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Prolog

„Hi Dad...

 

in der Schule ist heute nichts besonderes passiert. Wir haben unsere Mathematikklausuren zurückbekommen. Ich habe ein B. Mum wird sich sicher darüber freuen. Obwohl sie bestimmt immer noch etwas unzufrieden mit meiner Entscheidung ist, nicht in die Reservatsschule zu gehen. Sie meint, die Werte, die wir in La Push vermittelt bekommen, seien sehr wichtig und keine reguläre Schule könne das ersetzen. Ich weiß, dass ich manchmal ein bisschen ungezogen und frech bin, aber ich bezweifle, dass das an meiner Schulwahl liegt. Meinst du nicht auch?

Nun, irgendwie verstehe ich Mum auch. Tradition ist ihr sehr wichtig. Aber ich fühle mich so besser und ich denke, das ist das Wichtigste...Wie auch immer... ich mache mich dann mal auf den Weg nach Hause. Es ist schon spät und das Abendessen ist sicher bald fertig.

 

Auf Wiedersehen... Dad.“

 

Dann legte ich den kleinen, weißen, glatten Stein, den ich zuvor in den Fingern gedreht hatte, zurück zu den Anderen, stand auf, drehte mich um und verließ das Grab, auf dessen Grabstein der Name William Edward Black-Cullen gemeißelt war...

Willkommen in meiner Welt

Es tut mir Leid, wenn der Text als ein riesiger Block angezeigt wird. Das ist leider ein technisches Problem von BookRix. In meinem Textdokument waren definitiv Absätze. Gerne könnt ihr euch auf meiner Homepage www.chaela.de einen Link zu einer anderen Seite aussuchen, auf der ihr meine Fangeschichten auch lesen könnt.


Der Weg vom Friedhof zu unserem Haus war nicht sonderlich weit. Generell lag in meinem Heimatort, dem Indianerreservat La Push, in der Nähe von Forks, Washington, alles ziemlich nah beieinander. Wir hatten eine Schule, ein kleines Krankenhaus, eine eigene Verwaltung und diverse Läden, in denen man eigentlich alles bekam, was man zum Leben brauchte. Theoretisch könnte man hier sein ganzes Leben verbringen, ohne es jemals zu verlassen. Und es würde mich nicht wundern, wenn einige der älteren Quileute – das war der Name unseres Stammes und so nannte man auch dessen Mitglieder – tatsächlich so zu leben pflegten. Aber für mich war das nichts. Ich war froh, dass ich auch mal etwas anderes sah. Dieses „Andere“ war zwar nur Forks, aber immerhin. Kaum hatte ich unser Haus betreten, hörte ich schon die Stimmen meiner Geschwister aus der Küche. Ich war die Jüngste von Dreien. Meine Schwester Madeleine war gerade im Begriff meiner Mutter nachzueifern. Sie wollte Lehrerin an der Reservatsschule werden und verbrachte daher ziemlich viel Zeit mit ihr. Mein Bruder Harry dagegen hatte erst frisch seinen Abschluss gemacht. Sein Wunsch war es, eines Tages Stammesoberhaupt zu werden, aber es würde sicher noch eine Weile dauern, bis er Embry, der nach Vaters Tod diesen Platz übernommen hatte, würde ersetzen können. „Hey Zwerg“, begrüßte meine Schwester mich, als ich mich ihr gegenüber auf den hölzernen Stuhl an den Esstisch setzte. Ich sah sie etwas missmutig an. Ich hasste diesen Kosenamen. „Wie wäre es, wenn ich dich in Zukunft 'Made' nennen würde? Würde dir das gefallen?“, konterte ich. „Unsinn“, warf Mum ein und stellte jedem von uns einen leeren Teller hin. „Schluss mit den albernen Kosenamen. Ich habe euch keine schönen Namen gegeben, damit ihr sie dann nicht benutzt oder abkürzt.“ „Madeleine, du weißt doch, dass unsere kleine Schwester jetzt mit 'Bills' angesprochen werden möchte. Das ist cool und hipp“, neckte mein Bruder und setzte sich ebenfalls hin. Ich brummte. Mein Name war Billy-Sue. Ursprünglich sollte ich nur Sue heißen, aber mein Vater starb nur einen Tag vor meiner Geburt und so wurde die Kurzform für William Teil meines Namens. Es war die einzige Verbindung, die ich zu ihm hatte, abgesehen von meinen smaragdgrünen Augen. Ich beneidete meine Geschwister darum, dass sie ihn hatten kennenlernen dürfen. Dass sie sogar mehrere Jahre mit ihm verbracht hatten und ich nicht. Trotzdem oder gerade deswegen, versuchte ich ihm so nah wie möglich zu sein. Ich besuchte fast täglich sein Grab und trug ein Foto von ihm in meiner Brieftasche mit mir herum, während ein weiteres unter meinem Kopfkissen lag. „Und wie war dein Tag, mein Schatz?“, fragte Mum, während sie mir eine Portion Nudeln auf den Teller legte. „Gut. Ich habe ein B in der Mathematikklausur.“ „Sehr schön“, antwortete sie. „Mum“, sagte Madeleine plötzlich. „Kann ich morgen für ein paar Stunden in deinem Unterricht sitzen?“ „Kannst du schon. Aber etwas Besonderes habe ich morgen mit meiner Klasse eigentlich nicht vor.“„Das ist egal“, antwortete meine Schwester. „Es geht mehr um allgemeine Notizen.“ „Na dann gerne“, sagte Mum und lächelte. Harry seufzte und meine Mutter wand sich an ihn. „Was?“ „Ach nichts.“ „Spuck‘s aus.“ „Nein, Mum. Das Thema würde dir nicht gefallen.“ „Warum nicht?“ „Weil... ach... nichts.“ „Harry“, mahnte sie. „Ihr wisst doch, ihr könnt mit mir über alles reden. Es gibt kein Thema, das mir nicht gefällt. Nun sag schon.“ Er seufzte erneut. „Embry ist seit drei Tagen unerträglich.“ Madeleine kicherte. „Wie meinst du das?“, wollte Mum wissen. „Er ist geprägt worden.“ Mutter flog sogleich die Nudel von der Gabel. „Was?“ Ich starrte die Nudel an, wie sie da nun im Teller lag. Währenddessen sah ich im Augenwinkel, wie sich Mums Mund zu einem Lächeln formte. „Endlich“, hauchte sie, dann stand sie plötzlich auf und schob dabei den Tisch ein Stück von sich. „Wie alt ist sie? Wo ist es passiert? Du musst mir alles sagen, was du weißt!“ Jetzt sahen wir alle perplex drein. Bisher hatten wir immer gedacht, das Thema Prägung gefiele ihr nicht, weil sie durch diese Verbindung zu unserem Vater sicherlich noch mehr hatte leiden müssen, als es ein normaler, liebender Mensch wahrscheinlich getan hätte. Vielleicht war der Unterschied aber auch gar nicht so groß? Ich wusste nicht sonderlich viel darüber... „Er war vor drei Tagen auf irgendeinem Ausflug in Seattle. Da hat er sie dann zufällig gesehen. Sie ist dreißig und Single. Na ja, noch Single.“ „Embry ist sicher nervös, weil er nicht weiß, ob sie sich in ihn verlieben wird.“ „Hat sie denn eine Wahl?“, fragte Madeleine. „Hat sie. Als ich euren Vater kennenlernte, war er noch sehr jung. Er konnte nicht sprechen und ich wusste nicht, dass er sich auch auf mich geprägt hatte. Glücklicherweise hatte er das. Wäre das nicht der Fall gewesen, wäre es mir wie Jacob gegangen. Er hat mir mal erzählt wie es war, als Renesmee sich für einen anderen Jungen interessiert hatte. Die Person auf die man geprägt ist, hat immer die Wahl. In den meisten Fällen ist es nur so, dass man dem Werben eines geprägten Wolfes kaum widerstehen kann.“ „Dann ist er deswegen so durch den Wind?“, fragte Harry. „Er hat sein ganzes Leben auf sie gewartet. Er hat sich immer verwandelt, aus Angst irgendwann zu alt für sie zu sein.“ „Ich finde diese Prägungssache ziemlich mies“, sagte ich dann. Mutter sah mich fragend an. „Na ja“, suchte ich nach Worten. „Du musst dein Leben lang hoffen, dass du diese Person irgendwann triffst. Vielleicht wartest du vergebens oder triffst sie einfach nicht und sie stirbt dir weg, während du ihretwegen nicht alterst. Oder aber du triffst sie und sie mag dich nicht. Oder was ist, wenn man die Person nicht mag oder sie hässlich findet?“ Mum lachte. „Das ist nicht möglich. Die Person, auf die man geprägt ist, kann man nicht hässlich finden. Sie ist der tollste Mensch auf der Welt. Euer Vater war der tollste Mensch auf der Welt.“Als sie über ihn sprach sah ich, wie ihr ganz warm ums Herz wurde und spürte die Wärme auch in mir. Daddy. „Wie auch immer“, sammelte sie sich dann wieder. „Esst bevor es kalt wird.“***

Am nächsten Tag musste ich selbst auf dem Schulweg noch an das gestrige Gespräch denken. Mums Aussagen nach, war Embry momentan der glücklichste Mensch der Welt, hatte aber gleichzeitig extreme Angst, die Liebe seines Lebens nicht für sich gewinnen zu können. Das war ganz schön kompliziert. Na ja, zum Glück betraf es mich ja nicht. Ich war kein Gestaltwandler.Ich betrat das Klassenzimmer und meine beste Freundin Lizzy winkte mir fröhlich zu. Ich setzte mich neben sie und begann, meine Schreibutensilien aus meiner Tasche zu kramen. „Hey Liz, hast du die Hausaufgaben?“ - „Nö.“ „Was?“ Ich starrte sie etwas unbeholfen an. „Wollte sie eigentlich vor dem Unterricht von Phoebe abschreiben. Hab es aber dann vergessen. Das Unterhaltungsprogramm war einfach zu gut.“ „Wie meinst du das?“ - „Jaimie hat den Overhead-Projektor demoliert.“„Autsch“, kommentierte ich. Seit ein paar Wochen schon, hatten wir keinen Hausmeister mehr, weswegen sich nicht funktionsfähige Lernmittel langsam anhäuften. Unsere Lehrerin schien sich daran aber nicht weiter zu stören. Vor dem letzten Gong erinnerte sie uns an unsere Pflichtreferate. Wir hatten in wenigen Tagen jeweils ein fünfminütiges Referat über ein Thema unserer Wahl zu halten. Ich hatte mir das Thema Wölfe rausgesucht. Ich hatte ja Infos aus erster Hand. „Unser neuer Hausmeister zieht bereits morgen in die Einliegerwohnung im Erdgeschoss ein. Bis zu euren Vorträgen sollte das Gerät also gerichtet sein. Denkt nicht, ihr könntet euch davor drücken!“ Jaimie kassierte zusätzlich noch eine Woche Nachsitzen – und wenn ich meine Hausaufgaben beim nächsten Mal nicht haben sollte, so wurde mir versichert, könnte ich ihm bald für mindestens zwei Tage Gesellschaft leisten. Ich hatte es nicht so mit Hausaufgaben, obwohl ich an sich keine schlechte Schülerin war. Am darauffolgenden Tag, las ich im Schulbus meine bereits gemachten Notizen für mein Wolfs-Referat durch, als mich, kaum dass der Bus am Schulgelände geparkt hatte, ein komisches Gefühl überkam. Ich wusste nicht, was genau es war. Da es jedoch kurz darauf wieder verschwunden war, vergaß ich es ziemlich schnell wieder.Ich ging wie jeden Dienstag in die Turnhalle und begab mich zur Mädchenumkleide. Bereits vor der Tür konnte ich das Gekicher meiner Mitschülerinnen hören und öffnete sie neugierig.„Was gibt’s denn hier zu kichern?“, fragte ich. „Ach nichts“, winkte Liz rasch ab und band ihr langes rotes Haar zu einem Zopf zusammen. „Nichts?“, entgegnete Phoebe, die gerade dabei war, ihre Turnschuhe zuzubinden. Mit einem geschlossenen und einem geöffneten Schuh hüpfte sie zu mir herüber und rückte an mich heran. „Liz hat sich nur in den Hausmeisterburschen verguckt“, flüsterte sie mir zu. Ich sah erstaunt zu meiner besten Freundin. „Stehst du jetzt auf Ältere?“ „Quatsch!“, kam es dann von ihr. „Mein Mann wird mal Milliardär, ich habe meine Prioritäten nicht herunter gesetzt!“ „Prioritäten? Sind das nicht eher Voraussetzungen?“, sagte Phoebe, nun da sie sich den zweiten Schuh gebunden hat. „Ich nenne das U.W.V. - utopische Wunschvorstellung“, gesellte sich nun die vierte im Bunde, unsere neunmalkluge Ann, hinzu und verstaute ihre Brille sorgsam im Etui.Ich schüttelte den Kopf und begann endlich damit, meine Sportklamotten auszupacken und mich umzuziehen. „Sollen wir vielleicht ein paar Kleiderhaken abreißen, damit er sie wieder anbringen muss? Du könntest ja hier nackt auf ihn warten und ihn dann direkt nebenan in der Dusche vernaschen.“„Ach, hör doch auf“, antwortete Liz. „Ja, er sieht nicht schlecht aus, aber das ist ja nicht alles im Leben.“ Dann stand sie auf, ohne, wie sonst üblich, auf uns zu warten und ließ die Tür hinter sich ziemlich heftig ins Schloss fallen. „Feuriges Temperament“, sagte Phoebe. „Rothaarige“, meinte Ann.

Zehn Minuten später stand ich mit dem Baseballschläger auf dem Feld hinter dem Schulgebäude und wartete darauf, dass mein Gegenüber den Ball warf. Ich war eher durchschnittlich im Sport und machte mir nicht sonderlich viel daraus. Doch an diesem Tag schien irgendwie alles seltsam zu sein. Ich sah genau, wie der Ball auf mich zu flog, kaum das der Schläger ihn berührt hatte, traf ihn punktgenau und schleuderte ihn deutlich weiter, als ich es jemals geschafft hatte. Er landete prompt auf dem Dach des Gebäudes und mein Team jubelte mir begeistert zu. Auch mit den folgenden Bällen und Runs hatte ich keine Probleme. Ich fühlte mich regelrecht aufgeputscht. Ich konnte mir das Gefühl nicht erklären. Am Ende der Stunde nahm unsere Lehrerin, Frau Aurora, mich zur Seite, um mit mir unter vier Augen zu sprechen. „Du hast heute eine außerordentlich gute Leistung gezeigt, Billy-Sue“, lobte sie mich.„Danke“, sagte ich. „Wenn du so weiter machst, könntest du bald das erste A im Sportunterricht bekommen.“„Das wäre natürlich klasse“, bekundete ich euphorisch. Sie nickte. „Dann sehen wir uns nächste Woche.“„Ja“, sagte ich. „Ich hol‘ nur schnell den verunglückten Ball.“Normalerweise war ich nicht so. Ihre Worte jedoch, hatten mich derart beflügelt, dass ich nun ohne zu murren alle Etagen des Schulgebäudes empor lief, nur um diesen einen Ball zu holen. Doch oben angekommen, konnte ich das blöde Ding einfach nicht finden. Nun doch etwas müde, strich ich mir die Haare aus dem Gesicht und ging dann deutlich langsamer wieder hinab. Auf halbem Weg traf ich im Treppenhaus jedoch plötzlich auf jemanden. Es war ein Junge mit dunkelblondem Haar und tiefblauen Augen. Ich schätzte ihn auf 16 oder 18, er konnte aber durchaus auch älter oder jünger sein. Er hatte eines jener Gesichter, bei denen das schwer zu sagen war. „Suchst du den?“, fragte er lächelnd und hob den kleinen weißen Baseball hoch. „Ähm ja“, nuschelte ich und nahm den Ball entgegen. Wir berührten einander nur für den Bruchteil einer Sekunde. Seine Haut war weder zu heiß, noch zu kalt, dennoch durchfuhr mich plötzlich erneut das seltsame Gefühl, dass ich auch schon bei meiner Ankunft verspürt hatte. Nur dieses Mal war es deutlich heftiger. Ich konnte es nicht einordnen. War es Schwindel? Oder Übelkeit? Mir war heiß und gleichzeitig kalt. War ich krank? Hatte ich womöglich Fieber? Der Junge sah mich besorgt an, ich ließ ihm jedoch keine Zeit, sich nach meinem Befinden zu erkundigen, sondern rannte schnurstracks davon. Den Ball hatte ich wohl auf halbem Weg wieder verloren. Jedenfalls hatte ich ihn nicht mehr in der Hand, als ich in der Umkleidekabine angekommen war. Außer mir war niemand mehr hier. Die Anderen waren wahrscheinlich längst in den Klassenräumen, schließlich hatte es bereits zur nächsten Stunde geläutet. Ich überlegte kurz, ob mir eine kalte Dusche vielleicht helfen würde, entschied mich jedoch stattdessen dazu, mich einfach umzuziehen. Ich war bereits viel zu spät und eine komplette Stunde zu schwänzen würde es nicht besser machen. Ich betrat den Biologieunterricht nur wenige Minuten vor der großen Pause. Als die Lehrerin mich enttäuscht ansah, wäre ich am liebsten im Boden versunken. „Na, wo kommen wir denn her?“, fragte sie. „Es tut mir leid, Mrs. Fetcher.“ Sie schüttelte den Kopf. „Setz dich. Ich notiere dein Zuspätkommen im Klassenbuch. Lass das bitte nicht zur Gewohnheit werden.“ Ich nickte und ging zu meinem Platz neben Liz. „Hey Süße, alles okay?“, sagte sie und legte besorgt ihre Hand auf meine, nahm sie dann aber direkt wieder weg. „Wow, du bist ja ganz heiß. Hast du heimlich noch ein paar Runden um den Platz gedreht?“ Ich schüttelte verwundert den Kopf und packte meine Sachen aus. Mir war tatsächlich ziemlich warm, aber das durfte ich mir jetzt nicht anmerken lassen. Ich wollte diesen Tag einfach hinter mich bringen. Warum musste so etwas immer ausgerechnet mir passieren? Es hatte heute so gut angefangen und ich hatte mich so über das Lob gefreut. Daran war doch nur dieser Idiot schuld. Ja, ganz sicher, er hatte mich aus der Fassung gebracht, er war schuld! Plötzlich verspürte ich ausgesprochen große Lust, ihn ordentlich zu verprügeln, dabei kannte ich ihn erst seit wenigen Minuten. Und dann hörte ich mit einem Mal ein lautes Knacken – es war das Bersten von Holz, aber nicht irgendwelchem Holz. Ich hatte, ohne es zu wollen, meine Tischplatte zerstört. Ich sah nach unten und erblickte das kleine Stück Tisch in meiner Hand und die Splitter auf meiner Hose. „Bills!“, rief Liz aus und stand erschrocken auf. Mrs. Fetchter kam mit klackenden Absätzen auf mich zu. „Billy-Sue Black-Cullen!“, schrie sie mich an. Ich stand ruckartig auf. „Du nimmst jetzt deinen Tisch – und zwar alles davon – und bringst es runter in den Keller. Allein! Und wenn du schon mal dort bist, kannst du dir direkt eine Liste mit Strafarbeiten für die nächsten zwei Wochen vom Hausmeister holen, sowie eine Rechnung für das Zerstören von Schuleigentum!“

Ich suchte nach irgendwelchen Worten oder Ausreden, fand jedoch keine. Ich konnte es mir selbst nicht erklären. War der Tisch schon angeknackst gewesen? Oder hatte womöglich ich einen Knacks?

Ich nahm meine Tasche, stopfte das abgebrochene Holzstück hinein und machte mich daran, die Schulbücher und anderen Krimskrams, den sämtliche Schüler seit den letzten Aufräumarbeiten vor den letzten Ferien in der Schublade unter der Tischplatte gebunkert hatten, herauszuräumen, dann nahm ich das klobige Teil und hob es zum Zimmer hinaus. Zum Glück befand sich der Biosaal im Erdgeschoss. Ich musste also nur eine Treppe schaffen, um in den Keller zu kommen. Fertig mit den Nerven, stellte ich meinen kaputten Tisch vor dem Raum des Hausmeisters ab, da ging plötzlich dessen Tür auf – und heraus trat eben jener dunkelblonde Typ, der mir schon weiß Gott genug Ärger eingebracht hatte.„Du“, knurrte ich in mich hinein und ballte die Hände derart zu Fäusten, dass sich mir die eigenen Fingernägel in die Haut bohrten. „Hi“, sagte er freundlich. Er schien meine Anspannung noch nicht so ganz registriert zu haben. Und dann blitzten mit einem Mal Bilder vor meinem inneren Auge auf. Wenn ich es nicht besser gewusst hätte, hätte ich gesagt, dass ich mich eben selbst dabei gesehen hatte, wie ich diesem Kerl den Kopf abriss. Oh mein Gott, dachte ich und machte auf dem Absatz kehrt. Ich musste hier weg.Ich hatte nur einen Fuß ins Erdgeschoss gesetzt, da bimmelte es plötzlich zur Pause. Sämtliche Türen flogen auf und ein Strom aus Schülern kam heraus. Das durfte doch nicht wahr sein. Ich spürte, wie ein Schwall aus Hitze in mir empor kroch. War ich psychisch gestört? Woher kamen die Bilder in meinem Kopf? Und warum zitterte ich so schrecklich? Es gab nur zwei Wege, wie das hier Enden konnte: entweder klappte ich gleich zusammen oder aber, und das entsprach eher meinem Tagessoll, ich tat etwas entsetzlich Blödes. Beides keine besonders tollen Aussichten, also trat ich erneut die Flucht an, quetschte mich durch sämtliche Schülerreihen durch, nahm prompt die falsche Richtung, ohne es zu merken und landete schließlich zum zweiten Mal an diesem Tag auf dem Dach.

Bills, du bist aber auch wirklich eine hohle Nuss.Unter mir sah ich, wie die Schüler sich im Freien verteilten. Ich würde nicht an ihnen vorbei kommen, ohne gesehen oder gar aufgehalten zu werden. Ich wollte auch niemandem an die Gurgel springen. Hier oben zu bleiben, erschien mir aber auch keine Lösung zu sein.

All der Stress nur wegen einem blöden Jungen und einem kleinen Ball!Was mach ich nur.Was mach ich nur. Was mach ich nur, wiederholte ich in Gedanken.

Und dann war da plötzlich dieser Wunsch. Dieser sehnliche Wunsch danach, einfach leicht wie eine Feder davon zu schweben. Fort von allem. Ungesehen. Ich trat an den Rand des Daches, schloss die Lider, setzte noch einen letzten Fuß nach vorn – und noch ehe ich fallen konnte, brach die Hitze förmlich aus mir heraus. Es fühlte sich wie ein befreiender Sog an.

War ich vom Dach gestürzt und gestorben?Ich öffnete meine Augen und sah noch immer meine Mitschüler unter mir. Zuerst ziemlich klein, dann kamen sie näher. Aber ich fiel nicht, wie ich sollte. Ich schwebte zu Boden und landete nicht annähernd so unsanft, wie ich befürchtet hatte. Doch plötzlich waren meine Mitschüler viel zu groß. Ich sah von unten zu ihnen empor. Sie wichen alle etwas zur Seite und sahen mich verstört an. „Was ist denn mit dem Vogel los?“, fragte ein dicklicher Junge, den ich nicht wirklich kannte, aber schon ein paar Mal in der Pause gesehen hatte. „Ist er verletzt?“, kam es von einem anderen Jungen. „Holt doch mal jemand den Hausmeister!“, rief ein Mädchen. Dass sie von einem Vogel redeten und damit mich meinten, das nahm ich gar nicht war. Bei dem Wort „Hausmeister“ jedoch, läuteten meine Alarmglocken heftiger als die Schulglocke es kurz darauf tat. Eilig trat ich die Flucht an. Meine Füße fühlten sich seltsam an, trugen mich aber dann doch mehr schlecht als recht vom Schulgelände fort, in ein nahes Gebüsch, das glücklicherweise groß genug war, um sich darin vor neugierigen Blicken verstecken zu können. Ein paar Schüler machten noch Anstalten, nach mir zu suchen, gaben aber recht bald auf.

