Cover

1

Ich kurble das Autofenster herunter um die Hand nach draussen zu halten. Ein kühler Luftzug streicht über mein Gesicht, vertreibt die Hitze der gnadenlosen Sonne. Im Radio drescht irgendeine deutsche Punkband auf ihre Instrumente ein. Ich lächle. Ich bin frei.

Und ich sehe sie, wie sie konzentriert das Steuer festhält und die Lippen zum Songtext bewegt. Die grossen, blauen Augen auf die leere Strasse gerichtet.

„Kannst du auf der Karte nachschauen, ob wir richtig sind?“ fragt sie, ohne den Blick von der Strasse zu nehmen. Sie ist immer so eine ernste Fahrerin. Klappernd öffne ich das Handschuhfach, ein

Stapel CD’s fällt mir entgegen. Ich klaube die zerknitterte Strassenkarte aus der hintersten Ecke und falte sie auf. Unsere Route ist rot markiert. Ich halte Ausschau nach einem Schild mit Strassennamen um mich zu orientieren. Da kommt gerade ein. „Wir sind wohl falsch abgebogen...“ murmle ich. „Was?“ „Wir sind falsch abgebogen!“ sage ich lauter. Sofort wird das Auto langsamer und rollt schliesslich an den Strassenrand.

Lykkja boxt gegen das Lenkrad. „Scheisse! Wie viele Kilometer?“ Ich zeige es ihr. „Scheisse, scheisse, scheiss. Wir schaffen es heute nicht mehr.“ Sagt sie. Ich nickte. Die Sonne geht bald unter und wir haben noch ein paar Stunden Fahrt vor uns. „Vor einer halben Stunde sind wir an einer Raststätte vorbei. Wir können dort schlafen.“ Schweigen. „Hey, nicht wütend sein.“ sage ich leise. „Dann kommen wir eben morgen an.“ Ich nehme ihre Hand. „Das macht nichts.“ Sie nickt. Und nickt noch einmal. „Also gut.“ Sie wendet das Fahrzeug und fährt zurück.

Die Raststätte ist klein und schmuddelig. Aber wir bekommen sofort ein Zimmer und einen Laden hat es unten im Erdgeschoss auch.

Wir klauben etwas Geld zusammen und kaufen Sandwiches und Bier. Dann setzten wir uns auf die noch warme Motorhaube des Autos und sehen der Sonne beim Untergehen zu.

„Ich will einfach, dass alles perfekt wird.“ flüstert sie in meine Halsbeuge. „Ich habe einen Fehler gemacht. Und ich will jetzt alles richtigmachen.“ Ich streiche ihr über ihr kurzes Haar, küsse ihre Stirn. „Du bist wieder bei mir. Das macht alles wett.“

Am nächsten Morgen fahren wir weiter. Der Kaffee in unseren Händen dampft, während die Brötchen bereits eiskalt sind. Mit der alten Polaroidkamera schiesse ich ein Bild. Von Lykkja, wie sie hochkonzentriert ist. Ihre Haare sind noch verstrubbelt, das Gesicht ungeschminkt. Die Kleider sind zerknittert, weil es dieselben wie gestern sind. Es ist ein wunderschönes Foto, dass sie in all Ihrer Vollkommenheit zeigt.

Wir erwischen die richtige Strasse und preschen durch die menschenleere Gegend.

Es wird Mittag bis wir ins nächste Dorf kommen. Wir wechseln die Plätze und ich übernehme das Steuer. Wir sind fast da.

Endlich biege ich auf den schmalen Feldweg ab, der direkt in ein lichtes Wäldchen aus Palmen führt. Mein Herz pocht zu fest, mein Atem geht zu schnell.

Ich halte am Ende des Weges und steige aus. Es sieht genau so aus, wie vor 2 Jahren. Genau so verlassen, genau so wunderschön. Lykkja öffnet den Kofferraum und wir holen die Rucksäcke, das Zelt und die Kühlbox.

Nach zehn Minuten sind wir da. Die kleine Lichtung, direkt vor den Dünen aus weissem Sand. Das Meer bricht am Ufer. Ich stelle das Gepäck ab und wir bauen das Zelt auf.

