Der Anruf erreichte mich kurz vorm Schlafengehen. „Ich habe nur noch eine Flasche, bald sitze ich auf dem Trockenen. Du musst mir helfen!“
Ich war mir sicher, dass meine Tante Luisa in ihrem Alter nicht plötzlich dem Alkohol verfallen war. „Wovon hast du nur noch eine Flasche?“
„Von dem Öl!“ empörte sich Tante Luisa.
Ich seufzte. Das Öl. „Du meinst dieses italienische Öl?“
„Ich meine das Olivenöl aus der Toskana von der Fugnano da Luigi, das -“
„Dann gehst du morgen eben einkaufen.“
Keiner aus Tante Luisas näherem Umfeld hatte sich in den letzten Monaten den Vorträgen über dieses Wunderöl entziehen können und ich war nicht bereit, mir die Geschichte ein weiteres Mal anzuhören. „Schließlich drängeln sich in jedem halbwegs gut sortierten Supermarkt mindestens fünf Olivenöle um den besten Platz.“
Das Schweigen am anderen Ende dauerte lange genug. Ich lenkte ein. „Na gut, dann gehen wir mal zu der kleinen Salumeria bei uns und schauen da. Nein, warte, in der Pestalozzistraße gibt es doch einen speziellen Olivenöl-Laden. Irgendwas werden wir da schon finden.“ Kaum hatte ich den Satz zu Ende gebracht, hätte ich mir auf die Zunge beißen können.
„Irgendetwas! Kind, entschuldige, aber du hast keine Ahnung davon, was Luigis Öl so unvergleichlich macht. Wenn du diese uralten, starken Bäume gesehen hättest! Die handgeknüpften Netze, in denen die Oliven zur Presse getragen werden. Du musst wissen, bei Luigi gibt es das Öl nur extra vergine, kaltgepresst! Dieses grün-goldene Leuchten, wenn das Öl auf deinen Salat tropft ... , ach, das muss man vor Ort erlebt haben. Und es ist so gesund!“, dozierte Tante Luisa ungefragt weiter. Zum gefühlten hundersten Mal zählte sie all die Leiden auf, gegen die Olivenöl laut der Apothekenrundschau helfen sollte. Bei der gedächtnisfördernden Wirkung gelang es mir, sie wieder zum Kern des Problems zu bringen. „Warum rufst du nicht Luigi an und lässt dir ein paar Flaschen schicken?“
Wie naiv von mir, zu denken, eins von Tante Luisas Problemen könnte auf so einfache Art und Weise gelöst werden. Von all den Ölbauern in der Toskana war ausgerechnet Luigi Globalisierungsgegner und weigerte sich, das Öl außerhalb seines Landstrichs zu verkaufen.
„Tja, dann musst du eben in die Toskana fahren“, schlug ich vor.
„Kind, ich fahre nie zweimal an denselben Ort – das Leben ist kurz und ich will noch so viel erleben.“
Für einen Moment wurde ich von dem Gedanken abgelenkt, wie sich die jährlichen Aufenthalte in Bad Saarow mit dieser Einstellung vereinbaren ließen. Doch der nächste Satz riss mich wieder in die Gegenwart und ließ mich Schlimmes ahnen. Tante Luisa sagte in ihrem nettesten Plauderton: „Ich dachte, wir kennen vielleicht jemanden, der möglicherweise in der nächsten Zeit ...“.
Für einen kurzen Moment erwog ich, den Hörer einfach aufzulegen.
„Aber wenn ich dir mit dieser kleinen Bitte zur Last falle, dann kann ich ja auch Frau Berger aus dem Sportverein fragen, die macht das bestimmt gerne.“ Resigniert versprach ich, bei meinen Freunden und Kollegen nachzufragen.
BND, CIA und die anderen Nachrichtendienste wären vor Neid erblasst, wenn sie erlebt hätten, wie schnell wir unser Netzwerk aktivierten. Leider ohne das erhoffte Ergebnis.
„Urlaub? Malediven, solange sie noch da sind.“
„Dieses Jahr noch mal richtig weit weg, wer weiß, wie lange uns die Regierung noch Fernreisen machen lässt“, waren nur zwei der Pläne. Andere Freunde entpuppten sich als überzeugte Skandinavienurlauber oder wollten in diesem Jahr Deutschland erkunden. Tante Luisas Mund wurde mit jedem Tag, der ohne Erfolgsmeldung verstrich, verkniffener. Mir graute schon vor unserem sonntäglichen Familientreffen.
„Ich hab jemanden gefunden!“, rief meine Schwägerin, als sie aus dem Auto stieg. „Mein Kollege hatte gerade Besuch von seinen ehemaligen Nachbarn, die letztes Jahr nach München gezogen sind. Und die machen einen Sprachkurs ganz in der Nähe der Toskana.“
Tante Luisa strahlte erleichtert, doch ich fragte argwöhnisch nach: „Wo genau da in der Nähe?“
„Abruzzien“, antwortete meine Schwägerin, während sie sich schnell bei Tante Luisa einhakte. Meinen strafenden Blick vermied sie aus gutem Grund. Tante Luisa strahlte: „Ach, da müssen die nur einmal quer rüber fahren, das geht schon, Italien ist ja nicht so breit“, und drückte meine Schwägerin dankbar.
Ein paar Wochen später fuhren die Nachbarn mit besseren Italienischkenntnissen und einem Karton voller Ölflaschen zurück nach München. Das Öl hatte Deutschland erreicht, aber es war noch ein langer Weg nach Berlin. Verschicken kam nicht in Frage, die Flaschen waren nur mit dekorativen Korken verschlossen. Aber Tante Luisa hatte bereits eine Idee entwickelt.
