“
„Lalala, ja, ich bin da, haha, hat mich Jemand was gefragt?“ Die Oma drehte sich zu allen Seiten um und guckte, als würde sie sich vor unbändiger Freude gleich dem Nächsten an den Hals schmeißen. Im nächsten Moment fielen ihre, mit Lachfältchen übersäten, Mundwinkel herab und sie ließ sich schluchzend an die Schulter eines großen, dunklen Mannes sinken (der abgesehen davon natürlich auch durchsichtig war...) Er schaute ungläubig an ihr herunter: „Ingers Imbezilität wird auch immer schlimmer!“
„Moment! Was meinst du mit „auch“ ? Und überhaupt, was krittelst du dauernd an meiner Mutter herum? Sie war ein Genie und das weißt du, du hast dauernd von ihr abgeschrieben!“
Die Frau war gerade dabei auf ihren Mann loszugehen als ein kleiner, huzeliger Mann, den Ylenia bis jetzt gar nicht bemerkt hatte, dazwischen schwebte. „ Um sie auf den vorliegenden Sachverhalt aufmerksam zu machen,...“ Beide drehten sich „ent“geistert zu ihm um.
„ Sie können an den vorherrschenden Zuständen nichts ändern. D.h. Ihrem Mann nicht ein Härchen krümmen.“ Der Wahnsinn spritzte buchstäblich aus ihren Augen: „ Heilige Scheiße, das weiß ich!“ Und sie verschwand kreischend, heulend und wimmernd hinter den dunklen Bäumen.
Elmo leuchtete ihr hämisch mit der Taschenlampe hinterher.
Der Professor riss wieder seinen schlauen Mund auf:
„Selbst wenn es so wäre...!“ und schluckte und verstummte wieder.
Die Oma schwebte vor ihren Grabstein und brabbelte ihn leise weinend voll,
der Vater schweigend zwischen den Reihen hin und her.
„Das muss aufhören!“ er drehte sich nun erwartungsvoll zum Professor um und Ylenia wurde klar, dass er der Mann an der Fahnenstange gewesen war.
Der Prof. sah gar nicht mehr klug aus, sie konnte einen leichten Grünschimmer in seinem Gesicht erkennen.
„Aber,.. ich... ich...!“ er schien kurz davor in Tränen auszubrechen.
„Ja,.. ich weiß.. aber wie?“ Sie sah ihm an, dass er nicht ganz die Wahrheit sagte, seine Lieder zuckten kaum merklich.
Schnaubend drehte der Vater sich wieder um, der Professor starrte durch ihn hindurch. Die Frau kam zurück, kein bisschen beruhigter wie es schien.
„Aha, du glaubst also, dass es dir genehm ist für alle Zeit hier zu verharren?
Das war also deine Absicht als du diesem.. diesem „Professor“ (Tatsächlich?)
Wie nennst du ihn? „Logic“ ? folgtest? Wie zutreffend, nicht war?“
„Sidonie! Niemand...!“ Doch sie unterbrach ihn.
„Das passt zu dieser ganzen Misere, unserer Verdammung auf diesem FRIEDHOF, VERDAMMT NOCHMAL!“
Er trat wieder vor, nun im Scheinwerferlicht und durchsichtig.
„Sidonie! Es war nie die Rede davon gewesen, dass ich das hier gewollt habe!“
Du weißt wovon wir geträumt haben!“ Sidonie nickte, aber ein Bisschen zu hektisch. Die Kinder saßen alle, bis auf den Jungen, ziemlich abseits von ihnen, auf dem Grabstein der Zwillinge gequetscht und verfolgten beklommen die Auseinandersetzung, während Oma kopfüber an einem Tannenstamm hing und belämmert grinste.
„Ich sehe jedenfalls nicht ein! schrie Sidonie „dass ihr tut als hätte ich auch dieses Mal FEHLALARM gegeben. Denn diese Chance lass ich nicht unversucht verstreichen, lasst euch das gesagt sein!“ damit sah sie alle, wirklich alle, mit einem kalten, entschlossenen Blick an. Die Mädchen tauschten besorgte Blicke und Omas Kleid rutschte herunter.