Lykkja öffnet zwei Flaschen Bier und wir platzieren uns auf der ersten Düne. Vom Wasser

her weht ein angenehmer Wind, das Salz setzt sich auf uns ab und lässt die Haut kleben.

Schweigend sitzen wir da. Es ist ein angenehmes Schweigen. Mit Lykkja bin ich gerne still.

„Möchtest du darüber sprechen?“ fragt sie nach einer Weile. Will ich eigentlich nicht, aber sie will. Sie will sich erklären. „Ich habe dir verziehen. Nur das zählt.“ antworte ich leise. Sie nimmt den Kopf von meiner Schulter und sieht mich an. „Es tut mir wirklich leid.“ bricht sie dann das minutenlange Schweigen. „Ich hatte niemals vor dich zu verleugnen. Ich wollte dich nicht verletzten. Ich kann dir nicht einmal sagen, warum ich das getan habe.“ Wir haben dieses Gespräch schon mehrere Male durchgekaut und es tut uns beiden weh. „Ich bin mir einfach unfassbar dumm vorgekommen.“ Ich habe bis jetzt nichts dazu gesagt, aber ich denke sie verdient meine Ansicht. „Es hat mich verletzt da zu stehen, vor all deinen Freunden und Verwandten, denen du erzählt hast, dass du einen Freund hast. Ich habe darauf gewartet, dass du sie korrigierst.“ Ich höre Lykkja schlucken. „Ich bin noch nicht soweit gewesen.“ erklärt sie. „Ich weiss Maus. Ich weiss. Ist schon gut.“ beruhige ich sie. Aber sie macht weiter: „Du weißt ja auch wie meine Eltern sind. Ich weiss nicht ob sie es akzeptieren können.“ Sie nimmt meine Hände in ihre. „Aber wenn wir zurück sind, dann sage ich alles.“ Sie küsst mich mit ihren weichen, warmen Lippen. „Du bist alles was ich will. Und ich werde dazu stehen. Du bist meine Freundin.“ flüstert sie. Und nichts würde mich glücklicher machen. Ich nehme ihren Kopf in meine Hände und küsse sie, mit aller Liebe, die ich zu geben habe. Klick! Die Polaroidkamera spuckt ein Bild aus. Ich habe nicht einmal gemerkt, dass Lykkja die Kamera mitgenommen hat.

Ich lache auf und wir trinken das Bier aus, bis das Foto entwickelt ist. Es ist ein wenig zu hell. Darauf sind zwei junge Frauen, eine mit kurzen violetten Haaren und eine mit stacheligem, blauem Iro. Sie haben die Augen geschlossen. Vor mir entfaltet sich unsere ganze Beziehung. Wir streiten, wir sind wütend, ignorieren uns, verletzten uns. Aber wir lieben uns und nichts auf der Welt wird mir das nehmen. Heimlich erkläre ich es zu meinem Lieblingsbild.

Die Nacht ist schwül und heiss im Zelt. Irgendwann bin ich hell wach, obwohl es draussen noch stockfinster ist. Ich strecke mich, ziehe den Arm unter Lykkjas Kopf hervor. Sie seufzt und schläft weiter. Eine Weile lausche ich ihrem leisen Schnarchen, dann gehe ich nach draussen. Am Horizont ist bereits der erste Tagesschimmer zu sehen. Es wird noch Stunden gehen, bis er anbricht. Am Himmel leuchten Millionen Sterne. So viele mehr, als man jemals in der Stadt sehen würde. Ich lege mich hin, auf den Rücken und starre nach oben. Warum können wir nicht hier bleiben? Es würde alles einfacher machen. Wir könnten glücklich werden. Blinzend wache ich auf, weil mir der Geruch von Feuer uns Kaffee in die Nase steigt.

Lykkja steht an einem kleinen Lagerfeuer und überwacht die Kanne in den Flammen. Sie singt, ganz leise, aber der Wind trägt die Worte zu mir. Es ist ein Liebeslied, ich kenne den Text nicht. Lykkja hat eine wunderbare Singstimme. Tief und melodisch.