Ich blieb allein zurück. Ich wollte erleichtert seufzen, war ich doch froh, die Situation irgendwie gemeistert zu haben, doch aus meinem Mund kam nur ein komisches Geräusch, dass ich am ehesten einem Raben zugeordnet hätte. Was zum?, dachte ich, kam jedoch nicht weiter, da mich im nächsten Augenblick ein bedrohliches Fauchen erstarren ließ. Reflexartig sprang ich hoch und wedelte mit den Armen, die keine Arme mehr waren. Eine Katze, groß wie ein Bär, schlug nach mir, verfehlte mich jedoch knapp. Ich wusste nicht, wie ich es geschafft hatte, aber ich war nun zum zweiten Mal an diesem Tag in der Luft.

Ich versuchte, nicht weiter darüber nachzudenken, da Nachdenken bisher immer dafür gesorgt hatte, dass ich irgendwo herunterfiel oder anderweitige Probleme bekam. Aber wie es eben meistens der Fall war, dachte man gerade dann, wenn man nicht daran denken wollte, ganz besonders stark daran. Und so kam es, dass ich wieder an Höhe verlor, keinen blassen Schimmer hatte, wie ich das ändern konnte und schließlich in einer Art gigantischen Satellitenschüssel hängen blieb.

Ich sprang vom Empfänger und sah mich um. Offensichtlich war ich nicht allzu weit weg von Zuhause. Ich kannte dieses Haus irgendwie. Ich sah hinab in den Garten und erblickte neben der voll behangenen Wäscheleine einen kleinen Schuppen, einen Grill und eine weiße Tischgarnitur. Aber natürlich! Ich saß auf dem Dach der Lahotes! Rain Lahote, die Tochter meiner Großtante Rachel, lebte hier zusammen mit ihrer älteren Schwester Raniah. Rain war für mich so etwas wie eine ältere Schwester – zusammen mit Madeleine natürlich. Sie hatte sich um meine Geschwister und mich gekümmert, so hatte Mum es mir erzählt, als wir noch ganz klein gewesen waren und unsere Mum nach Dads Tod Hilfe brauchte. Aber auch jetzt, da Mum ihre Hilfe nicht mehr wirklich brauchte, war sie ein häufiger Gast bei uns. Sie war außerdem auch meine Patin. Ich ließ mich vom Dach herunter segeln und huschte in das Gebüsch hinter dem Geräteschuppen.Und während ich so an meine Kindheit mit Rain und meinen Geschwistern dachte, an die Wasserbomben-Schlachten, meine ersten zaghaften Surf-Versuche am First Beach, das Sandburgenbauen und die Verstecken-und-Suchen-Spiele, spürte ich, wie sich mein Körper entspannte. Alles fiel von mir ab. Und damit meine ich tatsächlich alles. Jede einzelne Feder. Bis ich schließlich nackt in Rain Lahotes Garten saß. Ich wusste nicht, ob ich nun in Tränen der Erleichterung ausbrechen sollte, weil ich schon befürchtet hatte, dass ich für immer so ein hässlicher, schwarzer Vogel würde bleiben müssen oder aber Tränen des Schams, weil ich splitterfasernackt im Garten meiner Patin saß. Ich lugte hinter dem Schuppen hervor. Niemand war zu sehen. Mein Blick fiel auf die Wäscheleine. Das meiste war wahrscheinlich etwas zu groß, obwohl Rain ziemlich schlank war. Aber alles war besser als nichts. Ich stürmte nach vorn, schnappte ein paar Sachen und huschte zurück, um mich umzuziehen. Endlich! Ich hatte wieder Klamotten an! Und Hände! Ich hatte Hände! Ich war wahrscheinlich nur für ein paar Stunden ein Vogel gewesen, aber als ich meine zehn Finger so ansah, fühlte es sich an, als hätte ich sie seit Ewigkeiten nicht gesehen. Moment. Warum war ich eigentlich ein Vogel gewesen? Hatte Mum nicht immer davon erzählt, dass sie und Dad sich in Wölfe verwandelt hatten? Ich legte mir erschrocken die Hand vor den Mund. Was war nur falsch mit mir? War ich etwa von einem anderen Stamm? Einem, der Vögel, anstelle von Wölfen verehrte? War ich nur adoptiert? Waren meine Eltern etwa gar nicht meine Eltern? Das konnte nicht sein. Mum hatte immer wieder erzählt, dass ich Dads Augen und seine Nase hatte. Sie hatte nicht gelogen, ich kannte doch die Bilder. Ich hatte seine Augen und seine Nase!Es musste einen anderen Grund geben. Vielleicht war ich nicht würdig, ein Wolf zu sein? Mum wäre sicher schrecklich enttäuscht, wenn sie davon erfuhr. Nein, sie durfte nichts davon erfahren. Niemals. Ich würde diese Vogel-Sache für mich behalten. Kaum, dass ich Zuhause angekommen war, stopfte ich die Sachen, die ich von Rains Leine geklaut hatte, in die Waschmaschine. Es war das erste Mal, dass ich das Ding überhaupt benutzte. Normalerweise wusch Mum immer die Wäsche. Manchmal übernahm Madeleine das auch. Und genau sie war es auch, die ausgerechnet jetzt, da ich es am wenigsten gebrauchen konnte, hinunter in den Keller kam. „Hey Zwerg“, begrüßte sie mich, hielt dann jedoch inne und sah mich verwundert an. „Bist du krank?“, fragte sie und war im Begriff mir ihre Hand auf die Stirn zu legen. Ich wich ihr aus, damit sie meine erhöhte Körpertemperatur nicht bemerkte und funkelte sie böse an. „Lass mich!“Jetzt sah sie noch verwirrter drein. „Wow, schon gut!“ Sie hob beschwichtigend die Hände. „Ich meine ja nur, du wäschst sonst nie freiwillig die Wäsche. Moment.“ Ich erstarrte. Hatte sie etwa was bemerkt? „Hast du die Waschmaschine überhaupt schon mal benutzt?“ Ich atmete erleichtert aus. „Nein.“„Na dann, warte, ich helf' dir kurz.“ Sie griff oben ins Regal und löffelte mit der Plastikkelle ein wenig vom Waschpulver aus der großen Schachtel und schüttete sie in die Trommel. „Das kommt da rein und dann drehst du das hier hin und drückst da drauf, Deckel zu und ab geht die Post.“ Und schon hörte man, wie das Wasser blubberte. „Danke“, sagte ich. „Nichts zu danken“, antwortete meine Schwester. „Wäre toll, wenn du das öfter mal machen würdest. Wobei du beim nächsten Mal ruhig auch etwas Wäsche mit rein tun könntest, die nicht von dir ist. Ist sonst nämlich eine ziemliche Wasserverschwendung.“ Sie zwinkerte und ging. Ich war froh, dass sie nicht weiter nachfragte oder nachgesehen hatte, was für Wäsche ich da wusch. Nachdem die Wäsche sauber war, stopfte ich sie direkt in den Trockner. Den hatte ich vor ein paar Wochen schon mal benutzt, weil ich es eilig hatte. Und dieses Mal war es nicht anders. Ich wollte die Sachen wieder an die Leine hängen, bevor Rain ihr verschwinden überhaupt bemerkten konnte. Als ich sie dann aber aus dem Trockner holte, waren sie viel zu zerknautscht. Vorher war das nicht so gewesen. Wahrscheinlich hatte der viele Wind sie geglättet. Wind hatte ich zwar keinen da, aber ein Bügeleisen tat es auch. Ich ging also in Mums Bügelzimmer und tat mein Bestes, die fremde Wäsche möglichst glatt zu kriegen. Als ich halbwegs damit zufrieden war, prüfte ich nach, ob ich alles ausgesteckt hatte. Wenn ich jetzt noch unser Haus abfackelte, wäre das das i-Tüpfelchen.Ich wollte gerade zur Tür hinaus, da hörte ich Mums Rufen. Ich hatte gar nicht mitbekommen, dass sie nach Hause gekommen war. „Billy, bist du das?“, kam es aus der Küche. Ich überlegte kurz, ob ich so tun sollte, als hätte ich sie nicht gehört, aber Mum war schneller. Sie streckte schon ihren Kopf aus dem Türrahmen und sah mich im Flur stehen. „Wo willst du denn hin?“, wollte sie wissen und ging auf mich zu. „Hast du deine Hausaufgaben schon gemacht?“„Nein, noch nicht“, gab ich zu. Dass meine Schultasche noch in der Schule auf dem Dach lag, verschwieg ich. „Was hast du denn damit vor?“, fragte sie dann und deutete auf die Klamotten, die ich auf dem Arm trug. „Nichts, ich äh...“ Denk nach, denk nach, denk nach...

„Ich wollte nach der Schule bei Rain vorbei schauen. Sie war aber nicht da, stattdessen hab ich eine Katze in ihrem Garten gesehen und wollte sie streicheln. Sie ist aber weggelaufen und als ich hinterher wollte, bin ich gegen ihre Wäscheleine gekommen und die Klamotten fielen runter. Ich hab sie für sie gewaschen und gebügelt und wollte sie jetzt zurückbringen.“Oh man, ich wusste gar nicht, dass ich so gut lügen konnte... Mum sah mich misstrauisch an. Ahnte sie vielleicht etwas? Ich sah wartend zu ihr empor. „Da stimmt aber etwas nicht“, sagte sie dann. Mein Herz glitt allmählich von seinem angestammten Platz. „Was meinst du?“„Na, wenn du das richtig machen möchtest, musst du die Sachen schon schön zusammenlegen.“Zum gefühlten hundertsten Mal an diesem Tag atmete ich erleichtert auf. Mum nahm die Kleider und zeigte mir, wie man sie richtig zusammenlegte: „So, das hier legst du so hin, den Ärmel schlägst du dann so hier rüber und dann klappst du das hier runter. Fertig ist der Pullover.“„Danke, Mum“, bedankte ich mich und ging mit den frisch zusammengelegten Klamotten einige Häuser weiter zu Rain. Ich hatte ein furchtbar schlechtes Gewissen, dass ich alle Personen, die mir am wichtigsten waren, anlog, aber ich hielt es dennoch für das Beste, auch wenn es weh tat. Rain ahnte genauso wenig etwas wie meine Mum und kaufte mir die Geschichte mit der Katze ab.

Nachdem ich das also nun erledigt hatte, hätte ich eigentlich heimgehen können, mir war aber so gar nicht danach. Ich entschloss mich, stattdessen ein bisschen in den Wald zu gehen. Das war eigentlich gar nicht meine Art. In meiner Freizeit war ich sonst lieber mit Freunden einkaufen oder zum Filmabend gegangen. Ich kletterte mehr oder weniger geschickt auf einen Baum, setzte mich auf einen Ast, von dem ich glaubte, dass er mich tragen würde und schlang die Arme um die angewinkelten Knie. Nun da ich meine Ruhe hatte, begann ich mich zu fragen, wie sich wohl Mum bei ihrer ersten Verwandlung angestellt hatte. Ob sie direkt damit klar gekommen war? Na ja, sie hatte ja auch nur mit viel Fell und vier Beinen zu kämpfen gehabt, nicht mit Federn und Flügeln. Ich seufzte. Warum war ich nur so anders? Warum ausgerechnet ich? Plötzlich begann der Ast unter mir zu knacken und ich machte mich erschrocken daran, von diesem Baum runter zu kommen. Blöderweise war ich etwas zu ungeschickt und schrammte mir beim Abstieg den kompletten Unterarm auf. „Verdammt“, zischte ich. Als ich jedoch die Wunde betrachtete, sah ich bereits, wie die ersten Schrammen verblassten. Fasziniert und ungläubig zugleich starrte ich auf meinen wenige Sekunden später bereits wieder gesunden Arm. „Wow“, hauchte ich. Gehörte das etwa auch dazu?Am nächsten Morgen stand ich sehr früh auf. Ich wollte mit dem ersten Bus zur Schule fahren, um meine Tasche zu holen, noch bevor Mum mich zum Frühstück rufen würde. Ich wusste, dass die Putzfrau um diese Uhrzeit schon unterwegs war. Das Licht, das in diesen frühen Stunden bereits durch die Fenster der Klassenräume schien, bestätigte mir das. Ich betrat das Schulgebäude wie gewohnt durch den Haupteingang, schlich mich dann aber mehr oder weniger weiter. Auf dem Dach angekommen, suchten meine Augen nervös nach meiner Schultasche. Zu meiner Erleichterung lag sie noch immer hier, zusammen mit einer beachtlichen Menge an Kleidungsfetzen. Ich las alle zusammen und stopfte sie in meine Schultasche, wo auch noch immer das Stückchen Tisch drin lag und trat die Heimreise mit dem nächstmöglichen Bus an.Als Mum mich zum Frühstück wecken wollte, lag ich wie immer in meinem Bett. Alles hatte reibungslos funktioniert. Jetzt musste ich nur noch den Rest des Tages überstehen. Ich saß gerade in der Küche und verputzte mein letztes Brötchen, da bimmelte das Telefon. Mum ging wie gewohnt an den Apparat. „Black-Cullen?“, meldete sie sich. „Ja?“, kam es dann. „Ja... ja, natürlich.“Ihre Stimmlage wurde langsam weniger freundlich. „Was? Nein... in Ordnung. Ja, selbstverständlich. Ja, danke. Vielen Dank.“ Dann legte sie auf. Mit einem mulmigen Gefühl im Bauch schluckte ich mein letztes Stück. Mum hielt kurz inne, nachdem sie aufgelegt hatte, dann erst drehte sie sich zu mir um. „Was ist?“, fragte ich nun etwas nervös. „Du hast einen Tisch kaputt gemacht?! Und was noch viel schlimmer ist, du hast gestern den halben Unterricht geschwänzt?!“„Ich kann alles erklären“, stammelte ich. „Nur zu, ich bin ganz Ohr“, antwortete sie und wartete auf meine Erklärung. Zum zweiten Mal musste ich ihr nun wegen der ganzen Sache eine Lüge auftischen. „Ich weiß nicht, wie das mit dem Tisch passieren konnte. Er war wohl einfach alt und morsch. Ich meine, die sind teuer, die Schulen haben doch so wenig Geld, du weißt sicher am besten, wie das mit den Geldern ist. Aber die waren dann alle so sauer und dann war ich unten beim Hausmeister und ich war so überfordert, ich meine, ich musste doch noch nie Strafarbeiten machen. Und da bin ich dann einfach ausgebüxt und war den Rest des Tages im Wald spazieren.“Ihr misstrauischer Blick verflüchtigte sich nach und nach, bis sie letztlich wieder einen freundlichen, jedoch besorgten Gesichtsausdruck hatte. „Aber mein Schatz“, sagte sie. „Du hättest mich doch anrufen können. Ich bin doch immer für dich da. Ich dachte das wüsstest du.“„Ja, ich weiß, aber...“ „Ach Billy“, sagte sie dann und legte ihre Hand an meine Wange. Ich reagierte zu langsam, um es zu verhindern. „Du bist ja ganz heiß, hast du Fieber, Schatz?“Ich nahm ihre Hand von meiner Wange und wich zurück. „Nein, Mum. Ich muss jetzt aber wirklich los!“ Ich drehte mich um und trat vor die Tür. Wie so häufig in dieser Gegend, regnete es nun. Mum folgte mir, griff auf dem Treppenvorsatz nach meiner Tasche und hielt mich fest. „Du kannst doch in dem Zustand nicht zur Schule gehen!“, rief sie mir nach. „Mum, bitte lass mich los!“, rief ich zurück. „Billy-Sue!“, schrie sie mich dann an. Dann rutschte ich plötzlich auf der ersten Stufe aus und fiel vorn über. Normalerweise wäre ich mit dem Gesicht voraus auf dem Boden aufgeschlagen, stattdessen zitterte wieder jede einzelne meiner Fasern und die Hitze durchströmte mich. Nur einen Wimpernschlag später flatterte ich unbeholfen im matschigen Boden vor unserem Haus herum. Mum stand, zur Salzsäule erstarrt, so schien es, am oberen Ende der Treppe, doch dann übersprang sie plötzlich alle Stufen und umschloss mich komplett mit ihren Armen. „Billy!“, rief sie verzweifelt. Sie hielt mich fest in dem Versuch, mein Gezappel zu unterbinden. Ich hingegen konnte nicht anders, als immer weiter zu flattern. Trotz allem ließ meine Mutter mich nicht los, wahrscheinlich aus Angst, dass ich davon fliegen würde. Sie hatte ja keine Ahnung, dass ich nicht wusste, wie das ging. Mum brachte mich zurück ins Haus, ging mit mir in ihr Schlafzimmer im ersten Stock und schloss die Tür hinter sich, dann erst ließ sich mich los. Ziemlich aufgeplustert saß ich nun auf ihrem Teppichboden. Sie sah mich müde an, versuchte dann jedoch zu lächeln und setzte sich aufs Bett. „Beruhig dich, mein Schatz. Es ist alles in Ordnung, niemand tut dir etwas und ich bin dir auch nicht böse.“Ihre Worte waren tatsächlich wie Balsam für meine Seele. Ich spürte, wie ich mich nach und nach entspannte und auch Mum wurde ruhiger. Schließlich war da wieder dieser Sog und die Federn verschwanden. Meine Flügel wurden zu Händen, mein Schnabel wieder ein Mund. Beschämt, dass ich nun ohne Kleidung und voller Matsch in Mums Schlafzimmer saß, kauerte ich mich auf dem Fußboden förmlich zusammen und schlang die Arme um mich selbst. „Billy...“, flüsterte Mum sanft. „Komm her, mein Schatz.“ Ich sah traurig zu ihr hinüber und spürte, wie meine Augen sich allmählich mit Tränen füllten. „Komm“, wiederholte sie leise und breitete die Arme auf. Ich lief langsam zu ihr hinüber und kuschelte mich hinein. Sie schlang beschützend ihre Arme um mich, drückte mich an sich und wog mich sanft hin und her. Jetzt konnte ich meine Tränen nicht mehr zurückhalten. „Es tut mir so leid, Mum“, wimmerte ich. „Aber nicht doch, mein Schatz“, flüsterte sie. „Du kannst doch nichts dafür.“Jetzt wimmerte ich leise vor mich hin.„Seit wann kannst du dich verwandeln?“, fragte sie. „Seit... seit gestern“, schluchzte ich. „Hast du deswegen die Schule geschwänzt?“ Ich nickte. „Da war diese Hitze und ich musste so zittern. Ich wusste nicht was es war. Ich war total verwirrt und bin aufs Dach geflüchtet und dann ist es auf einmal passiert, als ich fiel.“„Und als du dich zurückverwandelt hattest, hast du dir die Kleider von Rains Wäscheleine genommen?“ Wieder nickte ich. „Ach, Schatz“, sagte Mum und gab mir einen Kuss auf die Stirn. „Warum bin ich nur so komisch?“, fragte ich weinend. „Das ist das Gen, mein Schatz. Es schlummert in uns allen und in manchen bricht es unter bestimmten Voraussetzungen aus. Es tut mir Leid, dass dir das passiert ist. Das habe ich für dich nie gewollt, aber ich trug es in mir und dein Vater ebenso.“„Das meine ich nicht“, jammerte ich. „Ihr wart doch beide Wölfe. Ich bin ein Vogel. Jetzt bist du sicher furchtbar enttäuscht.“„Enttäuscht?“, fragte sie und lächelte dabei leicht. „Ach, Unsinn.“ Sie nahm ein Tuch und wusch mir etwas Dreck vom Oberarm und aus dem Gesicht. „Stell dir vor, du wärst kein Vogel gewesen, als du vom Dach gefallen bist. Du hättest tot sein können.“„K-kannst du auch ein Vogel werden?“, fragte ich verwundert. Sie schüttelte den Kopf. „Nein.“„U-und Daddy?“- „Nein.“ Jetzt sah sie nachdenklich drein, aber auch irgendwie traurig. „Schatz, wie wäre es, wenn du dich kurz abduschst, während ich in der Reservatsschule Bescheid gebe, dass ich heute nicht kommen kann?“„O-okay“, antwortete ich. Mum legte mir ihren Morgenmantel um und ließ mich dann ins Bad gehen. Gut eine Viertelstunde später, kam ich frisch geduscht und in sauberen Klamotten wieder hinunter in die Küche, wo Mum mir ein paar Kekse und Milch bereitgestellt hatte. „Setz dich, mein Schatz“, sagte sie und deutete mir den Platz am Kopfende an. Sie setzte sich auf den Stuhl links von mir. „Ich kann nicht mal fliegen“, sagte ich dann. Sie musste kurz lächeln. „Das wirst du bestimmt noch lernen, aber nicht von mir. Ich kann dir da leider nicht helfen.“„Ich weiß, Mum. Ich übe einfach fleißig, dann klappt das bestimmt.“„Und in der Zwischenzeit?“, meinte Mum dann. „Verwandelst du dich unkontrolliert und wirst möglicherweise überfahren oder von einem Hund zerrissen? Nein, mein Schatz, das geht so nicht.“- „Du kannst mir aber doch bestimmt beibringen, wie man die Verwandlungen kontrolliert, oder etwa nicht?“„Schon, aber das wird Wochen dauern. Es kann so schrecklich viel passieren bis dahin und selbst wenn du gelernt hast, deine Verwandlungen zu kontrollieren, es hat noch so vieles mehr, was du lernen musst. Das Fliegen, das Landen. Wie du dich in der Luft verhalten musst. Der Umgang mit anderen Tieren. Ich war ein pferdegroßer Wolf, ich weiß nichts von diesen Dingen.“„Aber wer soll mir das denn beibringen können, wenn nicht du? Ihr wart doch alle Wölfe?“Zu meiner Überraschung schüttelte sie nun den Kopf. „Nicht alle.“Ich sah sie fragend an. „Dein Onkel konnte sich in fast jedes Tier verwandeln. Ich bin mir ziemlich sicher, dass er im Gegensatz zu mir nie damit aufgehört hat, sich zu verwandeln.“

„Du willst mich fortschicken?“, fragte ich empört. „Ich will, dass du lernst, mit deinen Fähigkeiten umzugehen. Dazu brauchst du einen entsprechenden Lehrer und einen Ort, an dem du in Ruhe üben kannst, ohne Menschen.“- „Wie lange?“

„Das weiß ich nicht.“- „Aber meine Freunde. Die Schule. Mein Referat!“„Du hättest wahrscheinlich nicht im Traum daran gedacht, dass ich das jemals sagen würde, aber die Schule ist jetzt erstmal egal.“Ich sah sie traurig an.

Sie nahm mein Gesicht in ihre Hände. „Billy, wenn ich könnte, würde ich dir das alles ersparen, aber ich kann es nicht ändern. Das ist unsere Natur. Es tut mir Leid, mein Kind.“ Ihre Augen füllten sich mit Tränen und ich schüttelte den Kopf. Noch am selben Abend weihten wir meine Geschwister ein. Sie nahmen es relativ mit Fassung. Ich sah ihnen jedoch an, dass sie sich Sorgen um mich machten. „Versprich uns, dass du heil wiederkommst, Zwerg“, bat Madeleine. „Und halt die Ohren steif – oder die Flügel“, sagte mein Bruder Harry und zwinkerte mir zu. Während ich meine Sachen packte, organisierte meine Mutter meinen Flug und meldete mich für eine unbestimmte Zeit von der Schule ab. Ich hätte mich gern bei meinen Freundinnen verabschiedet, aber Mum hielt den Kontakt mit Menschen momentan für zu riskant. Ich würde wohl warten müssen, bis ich meine Verwandlungen unter Kontrolle hatte. Wie lange das dauern würde, das konnte mir niemand sagen. „Bist du dir ganz sicher, dass du allein fliegen möchtest, mein Schatz?“, fragte Mum am nächsten Morgen am Flughafen. Sie schien nervöser zu sein als ich es war. Ich nickte. Ich hatte Angst, dass ich nicht bei den Cullens bleiben würde, wenn sie mit mir dort war und wieder Heim flog. Der Abschied dort würde wahrscheinlich noch viel schwerer sein, als es dieser hier nun war. Ein möglichst glatter Schnitt schien mir das Beste zu sein. „Ich hab dich lieb, Mum“, flüsterte ich ihr zu, als sie mich ein letztes Mal am Terminal umarmte. „Ich dich auch, mein Schatz. Gib Bescheid wenn du angekommen bist und melde dich ab und an bei mir, ja?“ Ihre Stimme zitterte leicht. Sie würde sicher bald weinen und wenn sie weinte, das wusste ich, würde ich meine Tränen sicher auch nicht mehr zurückhalten können. „Versprochen“, antwortete ich. „Wiedersehen.“ Dann drehte ich mich um und machte mich auf den Weg zum Flugzeug.