„Ich habe schon damit angefangen und keiner kann mich davon abhalten, lieber gehe ich das Risiko ein als dass... „ sie schwieg, ihre Gesichtszüge lockerten sich und verliehen ihr einen noch wahnsinnigeren Ausdruck als sie sowieso schon hatte, aber an dem was sie gesagt hatte musste etwas dran sein. Denn der Professor trat vor.
„Ich muss sie instruiren, dass es zwar wichtig ist die Hoffnung nicht zu verlieren um überleben zu können... aber...!“
„Überleben nennen Sie das hier?“ rief der Mann nun aus, seine Stimme überschlug sich fast vor Ärger. Doch der kleine Gelehrte ließ sich nicht beirren und sprach weiter. „ Es beschwört die Enttäuschung herauf die wohl oder übel kommen muss. Vielleicht finden sie das Kind aber...“
„Waaas?“ er wurde schon wieder unterbrochen. Diesmal von 3en gleichzeitig.
„Es ist schön, dass sie so langsam mit der Sprache herausrücken, Herr Professor!“ sagte Jurek geschäftig.
„Sie werden sehen, was ich ihnen sagen kann, wird Ihnen nicht weiterhelfen!“
„Ja, Sie mögen sich vielleicht überirdisch intellektueller fühlen als wir es sein können, aber bitte, schreiben sie uns nicht vor was uns zu interessieren hat!“
„Ja, dann...!“
„Nun, machen Sie schon!“
Ein lauter, vernehmbarer Schluckvorgang in seiner imaginären Kehle. Doch dann schien er sich wieder zu fassen und begann:
„Es bedarf einer unerschrockenen Person im Angesicht des Lebens und des Todes! Ich habe niedergeschrieben wie es einzig möglich wäre uns dieses Fluches zu erlösen, doch meine Zunge und mein Herz erlaubten mir stehts nur die halbe Wahrheit preiszugeben. Denn uns zu erlösen bedeutete... uns zu töten!“
„Ach? Wir leben noch?“ Die Mädchen kicherten.
Er antwortete mit Grabesstimme. „Das bedeutete uns unserer Stimmen zuberauben!“ Die Mädchen verstummten wieder. Das fanden sie dann wohl doch nicht so lustig.
Ylenia war kalt, sie spürte wabernden Nebel um sich herum, der immer dichter wurde und ihr schließlich die Sicht versperrte. Schwaches Licht drang durch die Schwaden. Alle waren sie verstummt, nicht all zu weit vernahm sie das Schnüffeln des widerlichen Hundes. Dann verlor sie das Bewusstsein.
Die Stimme im Nebel
Das Weiß umfing sie wie ein riesiges Meer aus Wolken. Undurchdringlich.
Sie hörte nichts, sah nichts, fühlte nur die feuchte Kälte die in jeden noch so verpackten Winkel ihrer Haut drang und sie zum Zittern brachte. Plötzlich vernahm sie eine Stimme in ihrem Hinterkopf. Weit entfernt, schwach, sanft und doch etwas eindringlich. Und sie wurde immer lauter...
Hast du jemals den Wunsch verspürt ewig zu leben? Gab es jemals etwas, das Dich davon abhielte es versuchen zu wollen? Vielleicht die Angst jegliches Gefühl zu verlieren: Furcht, Glück, Identität? Deine Existenz verlöre immer mehr an Bedeutung bis die Sinnlosigkeit dich plagte. Du kenntest alles, nichts ist Dir neu, weil du viel zu viel Zeit hattest es zu erkunden.
Hast du jemals darüber nachgedacht? Dann verstehst du was du tun musst, nicht wahr?
Jede Nacht kehren sie zurück, zu ihren unverwesten Körpern, haben nicht die leiseste Ahnung warum, und sitzen ihre Strafe ab. Eine ganze, verfluchte Familie.
Sie versuchten, unsterblich zu werden, ließen sich von den Visionen eines kopflosen Professors verführen und trugen ewig wärende Schäden davon.
Für immer sollten sie zwischen den Welten umherirren, von der Morgendämmerung vertrieben, um an den Ort ihrer Gräber gebunden, des nachts wieder zurückzukehren.
Balala, mit triefenden Lefzen, hat es bereits gewittert,..er isst ALLES.. überliste ihn... zerstöre ihre Körper...