Ich klopfe mir den Sand aus den Kleidern. „Warum hast du mich nicht geweckt?“ Sie lächelt mich an und drückt mir einen Kuss auf den Mund. „Du hast so entspannt ausgesehen. Wollte dir den Moment nicht nehmen.“

 

 

 

 

 

 

 

 

 

2

Nach zwei Tassen starkem, bitterem Kaffe zerren wir uns die Kleider von den Körpern und springen ins Meer. Was Wasser umspült uns, als wolle es uns in seine Tiefen reissen.

Wir plantschen, spritzen einander nass. Wir tauchen und schwimmen um die Wette. Am Schluss versinken wir eng umschlungen in den Fluten ohne den Plan jemals wieder hoch zu kommen. Als die Finger und Zehen längst verschrumpelt sind wagen wir uns wieder an Land. Wir liegen zwischen den Palmen, rauchen und hängen unseren Gedanken nach.

Am Abend entzünden wir das Feuer neu um das Fleisch zu grillen das in der Kühlbox lagert. Dazu machen wir Kartoffeln, in Alufolie gewickelt. Ich zaubere eine Flasche Ketchup aus dem Rucksack, woraufhin Lykkja vor Freude quietscht und mir um den Hals fällt. Sie liebt da Zeug fast noch mehr als mich.

Wir geniessen das Essen und noch einmal sollte Lykkja mich überraschen. Sie holt ein kleines Plastiktütchen aus dem Zelt in dem drei vorgedrehte Joints liegen. „Hast du Lust?“ fragt sie mit verführerisch tiefer Stimme. Ich ziehe sie zu mir. „Auf dich und Gras immer!“ knurre ich zurück.

Wir zünden den ersten an und eine halbe Stunde später kichern wir um die Wette und sind völlig breit. Lykkja erklärt mir etwas, ich weiss nicht was. Ich pruste los. „Was, was... Moment! Um was geht es gerade?“ Mit ein paar Sekunden

Verspätung beugt sie sich vor, starrt mich an und sagt dann: „Ich habe sowas von keinen Plan!“ Sie gackert los, sieht dann verwirrt in der Gegend rum um noch einmal zu lachen. Ich beobachte sie verblüfft. „Lykkja.“ sage ich. „Lykkja! Manchmal ist dein Lachen wo schräg...“ Wir lachen und lachen und die Zeit vergeht, ohne uns streifen. Wir stehen still.

Am Morgen liegen wir immer noch draussen, eng aneinander gekuschelt. Wage erinnere ich mich daran, dass wir noch mehr Bier getrunken und noch mehr Joints geraucht haben. Und wir haben schemenhaften Sex gehabt. Dabei sind wir wahrscheinlich eingeschlafen.

Wir kochen Kaffee und gehen schwimmen. Ich spaziere den Dünen entlang, schiesse Fotos von allem was ich sehe. Aber ich sehe sowieso nur Lykkja. Immer Lykkja. Eine Weile lang denke ich über die letzten Monate nach. Über unsere

Beziehung. Ich bin überzeugt, dass wir jede Hürde schaffen, sobald sie es ihren konservativen Eltern gesagt hat. Ihre Eltern sind der einzige Stein in unserem Weg.

Morgen ist unser letzter Tag hier. Wehmütig geniesse ich den Ausblick. Wir müssen beide nächste Woche wieder an die Uni und zur Arbeit. Und Lykkja möchte genug Zeit haben um mit Ihren Eltern zu sprechen. Ich verstehe das. Nicht für alle ist es so einfach wie für mich.

Mein Vater hat meine Mutter verlassen, als er erfahren hat, dass sie schwanger war. Tönt nach einem Klischee, ist aber wahr. Sie sind beide noch sehr jung gewesen. Ich werfe ihm auch nichts vor, aber ich brauche ihn auch nicht. Wir haben gerade genug zum Leben und sind glücklich so. Sie hat mein Outing, als Pansexuelle Frau, vor zwei Jahren voll und ganz unterstützt. Ohne sie hätte ich das wohl nicht so gut überstanden.

Ich gehe zurück zu Lykkja. Wir sitzen zusammen und geniessen die letzten Stunden.

Am Morgen packen wir alles und gehen noch einmal schwimmen. Ich sauge die Luft in meine Lungen, als könnte ich sie für immer in mir verewigen. Dann fahren wir los, früh genug, um im Dorf noch Proviant zu kaufen.