„Ihr habt doch mal diese reizende Frau aus Frankfurt kennen gelernt“, pirschte sie sich beim Sonntagskaffee an das Thema heran. „Hatte die nicht eine alte Klassenkameradin, die mit einem Mann verheiratet war, dessen Bruder in München lebt?“ Tante Luisa ließ erst locker, als ich telefonisch sicher gestellt hatte, dass ihr Öl wieder ein Stückchen weiter Richtung Berlin transportiert werden konnte. Jeder Zentimeter zählte. „Und wenn dein Mann zu dem Fußballspiel Eintracht gegen Hertha fährt, kann er das Öl doch einfach mitbringen.“
Tante Luisas Pläne hören sich stets gut an, werden aber seltsamerweise nie realisiert. Zwar traf sich die Klassenkameradin mit ihrem Schwager und übernahm das Öl. Unglücklicherweise hängte sie ein paar Wellnesstage in Bayern an und erreichte Frankfurt erst, als der Zug meines Mannes bereits in Berlin einfuhr. Nun stand das Öl in Frankfurt. Langsam verzweifelte ich. Tante Luisas Blick wurde zunehmend ungnädiger, während ich nachts schon von reisenden Ölflaschen träumte.
Eines Tages rief mein nach Wiesbaden verzogener ehemaliger Chef an. Leider war Tante Luisa schneller als ich am Telefon.
„Dr. Weinheim macht eine Schiffsreise ins Baltikum. Er fährt in Kiel ab, da treffen wir uns mit ihm“, erklärte sie beiläufig. „Was schaust du mich so an?“
Ein Tagesausflug nach Kiel war nicht das, was ich mir unter einem gelungenen Wochenende vorstellte. Außerdem machte sich bei mir ein ungutes Gefühl breit. Dr. Weinheim war bereits vor seinem Ruhestand schon dafür bekannt gewesen, gerne Termine durcheinander zu bringen.
„Die Estnische Prinzessin? Die ist gestern schon abgefahren“, erklärte uns die Mitarbeiterin der Reederei.
Zu Hause wartete ein Telegramm auf uns.
„Öl wohlauf. Komme auf der Rückreise per Bahn nach Berlin“.
Er kam. Wenn auch ohne das Öl, das er im Hotel in Vilnius vergessen hatte. Tante Luisa tobte. Ohne die gefäßverwöhnende Wirkung ihres heißgeliebten Öls hätte sie wohl einen Herzinfarkt bekommen. So schnaubte sie nur: „Ich bin fünf Jahre älter als er und vergesse nie etwas. Man sollte dem Mann mal etwas von der gedächtnisfördernden Wirkung des Olivenöls erzählen!“ Türenschlagend verließ sie das Zimmer. Mein Mann ließ die Zeitung sinken, hinter der er sich versteckt hatte. „Nur fünf Jahre? Und was war letztes Jahr mit deinem Geburtstag?“
Nach einem Schlückchen Öl aus der letzten Flasche erinnerte sich Dr. Weinheim an einen netten Esten, der ab und zu geschäftlich in Hannover zu tun hatte und sicher gerne das Öl mitnehmen würde. Der Rest war ein Kinderspiel. Ein aus Hannover stammender Kommilitone meiner Tochter wurde von Tante Luisa in ernstem Ton ermahnt, seine Eltern häufiger zu besuchen. „Die sind immerhin schon Ende Fünfzig. Wie schnell kann da was passieren. Ich will nicht den Teufel an die Wand malen, aber ein Freund von mir – er war noch nicht mal so alt wie deine Eltern - , ganz schnell ist das damals gegangen.“ Der junge Mann organisierte sich noch am selben Tag eine Mitfahrgelegenheit.
Nach der mehrwöchigen Europareise und dem Beweis, dass tatsächlich jeder über sechs Ecken mit jedem - zumindest mit Tante Luisa - bekannt ist, erreichte das Öl endlich Berlin. Gerade noch rechtzeitig, denn die ersten Entzugserscheinungen hatten eingesetzt. Erleichtert nahm Tante Luisa den Karton entgegen. „Es mag ein bisschen umständlich gewesen sein, aber es lohnt sich wirklich...“ meinte sie und gab mir gnädig eine Flasche ab. „Wenn ihr das nächste Mal zum Essen kommt, mache ich Lammkoteletts mit dieser leckeren Zitronen-Ei-Olivenölsoße.“
Ein paar Tage später war es so weit. Ich bot Tante Luisa meine Hilfe an und während ich Kartoffeln schälte und den Salat putzte, kümmerte sie sich um die Soße.
„So, Zitrone und Ei sind soweit, gibst du mir bitte das Olivenöl rüber?“, bat mich Tante Luisa.
Ich öffnete den Schrank und erstarrte. Dunkelgrün leuchtete mir eine Flasche entgegen. Eine Flasche mit Schraubverschluss. Eine Flasche, die ich selbst schon häufig in meinen Einkaufswagen gelegt hatte. Anklagend hielt ich das Olivenöl vom Discounter hoch. „Was ist das?“
Tante Luisa quetschte mit äußerster Konzentration das letzte Tröpfchen aus den Zitronenschalen und schaute mich nicht an. „Ach, weißt du, mir schmeckt Luigis Öl nicht so gut wie das da. Die Ernte war wohl dieses Jahr schlecht.“ Besänftigend fügte sie hinzu: „Aber nächstes Jahr ist das bestimmt wieder anders. Hast Du schon gefragt, wer Urlaub in der Toskana macht?“
Tag der Veröffentlichung: 02.01.2009
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