Wenn der Mond nicht für dich scheint

Der Flug nach Alaska dauerte etwa vier Stunden. Zu meiner eigenen Überraschung überstand ich ihn ganz ohne Zwischenfälle. Ich brauchte nicht mal die Baldriantropfen, die Mum mir sicherheitshalber mitgegeben hatte. Ich war die Ruhe selbst, trotz der vielen Menschen auf engem Raum um mich herum. Am Nachmittag landete ich in Fairbanks, von dort ging es für mich mit dem Taxi weiter. Ich hatte nichts weiter als einen kleinen Notizzettel mit einer Adresse, die ich dem Fahrer nannte. Das Ergebnis war, dass er mich irgendwann an einer Tankstelle mitten im Nirgendwo absetzte. Ich bezahlte etwas verwundert. „Sind Sie sicher, dass ich hier richtig bin?“Der ältere Herr zuckte die Achseln. „Ich bin mir sicher, dass das die Adresse ist, die auf deinem Zettel stand. Ob du natürlich hier richtig bist, kann ich dir nicht sagen.“ „Mhm“, murmelte ich. „Na gut, trotzdem vielen Dank.“„Nichts zu danken, junges Fräulein. Ich wünsche dir alles Gute.“ Dann fuhr er davon und ließ mich stehen. Ich sah mich um. Hier tankte kein einziges Auto und ringsherum sah ich nichts weiter als Berge mit weißen Spitzen. Ich ging in den Shop und kaufte mir einen Schokoriegel, um mit dem Tankstellenwart ins Gespräch zu kommen. „Entschuldigen Sie, können Sie mir vielleicht sagen, wo ich hier bin?“ Er sah mich verwundert an und scannte den Riegel ein. „Hat dich der Taxifahrer rausgeschmissen, weil dir das Geld ausgegangen ist?“ „Ich... was? Nein!“, gab ich zurück. „Entschuldigung?!“, rief plötzlich jemand hinter uns und ich drehte mich zur Tür um. „Braucht hier eine kleine Quileute zufällig eine Mitfahrgelegenheit?“ Mein Herz machte einen Hüpfer. Ich war doch nicht gestrandet! „ONKEL SETH!“, rief ich freudig und sprang auf ihn zu. Er fing mich auf. „Hey, nicht so stürmisch! Ich freu mich ja auch, dich mal wieder zu sehen.“ Er setzte mich ab und hielt die Handfläche ein paar Zentimeter über meinen Kopf. „Bist seit dem letzten Mal ja noch mal ein ganzes Stück gewachsen, was?“ Ich nickte und strahlte ihn dabei an. Er sah noch immer genauso aus, wie ich ihn in Erinnerung hatte. Die treuen dunklen Augen, das schwarze kurze Haar, das verschmitzte Lächeln. Seit ich zurück denken konnte, war ich von meinem Onkel derart begeistert gewesen, wie von keinem sonst. „Na dann machen wir uns mal auf den Weg“, sagte er dann, schob mich nach draußen und winkte dem Tankstellenwart noch einmal zu. Vor der Tür stand ein violetter Sportwagen. „Wow“, murmelte ich. „Gehört Mariella“, sagte er, als er den Knopf an seinem Schlüssel drückte und der Kofferraum daraufhin langsam nach oben fuhr. „Ich brauche ja keines. Du weißt warum.“ Ja, natürlich wusste ich das. Er hatte als Wolf vier Pfoten, die deutlich schneller waren, als jedes Auto. Nachdem er meine Koffer für mich verstaut hatte, fuhren wir los. Die nächste Stunde ging es nur noch stur geradeaus. Ich konnte nicht mal sagen, wie schnell wir eigentlich fuhren, aber es musste ziemlich schnell sein, denn die Vegetation, die an uns vorbei zog, blieb nicht lange sichtbar. Ich starrte fasziniert aus dem Fenster. Für mich war das alles hier neu.

„Freust du dich schon?“, fragte Seth nach einer Weile. „Natürlich“, antwortete ich. „Aber es wird auch ungewohnt sein, schätze ich.“„Eine Familie bestehend aus Vampiren, Werwölfen und Hybriden? Was du nicht sagst“, scherzte er und lachte dabei. „Nein, mal im Ernst. Du wirst feststellen, dass wir gar nicht so abnormal sind, wie sich das anhört. Trotz allem sind wir eine Großfamilie und die sind ja bekanntlich immer etwas chaotischer, ganz gleich, ob wir nun schlafen oder nicht schlafen, zum Essen in den Wald gehen oder uns in pferdegroße Wölfe verwandeln.“„Es klingt alles so selbstverständlich aus deinem Mund“, sagte ich. „Für mich ist es das nicht.“„Weißt du, warum deine Mutter euch nie mitgenommen hat, wenn sie uns besucht hat?“Ich schüttelte den Kopf. „Sie meinte immer nur, es sei besser so.“„War es vielleicht auch“, gab er zurück. Ich sah ihn verwundert an. „Wenn ein Gestaltwandler zu viel Kontakt mit Vampiren hat, wird das Gen aktiv. Früher dachten wir, dass es nur bei Teenagern passiert. Dein Vater jedoch, hat sich bereits verwandelt, da konnte er noch nicht mal laufen, geschweige denn sprechen. Es ist egal, wie alt man ist, trägt man das Gen in sich, ist der Moment der ersten Verwandlung davon abhängig, wie stark der Kontakt zu Vampiren ist und wie viele andere Gestaltwandler es in der Nähe gibt.“„Du meinst in meiner Schule ist ein Vampir aufgetaucht?“ „Sehr wahrscheinlich ist das der Grund“, antwortete Seth.Ich überlegte, wessen Erscheinen meine Verwandlung verursacht haben könnte, aber mir war niemand aufgefallen, der den Beschreibungen von Vampiren, wie meine Mutter sie mir mal genannt hatte, entsprach. Bernsteinfarbene Augen, heller Teint, kalte, steinharte Haut.

„Da wären wir“, sagte Seth plötzlich und riss mich damit aus meinen Gedanken. Vor uns tauchte ein ziemlich großes, luxuriöses Haus auf. Die Auffahrt war sehr großzügig, ich sah jedoch nirgendwo Zäune, wahrscheinlich weil hier ohnehin niemand her kam. Dieses Anwesen lag sprichwörtlich mitten im Nirgendwo. In der Ferne sah ich weiterhin nichts als Berge und ein paar hundert Meter hinter dem Haus begann ein üppiger Wald. Seth parkte den Wagen etwas vom Eingang entfernt. Was mir als erstes auffiel, war die Fensterfront. Das Haus schien größtenteils aus Glas zu bestehen. Alles war hell und offen. Der Rest war mit schwarzem, lackiertem Holz verkleidet. Es hatte kein schräges Dach, so wie unsere Häuser in La Push. Das Dach war flach, oben thronte eine Art Penthouse. Es war etwas schmaler als die anderen zwei Stockwerke, wodurch sich ringsherum ein Balkon bildete. Seth folgte meinem Blick nach oben und begann ein bisschen zu erklären. „Esme hat das Haus so gestaltet, dass wir alle unter einem Dach leben und uns trotzdem aus dem Weg gehen können. Wir wohnen jeweils getrennt in verschiedenen Suiten. Im Erdgeschoss teile ich mir eine mit Mariella, die Andere haben Edward und Bella. Im zweiten Stock wohnen Renesmee und Jacob. In der anderen Suite wohnen abwechselnd Carlisle und Esme, Rose und Emmett oder Alice und Jasper – je nachdem wer gerade hier ist. Theoretisch hat es dort sogar Platz für alle, schließlich braucht keiner von ihnen wirklich ein Bett, aber sie sind meistens nicht da.“„Wirklich?“, fragte ich. „Wo sind sie?“ „In Italien. Vampir-Business.“ Weitere Erklärungen blieb er mir schuldig, aber ich nahm mir vor irgendwann noch einmal genauer nachzuhaken. „Momentan ist keiner von ihnen da. Sie gehört also komplett dir.“ Eine ganze Suite nur für mich? Mein Herz machte einen Hüpfer. Das hörte sich großartig an!„Ach so“, fügte er dann noch hinzu. „Und im Penthouse wohnen Anthony, Sangreal, Nayeli und Luna.“ Ich sah nach oben. So wie er die Namen aneinander reihte, klang es so, als hätte man diesen Vier am meisten Privatsphäre gegönnt. Als hätten sie ihr eigenes Haus, nur dass es eben auf einem anderen drauf stand. „Na komm, lass uns rein gehen“, sagte Seth dann. „Aber meine Koffer?“, protestierte ich. Seth legte seine Hand an meinen Rücken und schob mich sanft nach vorn. „Die laufen schon nicht weg.“ Etwas unsicher betrat ich jenes Haus, das für die nächste Zeit mein Zuhause sein würde. Wie lange ich hier wohnen würde, wusste ich nicht, aber ich ging davon aus, dass es Monate, wenn nicht sogar Jahre sein würden. Letzteres wäre für mich sicher viel schlimmer, als ich es mir momentan ausmalen konnte. Zum jetzigen Zeitpunkt war ich von allem einfach nur überwältigt. All der Luxus um mich herum, ließ mich die bösen Gedanken ganz vergessen. Wo auch immer ich in diesem Haus hinsah, sah ich Perfektionismus vor mir. Nicht ein Staubkörnchen, nicht ein vergessener, herumliegender Gegenstand auf den man hätte treten können. Es sah aus wie aus dem Katalog eines Möbelhauses. Alles war harmonisch aufeinander abgestimmt und in hellen Tönen gehalten. Der Boden war mit hellem Parkett ausgelegt worden, die Wände waren schneeweiß und gelegentlich hingen Bilder an ihnen, deren Künstler ich nicht kannte, aber sie sahen teuer aus. Im Erdgeschoss befand sich ein gemeinschaftlich, von allen genutzter Wohn- und Essbereich, mit einem weißen Ledersofa und einem riesigen Fernseher an der Wand. Seth wollte gerade mit mir Kehrt machen, um mich ein Stockwerk höher zu führen, da kam plötzlich Opa Jacob auf uns zu. Er hatte nur Shorts an, was mich darauf schließen ließ, dass er bis eben noch ein Wolf gewesen war. Ich kannte es so von Embry. „Hey, Billy!“, rief er mir freudig zu und umarmte mich zur Begrüßung. Hinter ihm sah ich nun auch Renesmee. Sie hatte ihr langes bronzefarbenes Haar zu einem Pferdeschwanz gebunden und trug eine luftige hellblaue Bluse. Wenn ich so an die weißen Bergspitzen um uns herum dachte, war das ziemlich leichte Kleidung, aber als auch sie mich herzlich umarmte, stellte ich fest, dass wir eine ähnlich warme Körpertemperatur hatten und hier draußen in der Wildnis mussten sie sich wohl auch nicht verstecken, indem sie der Außentemperatur angepasste Kleidung trugen.„Hattest du eine gute Reise?“, fragte sie freundlich.Ich nickte. „Au ja!“, rief Seth plötzlich aus. „Ich habe dir ja etwas zum Futtern vorbereitet!“ „Ist schon fertig, Schatz, ist schon fertig“, kam es plötzlich von oben. Mariella stand auf der Treppe und lächelte mich an. „Super!“, rief Seth aus und schob mich Richtung Esstisch. Dort stand eine riesige Schüssel Pasta und neben ihr ein etwas kleinerer Topf mit Soße auf einer Art kleinem Bunsenbrenner, der alles warm hielt. „Setz dich ruhig. Ich geh mal eben hoch und hole die Anderen.“ Etwas unsicher näherte ich mich dem Tisch. Ringsherum standen etwa ein Dutzend Stühle, aber ich wusste ja nicht, ob ich irgendjemandem den Platz wegnahm, wenn ich mich einfach irgendwo hinsetzte. „Setz dich ruhig“, wiederholte Mariella die Worte, die Seth eben zu mir gesagt hatte. Ich sah nur ihr langes, leicht gelocktes braunes Haar, weil sie gerade Getränke aus dem Kühlschrank holte. Also gut, dachte ich und setzte mich einfach auf den Stuhl ganz links. Mariella lächelte mich an, als sie die Flaschen auf den Tisch stellte, dann gesellten sich Jacob und Renesmee zu mir und setzten sich auf die gegenüberliegende Seite.

Plötzlich wurde es deutlich lauter, da mehrere Personen im wilden Stimmgewirr die Treppe herunter kamen. Zuerst betrat Seth wieder die Küche, gab Mariella einen sanften Kuss auf die Wange und setzte sich dann neben Jacob. Mariella folgte ihm und nahm auf dem Stuhl neben Seth platz. Er wollte eben nach der Zange für die Nudeln greifen, da hielt er plötzlich inne. Erst sah er zu mir, dann sah er irgendetwas oder irgendjemanden hinter mir an. „Au ja“, sagte er, als sei ihm eben etwas eingefallen. Ich drehte mich verwundert um. „Billy-Sue, das sind Nayeli und Luna. Nayeli, Luna – Billy-Sue“, stellte er uns einander vor. Die Mädchen musterten mich wortlos. Die Linke sah etwas älter aus, als die Rechte. Sie hatte schwarzes, lockiges Haar und graue Augen. Das Mädchen neben ihr hatte dagegen nur leicht gelockte braune Haare mit einem Pony. Auffällig waren für mich auf jeden Fall ihre unterschiedlichen Hautfarben. Während die Schwarzhaarige einen sehr gesunden und gewöhnlichen Hautton hatte, hatte die Braunhaarige alabasterfarbene Haut. Ihr dunkler Lidstrich unterstützte diesen Effekt auch noch. Und nun, da ich ihre Augen sah, fiel mir eine Gemeinsamkeit mit mir auf, mit der ich nicht wirklich gerechnet hatte: sie hatten genau denselben Grünton, wie meine. Das Grün, das ich laut meiner Mutter, von meinem Vater geerbt hatte. Ich kannte sie erst seit ein paar Sekunden, aber diese Kleinigkeit führte dazu, dass ich mich ihr irgendwie verbunden fühlte. Doch schien es nicht auf Gegenseitigkeit zu beruhen, denn als mir das andere Mädchen freundlich die Hand reichte und sich mir nochmals persönlich als Nayeli vorstellte, setzte sie sich stumm in Bewegung und nahm zwei Stühle von mir entfernt Platz. Hatte ich etwa etwas falsch gemacht? Saß ich vielleicht auf ihrem Stuhl?„Lasst es euch schmecken“, sagte Seth und machte der schrecklichen Stille, die eben noch geherrscht hatte, glücklicherweise ein Ende. In den ersten Minuten waren alle damit beschäftigt sich Essen auf ihren Teller zu legen, doch als alle versorgt waren, begann Jacob mit dem Smalltalk. „Wie geht es denn deiner Mum?“, fragte er mich. „Gut, denke ich... na ja, abgesehen von der Sache mit mir“, antwortete ich. „Ach, das kriegen wir sicher in den Griff“, winkte er ab. „Oh, wenn es sogar Colin geschafft hat, schaffst du es mit links“, warf Seth ein. Jacob lachte zur Antwort und schob sich dann eine Gabel Nudeln in den Mund. „Für dich ist das sicher alles sehr aufregend, mh?“, fragte Renesmee. „Definitiv“, gab ich zurück. „Wir finden es alle klasse, dass du jetzt eine Weile bei uns bleiben wirst. So bekommen endlich auch mal diejenigen die Chance dich kennenzulernen, die sie bisher nicht hatten“, kam es von Seth. „Und umgekehrt“, sagte ich lächelnd und sah einmal in die Runde. Mein Blick blieb kurz an Lunas Gesicht haften. Im Gegensatz zu Nayeli neben ihr, die mich anlächelte, verzog sie keine Miene. Ich hoffte, dass sie nur einen schlechten Tag hatte. Schnell sah ich wieder zu Jake. „Wie lange wird es denn ungefähr dauern? Ich meine, wie lange ist 'eine Weile'?“ „Och“, sagte Jake und rollte die letzte Gabel Pasta auf. „Das kommt darauf an, wie schnell du lernst, beziehungsweise wie gut sich Anthony als Lehrer macht.“ „Wohl eher Ersteres.“ Mein Blick richtete sich schlagartig wieder auf Luna. Es war das erste Mal, dass ich ihre Stimme gehört hatte. Obwohl sie einen sehr wohltuenden Klang hatte, hörte ich deutlich einen Anflug von Eitelkeit darin.

Jacob schob sich die Gabel in den Mund und sprach einfach mit vollem Mund weiter. „Ich weiß, er hat dich auch trainiert, aber dir musste er nicht das Fliegen beibringen.“ Luna stand ruckartig auf. „Nur weil ich von Anfang an Teil des Rudels war und viel zu sehr an die Wolfsform gebunden.“Jacob legte sein Besteck auf den leeren Teller und lehnte sich im Stuhl zurück, dabei breitete er die Arme aus und legte einen davon um Renesmees Schultern. „Oh gut, jetzt wo du schon mal stehst, Luna, kannst du Billy auch gleich ihr Zimmer zeigen.“Luna funkelte Großvater finster an. „Tu doch einfach, was er sagt“, seufzte Nayeli entfernt. „Meinetwegen“, gab ihre Schwester daraufhin nach, stellte sich hinter ihren Stuhl und schob ihn zurück an den Tisch. „Komm mit“, richtete sie sich dann an mich. Ich stand mit einem mulmigen Gefühl auf und folgte ihr nach oben. Wie nicht anders zu erwarten war, sah auch hier alles wundervoll aus. Hell, freundlich und sehr modern. Als sie mich durch den Korridor führte, fiel mir jedoch auf, dass ich gar keine Treppe zum Penthouse gesehen hatte. Mir blieb keine Zeit, weiter darüber nachzudenken, denn schon waren wir angekommen und Luna führte mich in mein neues, vorübergehendes Zuhause. Die Suite war bombastisch. Durch die großen Fenster schien das Mondlicht herein, ich sah wie sich die Bäume vor den Scheiben im Wind wogen. Luna drückte auf den Lichtschalter und nach und nach glimmten die kleinen LED-Leuchten, die überall in die Decke eingelassen waren, auf und tauchten den Raum in ein warmes Licht. „Deine Koffer sind schon da. Normalerweise gibt es hier kein Bett, aber es wurde nun eines für dich aufgestellt. Wenn dir der Standort nicht passt, musst du einfach nur Seth und Grandpa bescheid sagen.“ „Nicht passen?“, fragte ich. „Machst du Witze? Das ist alles wundervoll!“ Sie sah mich ausdruckslos an und jedes weitere Wort blieb mir förmlich im Hals stecken. Warum hatte ich mich vor ihr zu so einem Gefühlsausbruch hinreißen lassen? Hatte ich wirklich mit einer Reaktion gerechnet? Ich wusste von diesem Mädchen nichts, außer den genauen Farbton ihrer Augen bei sämtlichen Lichtverhältnissen, allerdings nur, weil ich dieselben Augen hatte, aber schon jetzt war mir irgendwie klar, dass ich auf diese Weise keinen Draht zu ihr finden würde. Aus irgendeinem Grund wünschte ich mir aber genau das. Und ich wusste beim besten Willen nicht, wieso. Bisher war es mir auch immer egal gewesen, wenn mich jemand nicht mochte.„Gute Nacht“, sagte sie nach einer gefühlten Ewigkeit. Ich nickte und sie schloss die Tür hinter sich, als sie den Raum verließ.Ich seufzte. Okay, das war nicht so gut gelaufen, aber fürs erste war es erstmal wichtig für mich, meine Verwandlungen unter Kontrolle zu bringen. Freundschaften schließen musste ich hinten anstellen. Die nächsten zwei Stunden verbrachte ich damit, mein Hab und Gut aus meinen Koffern zu räumen. Wenn mich schon nicht alle so gut bei sich aufnehmen wollten, wollte ich mich wenigstens in meinem Zimmer einigermaßen heimisch fühlen.Bis in die frühe Nacht hinein blieb ich allein und dachte schon, dass erst im Morgengrauen wieder jemand mit mir reden würde, da öffnete sich die Tür und Renesmee trat ein.„Hast du alles was du brauchst?“, wollte sie wissen.

Ich nickte.