Gegen den Abend fahren wir bei Lykkja in die Einfahrt. „Willst du, dass ich mit reinkomme?“ Sie nickt. Ich greife nach der Autotüre, aber sie hält mich auf. „Warte, warte…“ Ich wende mich ihr zu. „Können wir es morgen früh machen? Ich hole dich ab und dann sag ich es ihnen.“ Es verunsichert mich, aber stimme zu.

Ich muss ihr die Zeit geben, die sie braucht.

Wir steigen aus und verabschieden uns.

Von Lykkjas Haus fahre ich noch fünfzehn Minuten mit dem Bus bis zu mir. Das Haus ist dunkel, die Türe abgesperrt. Mom ist wohl nicht zu Hause. Ich stelle den Fernseher an und fläze mich auf Sofa.  Aber meine Gedanken driften immer wieder ab. An meinem Shirt haftet noch ihr Duft, ich denke an sie. An das schöne Gesicht, die geschwungenen Hüften… Mein Herz macht Luftsprünge. Und morgen hört das Versteckspiel endlich auf. Morgen hören wir auf.

Ich bin früh wach, weil ich so nervös bin. Ich ziehe einen schwarzen Jeansrock an und ein dunkles Hemd. Nicht mein bevorzugtes Outfit, aber ich möchte einen guten Eindruck machen.

Dann mache ich Kaffee, sitze auf den Balkon und rauche eine Zigarette. Ich warte lange, bevor ich mein Handy hole und Lykkja eine Nachricht schreibe.

Eine Stunde später sitze ich immer noch dort. Ich rufe sie an, aber sie nimmt nicht ab. Ich beginne mir schon sorgen zu machen. Dann braust ihr Auto plötzlich um die Ecke und sie pflückt mich von der Strasse.

Mom schreibe ich eine SMS und schalte das Telefon aus.

Wir parken vor einem kleinen Lokal. „Ich habe neutralen Boden gewählt. Dann wird es hoffentlich ruhig bleiben.“ Sie ist noch nervöser als ich.

Ich gebe ihr einen schnellen Kuss. „Maus, du siehst fantastisch aus.“

Wir sitzen an einem Nischentisch, ihre Eltern sind

bereits da. Sie lächeln uns zu. „Hallo Hanna, wie schön dich zu sehen!“ begrüsst mich ihre Mutter. Ich lache gezwungen zurück. „Hallo.“

Wir sind beide zu aufgeregt, um etwas zu essen oder zu trinken.

Lykkja holt tief Luft und beginnt: „Mama, Dady, ich möchte euch gerne Hanna vorstellen.“ Ihre Mutter plappert sofort dazwischen. „Schätzchen, wir kennen Hanna doch bereits.“ „Mama, jetzt warte doch.“ Sie sieht mir in die Augen und ohne den Blick abzuwenden sagt sie: „Hanna ist meine Freundin.“ Die Worte sind federleicht, aber mir fällt ein riesiger Felsbrocken vom Herzen.

Einige Herzschläge lang geschieht gar nichts, ich linse nach links, um Lykkjas Eltern anzusehen. Ihre Mutter hält den Kreuzanhänger ihrer Kette fest, der Vater starrt seine Tochter an, als hätte sie ihm etwas furchtbar Schlimmes erzählt.

Eine Weile lang herrscht angespanntes

Schweigen. „Aber…“ Megan verschluckt den Rest des Satzes und setzt neu an. „Lykkja, Schatz, was ist mit Brian?“ Lykkja sieht ihre Mutter fest an. „Mom, Brian gibt es nicht wirklich. Ich habe nur keinen Mut gehabt von Hanna zu erzählen.“

Ich weiss nicht ob ich etwas sagen sollte. Vielleicht würde es alles nur schlimmer machen, aber in meinen Fingern juckt es bereits. „Megan, Andy, wenn ich etwas sagen darf.“ beginne ich, alle Augen richten sich auf mich. „Wir lieben uns und ich finde, sie sollten hinter ihrer Tochter stehen.“