AUCH UM MEINETWEGEN...
„Um meinetwegen“.. „um meinetwegen“ , hallte es in ihr nach wie ein Mantra, die Stimme entfernte sich, einen leicht traurigen Unterton in Ylenias Erinnerung hinterlassend. Wer war es, der da gesprochen hatte, dachte sie, als sie erwachte, der Nebel sich zurück zog und sie sich klatschnass unter einem Nadelbaum wieder fand, schwer atmend bei all dem Wasser, dass sie unbewusst eingeatmet hatte.
Doch statt Verwirrtheit hinterließ er einen klaren Gedanken in ihr. ER MUSS IHR BLUT RIECHEN!
Sie lugte hinter dem dunklen Baum hervor. Alles war totenstill, keine schwebenden Gestalten zusehen. Und was noch beunruhigender war: zuhören. Wo waren sie? Sie schlich entlang der Reihe, von der sie sich vorsätzlich sehr sehr fern gehalten hatte, um sich nicht aufzudrängen. Es war bestimmt besser die anderen Geister im Glauben zu lassen, sie wäre eine pure Halluzination. Nach Namen suchend die sie eben erst gehört hatte, kniff sie die Augen zusammen und presste ihre Nase in der Dunkelheit an die kalten Steine. In der ganzen Aufregung und sicherlich auch aus Angst sich bemerkbar zu machen, hatte sie die Taschenlampe in ihrer Jackentasche völlig vergessen. Und mit einem Mal schüttelte es sie. Das kleine Geisterkind namens Elmo lachte vor ihrem inneren Auge und leuchtete seiner Mutter direkt ins Gesicht. Mit ihrer Taschenlampe! Sie musste sie verloren haben. ..
Am Ende der nie enden wollenden Reihe sah sie es endlich. Ein Doppelgrab.
Sidonie & Jurek. Ein großer Grabstein zierte es. Gleich im Anschluss war ein sehr kurzes , kleines, mit einem Kreuz aus Holz das den Namen Elmo trug. Gefolgt von einem aufwendig geschnitzten, schwarzen, senkrecht stehenden Stein, der vermutlich der Oma gehörte. Etwas weiter weg war eine runde Marmorscheibe in die Erde eingelassen die im gleißenden plötzlich von den Wolken befreiten Mondlicht die Namen: Ferike und Justina offenbarte. Hier hatten sie gesessen. Geboren am selben Tag, gestorben zur gleichen Zeit. Selbst die Uhrzeit war in den Stein eingraviert. ??.
Aber ein Grab fehlte. Wo war das Grab des Jungen der sich immer etwas in der Ferne aufgehalten hatte? Warum?
Sein Name war nirgends zu sehen. Auf einmal wurde ihr wieder bewusst, dass sie unweigerlich von irgendwo beobachtet werden musste. Sei es nur er, oder sie alle. Die Vorstellung unterdrückend was sie tun würden, sähen sie dass sie ihre Gräber schändete, zog sie ihr Taschenmesser und stocherte in der Erde.
Sie ließ sich auf ihre Knie sinken und schaufelte den Boden auf mit ihren bloßen Händen. Wo waren die Särge? ... Im nächsten Moment hielt sie einen leblosen Arm und schrie auf. Spätestens jetzt wussten es alle.
Doch es blieb still. Obwohl sie wusste, dass sie nicht alleine war. Nachdem sie ein paar Male tief ein und ausgeatmet hatte, stach sie das Messer in den Arm und sah weg. Sie konnte kein Blut sehen. Sie zog das Messer wieder heraus und runzelte verwirrt die Stirn. Es war unbefleckt. So sauber wie es zuvor gewesen war. Gar nicht so einfach wie es ausgesehen hatte. Ylenia schluckte.
Es gab wohl keinen anderen Weg. Zögerlich bewegte sie es auf sich zu und schloss die Augen. „Nur ein Paar kleine Tropfen“ versicherte sie sich selbst und stieß sie einen kleinen Schrei aus, als die Klinge in ihren eigenen Arm drang. So stolperte sie von Grab zu Grab, fast in Ohnmacht fallend vor Ekel und besprenkelte die Erde. Sie roch nichts, doch sie zwang sich zu flüchten, um nicht in Balala’s Blickfeld zugeraten. Er durfte sie nicht finden. Er musste erst graben und buddeln in seiner Gier, die Körper finden und ihren Geruch vergessen.