„Wenn du je irgendetwas brauchen solltest, kannst du jeden im Haus danach fragen. Scheu dich nur nicht davor.“„Alles klar“, sagte ich.Nun nickte sie. „Dann wünsche ich dir eine gute Nacht.“ Sie wollte gerade gehen, da richtete ich noch mal das Wort an sie. „Moment“, bat ich. „Ja?“, fragte sie und drehte sich noch einmal um. „Beginnt mein Training schon morgen?“ Ich hoffte, sie nahm mir diese Frage nicht übel. Ich wollte auf keinen Fall den Eindruck erwecken, nicht gerne hier zu sein. Denn obwohl ich meine Mutter und meine Geschwister schon jetzt vermisste, empfand ich es momentan noch als eher positiv, dass ich nun hier war. Es war alles so neu und aufregend. Nur der Gedanke an das kommende Training machte mir Angst, dennoch wollte ich unbedingt meine Probleme so schnell wie möglich in den Griff kriegen, um nie wieder in so eine brenzlige Lage zu kommen, wie auf dem Schuldach. Renesmee sah etwas traurig aus, als sie den Mund öffnete, um mir zu antworten. Ich dachte schon, sie nahm es mir wirklich übel, realisierte jedoch dann, dass das nicht der Grund für ihren Blick war, sondern die Tatsache, dass sie mir keine positive Antwort geben konnte. „Leider nicht. Anthony und Sangreal sind derzeit mit Mum und Dad, also ich meine mit Bella und Edward, in Italien, aber sie müssten in den nächsten Tagen den Rückflug antreten.“***Am nächsten Morgen musste ich mir, da ich in einem mir fremden Zimmer aufwachte, erstmal in Erinnerung rufen wo ich war und warum ich hier war, dann jedoch zog ich mich rasch um und ging hinunter in die Küche. Bereits im Flur roch ich den wohlschmeckenden süßlichen Geruch, der von etwa einem Dutzend übereinander gestapelter Waffeln in der Mitte des Esstisches herrührte.Als ich den Raum betrat, drehte sich Nayeli, die am Herd stand und die Waffeln offensichtlich zubereitet hatte, mit einem freundlichen Lächeln um. Ihr langes, schwarzes Haare hatte sie zu einem Pferdeschwanz zurückgebunden und zusätzlich mit einem Dreieckstuch bedeckt, was mich darauf schließen ließ, dass sie wohl öfter zu kochen schien. „Guten Morgen, Billy-Sue!“, begrüßte sie mich strahlend. „Hast du Hunger? Nimm dir ruhig so viel du möchtest, ich mache gerade noch mehr, bevor Jake und Seth kommen.“ Ich setzte mich an denselben Stuhl wie am Vorabend und hob mir eine Waffel auf den Teller. Sie hatte eine perfekte goldbraune Farbe. „Dankeschön“, bedankte ich mich. „Die sehen toll aus.“ „Nichts zu danken, Billy-Sue“, antwortete sie freundlich. „Du kannst mich gern Billy oder Bills nennen“, bot ich ihr an. „Oh, wirklich? Okay, dann eben Bills“, antwortete sie und wand sich dann wieder dem Waffeleisen zu. Plötzlich hörte ich schnelle Schritte und Seth und Jake kamen unter lautem Gelächter in die Küche gestürmt. Sie setzten sich links und rechts von mir an den Esstisch und nahmen sich jeweils gleich drei Waffeln auf ihre Teller.„Morgen, Billy!“, sagte Jake, während er auf seine erste Waffel Ahornsirup kippte.„Von mir auch einen guten Morgen, Billy“, schloss Seth sich an und aß seine pur. „Mhmm!“, murmelte er, kaum dass er einen Bissen genommen hatte. „Schmeckt toll. Nayeli hast du den Zuckergehalt geändert?“Nayeli schüttelte den Kopf und befreite die fertige Waffel aus dem Waffeleisen. „Ist keiner drin. Ich hab dieses Mal Stevia benutzt.“ „Ah“, sagte Seth und zeigte zur Antwort einen Daumen nach oben. „Sie ist bei mir in die Lehre gegangen“, klärte er mich auf meinen fragenden Blick hin auf. Wenig später aßen auch Renesmee und Mariella mit uns und auch Nayeli gesellte sich an den Tisch, nachdem sie den gesamten Waffelteig zu Waffeln verarbeitet hatte. „Ach Billy“, sagte Renesmee dann zu mir gewandt. „Wenn du deine Mutter anrufen möchtest, kannst du gern unser Telefon benutzen.“ „Super, danke, werde ich heute Abend machen, wenn sie von der Arbeit heim gekommen ist.“ „Ist sie immer noch Lehrerin an der Reservatsschule?“, fragte Mariella.Ich nickte. „Ja, aber fragt mich nicht, wie sie sich da schlägt. Ich nehme an, dass sie super ist, aber ich gehe nicht auf die Reservatsschule.“ „Ja, davon haben wir gehört“, meinte Renesmee. „Ein kleines bisschen Rebellin, was?“, sagte Grandpa Jake und grinste dabei. „Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm“, antwortete Renesmee.„Hey, ich bin brav auf die Reservatsschule gegangen!“, protestierte Jake noch immer grinsend. „Ja, aber man darf nicht vergessen, dass du der erste Alpha warst, der seinen Rang ablehnte, ihn dann später wieder zurückforderte und dabei sogar ein Rudel spaltete. Ach und du warst auch der erste Quileute, der sich auf einen Vampir geprägt hat – einen halben, meine ich“, sagte Seth.„Ja, ja“, murmelte Jake.„Und!“, fügte er dann noch hinzu. „Wir kennen ja da noch jemanden, der mit dir eng verwandt ist und meinte, die Regeln einfach ignorieren zu müssen und sich eben nicht in einen Wolf zu verwandeln.“Jetzt wurde ich erst richtig hellhörig. All das Gerede darüber, dass Grandpa seinen Platz als Stammesoberhaupt nicht annahm und es stattdessen Sam Uley übergeben hatte, hatte Mum uns bereits mehrfach erzählt. Auch, dass es eine Zeit lang zwei Rudel gab, wussten wir. Aber von den Verwandlungen hatte sie kaum etwas erzählt, erst recht nicht, dass die Wolfsgestalt nicht die einzige Form war. „In was hat er sich denn schon alles verwandelt?“, fragte ich neugierig. „Och“, begann Grandpa Jake. „Raben, Adler...“„Panther“, ergänzte Renesmee. „Ein Kaninchen“, sagte dann Mariella und alle – inklusive mir – starrten sie an. „Autsch, erinnere uns bitte nicht daran“, sagte Jake.„Sie hat danach gefragt“, rechtfertigte sie sich. „Er kann sich das frei aussuchen?“ Ich hoffte durch meine Frage weitere Sticheleien zwischen den Familienmitgliedern zu verhindern. Wahrscheinlich neckten sie sich nur, aber ich kannte es von meinen eigenen Geschwistern so, dass bloße Worte auch ausarten konnten und wollte es lieber nicht darauf ankommen lassen. „Natürlich.“ Ich drehte mich verwundert um. Hinter uns betrat Luna die Küche, ging geradewegs auf den Tisch zu, hob sich eine Waffel auf den Teller und verließ den Raum wieder.Ich schluckte und griff nach dem Ahornsirup. „Mach dir nichts draus“, sagte Nayeli, hob Jake die letzte Waffel auf den Teller und nahm das dreckige Geschirr vom Tisch. Ich nickte kaum merklich. Natürlich machte ich mir etwas daraus, wenn eine Person, die ich kaum kannte und die mich kaum kannte, so abweisend mir gegenüber war.„Was hältst du davon, wenn ich dir nachher ein bisschen die Gegend zeige?“, bot Nayeli mir an, als sie auch meinen Teller wegräumte, nun da ich aufgegessen hatte.„Das wäre toll.“ ***Etwa eine Stunde später lief ich gemeinsam mit Nayeli durch die üppigen Wälder, die sich hinter dem Haus der Cullens erstreckten. Sie hatte mir bereits die Wiesen vor dem Haus gezeigt und mir erklärt, dass der nächste Ort, eine relativ kleine Ortschaft, ein gutes Stückchen von ihnen entfernt lag. Auch erzählte sie mir, dass in der entgegengesetzten Richtung eine andere Vampirfamilie lebte, die sich ebenfalls dem vegetarischen Leben verpflichtet hatte. Zwar musste sie mir noch einmal erklären, was es genau mit dem Vegetarismus unter Vampiren auf sich hatte, da Mum auch hierüber nicht viel gesprochen hatte, doch nach und nach begann ich langsam mit dieser Hälfte meiner Verwandtschaft warm zu werden. Sie selbst, so erzählte mir Nayeli weiter, war zwar ein Halbvampir, ernährte sich jedoch ausschließlich von menschlicher Nahrung. Ihre Mutter war in dem Versuch, sie zu beschützen umgekommen, ihren Vater hatte sie nie kennengelernt. Luna war also nicht ihre leibliche Schwester, dennoch standen sie sich einander sehr nahe. „Das mit deinen Eltern tut mir sehr leid“, sagte ich traurig. „Ich glaube ich weiß, wie du dich fühlst.“„Ist schon in Ordnung, Billy“, antwortete sie. „Ich bin Sangreal sehr dankbar, dass sie mich bei sich aufnahm und zusammen mit ihrer Tochter aufzog. Sie hat mir nie das Gefühl gegeben, dass sie mich weniger lieben würde als Luna. Und obwohl ich ihn nicht Dad nenne, habe ich in Anthony so etwas wie eine Vaterfigur gefunden. Ich hatte nie das Gefühl, dass mir etwas fehlte. Ich kenne dich kaum, aber ich denke, bei dir ist das anders.“Ich sah traurig zu ihr auf und blickte in ihre grauen Augen. Sie hatte offensichtlich ein sehr gutes Einfühlungsvermögen. „Das stimmt. Mein Dad fehlt mir jeden Tag, aber...“, ich kramte in meiner Hosentasche, zog mein Portmonee heraus und zeigte ihr das Foto von Daddy. „Ich trage ihn immer bei mir.“„Das ist toll“, sagte sie lächelnd.Ich packte das Foto wieder weg. „Darf ich dich etwas fragen?“Sie nickte und sah mich erwartungsvoll an.„Was hat Luna gegen mich?“ Nayeli öffnete den Mund und schloss ihn wieder, ohne etwas zu sagen. Ein paar Sekunden später schien sie ihre Sprache dann doch wiedergefunden zu haben. „Ich glaube nicht, dass sie tatsächlich etwas gegen dich hat. Sie hat viel eher ein Problem mit sich selbst.“ Nayeli legte mir ihre Hand an den Rücken und gab sanft druck, so dass wir uns wieder gemeinsam in Bewegung setzten, plötzlich jedoch blieben wir beide stehen, als wir ein Rascheln in einer der Baumkronen über uns hörten.Nayeli seufzte und schloss die Augen. Im nächsten Augenblick sprang Luna zu uns herab.„Ein Problem mit mir selbst“, wiederholte sie die Worte ihrer Schwester und verschränkte die Arme vor der Brust. „Ist das so?“, fragte sie dann. Nayeli funkelte ihre Schwester etwas böse an. „Du bist neidisch – nein halt, du bist eifersüchtig auf sie, weil sie sich in verschiedene Tiere verwandeln kann und du nicht, aber das ist Unsinn, Luna, nur weil er sie unterrichten wird und sie etwas gemeinsam haben, heißt das doch noch lange nicht, dass er dir deswegen weniger nahe stehen wird. Er liebt dich mehr als alles andere auf dieser Welt und nichts wird das jemals ändern.“Lunas Augen wurden glasig. „Du hast keine Ahnung!“, sagte sie bitter. „Keine!“„Schön“, antwortete Nayeli und verschränkte nun ebenfalls die Arme. „Dann klär uns doch auf.“Ich sah unsicher zwischen den Schwestern hin und her. Ich nahm nicht an, dass sie sich häufiger stritten, umso schäbiger kam ich mir vor, weil ich der Grund für einen dieser wenigen Streits war. Luna trat näher an mich heran. Wir waren fast gleich groß. Ich sah wie ihre feuchten Augen funkelten. Die Augen, die genau denselben Grünton hatten, wie meine Augen. Die Augen, die mir im ersten Moment unserer Begegnung das Gefühl gegeben hatten, dass wir eine Verbindung hatten, obwohl wir uns noch nie zuvor sahen. „Du weißt es wahrscheinlich gar nicht und du wirst es auch nicht absichtlich tun, aber du wirst Wunden aufreißen, die längst verheilt waren!“, schrie sie mich nun fast an. Nayeli trat an ihre Seite, legte ihre Hand an die Schulter ihrer Schwester und drehte sie so hin, dass sie sie ansehen musste. „Verheilte Wunden können nicht aufgerissen werden, Luna, nur vernarbte.“ Luna sah betroffen zu Boden, doch ihre Schwester ging leicht in die Knie, sah sie warm an und redete ihr gut zu. „Luna“, sagte sie leise. „Vielleicht ist es gut so. Vielleicht muss es so sein, damit es ein für alle Mal richtig heilen kann.“ Luna wand den Blick nach links ab. „Verstehst du, was ich dir damit sagen möchte?“, fragte Nayeli. Luna kniff die Augen zusammen. „Nein“, antwortete sie, doch ihre Körperhaltung verriet das Gegenteil. Luna sah mich nicht noch einmal an, stattdessen machte sie einen Satz nach hinten, verwandelte sich in einen schneeweißen Wolf und rannte davon.Ich hatte keine Ahnung, von welchen Wunden sie sprachen, aber mir dämmerte langsam, dass Mum mir noch mehr verheimlicht zu haben schien, als mir bisher bewusst gewesen war...

[Sangreal] Die neuen Wächter

Vor 14 Jahren hatte ich gemeinsam mit Nahuel und Nayeli Volterra verlassen und nie im Leben hätte ich geglaubt, dass ich je wieder freiwillig hier sitzen würde – in jener Halle, in der die Volturi einst regiert hatten. Wo damals noch die drei Throne von Aro, Caius und Marcus gestanden hatten, befanden sich nun edle Schreibtische. Der ehemalige Thronsaal glich nun noch am ehesten einem Gerichtssaal und genau als solcher diente er auch. 'Die neuen Wächter', wie die Vampire hier in Volterra nun gemeinhin genannt wurden, herrschten nicht, sie richteten über alle Vampire, die das Geheimhaltungsabkommen nicht einhielten. Carlisle war kein angsteinflößender Herrscher, wie es Aro gewesen war, er war ein Richter und er hatte trotz seiner schweren Bürde nichts von seiner Güte aufgegeben. Wenn man in seine goldenen Augen sah, war da immer noch Dr. Carlisle Cullen. Und doch, wenn ein Vampir die anderen Vampire gefährdete, sah auch Carlisle sich dazu gezwungen entsprechend zu handeln...

„Wer ist der Nächste?“, fragte Carlisle sanft Esme, die nur einen kurzen Blick auf eine Liste warf. „Roberto Lucia“, antwortete sie. „Seit knapp einem Jahr ein Vampir. Konnte gerade noch davon abgehalten werden, pikante Details über Vampire einer Nachrichtenagentur preiszugeben.“ Carlisle hob die Augenbrauen, dann richtete er das Wort an Benjamin, der neben ihm saß, woraufhin dieser die Tür mithilfe seiner Gabe, ohne sie berühren zu müssen, öffnete und besagter Roberto von Jasper und Aurora in den Raum gezerrt wurde. Als er schließlich vor Carlisles Schreibtisch stand, funkelte er ihn finster an. „Was immer mir vorgeworfen wird, es ist eine Lüge!“, zischte er. „Ist es nicht“, sagte Edward. Es war kein Widerwort, sondern viel eher eine Feststellung.Roberto taxierte Edward wütend und knurrte leicht. Carlisle wand sich an Alice, welche ihm zunickte. „Es sprechen leider einige ziemlich verlässliche Quellen gegen Sie, Mr. Lucia“, antwortete Carlisle förmlich.„So?“, antwortete er spottend. „Welche sollen das sein?“ „Mit Sicherheit haben Sie in ihrem zweiten Leben schon davon gehört, dass manche Vampire über Talente verfügen“, antwortete Carlisle weiterhin ruhig. „Ich habe gesehen wie er zur Agentur ging“, sagte Alice. Roberto quollen fast die wütenden Augen raus. „Das kann nicht sein, das habe ich nicht getan!“„Alice sieht die Dinge, sobald man sich für sie entschieden hat“, erklärte Edward.„Ihr könnt mich nicht für etwas bestrafen, das ich noch gar nicht getan habe! Ich habe mich nicht dafür entschieden, ich war nie bei dieser Agentur und wollte ganz bestimmt auch nie dorthin!“ Carlisles bernsteinfarbene Augen sahen Edward sanft an, welcher nun dazu überging handfeste Beweise zu liefern: „Durchsucht seine Taschen, ihr werdet den Notizblock finden, den er den Menschen zuspielen wollte.“ Robertos Augen wurden noch größer. In jenem Augenblick, in dem Jasper seinen Griff ein wenig lockerte, um ihn zu durchsuchen, wand er sich, mit einem gekonnten Rückwärtssalto aus dem Stand, aus Jaspers und Auroras Griff und flitzte davon. Anstelle des Hauptausgangs hechtete er allerdings auf einen der kleineren Seitenausgänge zu, an denen sich keine Wache befand, da sie nicht direkt nach draußen führten. Er wollte eben die Tür öffnen, als diese scheinbar von selbst aufschwang und Roberto anschließend, ohne sie berührt zu haben, zu Boden fiel. Ich sah kurz hinüber zu Benjamin, da es für ihn mit Sicherheit kein Problem gewesen wäre, den Ausreißer mit etwas Wind umzuwehen, doch der Ägypter sah genauso überrascht drein, wie ich. Ein paar Sekunden später, als Roberto ebenfalls etwas verstört den Kopf hob, machte Anthony dem Spuk schließlich ein Ende und wurde wieder sichtbar. Er stand direkt vor Roberto, welcher sich nun mühsam aufrappelte und ihn wahrscheinlich aufgrund seiner Augen nicht so richtig zuzuordnen vermochte. Esme hatte vorhin erwähnt, dass er noch nicht all zu lang ein Vampir war, möglich also, dass er noch gar nicht von der Existenz von Hybriden wusste.Die beiden taxierten sich, sagten jedoch kein Wort. Dann schrie Roberto erschrocken auf, als seine Gliedmaßen mit einem Mal im Boden versanken und darin feststeckten. Benjamin lächelte leicht. Jasper ging auf den Ausreißer zu und kramte nun endlich besagten Notizblock aus seiner inneren Jackentasche, dann wand er sich an Ani. „Danke“, sagte er und drehte sich um, um den Block Carlisle zu geben, der ihn im Vampirtempo durchlas und dann beiseite legte. Anthony hingegen, lies Roberto liegen und machte stattdessen einen Satz auf die Empore auf der der Tisch stand, hinter dem ich saß und setzte sich wieder neben mich. „Hey“, flüsterte ich.

„Hey“, flüsterte er zurück und sah mich warm an.„Wolltest du nicht nur kurz auf die Toilette?“, fragte ich neckisch. Er zuckte mit den Schultern. „Kann ich doch nicht ahnen, dass ich auf dem Rückweg so stürmisch von einem Fremden begrüßt werde.“Ich lachte leise und gab ihm einen schnellen Kuss. Als wir uns wieder voneinander lösten, lächelte er leicht. „Die Art Begrüßung mag ich schon eher.“ Ich lächelte zufrieden zurück und sah wieder nach unten, wo Roberto gerade wieder auf die Füße gezogen wurde. „Haben Sie etwas zu Ihrer Verteidigung zu sagen, Mr. Lucia? Was treibt Sie dazu, unsere Spezies zu verraten?“„Unsere Spezies?“, fragte er wütend. „Ich habe nie darum gebeten, ein Monstrum zu sein! Ich war ein Mann der Kirche, jetzt bin ich ein Diener des Teufels! Ich wollte in den Himmel einkehren, wie es sich gehört. Ich wollte dort wieder mit meiner Frau vereint sein! Stattdessen bin ich dazu verdammt auf ewig auf Erden zu wandeln! Auf einer Erde, die für mich zur Hölle geworden ist! Finster, kalt und blutig! Ich wollte die Menschheit aufklären, damit sie alldem ein Ende macht!“„Wie sind Sie ein Vampir geworden?“, fragte Carlisle noch immer sanft. „Ich... ich weiß es nicht mehr“, sagte der Vampir und sah betroffen zu Boden.„Er saß im Beichtstuhl und wollte jemandem die Beichte abnehmen, als dieser plötzlich durchdrehte, die Trennwand durchstieß und ihn biss“, klärte Aurora uns auf. Ihre Gabe, die Vergangenheit anderer sehen zu können, erwies sich wahrscheinlich sehr häufig als äußerst nützlich.Roberto starrte sie verstört an. „Niemand sollte Vergangenheit, Zukunft oder die Gedanken eines Menschen kennen, außer Gott selbst!“

Carlisle schüttelte den Kopf und wand sich an Alice, welche es ihm gleich tat. Offensichtlich sah sie in seiner Zukunft keine Einsicht, was unweigerlich zu seinem Tod führen musste. Der einstige Arzt erhob sich, um sein Urteil zu verkünden. „Die Geheimhaltung unserer Rasse und der alle übernatürlichen Wesen ist unser oberstes Gebot. Leider sind Sie nicht gewillt, dieses einzuhalten, daher sehen wir uns bedauerlicherweise zur Exekution gezwungen.“Mein Blick wanderte erwartungsvoll zu Roberto. Obwohl er so eben sein Todesurteil bekommen hatte, war sein Blick zum ersten Mal weder erschrocken, noch bösartig. Im Gegenteil, er sah Carlisle dankbar an. „Sollte ich wider erwarten Gott doch noch begegnen, so richte ich ihm aus, dass er euch für diese Entscheidung belohnen soll. Danke.“Carlisle antwortete nichts. Er nickte, woraufhin Aurora und Jasper den Vampir aus dem Raum begleiteten. Hinrichtungen fanden bei den neuen Wächtern nicht mehr zur Belustigung der Oberen im Beisein aller statt, sondern im kleinen Kreis in einem Hinterzimmer. Nachdem die Tür hinter den Dreien ins Schloss gefallen war, setzte Carlisle sich wieder hin. Er sah müde aus. Dies war ganz bestimmt nicht das erste Todesurteil, das er in den letzten 14 Jahren hatte aussprechen müssen, doch es nahm ihn jedes Mal aufs Neue mit. Er strich sich kurz übers Gesicht dann machte er sich für den nächsten auf Esmes Liste bereit. „Ciaran. Männlich, Vampir. Hat sich nie etwas zu schulden kommen lassen, bittet jedoch um eine Audienz und steht schon seit längerem auf der Liste.“Carlisle hob eine Augenbraue. „Tatsächlich? Dann wollen wir doch mal hören, was er zu sagen hat und lassen ihn nicht länger warten.“ Er nickte Benjamin zu. Die großen Türen schwangen ein zweites Mal auf. Der Vampir, der durch sie hindurch trat, war wie die meisten Vampire, ziemlich hübsch. Er sah aus wie Anfang 20, hatte eine kräftige Statur und kurzes braunes gesträhntes Haar. Was ihn noch am ehesten von vielen unterschied, waren seine goldenen Augen.„Hallo“, begrüßte er Carlisle. „Hallo“, antwortete dieser und warf einen Blick auf Esmes Liste, um den Namen des Besuchers nachzulesen. „Ciaran... was führt dich zu uns?“ „Nun“, begann der Besucher. „Ich wurde in Florenz geboren. Dort haben die Volturi mich vor über 1300 Jahren überfallen und mehr oder weniger versehentlich verwandelt.“„Versehentlich?“, hakte Benjamin nach. Ciaran nickte. „Sie wollten meinen Bruder verwandeln. Wir sahen uns sehr ähnlich. Sie dachten er hätte ein besonderes Talent.“„Und hatte er das?“, fragte nun Carlisle.Ciaran zuckte mit den Achseln. „Ich weiß es nicht. Er ist dabei umgekommen. Ich jedoch, habe eines, daher boten sie mir auch an, bei ihnen zu bleiben, aber ich habe abgelehnt. Ich zog nach Frankreich und ernährte mich von Tieren. Es hat mir gereicht meinen Bruder sterben zu sehen, ich wollte nie einem anderen Menschen eine geliebte Person nehmen.“Im Augenwinkel betrachtete ich Ani. Er ließ es sich nicht anmerken, aber ich war mir ziemlich sicher, dass die Worte Ciarans bei ihm Erinnerungen aufblitzen ließ, erst recht hier, in jenem Saal, in dem William gestorben war. Vorsorglich nahm ich seine Hand und drückte sie, er sah mich kurz warm an und erwiderte meine Geste, dann wand er seinen Blick wieder nach unten.„Vegetarismus ist inzwischen glücklicherweise nicht mehr ganz so selten und verpönt wie er es einst war“, bestätigte Carlisle. „Aber was genau ist der Grund für deinen Besuch?“ „Mir ist zu Ohren gekommen, die Volturi seien vernichtet worden und das ein anderer Clan ihren Platz eingenommen haben soll. Man erzählt sich, die neuen Wächter wären ganz anders, als ihre Vorgänger. Ich wollte mich selbst davon überzeugen und würde mich freuen, eine Weile hier bleiben zu dürfen. Vielleicht kann mein Talent euch sogar von Nutzen sein.“„Möchtest du es uns denn einmal vorführen?“, bat Carlisle, woraufhin sein Gegenüber nickte. Ciaran schloss die Lider und atmete einmal tief durch. Zunächst sah es so aus, als stünde er einfach nur so da, doch dann bemerkte ich, dass seine Haare mit einem Mal heller wurden und sein ebenmäßiger Teint Flecken bekam. Meine Augen und die aller anderen Anwesenden wurden größer: er alterte. „Unglaublich“, hauchte ich. Mein Freund sah mich verwundert an. „Was?“Ich blinzelte kurz. Natürlich, Ciarans Fähigkeit gaukelte einem seine äußere Erscheinung wahrscheinlich nur vor. Für Anthony hatte sich aufgrund seines Schutzschildes nichts verändert. Ein Blick auf Bella, die genauso gelangweilt drein schaute, bestätigte meine Vermutung. „Du musst deinen Schutzschild runterfahren.“ Er lehnte sich wieder desinteressiert zurück in seinen Stuhl. „Dafür? Wohl eher nicht.“Ich schüttelte den Kopf. Wenn es darum ging, war er sehr eigen. Der Großteil der Anwesenden jedoch, war anschließend Zeuge davon, wie Ciaran sich kurz darauf soweit verjüngte, dass ein kleines Kind vor uns stand. Wenige Augenblicke später wurde er wieder älter und sah wieder so aus, wie er zur Tür hereingekommen war.„Das ist eine interessante Gabe und könnte uns durchaus helfen, Rechtsverstößen auf die Schliche zu kommen und den einen oder anderen Verbrecher zu jagen“, stellte Edward fest. Carlisle nickte. „Das ist richtig. Du kannst dich uns gern anschließen, solange du willst.“Ciaran nahm Platz und bat den Nächsten auf der Liste herein. Dieses Mal handelte es sich jedoch nicht nur um eine Person. „Familie Verusco“, las Esme vor. „Die ganze Familie besteht aus Neugeborenen. Stehen in Verdacht, ein unsterbliches Kind geschaffen zu haben.“ Carlisle schien ob dieser Neuigkeit kurz etwas geschockt zu sein, fand seine Fassung jedoch schnell wieder. Er bat die Familie einzutreten und wenig später schritten fünf Personen durch die große Tür. Zwei von ihnen, der Mann und die Frau die ganz vorn liefen, sahen in etwa wie Mitte 40 aus. Die Vampire hinter ihnen, zwei Jungs und ein Mädchen, wirkten eher wie höchstens Anfang 20. Einen der Jungs schätzte ich sogar eher noch etwas jünger ein. Meine eigentliche Aufmerksamkeit galt jedoch keinem von ihnen, just da ich das kleine Bündel in den Armen des Mädchens entdeckte. Auch Carlisle und den Anderen war dies natürlich nicht entgangen, dennoch blieben sie alle ganz ruhig. Das konnte man von der Vampirfamilie jedoch nicht behaupten. Sie sahen sich nervös im Raum um, so dass Jasper mit einigen anderen näher an sie heranrückte. Sie waren alle Neugeboren und demnach durchaus gefährlich. Ihre roten Augen huschten von einem zum Nächsten. Sie waren offensichtlich sehr verunsichert und wussten nicht so recht, was als nächstes passieren würde. „Guten Abend“, begrüßte Carlisle die Familie ruhig. Mr. Verusco jedoch reagierte, als hätte man mit irgendetwas nach ihm geworfen und machte einen nervösen Schritt zurück. Jaspers Augen wurden kleiner und auch Edwards Muskeln spannten sich an. „Ganz ruhig“, versuchte Carlisle die Neugeborenen zu beruhigen. „Niemand wird ihnen hier etwas antun, Mr. Verusco. Wissen Sie warum Sie hier sind?“ Mr. Verusco schüttelte energisch seinen nur spärlich mit schwarzem Haar bedeckten Kopf. „No, man hat uns gebracht hierher, aber warum, wir wissen nicht“, antwortete er in gebrochener Sprache. Sie mussten wirklich erst sehr frisch verwandelt worden sein. Normalerweise lernten Vampire sehr schnell. Dutzende neue Sprachen in kürzester Zeit waren für sie kein Problem, ein Akzent nur ein Klacks. „Wie kam es zu Ihrer Verwandlung?“ Offensichtlich stellte Carlisle diese Frage grundsätzlich jedem.Mr. Verusco nickte. „Es war auf eine Raststätte. Ich habe geparkt dort. Als ich kam nach Hause, Tage später...“, er senkte den Blick. „Habe ich gebissen... meine Frau und mein Sohn. Später wir haben verwandelt meine Tochter und seine Verlobte.“„Und das Kind?“, fragte Carlisle. Ich sah einen kleinen Hoffnungsschimmer in seinen Augen. Hatten sie das Kind möglicherweise doch verschont. Das Mädchen sah traurig zu ihrem Bündel hinab und legte vorsichtig dessen Gesicht frei. Das Baby öffnete zaghaft seine Lider, hinter denen sich eine dunkelrote Iris verborgen hatte. „Wir konnten meine Enkelin nicht lassen eine Mensch. Sie hatte immer so gut gerochen. Wir hatten Angst.“ Carlisle seufzte. „Babys und Kinder zu verwandeln zählt zu den größten Verbrechen unserer Welt. Sie können sich nicht beherrschen, nicht kontrolliert werden. Sie lernen nicht dazu. Sie verfallen dem Blutdurst und lassen sich durch Worte nicht stoppen.“Die Familie sah gleichermaßen geschockt wie betroffen drein. Als Jasper einen Schritt auf das Mädchen zuging, machte sie einen zurück und umschloss ihr Baby enger mit ihren Armen. Mir wurde ganz schlecht, der Gedanke daran, meine Tochter zu verlieren reichte aus, um mir die Tränen in die Augen zu treiben. Nicht auszudenken, was ich getan hätte, hätte je jemand so einen Schritt auf mich zugemacht, nachdem man mir gesagt hatte, dass mein Kind eine Gefahr war und nicht leben durfte. Ich hätte wahrscheinlich um mich geschlagen und mein Kind niemals freiwillig aus der Hand gegeben. Das Mädchen jedoch, stand momentan nur da. Würde Jasper jedoch noch einen Schritt auf sie zugehen, ich war mir sicher, sie würde ähnlich reagieren und hoffte, dass ich das nicht mit ansehen musste. Ich bereitete mich bereits darauf vor, mein Gesicht an Anis Brust zu drücken, um mir den Anblick zu ersparen, doch Carlisle selbst schien ebenfalls nicht sonderlich erpicht darauf zu sein, dem Mädchen ihr Kind wegzunehmen. „Ihr könnt gern eine Weile bei uns bleiben und von uns lernen“, bot er ihnen an. „Wir bieten euch eigene Räumlichkeiten und Versorgung an und weisen euch in das Leben als Vampire ein. Das Kind wird hier keinem Menschen schaden können, weswegen wir auch ihm nichts tun werden.“ Die Erleichterung war der Familie ins Gesicht geschrieben. Sie wurden von Jasper, Aurora und einigen anderen fortgeführt. Was im einstigen Thronsaal zurückblieb, war Verwunderung.„Carlisle, du kannst das Urteil nicht verhindern“, stellte Edward sogleich klar und legte die Hände auf Carlisles Schreibtisch. „Ich gehe garantiert nicht konform mit allem, was die Volturi taten, aber diese eine Sache war richtig von ihnen. Definitiv.“ „Ich weiß, Edward. Ich bin mir dessen vollkommen bewusst, aber diese neugeborene Familie weiß noch so wenig von alledem. Wenn wir ihr Kind jetzt töten, werden sie nicht verstehen weshalb. Möglicherweise werden sie uns dann angreifen und dann haben wir sechs Tote. Mit der Zeit werden sie selbst erkennen, dass ihr Kind in seiner Entwicklung eingefroren ist und begreifen, dass ein Leben als Vampir, kein Leben für ein Kind ist.“Edwards Gesichtszüge wurden wieder weicher. Carlisles Erklärung klang sehr einleuchtend. Wieder einmal hatte er exakt das Richtige entschieden. Ich atmete erleichtert auf. Nicht auszudenken, wenn ich das hätte mit ansehen müssen. „Ich weiß, dass ist ein anderer Weg als der, den die Volturi gingen“, meinte Carlisle. Esme nahm seine Hand und lächelte ihn an. „Aber es ist ein Guter.“ „Zumindest ist es der humanere Weg, aber auch der, der am meisten Ressourcen beansprucht. Ich will ja nicht sagen, dass es hier in Volterra an Platz mangelt, aber allein heute haben wir fast ein Dutzend Vampire aufgenommen“, sagte Edward. „Das stimmt. Deswegen wird es höchste Zeit, dass wir neben den ehemaligen Räumen der Halbvampire noch weitere für eventuelle Neuzugänge frei machen“, antwortete Carlisle mit einem Blick in unsere Richtung, woraufhin Anthony aufstand. „Das ist unser Stichwort, Sangi“, sagte er und nahm meine Hand. Ich ließ mich von ihm aus dem Raum führen.