Da platzt die Bombe auch schon. Ihr Vater wird krebsrot, als er schwungvoll aufsteht, kracht der Stuhl nach hinten. „Du hältst ganz schnell deine Klappe! Du bist überhaupt schuld an dieser Katastrophe! Du hast sie verführt und wirfst sie dem Teufel zum Frass vor!“ Er schreit sich förmlich in Rage. Dann zieht er Lykkja grob am Arm hinter dem Tisch hervor. „Und du, junge Dame! Es reicht! Du siehst sie nie wieder!“ Einen Moment lang denke ich, dass Lykkja einknickt, aber dann reisst sie sich los und feuert zurück: „Nein! Ich liebe Hanna und ihr könnt mir das nicht verbieten! Nur weil ihr zu verkorkst seid um das zu erkennen, gebe ich es niemals auf!“ Sie zittert. Ob aus Wut oder Angst, weiss nur sie. Megan steht jetzt ebenfalls auf. „Dann bist du nicht länger unsere Tochter.“ Ihre Stimme ist leise, der Schmerz, der darin mitschwingt, zerdrückt mich beinahe. Ein Schmerz, den ich auf keine Weise nachvollziehen kann.

Und dann sind sie weg. Nur ein unangetasteter Kaffee zeugt noch davon, dass sie hier gewesen sind. Es tut mir unendlich leid für Lykkja, aber ich bin erleichtert, hat sie es getan und ist standhaft geblieben.

 

 

3

 

Ich nehme sie mit zu mir nach Hause. Wir haben

kein Wort gewechselt, seit wir losgegangen sind.

Zu Hause verkriecht sie sich sofort in meinem Bett, während ich mich zu meiner Mom in die Küche setzte.

Sie schenkt mir Tee ein und wir sitzen am winzigen Holztisch. Die Worte sprudeln nur so aus meinem Mund hervor. Meine Mutter streicht sich eine braune Locke hinters Ohr und mustert mich mit wissenden Augen. Dann sagt sie: „Es wird vielleicht eine Weile dauern, aber sie werden lernen damit umzugehen.“

Wir verbringen die restlichen Ferien in meinem Bett unter steter Aufsicht meiner Mutter. Sie kümmert sich um das Häuflein Elend an meiner Seite, päppelt es auf, bis es wieder geradesteht.

„Ich hole nach der Uni ein paar Sachen aus meinem Zimmer.“ informiert sie mich. Meine Mutter hat ihr erlaubt bei uns zu wohnen, solange es eben dauert. „Sehr gut. Ich nehme den Bus nach Hause.“

Ich drehe ihr Gesicht zu mir, bevor wir aussteigen. „Geht es dir gut?“ will ich wissen. Sie nickt und ein zaghaftes Lächeln umspielt ihr Augen.

Der Tag zieht sich in die Länge. Ich mache Notizen und meine Ohren fallen beinahe ab. Umso grösser ist die Freude als ich endlich nach Hause kann.

Zwanzig Minuten später helfe ich meiner Mom beim Kochen. Lauthals singen wir „Ist’s

raining men“, krumm und schief, aber mit Leidenschaft. Ich hacke Peperoni und Tomaten für die Sauce. Mom macht den Reiskocher an.

„Ist’s raining men! Halleluja!“ Das Lied verklingt und ich stelle eine Frage, die mich schon lange beschäftigt. „Triffst du dich mit jemandem?“ überrascht bleibe ich stehen, dann lacht sie. „Schätzchen, dafür habe ich doch gar keine Zeit.“ „Aber für mich wäre es in Ordnung. Ich fände es schön, wenn du jemanden hast mit dem du glücklich bist.“ Sie nickt. „Ich weiss Hanna. Irgendwann wird einer kommen, der mich verzaubert…“ verträumt sieht die in die Luft. „Apropos, wo ist denn deine bessere Hälfte?“ Ich blicke auf die Uhr. „Sie holt ein paar Sachen aus Ihrem Zimmer. Sie sollte jeden Moment hier rein stürmen.“

Das Essen ist eine halbe Stunde später fertig, wir sind immer noch zu zweit. Ich wähle Lykkjas Nummer. Ausgeschaltet.