Ihre Angst wuchs, würde er so lange Suchen um sie zufinden? Eine Lebende?
Nein, sie durfte nicht weiterdenken... nun hatte sie es getan. Sie hielt ihre Wunde zu und realisierte allmählich, dass sie dies alles nicht wirklich selber getan hatte. Die körperlose Stimme hatte sie geleitet. Doch vor Angst wagte sie nicht an Ärger zu denken. Hastig verließ sie den Friedhof, reinigte ihren Arm an einem Springbrunnenbecken auf einem kleinen Platz und sank auf eine Bank daneben. Langsam begann sich ihre Atmung zu verlangsamen und ein brennender Schmerz einzusetzen. Verwirrt sah sie zum Himmel der sich aufzuhellen begann. Das Blau war nicht mehr so rabenschwarz.
Selbst wenn es nicht geklappt hatte: Die Seelen würden bald nicht mehr auf dem Friedhof sein. Widerstrebend schlich sie zurück, hoffend dass der Kanibalenhund sich im stärkerwerdenden Tageslicht zurückziehen würde. Mit bluttriefendem Maul und befriedigtem Verlangen.
Der Nebel war vollkommen verschwunden. Die Luft klar. Im Osten war ein immer größerwerdender Rosastreifen zusehen. Und Ylenia riss den Mund auf: Eine riesige geisterhafte Frau, lange feurige Haare, schwebte vom Horizont auf sie zu.
Plötzlich erinnerte sie sich an die Stimme „von der Morgendämmerung vertrieben“. Das war sie. Es wurde heller und heller und sie hastete über den Friedhof auf der Suche nach einem Zeichen.
Sie waren nicht mehr da. Ihre Gräber verschwunden...
Dawn hing über den Bäumen mit einem Ausdruck größten Erstaunens in ihren Zügen.
Ylenia sah sich um.
Im nächsten Moment war auch sie fort.
Die grelle Sonne schien ihr direkt ins Gesicht und machte sie blind für einen Augenblick.
Die unlösbare Aufgabe
Nun war sie alleine. Das dachte sie jedenfalls.. Erschöpft, dennoch aufgekratzt wandelte sie noch eine Weile herum und las Inschriften auf den Grabsteinen. Keine der Namen kannte sie, außer den ihres Cousins natürlich, da die Familie erst vor wenigen Jahren hergezogen war.
Am Ende des Friedhofs war ein kleiner grasbewachsener Platz vor einer Kapelle. In seiner Mitte war ein Tisch aus Felssteinen neben 3 über einem Steinbecken installierten Wasserhähnen. Schön hergerichtet.
Ylenia setzte sich darauf und versank in Gedanken. Bange, es mochten wieder nicht ihre eigenen sein. Was hatte sie da getan. Und für wen? Wem hatte sie da eigentlich geholfen? Sie rieb ihren Arm.
Einige Momente später zuckte sie zusammen. Es war die Stimme. Doch sie klang anders...
Kann ich näherkommen?
Was war das, es war nicht in ihrem Kopf. Es war direkt neben ihrem Ohr wie es schien. ?. Langsam, vorsichtig drehte sie sich um...
Sie hatte es nicht geschafft. Da war immer noch ein Geist. Was hatte sie nur falsch gemacht? Sie hätte froh sein sollen, dass es nicht der Hund war, im Nachhinein. Aber stattdessen sah sie entsetzt an ihrem blutigen Ärmel herunter und eekelte sich vor sich selbst. Immer noch Halluzinationen. Es war alles eingebildet gewesen und war es immer noch. Am Ende hatte sie sich selbst verletzt und es hatte sie immer noch nicht erwachen lassen. Sie konnte es nicht ertragen, dass sie womöglich einen psychischen Schaden hatte...
Da begann es wieder zu sprechen.
Es ist alles in Ordnung. Alles so wie es sein soll!
Sie sah nun genauer hin, erkannte den Jungen von vorhin, und schüttelte den Kopf. Das konnte nicht sein... es konnte...