 

 

Als sich die Tür des Saals hinter uns schloss, hakte ich mich bei ihm ein und lehnte meinen Kopf an ihn. „Warum genau hab ich mich noch mal dazu überreden lassen, hierher zu kommen?“, seufzte ich.„Weil hier eventuell bald Platzmangel herrschen wird und auch diese Etage vor dem Umbau nicht verschont bleibt, was bedeutet, dass das Inventar verschwindet und damit auch alles, was du in deiner Zeit hier besessen hast. Und um sicher zu gehen, dass keine Erinnerungsstücke im Müll landen, schauen wir uns noch ein letztes Mal in deiner alten Suite um“, half Ani mir ausführlich auf die Sprünge. „Ach ja richtig“, seufzte ich abermals, während er die Schlüssel raus kramte und die Tür aufschloss. Sie schwang flüsterleise auf und ich betrat jene Räume, in denen ich in den ersten Jahren meines Lebens gewohnt hatte. Alles hier sah noch so aus, wie ich es hinterließ. Lediglich die Staubschicht auf den Möbeln und dem weißen Marmor verriet, dass hier für 14 Jahre niemand mehr gelebt hatte. Mein rundes Bett war noch immer mit derselben weißen Satin-Bettwäsche bezogen. In meiner kleinen Küche stand sogar noch eine leere, ungewaschene Tasse. Als ich einen Blick hinein warf, sah ich kleine Rückstände des menschlichen Blutes, das ich damals noch getrunken hatte. Nun war es dunkelrot, fast schwarz und klebte am Tassenboden fest. Nie wieder würde ich welches trinken, aber ich vermisste es auch nicht.

14 Jahre waren im Leben eines Vampirs eigentlich nur ein Augenaufschlag, mir jedoch kam es so vor, als seien Jahrhunderte vergangen. Es schien alles so fremd, so fern. Nichts hier ließ mich wünschen, dass ich die Zeit zurückdrehen könnte. Im Gegenteil, es verursachte eher noch Heimweh. Plötzlich sehnte ich mich nach meinem Bett in Alaska und vor allem nach meiner Tochter. Es war jetzt alles so viel besser. Das hier bedeutete mir nichts. Und doch... eine Stelle hier gab es, die positive, schöne Erinnerungen in mir vor rief. Ich ließ die Tasse stehen und ging hinüber zum Kamin, vor dem noch immer das Lammfell lag. Als ich so da stand und es betrachtete, spürte ich, wie sich Anis Hand um meine legte. „Da brannte wohl schon lange kein Feuer mehr“, sagte er mit Blick auf den Kamin, in dem noch immer ein paar graue Aschehaufen lagen. „Das stimmt“, gab ich ihm Recht. „Aber...“ Ich drehte mich zu ihm um, wand meine Hand aus seiner und legte sie stattdessen an seine Wange. „Hier hat auch mal ein anderes Feuer gebrannt und das brennt noch immer...“„Das stimmt“, gab er mir nun Recht, schloss die Augen und beugte sich zu mir herab, um mich zu küssen, zuerst noch sanft, dann immer bestimmter. Während unsere Lippen einander leidenschaftlich berührten, begann ich langsam, jedoch stetig, sein schwarzes Hemd aufzuknöpfen. Knopf für Knopf. Immer weiter, bis meine Finger am Bund seiner dunklen Jeans ankamen. Ich öffnete den silbernen Knopf und zog langsam den Reißverschluss nach unten.

***Am darauffolgenden Morgen fielen die Sonnenstrahlen bereits durchs Zimmer, als ich meine Augen aufschlug. Es musste fast Mittag sein. So lange schliefen wir eigentlich eher selten, dann rief ich mir jedoch in Erinnerung, wovon wir uns hatten erholen müssen. Allein der Gedanke daran, zauberte mir ein zartes Lächeln auf die Lippen. Zufrieden drehte ich mich um. Anthony lag, noch immer schlafend, hinter mir und atmete ruhig. Ich begann ihm sanft über die Wange zu streicheln. „Ani?“, weckte ich ihn zärtlich, woraufhin er langsam die Augen öffnete. „Hey“, begrüßte ich ihn. „Hey“, antwortete er und lächelte leicht. „Gut geschlafen?“, fragte ich.„Sehr gut“, antwortete er, hob den Oberkörper und stützte sich auf den Ellbogen.

„Und wie gefiel dir die letzte Nacht?“, stellte ich die nächste Frage.Er lächelte mich verschmitzt an. „Mehr als sehr gut.“ „Für einen Moment dachte ich, du würdest mich beißen. Ich hab deine Zähne gespürt.“

Sein Blick wurde schlagartig nachdenklich. „Was ist?“, wollte ich besorgt wissen.„Ich hatte schon mal mit dem Gedanken gespielt, Carlisle zu bitten, mir die Giftdrüse zu entfernen.“„Ani!“, fuhr ich ihn erschrocken an.„Dann hätten wir das Problem nicht mehr.“„Anthony!“, wurde ich lauter.„Du müsstest dann keine Angst mehr vor mir haben.“„Anthony Ephraim Black-Cullen!“, schrie ich nun fast, nahm sein Gesicht in meine Hände und sah ihn eindringlich an. „Denk nicht mal daran! Dieses Gift hat dir einmal das Leben gerettet und ich will nicht, dass du für mich irgendetwas opferst! Ich habe keine Angst vor dir und werde nie welche haben!“Er schwieg und sah mir in die Augen, dann küsste er mich plötzlich. „Ich liebe dich“, war das Erste, was er sagte, als sich unsere Lippen wieder voneinander gelöst hatten. Er sagte diese drei Worte, im Gegensatz zu mir, sehr selten, doch wann immer er es tat, tat er es mit einer solchen Inbrunst, dass ich jedes Mal aufs Neue Gänsehaut bekam.

„Ich liebe dich“, antwortete ich und spürte im selben Moment, wie meine Augen glasig wurden. Ich konnte noch immer nicht so ganz fassen, dass er sich, nach all den Jahren, die er allein verbracht hatte, für mich entschieden hatte. Manchmal nannte er mich liebevoll 'seinen Deckel'. Seine Mutter, Renesmee, hatte mir auch irgendwann die Geschichte dazu erzählt.Als wir ein paar Stunden später im Privatjet saßen, befand sich in unserem Gepäck nur ein einziger Gegenstand aus meinem früheren Zuhause: der Lammfellteppich. Wir würden ihn in Alaska wahrscheinlich sowieso nirgendwo hinlegen, aber ich wollte nicht, dass er im Müll landete oder bei irgendjemand anderem auf dem Fußboden. Den Flug über starrte Anthony meistens aus dem Fenster und auch als wir im Auto Richtung Zuhause fuhren, wirkte er etwas bedrückt. „Woran denkst du?“, fragte ich behutsam.Er seufzte. „Was wenn sie mich ansieht und mich hasst? Sie hat seine Augen. Ich weiß nicht was ich tun soll, wenn ich Hass mir gegenüber in seinen Augen sehe.“ „Warum sollte sie dich hassen? Du hast nichts getan, wofür sie dich hassen könnte.“Er sah mich missmutig an. „Komm schon, wir beide wissen, dass dem nicht so ist.“ „Das kommt auf den Blickwinkel an. Meinst du wirklich, Leah hätte ihre Tochter zu dir geschickt, wenn sie ihr zuvor erzählt hätte, du seiest für den Tod ihres Vaters verantwortlich?“„Davon war sie selbst sehr lange überzeugt“, erinnerte er mich.„Mag sein, dass es mal so war, aber das ist sie jetzt nicht mehr. Sie hat dir vergeben, dein Vater hat dir vergeben, deine Mutter und deine Schwester sowieso. Ich dachte, du hättest dir auch selbst vergeben?“ „Das habe ich. Aber tief in meinem Herzen ist noch immer ein Teil, der es nicht kann. Ein Stückchen Schuld wird immer da sein. Wäre ich nicht zu den Volturi gegangen, wäre das nie passiert.“ „Falsch“, antwortete ich. „Wären die Volturi nicht zu dir gekommen, wäre das nie passiert.“ „Sie haben nur einen Zug gemacht, ich hätte passen müssen, habe ich aber nicht.“„Das ist kein Schachspiel, Anthony. Das Leben besteht nicht nur aus schwarzen und weißen Feldern. Wärst du nicht zu ihnen gegangen, hätten wir uns nie kennen gelernt, dann hättest du jetzt keine Tochter. Du liebst doch Luna, oder nicht?“

„Mehr als Worte ausdrücken können“, antwortete er.Dann kamen wir auch schon am Anwesen an und stiegen aus. Das Gepäck ließen wir erst mal noch im Kofferraum. Wir hatten die Tür zum Eingangsbereich kaum geöffnet, da flitzte Luna bereits die Treppen hinab und sprang ihrem Vater in die Arme. „Daddy!“, begrüßte sie ihn stürmisch. Er hob sie kurz hoch, als wöge sie nichts und setzte sie dann wieder ab. In dem Punkt hatte sich für die beiden von jenem Moment an, an dem sie ihre ersten Schritte gemacht hatte, bis heute nichts geändert. „Na, bist du Opa und Oma auch nicht auf die Nerven gegangen?“, fragte er und nachdem sie genickt hatte, gab er ihr einen Kuss auf die Stirn. „Hey meine Kleine“, begrüßte nun auch ich unsere Tochter, woraufhin Luna auf mich zu ging und mir einen kleinen Kuss gab. „Hi, Mom“, sagte sie. Dann hörte ich Schritte im ersten Stock und sah nach oben. Am Geländer der Galerie stand Nayeli. Neben ihr sah ich ein Mädchen mit dunklem Teint und schwarzem, kinnlangem, glatten Haar. Die Ähnlichkeit mit Leah war zu deutlich, als dass ich sie nicht hätte erkennen können. Von ihrem Vater hatte sie nur die grünen Augen. Zumindest was die äußerliche Erscheinung anging. Ich war mir eigentlich ziemlich sicher, dass sie auch ein paar Charakterzüge von ihm haben würde. Leah hatte sie allerdings zu uns geschickt, weil sie zu viel Freigeist gehabt hatte und sich resultierend daraus, genau wie Ani, nicht in die für die Quileute übliche Wolfsform verwandelte. Ich hatte Will nie kennengelernt, aber den Erzählungen über ihn nach zu urteilen, entsprach das mal so gar nicht seiner Art. Sie erinnerte mich da doch ganz stark an Ani. Dieses Rebellische schien also doch tiefer in der Familie verwurzelt zu sein.„Hallo, schön, dass ihr zurück seid“, begrüßte Nayeli uns und machte sich daran, die Stufen ins Erdgeschoss hinabzugehen. Billy folgte ihr mit ein wenig Abstand. Sie wirkte ziemlich unsicher.Ich nahm Nayeli in den Arm und sah über ihre Schultern hinweg, wie Billy stehen blieb und Anthony musterte. Ich sah keine Spur von Hass oder Wut in ihren Augen, als seine ihre trafen.Er beugte sich etwas herab, um mit ihr auf Augenhöhe zu sein. „Hallo Billy-Sue.“Sie schluckte. „Hi“, presste sie dann hervor.

Aller Anfang ist schwer

 Vogelgezwitscher war das Erste, was ich hörte, und die warmen Sonnenstrahlen das Erste, was ich spürte, als ich an diesem Morgen die Augen aufschlug. Das Erste, was mir jedoch in den Sinn kam, kaum dass sich meine Lider ganz geöffnet hatten, war, was für ein Tag heute war: heute würde ich mit meinem Training beginnen. Heute war der erste Tag meiner 'Gestaltwandlerlehre', wie Seth es spielerisch genannt hatte. Aber das war kein Spiel. Das war leider todernst.

Und genau deshalb war mir momentan mehr mulmig zumute, als dass ich mich hätte darüber freuen können. Was wenn ich total versagte? Wenn ich ein hoffnungsloser Fall war? Wenn ich nie lernen würde, mich zu beherrschen und immerzu als verwirrter, flugunfähiger Vogel durch die Gegend hüpfte?

Ich musste unweigerlich an den gestrigen Tag denken. Ich war gerade mit Nayeli in meinem Zimmer in ein Gespräch über ihr Leben als Halbvampir vertieft gewesen, als Nayeli den schwarzen BMW gehört hatte, lange bevor er überhaupt in Sichtweite gewesen war und ich ihn als solchen erkannte. „Sangreal und Anthony“, hatte sie gesagt und dann hatte sie meine Hand gepackt und mich in Richtung Flur gezogen. Keine Sekunde hatte ich wirklich daran gezweifelt, dass sie Recht hatte, dennoch hatte ich mir jedoch insgeheim gewünscht, sie hätte sich geirrt.

 

Ich hatte gerade angefangen, mich an all das zu gewöhnen. Die Tage waren so herrlich ruhig gewesen. Ich konnte schlafen, so lange ich wollte, ich konnte tun, was ich wollte. Reden, spazieren, gemeinsam mit Nayeli kochen. Nun würde ich jeden Tag üben müssen und Erwartungen erfüllen. Es war nicht so, als wäre das etwas Neues für mich. Ich war zwar nicht auf die Schule gegangen, an der meine Mutter unterrichtet hatte, dennoch hatte sie natürlich gute Leistungen von mir erwartet. Ich war mir ziemlich sicher, dass sie das auch jetzt tat. Und sicherlich nicht nur sie. Ich kam aus einer Familie talentierter Gestaltwandler. Opa Jacob war der Erste seiner Generation gewesen, so hatte Mum es mir erzählt, der sich aus dem Sprung heraus verwandeln und punktgenau landen konnte – und währenddessen hatte er sich auch noch seine Shorts an den Hinterlauf gebunden. Onkel Seth hingegen war der jüngste Gestaltwandler, der jemals an einer Schlacht teilgenommen hatte und Mum war die schnellste Wölfin ihres Rudels. Und was war ich momentan? Ich war die frischgebackene, halbwaise Gestaltwandlerin, die sich vor Schreck auf ihrem Schuldach in einen Vogel verwandelt hatte und danach nackt im Garten ihrer Großcousine gelandet war, um ihr die Wäsche von der Leine zu klauen.

 

Ich hatte, schon bevor ich die letzte Stufe der Treppe ins Erdgeschoss erreichte, kaum gedacht, dass meine Selbstzweifel je hätten größer sein können. Ich wurde eines besseren belehrt, als ich meinem Onkel dann zum ersten Mal gegenüber stand.

„Hallo Billy-Sue“, begrüßte er mich und beugte sich dazu etwas herab. Er war ziemlich groß, größer als Onkel Seth und vielleicht sogar ein bisschen größer als Opa Jake. Seine Augen waren von demselben Grün, wie Dads und meine Augen. Seine helle Haut bildete einen starken Kontrast zu seinem schwarzen Haar, dessen Pony ihm auf einer Seite übers Auge fiel und er trug ebenso dunkle Kleidung. Wäre er nicht mein Onkel und wäre ich ihm irgendwann in der Fußgängerzone über den Weg gelaufen, ich hätte mich sicher zweimal für ihn umgedreht. Ich musste schlucken, dann presste ich gerade noch so ein leises „Hi“ hervor und war stolz auf mich, überhaupt irgendetwas herausgebracht zu haben.

Wie sollte ich dieses Training nur überstehen, ohne mich in Grund und Boden zu schämen?„Du bist so groß geworden“, sagte er. „Das letzte Mal, als ich dich gesehen hatte, warst du noch ganz klein.“ Wirklich? Ich konnte mich nicht daran erinnern. Gut, wahrscheinlich war ich dafür tatsächlich zu klein gewesen. Sangreal stellte sich nun neben ihn und schlang ihre Arme um seinen Oberam. „Hallo, Billy-Sue“, begrüßte auch sie mich. Sie hatte langes, glattes, braunes Haar mit einem geraden Pony und graue Augen. Als Luna dazu kam, wurde mir die Ähnlichkeit erst so richtig bewusst. Sie lächelte sogar leicht. „Wollen wir dann hoch?“, fragte sie in die Runde. „Der Tisch ist schon gedeckt.“ „Ja, Süße“, antwortete ihre Mutter. „Lass uns doch erst mal ankommen.“ Dann gingen die drei nach oben. Nayeli und ich blieben zurück. „Möchtest du nicht mit gehen?“, fragte ich verwundert. Sie schüttelte lächelnd den Kopf. „Schon okay. Luna soll ihre Eltern erst mal ganz für sich haben.“Ich runzelte die Stirn. „Wie lange waren die beiden denn weg?“

„Eine Woche. Sie ist es nicht gewöhnt.“Nun da ich hier so saß und daran dachte, fragte ich mich, wie es wohl sein musste, in einer Großfamilie aufzuwachsen. Luna war die Jüngste hier, ich konnte mir vorstellen, dass sich die ganze Familie um sie kreiste wie Planeten um die Sonne. Ich war in meiner Familie zwar auch die Kleinste, aber eine Sonderstellung hatte mir das kaum verschafft. Mum war immer sehr darauf bedacht gewesen, keinen von uns dreien zu bevorzugen, auch wenn meine Geschwister das gelegentlich anders gesehen hatten und der Meinung waren, ich hätte eine Sonderstellung, weil ich erst nach Dads Tod geboren wurde. Andere Verwandte hatten wir kaum. Meine Oma und mein Opa mütterlicherseits waren schon lang verstorben, väterlicherseits hatte ich ja kaum Kontakt gehabt. Für uns war das ganze Reservat mehr oder weniger eine Familie gewesen, aber so eine innige Bindung, wie ich sie hier zwischen allen spürte, hatte es dort nicht gegeben. Und dann war da noch dieser Moment gewesen, in dem Luna ihrem Dad in die Arme gesprungen war, um ihn zu begrüßen. Was würde ich darum geben, das nur ein einziges Mal bei meinem Dad tun zu dürfen? Nur ein einziges Mal, in seine Augen zu sehen, sein Lächeln zu sehen, seine Wärme zu spüren. Ich erinnerte mich daran, wie ihr Vater auf ihre Begrüßung reagiert hatte und fragte mich, wie sich Dads Stimme wohl anhörte. Ich hatte Videoaufnahmen gesehen. Es gab welche von Madeleines und Harrys ersten Geburtstagen und eine von Mums und Dads Hochzeit, aber das war nicht das Gleiche. Plötzlich klopfte es an der Tür. „Herein?“, rief ich und zog die Decke etwas näher an mich. Die Tür öffnete sich und Nayeli steckte ihren hübschen Kopf durch den Spalt. „Guten Morgen, Bills“, sagte sie. „Ziehst du dich an und kommst dann runter? Die meisten sind schon fertig mit frühstücken.“Überrascht warf ich einen Blick auf die Uhr. Es war bereits zehn. Ich zog mich an und ging ins Erdgeschoss. In der Küche war nicht mehr allzu viel los. Opa Jake hatte noch einen halben Teller Rührei vor sich, Renesmee sammelte bereits ein paar der benutzten Teller ein. „Morgen, Billy!“, begrüßte Opa mich freudig. „Na, freust du dich schon?“, fragte er als ich mich ihm gegenüber hinsetzte. Ich nickte verhalten. Ich traute mich nicht, ihm zu sagen, dass ich eigentlich eher Angst hatte, fürchtete jedoch gleichzeitig, dass man es mir ansah.„Mir hat es Sam damals mehr oder weniger beigebracht. Ihn hat es in unserer Generation als ersten erwischt.“ Ich überlegte kurz, ob ich die nächste Frage überhaupt stellen sollte, doch dann platzte sie einfach aus mir heraus: „Und du hast es meinem Dad beigebracht?“

Jacob hielt nur einen kurzen Moment inne. „Das war kaum nötig. Er hatte sich bereits verwandelt, da konnte er noch nicht mal krabbeln. Nessie und ich hatten zuerst Angst, dass er sich gar nicht mehr zurückverwandeln würde. Er blieb mehrere Tage ein kleiner Wolf, bevor er von ganz allein wieder zum Menschen wurde. Er war ein Naturtalent.“ Ich schluckte. Na toll. Und ich eine Versagerin...