Der Reis ist längst kalt, draussen wird es dunkel. „Wo bleibt sie nur?“ frage ich. „Vielleicht sprechen sie sich aus?“ versucht es meine Mutter. Ich wandere unruhig durch die Küche. „Vielleicht hat sie einen Unfall gehabt… Ich fahre mal die Strasse entlang.“

Der leichte Nieselregen erschwert meine Sicht, aber da ist kein Auto. In Lykkjas Haus brennt Licht. Ich klingle, niemand öffnet. Keine Spur von Lykkja. Mit furchtbar komischem Gefühl im Magen fahre ich zur Uni und wieder zurück nach Hause.

Meine Hoffnung, dass Lykkja bereits bei Mom am Tisch sitzt, verpufft schlagartig. Ich rufe sie noch einmal an. Immer noch ausgeschaltet.

„Schätzchen, wir gehen zur Polizei.“ befiehlt meine Mutter. Sie hat bereits den Autoschlüssel in den Fingern.

In meinem Kopf herrscht grosse, gähnende Leere. Wo verdammt steckt sie?

Eine Klingel kündigt uns auf der Wache an. Ein junger Mann in Uniform steht hinter dem Empfangstresen. „Guten Abend die Damen, wie kann ich helfen?“ Sein Grinsen ist mir zu fröhlich, die Worte überspitzt.

Da ich vehement schweige, reagiert meine Mom. Sie ist wirklich die Beste. „Guten Abend. Die Freundin meiner Tochter ist verschwunden. Wir möchten eine Vermisstenanzeige aufgeben.“ Der Beamte nickt, füllt etwas aus und schickt uns ins Zimmer Nummer zwei.

Dort sitzen zwei weitere blau gekleidete Männer. Einer mürrischer als der andere.

Wir setzten uns. „Wollen sie etwas zu trinken?“ fragt der eine und knallt zwei Becher mit Wasser vor uns. Der andere zückt einen Block. „Also was ist passiert?“ Ich erzähle, dass Lykkja nicht nach Hause gekommen ist. Dass Ihre Eltern die Türe nicht öffnen und ihr Auto spurlos verschwunden ist. „Wie lange ist das her?“ „Vier Stunden ungefähr.“ „Hat sie Freundinnen, zu denen sie gefahren sein können?“ Ich verneine, sie wollte nach Hause kommen. „Sehen sie, es ist noch zu früh, um etwas zu unternehmen. Wenn sie morgen noch nicht zurück ist, leiten wir Ermittlungen ein.“ Sie nehmen meine Personalien auf, legen Lykkjas Foto in die Akte. Wir sollen uns morgen melden. Dann stellen sie uns tatenlos vor die Türe.

Stundenlang kurven wir noch durch die Stadt. Wir klappern alle mir bekannten Adressen ihrer Freundinnen ab. Nichts.

Mom bringt mich nach Hause, macht mir Tee und schickt mich ins Bett. Sie versichert mir, morgen wenn ich aufstehe, ist sie wieder da. Ich nicke, obwohl mein Gefühl mich vom Gegenteil

überzeugt. Da ist etwas passiert.

Ich kann nicht schlafen, also wähle ich wieder Lykkjas Nummer. Immer und immer wieder, bis ich in Tränen ausbreche. Es ist meine Schuld. Meine Schuld… Ich habe sie warten lassen, zappeln und dann habe ich sie gedrängt. Ich habe nur auf mich gehört und ihre Gefühle links liegen gelassen. Obwohl sie alles ist, auf das ich hätte hören sollen. Ich haue meine Hand gegen die Wand. Noch ein Mal. Ich bin so wütend auf mich. Der körperliche Schmerz lenkt mich kurz ab, aber er macht nichts besser.

Ich stehe auf, habe keine Sekunde geschlafen. Mache Kaffee. Dann wähle ich „911“.

„Hanna Callum hier. Ich war gestern bei ihnen wegen meiner Freundin, Lykkja Klemence.“ Der Polizist legt mich in die Warteschleife. Einer von gestern meldet sich. „Guten Morgen. Ich nehme an sie ist wiederaufgetaucht.“ Er lässt mich nicht zu Wort kommen. „Solche Fälle gehen immer gleich aus. Sie hat wahrscheinlich Ruhe gebraucht.“ Ich unterbreche ihn. „Nein, sie ist nicht aufgetaucht! Sie ist weg!“ Schweigen. „In Ordnung, Miss Callum. Wir starten eine Suchaktion.“

Der gesamte Tag vergeht im Nichts. Mom muss zur Arbeit, ich schwänze die Uni. Ich schlafe vor dem Fernseher ein, wache wieder auf und tue nichts.