Ich bin Amar, sprach er mit leiser und sanfter Stimme, ich gehöre nicht zu den Anderen. Den armen Verfluchten. Meine Aufgabe hier war eine andere.
Nun habe ich sie erfüllt. Durch dich, VIELEN DANK!
„Aber...“
Ich war es, der zu dir sprach. Ich sollte sie (mehr oder weniger) erlösen.
Nun sind sie , wo sie es verdienen zu sein. Und ich.. ich darf jetzt hoffentlich auch dorthin zurückkehren wo ich hingehöre...
Lebewohl, solange es dir noch gegönnt ist, tu alles was du tun musst solange du kannst, so werden wir uns eines Tages wiedersehen.
Daraufhin blickte sie ins Leere, während eine kleine, unscheinbare Wolke in den Himmel hinauf stieg und sich zu den Anderen gesellte.
Ylenia goss die Blumen auf dem Grab ihres Cousins und dachte an ihn, wie er dort oben war. Halb hoffte sie, halb fürchtete sie sich davor er hätte noch unerledigte Aufgaben... was mochte das für Konsequenzen haben?
Sie war gerade dabei sich zu erheben und den Friedhof entgültig zu verlassen, da eine erneute ungemütliche Vorahnung sie innehalten ließ.
Die Sonne stand nun schon relativ hoch. Sie brauchte keine Angst mehr zu haben und freute sich auf ihr warmes Bett. Dennoch, da war eine tieftraurige Atmosphäre um sie. Erneut das Grab betrachtend traute sie ihren Augen nicht: eine zusammengesunkene Gestalt hing über ihm, unsichtbare Tränen tropften auf das provisorische Kreuz herab und schüttelten ihren flüchtigen Körper.
Es war Amar. Ylenia beschloss, jegliche furchtsamen Gedanken um sich und ihre psychische Gesundheit zu verdrängen und begann zu akzeptieren was sie sah. Vorsichtig sprach sie: „Was ist es Amar? Hab ich etwas falsch gemacht?“
Er wandte sein verweintes Gesicht ihr zu.
Nein, überhaupt nicht! Das darfst du nicht denken... Das Licht hat mich überschätzt. Ich bin doch nur ein Kind.. wie hätte ich wissen sollen? Und wie sollte ich es so herausfinden?...
„Was herausfinden?“
Meine wahre Aufgabe? Ich sollte lernen was ich versäumt habe. Und jetzt habe ich mich weiter von meinem Frieden entfernt denn je... Denn das Licht ist Gesetz.. das Licht macht Gesetz.. und das Licht kann es nicht ändern...
Ich wurde nicht geliebt! In der kurzen Zeit, die mir in meinem Leben zugeteilt wurde, wurde ich nicht geliebt. Ich lernte nie zu lieben...Das weiß ich nun... nach dem das Licht sich meiner erbarmt hat, wie barmherzig, wenn du mich fragst. Und ich finde heraus, dass ich dies nie nachholen kann. Denn meine Eltern haben mich längst vergessen und werden mich davonjagen.. so wie sie mich „loswurden“ als ich noch lebte. Für mich gibt es keinen Himmel!
„Also solltest du andere von ihren Irrungen erlösen um dich selbst zu befreien? Warum hast du es getan?“
Warum ich es getan habe? Es wurde mir so befohlen. Es war der einzige Weg!
Gibt es noch andere Gründe? Ylenia sah ihn entschlossen an.
Ich.. ich würde es nicht wollen.. so zu vegetieren.. ich will es nicht mehr!“
„Das ist es!“ Sie lächelte. „NÄCHSTENLIEBE... verstehst du?“
Amar hob die Augenbrauen... Wie... wie... ?..
„Ich würde sagen, du bist auf dem richtigen Weg. .. und ich werde dich bis zum Ende begleiten.“ Damit machte sie eine Geste als nehme sie seine Hand, was natürlich nicht ging und wies auf die Friedhofspforte.
„Irgendjemand wird es lieben Dir zu helfen!“ sagte sie zwinkernd.
*) Amar =Der Unsterbliche...
*) Balala= Der Hungrige ;)
Texte: Charlie Crumble
Tag der Veröffentlichung: 09.06.2009
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Für alle die ihre Zeit genießen und die Anderer lebenswert machen