Nach dem Frühstück ging ich zusammen mit Nayeli auf die Wiese hinter dem Haus.

„Du brauchst keine Angst zu haben“, redete sie mir gut zu.

Ich hatte es ihr nicht erzählt, aber sie schien zu spüren, dass ich nervös war. „Das sagt sich so leicht.“„Entschuldige“, gab sie traurig zurück. „Ich kann nur vage erahnen, wie es dir geht. Ich bin ja nur ein Halbvampir ohne spezielle Begabungen.“ „Talente haben viele Facetten, Nayeli“, ertönte Anthonys ruhige Stimme hinter uns. Wir drehten uns beide langsam um. „Nur weil du dich nicht in ein Tier verwandeln, unsichtbar machen oder Gedanken lesen kannst, heißt es nicht, dass du keine hast.“Nayelis Mund verzog sich zu einem leichten Lächeln. Anthony lächelte zurück, dann wand er sich an mich. „Bereit?“ „Geht so“, gab ich zu. Anthony ließ sich davon nicht beirren. „Komm.“ Nayeli nahm meine Hand und drückte sie sanft, ihre Lippen bewegten sich, obwohl ich die Worte kaum hörte, wusste ich, was sie mir sagen wollte: Du schaffst das.

Sie blieb zurück und ich ging mit meinem Onkel in den Wald. Wir liefen einige Meter hinein und dann weiter und weiter. Langsam begann ich mich zu fragen, ob er mit mir in einem anderen Bundesstaat trainieren wollte. „In welcher Situation hast du dich zum ersten Mal verwandelt?“ Es waren unsere ersten Worte seit einer gefühlten Ewigkeit.„Ich... ich war auf dem Dach des Schulgebäudes und als noch jemand kam-“ - „Jemand?“, unterbrach er mich.„Ich kannte ihn nicht. Er war neu an der Schule. Da war dieses Bedürfnis in mir, ihm weh zu tun, also bin ich lieber zum Rand gelaufen und dann fiel ich.“- „Hat er dir zuvor etwas getan oder hat er etwas bestimmtes zu dir gesagt?“

„Nein“, sagte ich. „Wie gesagt, ich kannte ihn nicht. Es war wirklich nur ein inneres Bedürfnis, das ich mir nicht erklären kann.“ Zögerlich sah ich zu Anthony hoch, der neben mir ging. Er sah etwas nachdenklich aus. „Onkel Seth meinte, er könnte ein Vampir gewesen sein.“ „Möglich“, sagte Anthony und stieg mit mir über einen etwas größeren Stein am Rande des Waldes. Als wir hinter ihm etwa einen halben Meter hinunter sprangen, standen wir plötzlich am Ufer eines Sees dessen Wasser im Licht der Mittagssonne funkelte. „Hier werden wir ab morgen trainieren“, sagte er und lehnte sich mit verschränkten Armen an eben jenen Stein hinter uns. „Morgen?“, fragte ich. Ich hoffte, er würde den Aufschlag des Steins, der mir eben vom Herzen fiel nicht hören. „Morgen“, bestätigte er mir. „Du kannst doch schwimmen?“„Natürlich. Warum?“- „Nun, wenn du beim Fliegen fällst, landest du im Wasser. Das ist weniger schmerzhaft, als die Erde, aber wenn du nicht schwimmen kannst, ist das eher kontraproduktiv.“ Das leuchtete natürlich ein.***Am nächsten Tag gingen wir bereits in den Morgenstunden Richtung See. Die Sonne war eben erst frisch aufgegangen und auf den Blättern im Wald lag teilweise noch Morgentau. Unser gemeinsamer Spaziergang am Vortag hatte mir ein wenig meine Angst vor dem Training genommen. Als ich dieses Mal über den Stein kletterte, spürte ich in mir, dass ich es vielleicht schaffen konnte. Kaum war ich dann auf der anderen Seite herunter gesprungen, verflüchtigte sich das Gefühl schlagartig, als ich den schneeweißen Wolf einige Meter vor uns mit den Pfoten im Wasser erblickte. Er sah wunderschön aus, grazil und anmutig und gleichzeitig stark und wild. Doch so wild er auch wirkte, etwas Menschliches fand sich dennoch in seinem Blick. Als ich genauer hinsah, kam mir das Grün bekannt vor. „Luna“, sagte Anthony und klärte mich damit gleichzeitig auf. Er sah sie nur an, dann setzte sie sich plötzlich in Bewegung und verschwand in den Büschen. Nach einem kurzen Moment der Stille hörten wir es dort wieder rascheln und sie kehrte in menschlicher Gestalt zurück. „Du hast sie hier her gebracht?“, warf sie ihrem Vater ohne jegliche Begrüßung an den Kopf. Ihr Tonfall klang keinesfalls wütend, eher feststellend. „Es erschien mir die beste Lösung. Ich kenne die Gegend, jeden Stein, jeden Baum. Ich weiß, wo der See wie tief ist.“„Das ist mir klar. Ich weiß es schließlich auch, Dad.“Den Blick, mit dem er sie dann musterte, konnte ich nicht wirklich deuten. Ich nahm nicht an, dass sie sich ihm gegenüber bisher negativ über mich geäußert hatte und auch wenn ihre Stimme eben keine negativen Emotionen beinhaltet hatte, ahnte ich, dass er spürte, dass hier etwas faul war.

„Gut. Also dann, möchtest du vielleicht erstmal sehen, zu was du alles in der Lage sein wirst, wenn du deine Verwandlungen erst einmal beherrschen kannst?“, fragte er mich.„Klar, gerne“, antwortete ich, war mir aber gleichzeitig sicher, dass ich das, was auch immer er mir zeigen wollte, wahrscheinlich nie beherrschen würde.Er lächelte leicht, dann zog er seine Jacke und sein Hemd aus und gab sie seiner Tochter. Er entfernte sich ein paar Meter von uns, blieb stehen, um uns kurz zuzuzwinkern, dann machte er einen Satz nach vorne und verwandelte sich im Sprung in einen schwarzen Panther. Ich hatte bisher nur Wolfsverwandlungen gesehen und starrte ungläubig auf die riesige Raubkatze, die jetzt am See entlang rannte. Plötzlich sprang er Richtung Wasser und noch ehe er aufs Wasser aufschlug, verwandelte er sich erneut. Es war kein Panther, der nun ins Wasser eintauchte, sondern ein dunkler Delphin. Kurz verschwand er unter der Oberfläche, dann sprang er wieder empor und glitzernde Wassertropfen perlten von ihm ab. Vor dem einfallenden Licht der Sonne änderte sich seine Silhouette ein drittes Mal. Die Flossen wurden zu Flügeln, dann flog er als ebenfalls schwarzer Adler durch die Luft. Er drehte einige Runden über dem See, dann sank er tiefer und verwandelte sich kurz vor dem Boden in einen Wolf. In dieser Gestalt fegte er an uns vorbei und verschwand schließlich im Gebüsch.Ich stand da wie angewurzelt. Nein, das würde ich niemals lernen. Das war ausgeschlossen.

„Du kannst dich in nahezu jedes Säugetier und jeden Vogel verwandeln, das du sein möchtest.“ Anthonys Stimme riss mich aus meiner Starre. Ich drehte mich ruckartig um. Ich hatte nicht mitbekommen, seit wann er wieder da war oder ob er eben noch etwas zu Luna gesagt hatte oder nicht. Mir fiel jedoch auf, dass er nun andere Sachen an hatte.„Ich kann mich nicht daran erinnern, dass ich ein Vogel sein wollte, als ich mich verwandelt habe.“

„Vielleicht nicht so offensichtlich, unterbewusst jedoch schon“, klärte er mich auf. „Du sagtest doch, du wolltest dem Jungen nicht wehtun und bist zum Rand gelaufen, richtig?“Ich nickte.„Dann hast du dir sicher gewünscht, der Situation heil zu entkommen. Dein Gedanke war 'Freiheit' und welches Tier ist freier, als ein Vogel?“

Die Erinnerung kehrte schlagartig zu mir zurück. Er hatte Recht. Ich hatte fort wollen. Ich wollte einfach davon schweben. Anthony ging indes an mir vorbei und stellte sich an den Rand des Sees.„In manchen Situationen hat man keine Zeit, seine Verwandlung zu kontrollieren, egal wie beherrscht man ist. Dann geschieht alles intuitiv und du wirst, was dir in diesem Moment am meisten hilft.“ Er drehte sich nicht um, während er sprach, aber die Nachdenklichkeit in seiner Stimme, verriet mir, dass er sich eben an eine solche Situation erinnerte. Luna ging auf ihren Vater zu und hob die Hand, doch er zuckte zurück und schüttelte den Kopf. „Nicht.“„Daddy?“, fragte Luna besorgt.„Ich will nicht, dass du das siehst.“Sie machte ein paar Schritte zurück und sah betroffen zu Boden.„So“, wechselte er eilig das Thema und wand sich wieder mir zu. „Möchtest du versuchen, dich zu verwandeln?“ Ich nickte, wollte aber gleichzeitig weglaufen. Ich hatte keine Ahnung, wie man sich auf Kommando verwandelte. Die nächsten paar Minuten stand ich folglich mit geballten Fäusten da und versuchte mich auf meine Tierform zu konzentrieren, mehr als schwitzige Hände bekam ich jedoch nicht davon.„Okay. Ich glaube so kommen wir hier nicht weiter. Das Training ist für heute beendet“, sagte mein Onkel nach einer gefühlten Ewigkeit. Ich sah ihn erschrocken an. „Was? Aber ich- es tut mir Leid!“Er lächelte und schüttelte den Kopf. „Muss es nicht. Das kriegen wir schon noch hin“, redete er mir gut zu. „Luna, bring sie bitte nach Hause.“Luna nickte. Im nächsten Augenblick sprang ihr Vater aus dem Stand heraus ein paar Meter nach oben in die Luft, verwandelte sich in einen schwarzen Vogel und flog davon. Schwarze Federn und Kleiderfetzen regneten auf Luna und mich herab. Einer davon landete in meiner Handfläche. „Das mit den Klamotten könnte ins Geld gehen“, kommentierte ich scherzhaft. „Nicht für uns“, sagte Luna und deutete mir an ihr zu folgen. Eine ganze Zeit lang liefen wir stumm nebeneinander her, dann seufzte ich. Sie sah mich fragend an. „Du hattest das bestimmt besser drauf als ich...“, sagte ich traurig.„Ich hatte auch andere Voraussetzungen als du. Ich bin praktisch damit aufgewachsen, du wurdest plötzlich damit konfrontiert.“Den Rest des Tages verbrachte ich mit Onkel Seth, Mariella und Nayeli. Wir spielten Brett- und Kartenspiele und backten zusammen. Alles Dinge, die ich Zuhause so gut wie nie gemacht hatte und die mir daher umso mehr Spaß machten. Anthony kam erst am Abend wieder. Als er zur Tür eintrat, wurde er von Luna freudig begrüßt. Sangreal schien allerdings weniger begeistert zu sein. „Wo warst du? Ich hab mir Sorgen gemacht. Du hättest wenigstens kurz anrufen können.“

„Tut mir Leid, aber ich hatte etwas Dringendes zu erledigen“, gab er zurück. Das war in meinen Augen zwar keine richtige Antwort, für seine Freundin schien das jedoch zu genügen. Sie gab klein bei und ging mit ihm und ihrer Tochter nach oben.

Bereits in den frühen Morgenstunden stand ich mit Anthony am darauffolgenden Tag erneut am See. Luna war dieses Mal nicht dabei und obwohl wir uns gestern eigentlich zum ersten Mal so richtig Unterhalten hatten, war mir so wohler zumute. „Ich bin die Sache ganz falsch angegangen“, begann er nun zu erklären. „Die Verwandlung willentlich herbei zu führen, wirst du zu einem späteren Zeitpunkt sicher noch lernen. Fürs Erste ist es wichtig, dass du nun lernst, mit einer plötzlichen Verwandlung umzugehen, damit du niemanden – auch nicht dich selbst – gefährdest.“ Ich sagte nichts dazu und nickte. Ich wollte eigentlich gar nicht so genau wissen, wie er dafür sorgen wollte, dass ich mich plötzlich verwandelte, aber in meinem Leben geschah selten mal etwas genau so wie ich es mir dachte. Hinter mir hörte ich es im Gebüsch rascheln und drehte mich erschrocken um. Zuerst dachte ich, Luna würde sich uns wieder anschließen, doch zwischen den Sträuchern kam nun ein mir unbekannter Mann hervor. Er war groß, hatte sandfarbenes Haar und bernsteinfarbene Augen. Ich hatte solche Augen noch nie zuvor gesehen, sehr wohl jedoch von ihnen gehört: dieser Mann war ein Vampir. „Garrett hat sich dazu bereit erklärt, mir bei deinem Training ein bisschen unter die Arme zu greifen.“ Der Vampir namens Garrett lächelte mich an. Er sah ohne Zweifel gut aus und obwohl er mir augenscheinlich nichts Böses wollte, überkam mich plötzlich ein seltsames Gefühl. Ich ballte die Fäuste derart fest zusammen, dass sich mir die eigenen Fingernägel in die Haut gruben und spürte eine pulsierende Hitze in mir aufsteigen. Ich machte ein paar Schritte rückwärts und funkelte den Fremden an, der noch immer lächelte. Anthony stand hinter mir. Wo genau, das kümmerte mich nicht. Selbst wenn ich mich auf ihn hätte konzentrieren wollen, wäre es mir nicht gelungen. Alles in mir fokussierte sich nur noch auf den Vampir vor mir. Zum ersten Mal roch ich den extrem süßlichen Geruch, als ich in seine Augen blickte, die aussahen, wie flüssiges Gold. Irgendwo in der Ferne hörte ich Anthonys Stimme, Worte konnte ich aber nicht mehr erkennen. Es war alles verquirlt, wie in der Teigschüssel von gestern Nachmittag. Mit Garrett vor und Anthony hinter mir, blieb mir nur ein Ausweg: nach oben. Ich ließ die Hitze in mir gewähren, wusste ich doch, dass sie alles war, was mir nun helfen konnte. Als sie von den Füßen ausgehend, durch mich floss und meine Stirn erreichte, zitterte ich heftig, dann brach der Vogel aus mir heraus und schnellte in die Lüfte.

 

Ich flatterte mit den Flügeln in dem verzweifelten Versuch oben zu bleiben, doch so richtig gelang es mir nicht. Nein, ich durfte nicht herabsinken, ich musste oben bleiben. Da unten war der Feind. Ich musste fort. Nur fort von hier. Plötzlich begannen die verschwommenen Gestalten auf der Erde sich zu bewegen, was mir nur noch mehr Angst einjagte. Das Stimmgewirr unten wurde lauter, drang jedoch trotzdem nicht zu mir hindurch. Was kümmerte es mich, was sie sagten? Ich nahm alle meine Kraft zusammen und stieg höher. Ich wog mich gerade in Sicherheit, als plötzlich ein Vogel in meinem Sichtfeld erschien. Er war deutlich größer, als ich und hatte pechschwarzes Gefieder. Seine Augen, grün wie Gift, funkelten mich an und aus seinem Schnabel kam ein lautes Krächzen. Mein Herz begann zu rasen. Lass mich!, schrie ich den großen Vogel an, doch aus meinem Schnabel kam ebenfalls nur ein Krächzen. Ich versuchte mich zusammen zu reißen und flog geradeaus davon. Mein Verfolger hatte jedoch keine Probleme mir zu folgen. Er stieg höher, so dass er über mir flog und drängte mich Richtung Erdboden. Aber da war doch der Vampir, nein, da wollte ich auf keinen Fall hin! Ich krächzte wilder und flatterte als hinge mein Leben davon ab – denn genau so fühlte es sich an.Kurz bevor meine Beine das Gras berühren konnten, verschwand der Vogel plötzlich, stattdessen sah ich zunächst einen dunklen Schatten hinter mir, erkannte jedoch kurz darauf einen pechschwarzen Wolf darin. Ich vernahm ein Knurren und ein Bellen. Schlimmer konnte es jetzt kaum noch werden, dachte ich mir, dann spürte ich, wie die große schwarze Pfote mich berührte. Einen Moment passte ich nicht auf, wohin ich flog, da schlug ich auf dem harten Boden auf und purzelte durchs Gras. Reglos blieb ich dort liegen und spürte einen dumpfen Schmerz in mir aufkommen. Ich versuchte mich aufzurappeln, merkte aber, wie mir einer meiner Füße abknickte. Dennoch zwang ich mich wieder in die Luft zu steigen und flog davon.

Dieses Mal folgte mir niemand.***[Anthony]

 

Entsetzt beobachtete ich, wie der kleine Vogel in der Ferne immer und immer kleiner wurde, bis er schließlich vom Horizont verschwand und selbst meine übernatürlichen Augen ihn nicht mehr sahen. Ich hatte wirklich gedacht, ich hätte mich auf alles vorbereitet. Ich hatte extra den See gewählt, damit sie sich nicht wehtun konnte und jetzt war ich es gewesen, der sie verletzt hatte.

Ich warf einen Blick hinter mich, wo Garrett ebenfalls in den Himmel starrte, dann rannte ich davon und ließ ihn stehen. Ich war ihm dankbar, dass er meiner Bitte gefolgt war und mir helfen wollte, aber ich hatte einen entsetzlichen Fehler gemacht. Ich hätte sie in einem geschlossenen Raum trainieren sollen, nicht hier draußen in der Wildnis. Sie konnte jetzt überall sein und war nicht nur Wind und Wetter, sondern auch dutzenden Raubtieren schutzlos ausgeliefert. Ich hatte gedacht, sie würde bei einer Verwandlung automatisch zu unserem Rudel gehören und dass ich mit ihr in meiner Tiergestalt würde sprechen können, aber dem war nicht so. Ich hatte ihre Gedanken nicht gehört und sie meine nicht.

So schnell mich meine Pfoten trugen, kehrte ich zum Anwesen zurück. Einen ganz kleinen Hoffnungsschimmer, dass sie vielleicht ebenfalls dort sein könnte, hatte ich gehabt, aber so wirklich daran geglaubt hatte ich wohl nie. Leider sollte sich mein Gefühl bewahrheiten: sie war nicht hier. Ich machte einen Satz auf die Dachterrasse, die unser Penthouse umgab, verwandelte mich zurück und wurde gleichzeitig unsichtbar.Meine Tochter lag auf der Couch und las ein Buch. Als ich an ihr vorbei stürmte, sah sie nur kurz auf. Sie konnte mich nicht sehen, schien aber zu bemerken, dass sie nicht mehr allein war. Ich war gerade dabei, mein Hemd zuzuknöpfen, da stand sie schon im Türrahmen.„Daddy, alles okay?“, fragte sie besorgt. Ich schüttelte den Kopf und ging an ihr vorbei. Das Penthouse hatte einen separaten Eingang, daher musste ich von außen ins Erdgeschoss. Nayeli stand mit ihren Malutensilien im Wohnzimmer und lugte verwundert hinter ihrer Leinwand hervor. Wenige Sekunden später stand Luna wieder hinter mir, dicht gefolgt von Sangi.

Mum und Dad, sowie meine Schwester und Seth betraten den Raum von der entgegengesetzten Richtung. „Ani, wo ist Billy?!“, kam es von Dad, noch während er auf mich zuging. „Weg“, antwortete ich einfach nur.„Weg?“, fragte Mum verwundert.„Weg?“, wiederholte Dad. „Was soll das heißen?“ „Ich weiß es nicht!“, fuhr ich ihn dann an und ging an ihm vorbei. „Sie hat sich verwandelt und ist davon geflogen. Ich konnte sie nicht aufhalten.“ Ich lief mehrfach quer durch den Raum während ich sprach, unfähig still zu stehen. „Ich hab's versucht, aber ich hatte Angst, dass ich sie verletze, wenn ich sie festhalte! Ich konnte mich ihr nicht mitteilen! Ich hatte gedacht, sie sei in unserem Rudel, aber das war sie nicht!“ Verwirrte und entsetzte Blicke folgten mir, während ich weiter hin und her ging.„Ani“, sagte Sangreal, kam zu mir und versuchte mich zu beruhigen. „Ani, Ani, Ani“, sprach sie immer wieder, nahm zuerst meine Hand und als ich stehen blieb, mein Gesicht in ihre Hände. „Beruhige dich, wir finden sie. Ganz bestimmt.“ Ich sah eine ganze Weile in ihre grauen Augen, bevor ich nickte und ausatmete. Im Augenwinkel sah ich, wie nun auch Garrett das Haus betrat. „Wir teilen uns auf“, befahl Dad.

Alle nickten und fegten dann aus dem Haus. Wir verstreuten uns in sämtliche Himmelsrichtungen. Seth und Jake gingen jeweils in Wolfsgestalt los, ich entschied mich für den Adler. So konnte ich sie am ehesten in der Luft und am Boden ausmachen. Wenn sie sich in einem Waldgebiet aufhielt, würde ich sie jedoch nicht sehen können.

 

***Am liebsten hätte ich mich selbst mehrfach geohrfeigt. Wie hatte ich nur so dumm sein können? Ich wollte jeden Stein in Alaska umdrehen, bis ich sie gefunden hatte. Wir suchten den ganzen Tag und bis tief in die Nacht hinein.

Gegen zwei Uhr morgens sammelten wir uns vor dem Anwesen. „Irgendetwas entdeckt? Irgendeine Spur?“, fragte Dad in die Runde, erntete jedoch nur ratloses Kopfschütteln. Keine Spur von meiner Nichte. Es war, als hätte sie der Erdboden verschluckt – oder irgendein wildes Tier. In mir kroch die Panik hoch. „Okay, ich schlage vor, dass die Mädels eine Pause einlegen. Der Rest sucht weiter“, sagte Dad. Etwas widerwillig gingen Sangreal, Mariella, Renesmee, Luna und Nayeli zurück ins Haus.

Sie kann sich doch nicht in Luft aufgelöst haben, hörte ich Seths Gedankenstimme.Seth, fauchte Dad.Schon in Ordnung, er hat ja Recht, antwortete ich. Sie ist entweder sehr gut im verstecken oder aber irgendwas hat sie erwischt.Nichts hat sie erwischt, meinte Dad optimistisch. Wir finden sie!Doch alle Worte nützten nichts. Billy blieb unauffindbar. Wir hatten unseren Umkreis bereits um dutzende Kilometer erweitert, als wir schließlich wieder den Rückzug antraten. Im Haus wurde ich direkt von Sangreal begrüßt, die mir einen Kuss auf die Wange gab und mich dann in die Küche führte. „Hier“, sagte Nayeli und bot mir einen Teller Pasta an. Ich schüttelte den Kopf. „Du musst doch was essen“, redete Sangi auf mich ein.„Ich hab jetzt andere Sorgen, als einen leeren Magen.“ „Aber-“„Was ist mit Billy? Hast du dir schon mal Gedanken darüber gemacht, ob sie einen Teller Nudeln vor sich hat?“ Sie musterte mich stumm. „Nein?“, fragte ich dann.Sangreals Unterlippe begann zu zittern. Natürlich konnte sie nichts für meine Dummheit. „Entschuldige...“, sagte ich leise, dann drehte ich mich um und ging. Vor meinem inneren Auge sah ich Leahs enttäuschtes, tränennasses Gesicht. Sie hatte mir ihr Kind anvertraut und ich hatte versagt. Von jedem, den sie kannte, hatte ich ihr Vertrauen am wenigsten verdient. Ich hatte es versäumt meinen Bruder zu retten, jetzt hatte ich es versäumt auf seine Tochter Acht zu geben. Ich wollte alles richtig machen. Ich wollte, dass sie lernte, mit ihren Fähigkeiten umzugehen und ihrem Vater wenigstens auf diese Weise näher zu kommen.