Ich halte die Polaroidfotos in den Händen. Tränen auf meinen Wangen, Salz auf den Lippen. Wo bist du?

 

 

 

 

 

 

 

 

4

 

Vor einer Woche haben sie angefangen zu suchen. Seit einer Woche haben sie nichts gefunden.

Die ersten Medien haben eine gute Story gewittert.

Heute Morgen sehe ich ein Bild von ihr in den Nachrichten. „Die siebzehnjährige Lykkja Klemence wird seit einer Woche vermisst. Es fehlt jede Spur von der jungen Frau und die Polizei tappt im Dunkeln. Ihr Verschwinden ist als erstes einer guten Freundin aufgefallen.“ Wamm! Direkt in mein Herz. Eine gute Freundin… Die Reporterin tritt beiseite und legt den Blick auf Lykkjas Eltern frei. Sogar ihr achtjähriger Bruder Thomas ist dabei.

„Die Eltern von Lykkja sind heute bereit erstmals mit der Öffentlichkeit in Kontakt zu treten. Herzlichen Dank Mister und Misses Klemence.“

Ich sollte jetzt dort vor der Kamera stehen. Ich sollte der Welt von ihr erzählen, von meiner

Wunderbaren Freundin. Nicht diese ignoranten Menschen, die sie verstossen haben, weil sie mit einer anderen Frau zusammen ist. „Was wollen sie der Welt und Lykkja hier und heute mitteilen?“ Sie reicht das Mikrofon an Andy Klemence weiter. „Lykkja, wenn du das hier siehst, wir lieben dich. Komm bitte nach Hause. Oder gib uns ein Zeichen, dass es dir gut geht.“ Plumpe Worte. Megan macht weiter. „Unsere Tochter ist ungefähr 1.65 meter gross und eine schlanke Figur. Sie hat kurze Haare, violett gefärbt und blaue Augen. Das letzte Mal als wir sie gesehen haben trug sie ein hellblaues Shirt und eine kurze, helle Hose. Sie ist gerade aus den Ferien zurückgekommen und wollte bei einer Freundin übernachten. Wir haben sie nicht mehr gesehen.“

Mir wird erst heiss, dann übel. Sie beschuldigt mich. Öffentlich. Sie denkt, ich hätte etwas damit zu tun. Ich starre sie durch den Fernseher an. Halt die Klappe! Halt die Klappe! Halt die Klappe! Als hätte sie es gehört, reicht sie das Mikrofon an Thomas weiter.

Der Kleine sieht verstört aus. Er wartet, Megan gibt ihm einen Stups. „Lykkja ich vermisse dich!“ beginnt er stockend. „Komm nach Hause!“ Schnell streckt er das Mikro von sich weg, als wäre es giftig.

Die Nachrichten wandeln weiter. Etwas anderes ist jetzt das Thema. Es dauert eine Weile, bis ich mich beruhigt habe. Ich muss auch vor die Menschen. Unschlüssig halte ich das Handy in den Händen. Dann wähle ich die Nummer des Nachrichtensenders.

„Hallo, hier ist Hanna Callum. Ich möchte gerne über Lykkja sprechen.“ „Ehm… Klar, gerne. Wir geben heute Abend einen kleinen Sonderbeitrag hier im Studio. Du kannst gerne ein paar Worte sagen.

Ich sitze auf einem roten Sessel in einem grossen Raum voller Kameras. Mom steht ganz hinten und winkt mir zu. Ich winke zurück. Die Moderatorin hat lange, blonde Haare. Sie sieht nett aus, aber ihre Stimme quietscht und ist zu hoch.

Drei, Zwei, Eins, wir sind live auf Sendung. „Guten Abend meine Damen und Herren bei den Abendnachrichten. Heute ein kleiner Beitrag zum Verschwinden von Lykkja Klemence. Hier bei mir im Studio sitzt Hanna Callum, die Freundin, die das Verschwinden gemeldet hat. Herzlich willkommen Hanna.“ „Hallo.“ sage ich. Meine Stimme ist tiefer als sonst. „Hanna, woher kennen du und Lykkja sich?“ Ich lasse meine Gedanken fliegen. „Wir haben uns vor drei Jahren in der Schule kennen gelernt.“ Ich sollte kurze, klare Antworten geben, haben sie mir eingebläut. „Und wie ist sie gewesen?“ Sie fragt es in

Vergangenheitsform. Als würde sie nie mehr wiederkommen. Das ist so falsch. „Sie ist eine wundervolle Frau. Sie hat Sommersprossen im Gesicht und Fältchen vom Lachen. Sie liebt Süsses und ist immer furchtbar konzentriert, wenn Sie Auto fährt. Und sie liest für ihr Leben gerne.“

Ich könnte noch so viel mehr sagen. „Du hast sie wohl sehr gut gekannt. Seid ihr euch nahegestanden?“ Ich nicke. „Ja, sie ist meine Freundin.“ Die Moderatorin guckt einen Herzschlag lang stumm. „Wir sind ein Paar.“ „Wie lange schon?“ Ich muss nicht mehr denken. „Seit zwei Jahren.“ „Wie kommt es, dass wir noch nichts von dir gehört haben?“ „Ihre Familie, spricht ihre Eltern, habe unsere Beziehung nicht akzeptiert.“

 Mom bringt mich zur Polizeiwache. Ich muss noch eine Aussage machen.

Noch einmal gebe ich jedes Detail vom Gespräch mit Lykkjas Eltern preis. Und den Tagen danach. Alles woran ich mich erinnere.

Zu Hause liege ich im Bett. Ich kann weder essen, noch schlafen. Ich kann mich nicht konzentrieren. Ich bin ruhelos und tappe auf und ab.

Irgendwann klettere ich aus dem Fenster, auf das Dach. Starker Wind fegt über mich hinweg und es regnet schwach.

Ich setze mich unter das kleine, selbstgebastelte Dach und rauche. Die ganze Schachtel.

Der Regen fällt dichter und dichter. Ich bin völlig durchnässt.

Die Dachluke öffnet sich, meine Mom kommt nach draussen. Sie reicht mir ein Bier. Dann verschwindet sie wieder. Sie merkt, dass ich allein sein muss.

Ich bin auf dem Dach eingeschlafen und werde vom Klingeln der Haustüre geweckt. Ich zünde eine Zigarette an, Mom macht das schon.

Plötzlich wird die Luke wieder geöffnet und Thomas klettert nach draussen. Der Kleine wirft sich mir in die Arme.

„Hey, was machst denn du hier? Es ist mitten in der Nacht!“ Thomy sieht mich mit grossen Augen an und antwortet: „Ich will nicht zu Hause bleiben.“ Er schmiegt sich eng an mich, obwohl ich nass und eiskalt bin. „Was ist denn zu Hause?“ Da geht etwas vor, was vielleicht wichtig ist. „Mama und Paps sind so komisch seit Lykki weg ist. Ich mag nicht zu Hause bleiben.“

Ich verstehe das. „Ich spreche morgen mit deinen Eltern. Dann kannst du bei mir bleiben.“ Ein Versprechen, welches ich nicht werde halten können.

So weit kommt es dann auch gar nicht. Nachdem ich Thomy in mein Bett verfrachtet habe, steht die Polizei vor der Türe. Megan und Andy im Schlepptau.

„Guten Abend. Wir suchen nach Thomas Klemence. Haben sie ihn gesehen?“ Sie halten mir ein Bild unter die Nase. Mom legt die Arme auf meine Schultern.

„Thomy ist hier ja.“ bestätigt sie. Ich nehme das Gespräch auf. „Er ist weggelaufen, weil er nicht mehr bei seinen Eltern sein will. Er hat gesagt sie verhalten sich eigenartig.“ Die Beamten wechseln einen Blick. „Ich möchte mit ihm sprechen. Sie warten bitte alle hier.“ Ich zeige ihm mein Zimmer und lasse die beiden alleine.

Eine viertel Stunde später wird der zappelnde Thomy in den Wagen seiner Eltern buxiert. „Vielen Dank für Ihre Hilfe und einen schönen Abend noch.“

 

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 30.09.2017

Alle Rechte vorbehalten

Nächste Seite
Seite 1 /