Momentan wusste ich nicht mal, ob sie noch lebte.Ich ging zum dritten Mal in den Wald und begann ihn zu durchkämmen. Jeder Busch, jeder Baum, jeder Stein. Ich wusste nicht, welche Gestalt sie hatte, daher musste ich ganz besonders aufmerksam sein. Vielleicht, das redete ich mir ein, hatte sie sich nur in etwas sehr kleines verwandelt. Vielleicht hatten wir sie längst gesehen, jedoch nicht erkannt. Ich versuchte jedem Tier, dem ich begegnete in die Augen zu sehen, bevor es flüchtete. Egal wie gut unsere Tiergestalten waren, es blieb immer etwas Menschliches zurück. Doch ich fand in keinem Augenpaar, was ich suchte. Irgendwann begann es wie aus Kübeln zu regnen und ich kehrte mitten in der Nacht mit durchnässten Klamotten zurück nach Hause. „Ich finde das unverantwortlich von ihr“, hörte ich die Glockenstimme meiner Tochter, als ich das Penthouse betrat. Sie schien sich im Wohnzimmer mit ihrer Mutter und Nayeli zu unterhalten und klang empört. „Sie muss doch wissen, dass sie gesucht wird, wie kann sie da nicht nach Hause kommen?“ „Ich weiß es nicht, Luna. Vielleicht ist ihre Wahrnehmung als Tier einfach anders. Ich kenne mich damit ja nicht aus“, meinte Nayeli.„Natürlich ist die Wahrnehmung anders, dennoch weiß man selbst dann noch, was richtig und was falsch ist. Vielleicht macht sie das ja auch mit purer Absicht. Sie ist die jüngste von drei Geschwistern. Vielleicht hat sie Zuhause zu wenig Aufmerksamkeit bekommen.“Ich traute meinen Ohren nicht, konnte nicht glauben, was ich da hörte. Ich schlug die Tür zum Wohnzimmer derart heftig auf, dass es einen dumpfen Schlag gab. Ohne Türstopper hätte die Türklinke sicherlich eine Macke in der Wand hinterlassen. Nayeli, Luna und Sangi fuhren erschrocken herum und starrten mich an. Einen Moment rührte ich mich nicht, hörte nur, wie einzelne Tropfen von meinen Kleidern auf dem Boden landeten, dann erst ging ich auf Luna zu. Sie schien zu ahnen, dass etwas nicht stimmte. Je näher ich kam, desto größer wurden ihre Augen.„Sag das nochmal“, sagte ich im Befehlston und beugte mich über sie.Sie starrte mich perplex an und sank in ihrem Sessel zusammen, sagte jedoch nichts.„Was hast du für ein Problem mit Billy?“Sie zuckte mit den Achseln. „Ich weiß nicht worauf-“ „Lüg. Mich. Nicht. An!“, fuhr ich sie an.„I-ich...“, begann sie zu stammeln. „Ich hab kein Problem mit ihr.“„Ich hab doch gesehen, wie du sie ansiehst.“„Wie gesagt, ich hab kein Problem mit ihr.“„Womit dann?“, hakte ich nach. „Ich hab ein Problem damit, was ihre Anwesenheit aus dir macht.“Ich stellte mich wieder aufrecht hin. Mit dieser Antwort hatte ich nicht gerechnet. „Es ist nicht deine Aufgabe, dich um mich zu sorgen, Luna“, sagte ich und ging anschließend ins Bad, wo ich meine nassen Kleider über die Heizung hing.Ich konnte mich nicht daran erinnern, je mit meiner Tochter so geredet zu haben. Irgendwie erschrak es mich selbst.

Ein paar Minuten später ging die Tür auf und Sangreal kam herein. „Hey“, sagte sie. „Hey“, gab ich zurück. Sie ging auf mich zu, schlang ihre Arme von hinten um meine Brust und lehnte ihr hübsches Gesicht an meinen Rücken. „In ein paar Wochen, wenn Billy gelernt hat, sich genauso schnell zu verwandeln wie du, werden wir über all das hier nur noch schmunzeln. Du wirst schon sehen.“„Das hoffe ich“, flüsterte ich.***Doch auch in dieser Nacht konnte ich keinen Schlaf finden. Der Gedanke daran, dass ich in meinem warmen Bett lag, mit meiner Freundin an meiner Seite, während sie allein irgendwo da draußen in der Wildnis umherirrte, ließ mir keine Ruhe. Ich stand auf, vergewisserte mich, dass Sangreal schlief, schlüpfte in meinen Morgenmantel und trat nach draußen auf die Dachterrasse. Im Himmel erhellten einzelne Blitze die Finsternis, jeweils gefolgt von Donnergrollen. Auf mich hatten Unwetter eigentlich eine eher beruhigende Wirkung. Ich mochte die saubere Luft, die sie hinterließen. Häufig war ich schon hier draußen gestanden und hatte beobachtet, wie die verzweigten Blitze am Himmel aufleuchteten.

Doch dieses Mal, sah ich glücklicherweise nicht in den Himmel, sonst wäre mir das kleine Fellknäuel entgangen, dass ich am Waldrand in einen Busch flitzen sah. Kurz darauf kam es wieder heraus, entfernte sich etwa einen Meter von seinem Versteck und ging anschließend wieder dorthin zurück in Deckung, ohne das ich – abgesehen vom Gewitter vielleicht – eine Gefahrenquelle ausmachen konnte. Das Verhalten machte mich derart stutzig, dass ich ohne noch weiter darüber nachzudenken von der Terrasse nach unten sprang.

Ich näherte mich dem kleinen Tier vorsichtig bis auf etwa drei Metern. Jetzt erkannte ich erst, dass es sich um ein Eichhörnchen handelte. Farblich unterschied es sich zumindest in der Nacht kaum von anderen seiner Art, doch etwas an ihm war dennoch sonderbar. Ich rückte noch ein Stückchen näher und kauerte mich auf den Boden, um nicht ganz so groß zu wirken. Es lief zumindest schon mal nicht weg und als es mir schließlich in die Augen sah, spürte ich, wie um mich herum trotz des Unwetters die Sonne aufzugehen schien. „Billy“, flüsterte ich, zog meinen Morgenmantel aus und legte ihn vorsichtig über das kleine Tier. Zwei Blitze erleuchteten den Himmel, dann erst verwandelte sie sich zurück. Nun saß sie in gebückter Haltung, komplett in sich zusammengekauert vor mir und weinte. Ich legte den Mantel noch etwas enger um sie. Ich selbst trug nur noch eine Hose.„Ich bin eine furchtbare Gestaltwandlerin“, schluchzte sie dann. „Daddy wäre ganz sicher nicht stolz auf mich.“Ich schüttelte den Kopf. „Das stimmt doch gar nicht.“„Doch“, konterte sie. „Was ist passiert?“, wollte ich wissen. „Ich weiß es nicht mehr. Ich bin fort geflogen. Ich wusste nicht mehr wo ich war. Ich wusste nicht mehr, wem ich trauen soll. Ich wollte mich einfach nur verkriechen. Ich wollte, dass es aufhört, aber es hat nicht aufgehört. Ich habe Stimmen gehört und habe mich nur noch kleiner gemacht, ohne eine genaue Gestalt im Sinn zu haben.“„Du hast dich irgendwie von einem Vogel in ein Eichhörnchen verwandelt, das ist doch schon mal nicht schlecht für den Anfang.“„Den Anfang?“, wimmerte sie und sah mich mit feuchten Augen an, während ihr eine Träne nach der anderen über die Wange lief. „Ich will das nie wieder machen.“Ihre Worte waren wie kleine Messerstiche. Es war meine Schuld, dass sie jetzt solche Angst hatte. „Es tut mir Leid“, sagte ich. Sie sah mich verwundert an und zog die Nase hoch. „Ich habe einen Fehler gemacht und du musstest ihn ausbaden.“ „Was?“, fragte sie leise, fast flüsternd. „Du warst nicht Teil des Rudels, daher konnten wir in deiner Tiergestalt nicht mit dir reden. Es kann ziemlich nervig sein, wenn du deine Gedanken dauernd mit zig anderen teilen musst. Für mich gibt es kaum etwas unangenehmeres, da ich normalerweise ein Schutzschild habe, aber in deinem Fall ist es sehr hilfreich. Ich verspreche dir, dass wir dich in deiner Tiergestalt nie mehr allein lassen werden. Bitte werde Teil des Rudels und lass es uns noch mal probieren.“Sie wischte sich mit meinem Morgenmantel ein paar Tränen weg und schien zu überlegen.„Wenn du erst mal gelernt hast, mit deinen Fähigkeiten umzugehen, wirst du sie nie mehr missen wollen. Du kannst als Adler durch die Luft fliegen und freier sein, als irgendjemand sonst auf dieser Erde. Dieses Gefühl, wenn dich der Wind trägt, ist unbeschreiblich. Du kannst als Delfin eins mit dem Wasser werden und Korallenriffe und bunte Fischschwärme sehen, wie sie kein Taucher je bewundern können wird. Du kannst stark sein, wie ein Jaguar oder klein und wendig wie, nun ja, ein Eichhörnchen. Das ist ein Privileg, dass nur wenige Gestaltwandler haben. Du hast das Glück einer davon zu sein. Wirf das nicht einfach so fort.“Nach meinem Appell kehrte erneut Stille ein. Dennoch schien er Wirkung zu zeigen, denn etwas in ihrem Blick veränderte sich. Sie sah kurz in den Himmel, wo die Wolken sich inzwischen verzogen und nach und nach die Sterne freigaben, dann sah sie wieder mich an. „Ich denk drüber nach“, sagte sie und lächelte leicht. „Danke“, antwortete ich mit einem Anflug von Erleichterung in mir. „Und jetzt lass uns rein gehen, eine Erkältung holst du dir bei deiner Körpertemperatur wahrscheinlich eher nicht, aber ich denke eine warme Mahlzeit und ein Bett täten dir ganz gut.“„Oh ja“, bestätigte sie mir und lächelte noch etwas mehr. Als ich sie im nächsten Moment hoch hob, sah sie kurz etwas erschrocken drein, kaum dass ich mich in Bewegung setzte, entspannte sie sich jedoch wieder und lehnte ihren Kopf an meine Brust. Ziemlich schnell wurden ihre Lider schwerer. Noch ehe ich die Haustür erreichte, war sie eingeschlafen.

Ich hatte keinen Schlüssel, also klingelte ich. Meine Mutter öffnete die Tür und legte erschrocken die Hand vor den Mund. „Billy!“, riefen Seth und Dad wie aus einem Mund. Man sah ihnen allen die Erleichterung an, so wie sie da mit zerzausten Haaren und in Pyjamas im Flur standen. Billy hingegen ließ sich von alle dem nicht aus der Ruhe bringen und schlief einfach weiter. Ich brachte sie nach oben in ihr Bett.

Nachdem ich sie zugedeckt hatte, sah ich sie noch eine ganze Zeit lang an. Als ich meinen Blick von ihr abwendete, blieb er an ihrem Nachttisch hängen. Auf ihm standen ein paar Blumen, die wahrscheinlich Nayeli oder Mum dorthin gestellt hatten. Daneben stand ein Foto. Ich nahm es hoch, um es genauer zu betrachten. Darauf zu sehen war Leah mit ihren drei Kindern. Ihr Haar war wieder lang und schwarz. Sie hatte es zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden und lächelte leicht in die Kamera. Madeleine und Harry waren deutlich älter, als ich sie in Erinnerung hatte. Billys Äußerem nach zu urteilen, nahm ich an, dass das Bild vielleicht sechs oder sieben Jahre alt war. Sie wirkten glücklich, so wie sie da vor der einfarbigen, blauen Leinwand standen und doch fehlte etwas. Mein Herz wurde schwer und ich stellte das kleine Bild wieder an seinen Platz. Billy murmelte leise irgendetwas vor sich hin und drehte sich auf die andere Seite, wodurch ihr Kopfkissen leicht verrutschte und eine kleine weiße Ecke Fotopapier offenbarte. Ich ging neben ihrem Bett in die Hocke und zog vorsichtig daran. Es war ein Foto von Will und Leah. Sie sah mit fast geschlossenen Lidern nach unten, während er über sie gebeugt lächelte. Es war schwarz-weiß, aber die Beleuchtung verriet, dass es sich um ein professionelles Fotoshooting gehandelt haben musste. Ganz vorsichtig, um sie ja nicht zu wecken, schob ich das Bild wieder unter Billys Kopfkissen, dann verließ ich das Zimmer und ging zurück ins Penthouse, wo Sangreal längst im Bett lag, sich jedoch sofort aufsetzte, als ich den Raum betrat. „Schläft sie?“Ich nickte. Sangreal war nach meiner Rückkehr nur kurz nach unten gekommen, dann hatte ich sie wieder ins Bett geschickt, um Billy in ihr Zimmer zu bringen.

Nachdem ich mir frische Sachen angezogen hatte, legte ich mich zu ihr ins Bett. „Was ist los?“, wollte sie sofort wissen. Ich konnte selten etwas vor ihr verbergen.„Sie hat ein Foto von Will unter ihrem Kopfkissen.“„Überrascht dich das? Sie will ihrem Vater nah sein, wo wäre ein Bild von ihm besser aufgehoben, als dort, wo er über ihren Schlaf wachen kann?“, erklärte sie.„Das stimmt schon“, sagte ich und drehte mich in ihre Richtung. „Was wenn sie erfährt, dass er gestorben ist, um mich aus Volterra zu holen?“ „Du musst es ihr nicht sagen. Selbst wenn du es tust, sie wird verstehen, dass du dennoch nicht Schuld an seinem Tod bist. Vielleicht nicht sofort, aber irgendwann bestimmt.“ Ich seufzte leise und legte meinen Kopf in die Kissen, Sangreal gab mir einen sanften Kuss, dann rückte sie näher an mich heran und schloss die Augen. Ich tat es ihr gleich.***Der darauffolgende Tag begann trotz des vorherigen Trubels ganz ruhig. Eigentlich rechnete niemand so wirklich damit, dass Billy zum Frühstück bereits ausgeschlafen sein würde, hatte sie doch eine Menge Schlaf nachzuholen. Scheinbar war ihr Hunger allerdings noch größer, als ihre Müdigkeit und so kam sie etwas verschlafen in die Küche geschlürft. „Morgen“, gähnte sie und rieb sich ein Auge. Sie trug einen mintfarbenen Pyjama mit kurzen Shorts und hatte sich schwarzen Stoff unter den Arm geklemmt, den ich wenige Sekunden später als meinen Morgenmantel identifizierte. „Danke fürs Borgen“, sagte sie dann und hing ihn über einen freien Stuhl, danach wanderte ihr Blick für einen kurzen Moment hinüber zu Luna, die an der Spüle stand und ein Glas abtrocknete. „Kein Ding“, antwortete ich. „Guten Morgen, Billy. Wie möchtest du dein Ei haben? Spiegelei, Rührei oder vielleicht gekocht?“, fragte meine Mutter fürsorglich. „Oh, Eier. Ich bin froh, dass ich die letzten Tage vor Schreck keins gelegt habe“, sagte sie scherzhaft. Der Einzige, der darauf ansprang, war Seth und auch bei ihm klang es irgendwie erzwungen. „Du hast dich gut geschlagen, Billy“, machte Dad ihr Mut. „Es ist normal, dass du erstmal Panik bekommen hast. Ich meine, du bist zum ersten Mal in deinem Leben bewusst einem Vampir gegenüber gestanden und das so kurz nach deiner ersten Verwandlung, da spielt alles verrückt. Es ist eine Sache, sich zu verwandeln, wenn man in diese Welt hineingeboren wurde oder sie bereits kannte. Es ist aber eine vollkommen Andere, wenn das alles Neuland für einen ist – oder wenn man, wie in meinem Fall, zuvor alles für Humbug hielt.“„Trotzdem...“, sagte sie traurig. „Keiner von euch hat soviel Ärger verursacht, wie ich.“Dad prustete los. „Ärger? Das nennst du Ärger?“„Jake!“, mahnte Mum und berührte ihn an der Schulter, woraufhin er verstummte.„Er hat doch Recht“, meldete sich Seth zu Wort, der eben den Raum betreten hatte. „Seth“, mahnte Mum nun auch noch Seth, dieses Mal klang es aber etwas verzweifelt.„Nein, Nessie“, gab Seth zurück. „Das wird meiner Schwester vielleicht nicht sonderlich gefallen, aber ich finde, sie hat ein Recht darauf, es zu erfahren. Gerade in dieser Situation.“„Was erfahren?“, wollte Billy nun natürlich wissen.Seth nahm direkt ihr gegenüber Platz und sah sie eindringlich an. „Weißt du woran dein Opa Harry gestorben ist?“ „Schlaganfall“, antwortete Billy. Ihrer Stimmlage nach zu urteilen, war sie bisher immer in dem Glauben gewesen, dass es dazu nicht mehr zu wissen gäbe, als ihr gesagt wurde.„Das stimmt, aber es ist leider nur die halbe Wahrheit“, erklärte Seth. Nach einem kurzen Augenblick der Stille, in der er scheinbar in sich gegangen war, fuhr er fort. „Ich erinnere mich noch, als wäre es erst gestern gewesen. Ich war nur ein paar Jahre älter als du. Mum und Leah stritten sich im Wohnzimmer. Ich glaube, es ging um ihre Probleme mit Sam und Emily. Dad kam dazu und griff für Mum Partei. Leah zitterte vor Wut, verwandelte sich plötzlich in einen Werwolf und demolierte dabei unser altes Sofa. Ich stand währenddessen im Türrahmen und war derart erschrocken, dass ich mich auch verwandelte. Wie durch ein Wunder, blieben Mum und Dad unverletzt. Es war bisher allerdings niemandem zu Ohren gekommen, dass es auch weibliche Werwölfe gab. Für mich war es hingegen deutlich zu früh zum Verwandeln, zumindest nach dem damaligen Kenntnisstand. Dad war derart geschockt, dass sein schwaches Herz nicht mehr mitmachte.“Mir wurde ganz mulmig. Ich kannte die Geschichte, aber aus Seths Mund hatte sie eine viel bedrückendere Wirkung, als wenn sie jemand anderes erzählte. „Niemand konnte sagen, ob wir nur der Tropfen gewesen waren, der das Fass zum überlaufen gebracht hatte oder ob unser Vater noch länger gelebt hätte, wenn wir uns an diesem Abend nicht verwandelt hätten. Leah hat sich sehr lange die Schuld an seinem Tod gegeben.“ Seths Augen ruhten kurz auf mir. Ich hoffte, dass Billy daraus keine komischen Schlüsse zog und war erleichtert, als er sie wieder abwandte. „Niemand hier ist perfekt, Billy. Wir haben alle unsere Fehler gemacht. Ein paar Tage ausbüxen ist noch das kleinere Übel.“In Billys Augen glitzerten kleine Tränen, die sie sich rasch mit den Fingern weg wusch. Mum reichte ihr ein Taschentuch, sah aber selbst fast so aus, als bräuchte sie eines. „Danke, dass du mir das erzählt hast. Ich verstehe aber, warum Mum es nicht getan hat.“„Das ist gut“, sagte Seth, griff über den Tisch und nahm ihre Hand. „Bitte sei deiner Mum nicht böse, sie will immer nur das Beste für euch.“„Ich weiß“, sagte sie. Mein Blick sank immer tiefer, bis ich nur noch auf die Tischplatte starrte. Irgendwie fühlte ich mich bei jedem seiner Worte ertappt. „Anthony?“ Billys Stimme lies mich aufsehen. „Mhm?“, murmelte ich. „Ich würde mich sehr freuen, wenn du mich weiter trainieren würdest.“Ihre Worte zauberten mir ein leichtes Lächeln ins Gesicht. „Gerne.“

Ein Teil des Rudels

Die Sonne Alaskas schien an diesem Nachmittag unablässig vom Himmel. Ich spürte ihre warmen Strahlen auf meiner Haut und das weiche Gras unter mir. Kleine Insekten bahnten sich ihren Weg durch die Halme. Für sie mussten es Hochhäuser sein.

Komisch, in La Push hatte ich mir über so etwas nie Gedanken gemacht. Aber da war ich ja auch nicht mit drei Männern auf einer Wiese gesessen.

Onkel Seth, Opa Jake und Anthony saßen mir in etwa zwei Metern Abstand gegenüber. Alle drei im Schneidersitz. Alle drei sahen mich an. Und ich konnte sie nicht ansehen. Irgendwie machten sie mich nervös. Vielleicht lag es an ihren freien Oberkörpern, ihrem dunklen Teint oder ihrem Sixpack. Seth und Jacob hatten nichts weiter an als ihre Jeansshorts. Kein Oberteil, keine Schuhe. Anthony dagegen war voll bekleidet. Er trug eine Art schwarzen Trainingsanzug mit je einem roten Streifen an den Seiten und hatte ein dunkelgraues Shirt unter seine Jacke gezogen. „Billy hörst du mir überhaupt zu?“, fragte Opa Jake dann und ich starrte ihn perplex an. Er schüttelte den Kopf und seufzte. „Hör mal, du musst das wirklich wollen. Wenn du es nicht willst, funktioniert es nicht. Es gibt keinen Vertrag, den du dafür unterzeichnest, kein Formular, das du ausfüllen könntest. Es muss aus deinem Inneren kommen. Du musst dich mit mir verbunden fühlen, damit du meinem Rudel beitreten kannst.“ Ich runzelte fragend die Stirn. „Woher weiß ich denn, ob ich mich dir verbunden fühle?“Die Frage schien ihn zu überfordern. Er sah verwirrt die beiden zu seiner Linken an. Seth, direkt neben ihm, erwiderte seinen verwirrten Blick. „Ich bin nie einem Rudel beigetreten“, sagte Jake zu ihm. „Du hast aber Sams Rudel verlassen und bist zu mir. Wie hast du das angestellt?“ Er zuckte mit den Achseln. „Ich weiß nicht. Ich wollte einfach nicht zu dem Rudel gehören, dass eine Mutter und ihr ungeborenes Kind umbringen wollte.“„Was?!“, fragte ich erschrocken.Jake hob beschwichtigend die Hand. „Alte, lange Geschichte.“ „Hört sich aber grausam an“, antwortete ich. Sie übergingen mich einfach. „Jake“, meinte Seth. „Das ist 50 Jahre her, woher soll ich das jetzt noch wissen?“ Jake kratzte sich Hinterkopf. „Uff, stimmt ja...“ Ich wusste ja, dass die Verwandlung dafür sorgte, dass man nicht mehr alterte. Mum hatte sich das zu Nutze gemacht und sich ab und an verwandelt. Ursprünglich hatte sie sich für ein sterbliches Leben entschieden, hatte sie uns erzählt, aber nach Dads Tod wollte sie uns so lange wie möglich eine gute und fitte Mutter sein und hat ihren Wunsch nach einem normalen Leben für uns aufgegeben. Sie sah jetzt für ihr Alter noch sehr gut aus, aber nicht so sehr, als das es stark auffiel. Die beiden hier dagegen, schienen irgendwie sogar förmlich stecken geblieben zu sein. Sie sahen aus wie Mitte 20 und verhielten sich auch so. Langsam kam es mir albern vor, dass ich Jacob mit Opa an sprach. Als ich ihn noch nicht so gut gekannt hatte, war mir das leichter gefallen... „Du erinnerst dich an jedes verdammte Rezept aus deinen dreihundert Kochbüchern, aber wie du meinem Rudel beigetreten bist, das ist dir entfallen?“ „I-ich-“, begann Seth stotternd wurde aber jäh unterbrochen.„Schon gut“, sagte Anthony. „Für mich ist es nicht so lang her.“ Jake musterte seinen Sohn kurz. Für einen Moment sahen sie einander in die Augen, dann nickte er und Anthony wand sich an mich: „Stell dir einfach vor wie es wäre, ein Teil des Rudels zu sein. Wie es ist, deine Gedanken mit den anderen zu teilen. Du musst es zulassen wollen. Das Rudel ist ein großes Ganzes. Es gibt dann kein Ich mehr, nur noch Uns.“ Über Jacobs Lippen huschte ein stolzes Lächeln, während sein Sohn sprach. „Ich habe sehr lange gebraucht, bis ich es zuließ. Ich bin noch immer gerne mal allein, aber in einem Rudel zu sein, hat viele Vorteile“, endete Anthony. „Das beantwortet meine Frage aber nicht“, erinnerte ich ihn. „Wenn du ein Teil des Rudels bist, wirst du es wissen.“ Ich verschränkte die Arme vor der Brust und sah betrübt zur Seite. „Tut mir Leid, mit dieser ganzen Geist- und Seele-Sache bin ich noch nicht wirklich warm geworden.“ Jake lachte leise. „Ja, ein Werwolf zu sein hat viel damit zu tun auf sein Innerstes zu hören. Aber mach dir keine Sorgen. Du wirst sofort erkennen, zu wessen Rudel du gehörst, genauso wie du sofort die Person erkennen wirst, auf die du dich geprägt hast, sobald du sie das erste Mal siehst.“ Meine Augen schienen noch größer geworden zu sein, denn Seth wedelte sofort mit den Händen. „Das hat noch Zeit!“, beschwichtigte er mich. „Zeit?“, erwiderte Jake. „Ihr Vater wurde geprägt, da konnte er noch nicht mal sprechen.“ Ich musste schockiert aussehen, denn Seth versuchte noch immer, alles von mir zu schieben. „A-aber Anthony ist nie geprägt worden.“ „Also kann das jederzeit passieren oder auch gar nicht?“, hakte ich nach. Jacob nickte. Im selben Moment stand Anthony dagegen auf. „Sind wir nun hier, um über Prägungen zu quatschen oder um ihr bei ihrer Verwandlung zu helfen?“ Daraufhin erhoben sich die anderen beiden ebenfalls; ich tat es ihnen gleich.„Okay“, sagte Anthony dann. „Dad, du bleibst dabei, dass sie sich hier draußen verwandeln soll und nicht in einem geschlossenen Raum?“ Jacob nickte abermals. „Gut, dann... schließ die Augen“, sagte er zu mir. Ich schloss langsam meine Lider. „Jetzt versuch dich an den Vampir von gestern zu erinnern, bis du ihn vor deinem inneren Auge sehen kannst. Die bleiche Haut, die goldenen Augen, der süßliche Geruch.“ Mit jedem seiner Worte wurde das Bild in meinem Kopf klarer, bis ich sogar meinte, seinen Duft beim Einatmen riechen zu können. Derart süß, dass es schon fast biss. Und plötzlich spürte ich die Hitze in mir aufsteigen. Sie kroch von meinen Zehenspitzen über meine Beine bis in meinen Kopf und ließ meinen Körper erzittern. „Kannst du ihn sehen?“ Anthonys Stimme hörte sich bereits an, als wäre sie sehr weit weg.„Ja“, presste ich angestrengt hervor.„Gut. Jetzt stell dir vor wie du ihn gemeinsam mit deinem Rudel zerreißt.“ „Ani!“, hörte ich Seths mahnende Worte, doch Anthony schien das nicht weiter zu kümmern. „Mit deinem Rudel“, erinnerte er mich. „Nicht allein. Niemals allein.“ „Ja“, antwortete ich. Vor meinem inneren Augen manifestierte sich derweil das Bild des Rudels Wölfe, dass den Vampir in Einzelteile zerlegte. Ich wollte ein Teil davon sein. Ich wollte mich verwandeln und ihnen helfen. Und plötzlich brach das Tier aus mir heraus. Obwohl ich allerdings in meinem Kopf deutlich Wölfe gesehen hatte, flatterte ich im nächsten Augenblick angestrengt nur wenige Meter über dem Boden. Es viel mir sehr schwer aufzusteigen. Einer zufälligen Böe war es zu verdanken, dass ich überhaupt über die Köpfe der Männer vor mir hin weg kam und dann noch mit angestrengten Flügelschlägen etwas höher steigen konnte.

Von oben sah ich nun, wie Seth und Jacob sich in ihre Wolfsformen verwandelten. Der eine sandbraun, der andere rostrot. Anthony dagegen wurde zu einem schwarzen Vogel und stieg zu mir empor. Im Gegensatz zu mir hatte er keinerlei Probleme so hoch zu kommen. Wie machte er das nur? Das wirst du schon noch lernen, hörte ich plötzlich eine Stimme in meinem Kopf und zuckte kurz zusammen. Sie hörte sich nicht gänzlich so an, wie seine menschliche Stimme, es war aber ohne Zweifel seine. Sie hallte in meinem Kopf wider und ließ mich wissen, was er gedacht hatte. Hör auf so wild mit den Flügeln zu schlagen, sagte er. Aber dann falle ich, protestierte ich, ohne mir jedoch sicher zu sein, ob dem wirklich so war. Hör zu, redete er in Gedanken auf mich ein. Natürlich ist es toll, in der Tiergestalt die Fähigkeiten des jeweiligen Tieres zu haben. Die Schnelligkeit der Wölfe, ihre Klauen und Zähne, ihre Kraft. Das Fliegen des Vogels, das Schwimmen des Delfins. Aber das ist nicht alles. Du kannst in deiner Tierform außerdem auch auf Instinkte zurückgreifen, die du andernfalls nie haben wirst. Halbvampir oder nicht. Was bringt dir deine Tierform, wenn du weiter wie ein Mensch denkst? Du musst loslassen und vertrauen, sonst verschenkst du zu viel von dem Potential, das in dir schlummert.Ich warf ihm einen unsicheren Blick zu – oder zumindest war ich mir unsicher über das, was er da sagte, wie ein unsicherer Vogel aussah, davon hatte ich keine Ahnung. Ich weiß, das ist leichter gesagt als getan und es muss schwer für dich sein, einfach loszulassen, aber es gibt keinen anderen Weg.In dem Versuch zu verinnerlichen was er gesagt hatte, hörte ich mit meiner übertriebenen Flatterei auf – was darauf folgte war das kurze Gefühl des Fallens, dann landete ich zuerst auf dem Rücken eines Wolfes und dann auf der Wiese. Ups, hörte ich Seths Gedankenstimme.Autsch, fluchte ich und sah zu dem sandbraunen Wolf auf, der nun neben mir stand. Alles okay?, erkundigte er sich. Ja, sagte ich und wollte mir den Hinterkopf kratzen, ehe ich mich daran erinnerte, dass ich gar keine Finger mehr zum kratzen hatte. Na das war wohl nichts, meinte Jacob dann. Nein, stimmte ich ihm enttäuscht zu. Ich hatte aufgehört und war zu Boden geknallt, wie ich es erwartet hatte. Dabei hatte ich doch gehofft, dass es klappen würde, wenn ich tat, wozu mir geraten wurde. Wenn du erwartest zu fallen, fällst du, sagte Anthony daraufhin.Langsam wurde mir bewusst, warum es ihm nicht gefiel, dass man als Gestaltwandler all seine Gedanken offen legen musste. Es war nervtötend, nichts für sich behalten zu können. Könntest du bitte damit aufhören?, sagte ich dann entnervt und seufzte in Gedanken. Okay, okay, antwortete mein Onkel daraufhin. Ich kann dich ja gut verstehen...

Ein Moment der gedanklichen Stille kehrte ein, dann erst ergriff er wieder das Wort.

Aber du musst mir vertrauen, wenn du von mir lernen willst.Aber ich vertraue dir doch, versicherte ich ihm.Er hielt kurz inne. Gut, sagte er und verwandelte sich dann in einen pechschwarzen Wolf mit smaragdgrünen Augen. Mit leisen Pfoten ging er auf mich zu und sank seinen großen Kopf zu mir herab. Jetzt einfach still halten. Ich werde dir nichts tun. Dass ich nicht wusste, was er vorhatte, ließ mein Herz sofort noch etwas schneller zu schlagen. Langsam öffnete er sein Maul, dann spürte ich seine spitzen Zähne an meinem Federkleid. Es tat nicht weh, aber es war dennoch irgendwie beängstigend, von ihm auf diese Art herumgetragen zu werden. Nun da ich mich in dieser Situation befand, wurden selbst in mir scheinbar irgendwelche Instinkte wach. Instinkte die mir sagten, dass ich mich in den Fängen eines Raubtiers befand und demnächst in seinem Magen landen würden. Ganz ruhig, sagte Anthony. Das war natürlich eine positive Eigenschaft der Gedankenübertragung. Er konnte mit mir reden, obwohl er den Mund voll hatte und ich verstand ihn dennoch problemlos. Du hast dir deinen Humor bewahrt, das ist gut, sagte er dann und musste wohl selbst in Gedanken schmunzeln.Eine gefühlte Ewigkeit später hielt er an und setzte mich auf dem Boden ab. Ich erkannte, dass wir uns wieder an jenem See befanden, an dem ich mich zum ersten Mal vor ihm verwandelt hatte. Erst jetzt bemerkte ich, dass Seth und Jake uns gefolgt waren.Das ist auch so eine Instinktsache. Wenn du gelernt hast, auf deinen Bauch zu hören, wirst du immer wissen, wenn etwas in deiner Nähe ist und in den meisten Fällen wirst du auch wissen, was es ist, ohne es überhaupt richtig gesehen zu haben, erklärte Anthony.Ich schüttelte mir das Gefieder. Irgendwie ahnte ich, dass jetzt etwas kam, was mir nicht gefallen würde. Vielleicht, kommentierte Seth und grinste ein ebenso grotesk, wie ulkiges Wolfsgrinsen. Ich bringe dich jetzt nach oben und wenn ich dich dann los lasse, schaltest du mal deinen Kopf aus und lässt dich einfach treiben, erklärte Anthony weiter. Okay, stimmte ich zu. Moment... kam es mir dann. Er verwandelte sich in einen großen Vogel und nahm mich vorsichtig zwischen die Krallen. Oben?, hakte ich nervös nach. Er stieß sich vom Boden ab und schnellte mit mir gen Himmel. Oben, sagte er.Wir stiegen höher und höher. Ich sah wie die blauen Wolken uns näher und näher zu kommen schienen und ahnte, dass im Gegenzug Jake und Seth vielleicht gerade auf Ameisengröße schrumpften. Nicht ganz, sagte Anthony. Am besten schaust du aber gar nicht nach unten. Du bist jetzt ein Vogel. Dein Platz ist hier oben in der Luft.Ich schloss für einen Moment die Augen und versuchte es wie ein Mantra zu verinnerlichen. Ich bin ein Vogel... Ich bin ein Vogel... ich bin ein Vogel...Plötzlich spürte ich seine Krallen nicht mehr, stattdessen zog mich nun die Schwerkraft nach unten. Ich wollte gerade wieder wild drauf los flattern, da kamen mir Anthonys Worte in den Sinn. Statt zu flattern, schloss ich erneut die Augen, wenngleich der Drang nach unten zu schauen immens war. Ich ließ ich mir den Wind durchs Gefieder streifen und dann, ganz ohne das ich zu sagen vermochte woher ich es wusste, schlug ich im richtigen Moment kurz mit den Flügeln und gewann so wieder an Höhe. Und dann spürte ich zum ersten Mal Freiheit, wie ich sie nie zuvor gespürt hatte. Mit ausgebreiteten Schwingen schwebte ich durch den blauen Himmel. Die Angst zu fallen war sofort im wahrsten Sinne des Wortes verflogen. Ich war endlich ein Vogel!Es war wundervoll... unbeschreiblich... toll... Minute um Minute flog ich ziellos umher, nur um des Fliegen willens. Irgendwann fiel mir auf, dass Anthony nicht mehr mit mir hier oben war. Als ich mich langsam dem Erdboden näherte und dann auf ihm landete, als hätte ich mein Leben lang nichts anderes gemacht, lagen die Jungs in Wolfgestalt ausgestreckt auf dem Boden.Sag ich’s doch, sagte Jake dann. Naturtalent. Genau wie ihr Vater.Und Großvater, fügte Seth hinzu. Und Onkel natürlich.Wäre ich gerade kein Vogel, ich wusste, ich wäre puterrot angelaufen. Eine Sache wäre da allerdings noch, sagte Anthony dann. Ja, die Tierform ändern, erkannte ich sofort und spürte ein mulmiges Gefühl in der Magengegend. Nur keine Panik, versuchte mein Onkel mich zu beruhigen und sah mich mit seinen smaragdgrünen Augen an. Stell dir einfach vor, wie du dich in deiner gewünschten Tierform bewegst und es wird sich manifestieren. Du musst nur an dich glauben. Du schaffst das ganz bestimmt. Ich atmete einmal tief ein und aus. Wäre es vielleicht sinnvoll gewesen mehr Naturdokus anzuschauen? Ich hatte von den meisten Tierarten sehr wenig Ahnung. Das einzige Tier, das ich wirklich gut gekannt hatte, war unsere dicke alte Katze Millicent Bulstrode gewesen. Ich schloss die Augen und versuchte mir Milli vorzustellen, wie sie über unsere Sofalehne gelaufen war, wie sie sich auf meinem Schoß zusammengerollt hatte oder wie sie – aller Pfunde zum trotz – dem Laserpointer hinterher gejagt hatte. Mit einem Mal spürte ich, wie mich kurz eine Hitzewelle durchströmte, ähnlich der bei meiner Verwandlung vom Mensch zum Tier und als ich die Augen öffnete und nach unten sah, sah ich zwei rötliche Katzenpfoten. Wow, hauchte ich. Also eine Katze vor drei pferdegroßen Wölfen scheint mir nicht die beste Wahl zu sein, kommentierte Seth mit einem Augenzwinkern.Ich weiß, aber das fiel mir als erstes ein. Setz sie nicht so unter Druck. Du wirst das schon noch alles lernen, meinte Anthony. Du hast heute schon so vieles in so kurzer Zeit gemeistert. Ich weiß, sagte ich. Aber da ist noch etwas, was ich jetzt sofort probieren will.Ich schloss noch einmal meine Augen, in dem Versuch eine weitere Tiergestalt anzunehmen. Es war etwas schwieriger als die Katzenform, da ich diese Tiere nicht ganz so oft gesehen hatte, aber es war mir ein sehr dringendes Bedürfnis, diese eine Form anzunehmen und ich war mir sicher, dass das was ich von ihr gesehen hatte ausreichte. Ein weiteres Mal wurde ich von einem kurzen Hitzeschub durchzogen, dann öffnete ich wieder die Augen und blickte in drei verdutzte Wolfsgesichter. Ihre Mäuler standen teilweise leicht offen und langsam, ganz langsam standen sie wie gebannt auf.Was?, fragte ich etwas besorgt. Ist etwas schief gelaufen? Wie seh ich aus?!Wie..., begann Seth, endete jedoch nicht und starrte mich stattdessen weiter an. Wie was?, wollte ich nun noch dringlicher wissen.Wie dein Vater, sagte Anthony. Obwohl ich mich selbst nicht sehen konnte, spürte ich bei dem Gedanken ein Kribbeln. Nicht, weil ich in diesem Moment in menschlicher Form rot angelaufen wäre, nein, sondern weil es mich mit Stolz erfüllte und mich meinem Dad ein Stückchen näher brachte. Ich hatte mich ihm manchmal so unglaublich fern gefühlt, obwohl ich das nie wollte. Deswegen besuchte ich beinahe täglich sein Grab, deswegen trug ich ein Foto von ihm mit mir herum, während ein weiteres unter meinem Kopfkissen lag. Aber so nah, wie ich ihm hier in der letzten Zeit gekommen war, so nah hatte ich mich Dad noch nie zuvor gefühlt und das machte mich unglaublich glücklich...

***

 

Am Abend kehrten wir nach Hause zurück. Das Erste, wonach ich mich sehnte, war eine ausgiebige Dusche. Nicht, dass ich es in irgendeiner Form eklig gefunden hätte, als Tier durch den Wald zu streifen, aber ich war soviel Natur nicht wirklich gewohnt. Ich hatte Forks La Push meistens vorgezogen. Meine Schwester Madeleine war da eher der Wald- und Wiesentyp.

Nachdem wir das Haus durch die Verandatür betreten hatten, hörten wir als erstes eine Mischung aus Gelächter und Geschluchze aus dem Wohnzimmer und folgten verwirrt der Geräuschkulisse. Im Wohnzimmer saßen Nayeli, Sangreal, Mariella und Renesmee und starrten mit glasigen Augen auf den Flatscreen an der Wand, in dem wohl gerade eine Serie oder ein Film lief. „Jetzt geht das schon wieder los“, meckerte Jake. „Was ist los?“, wollte ich wissen. „Das ist ihre Lieblingsserie. Das ist für die Mädels DAS Highlight der Woche und wehe du stellst dich zwischen sie und den Fernseher!“ „Psst!“, beschwerten sich die vier wie aus einem Munde. „Das ist das Staffelfinale von 'Und plötzlich bist du alles was ich brauche'!“, sagte Mariella dann. Renesmee faltete die Hände vor der Brust. „Norman hat Jenny gerade einen Antrag gemacht! Das ist so wunderschön!“ Im TV sah ich wie ein junger Mann mit dunklem Haar und asiatischen Gesichtszügen vor einem Mädchen mit dunkelblondem Haar kniete, das im Sonnenlicht leicht rötlich schimmerte.

„Die beiden haben sich kennengelernt, als sie an ihrem ersten Tag in der Uni nach dem Weg fragte und sich dann aus den Augen verloren“, sagte Mariella weiter. „Und dann haben sie sich im Auslandssemester in Taiwan wieder getroffen“, fuhr Renesmee fort. „Das nenne ich Schicksal“, sagte Nayeli dann. „Ja, so romantisch!“, meinte Mariella. „Jaaa...“, sagte Jake dann und klopfte Seth auf die Schulter. „Absolut. Da kann jede Prägung einpacken.“

Gemeinsam gingen die beiden dann in die Küche. Ich verfolgte noch kurz die Geschehnisse im TV, wurde jedoch von Onkel Seth hergerufen. „Hey, Billy, schau mal wer da ist!“, rief er freudig.Neugierig ging ich in die Küche, blieb jedoch abrupt im Türrahmen stehen, als ich die zwei goldenen Augenpaare erblickte, die mich aus an sich freundlich lächelnden, jedoch bleichen Gesichtern ansahen. Instinktiv machte ich einen Schritt zurück und stellte fest, dass Anthony direkt hinter mir stand, da mein Hinterkopf den Stoff seines Hemds berührte. Er legte seine Hände auf meine Schultern. „Keine Sorge. Du wirst dich nicht verwandeln, wenn du es nicht willst.“

- „Ich will es ja auch nicht, aber was wenn mein Körper es will?“ „Es ist dein Körper, er tut was du ihm befiehlst, nicht andersherum.“

Ich schluckte etwas aufgestaute Spucke herunter und nickte. „Okay.“ Ich war mir nicht sicher, ob ich die beiden schon mal gesehen hatte oder nicht. Das Einzige an den beiden, das mir definitiv bekannt vorkam, war die Haarfarbe des Mannes. Ich kannte Daddys Haar nur von Fotos. Ich hatte keine Ahnung, wie es in Natura ausgesehen hatte, aber jetzt, da ich diesen Mann vor mir sah, von dem ich mir nun ziemlich sicher war, dass sein Name Edward war, stellte ich fest, dass die Fotos seiner echten Haarfarbe sehr nahe waren. Der Gedanke daran, dass dieser Vampir mit meinem Dad so eng verwandt war, dass er dessen Haarfarbe hatte, ließ mich vergessen, dass er ein Vampir war. Er war viel mehr als das. Er war mein Urgroßvater. Er war ein Teil meiner Familie. Keine Gefahr. Ich atmete einmal großzügig aus, dann näherte ich mich den beiden. „Hallo“, begrüßte ich ihn und reichte ihm meine Hand, die er nach kurzem Zögern und einem prüfenden Blick auf Anthony annahm und sanft schüttelte. Seine Haut war ziemlich eisig, aber ich hoffte, er würde mein Unbehagen nicht merken und lächelte.„Hallo Billy, ich bin Edward“, stellte er sich vor. „Mach dir nichts draus. Selbst für Jacob ist es inzwischen normal geworden, wie wir riechen und wie wir uns anfühlen. Du wirst dich sicher daran gewöhnen.“ Ich starrte ihn erschrocken an, woraufhin er erneut zu Anthony hinüber sah. „Du hast es ihr nicht erzählt, oder?“ Nun sah auch ich zu ihm hinauf. „Was erzählt?“

„Das Thema Vampire haben wir noch nicht weiter besprochen. Ich wollte erstmal, dass sie es überhaupt schafft, einem gegenüber zu stehen, ohne sich zu verwandeln, bevor wir ins Detail gehen.“, richtete sich Anthony an Edward, eher er den Blick zu mir sinken ließ. „Genau wie wir die Fähigkeit haben, unsere Gestalt zu ändern und einander unsere Gedanken mitzuteilen, haben manche Vampire spezielle 'Talente'.“ „Talente?“, hakte ich nach. Er nickte. „Edward zum Beispiel, kann... Gedanken lesen.“ „Was?!“, fragte ich perplex. Edward nickte und legte einen Arm um die Hüfte der Vampirin neben sich. „Bella hingegen kann die Talente anderer Vampire abwehren und das nicht nur bei sich selbst, sondern auch bei anderen.“Bella lächelte etwas verlegen. Ich nahm an, dass sie sich mir eigentlich jetzt gern vorgestellt hätte, aber die eben gewonnen Informationen waren mir im Moment wichtiger. „Auf was für Talente muss ich mich denn hier noch einstellen?“Anthony hob die Hände. „Ich weiß es ist schon ärgerlich genug, dass deine Gedanken in Tiergestalt nicht sicher sind und jetzt hast du sie auch noch in menschlicher Gestalt nicht für dich, aber die anderen scheinen damit alle gut klar zu kommen und ich hab mir sagen lassen, dass er sich so ziemlich aus ihren Gedanken raus hält.“„Die Anderen?“ Ich hob eine Augenbraue. Sprach er etwa nicht aus eigener Erfahrung?„Keine Sorge, Billy, ich blende normalerweise mir bekannte Stimmen aus um meiner Familie etwas Privatsphäre zu gönnen“, versicherte er mir. „Was Anthony betrifft, bei ihm ist das nicht notwendig. Er hat Bellas Schutzschild geerbt und blockt mich sowieso permanent.“ „Kannst du mich nicht unter deine Fittiche nehmen?“, fragte ich hilfesuchend. „Bitte?“ Anthony sah mich ein bisschen bemitleidend an. „Das Ausweiten hat sich leider nicht mitvererbt, ich kann nur mich selbst schützen. Tut mir Leid.“ Ich seufzte. „Ich werde mir Mühe geben, deinen Gedanken fern zu bleiben, Billy, wirklich“, versicherte mir Edward ein weiteres Mal.„Ja... okay... danke“, antwortete ich etwas müde. Welchen Sinn hatte es denn, mich weiter darüber aufzuregen? Ich konnte es nicht ändern, dass ich kein tolles Schutzschild besaß... - Aber Moment! Hatte Edward nicht eben gesagt, Bellas Gabe hätte sich auf Anthony vererbt? Aber er war mir doch ziemlich ähnlich, wenn man vom Hautton mal absah. Konnte es da nicht sein, dass...„Hatte Dad eine Gabe?“, fragte ich aufgeregt. Jetzt sah Anthony noch bedrückter aus als vorher und ich ahnte schon, dass seine Antwort negativ ausfallen würde. Edward nahm ihm das jedoch ab: „Nicht jeder Vampir oder Halbvampir hat eine Gabe. Dein Vater ist mehr nach der Werwolfseite geschlagen.“Traurig ließ ich den Kopf hängen. „Hey“, sagte Bella dann. „Sei nicht traurig, Billy. Manchmal erkennt man Gaben auch erst später, vielleicht hast du ja eine und weißt es nur noch nicht?“

„Und Nayeli hat auch keine Gabe und kommt prima damit zurecht“, fügte Edward hinzu. Ihre Worte heiterten mich tatsächlich ein klein wenig auf, wobei Edwards Information eine weitere Frage in mir aufkommen ließ. „Hat Luna eine?“, wollte ich neugierig wissen. Anthony schien kurz zu überlegen, ob er mit der Sprache rausrücken sollte oder nicht. „Ja“, gab er schließlich zu und entfernte sich dann etwas von mir, in dem er ein paar Schritte in die Küche ging. Ich wollte gerade noch etwas fragen, da ergriff Edward erneut das Wort.„Alice kann in die Zukunft sehen und Jasper deine Gefühle ändern. Das sind die einzigen Gaben die dich wirklich betreffen werden.“„In die Zukunft? Wirklich?“, kam es von mir erstaunt. „Das erklärt natürlich wie ihr euch so ein schickes Haus leisten könnt.“Edward lachte. „Die Börse ist nicht alles. Ein paar Jahrhunderte Zeit und ein paar gute Jobs reichen für all das hier auch schon aus, aber ja, Alice Gabe ist recht nützlich.“

***

Später an diesem Abend saß ich mit noch nassem Haar auf meinem Bett und telefonierte mit meiner Mum. Natürlich war ich irgendwo enttäuscht, dass sie mir verschwiegen hatte, zu was meine Verwandtschaft alles in der Lage war, andererseits hätte ich ihr das wahrscheinlich nicht mal geglaubt. Wie also konnte ich ihr übel nehmen, dass sie es mir nicht erzählt hatte? Über eine Verwandtschaft nachzudenken, die so realitätsfremd war, als wäre sie einem Roman entsprungen, hätte mich wohl auch sehr abgelenkt, jetzt, wo ich so darüber nachdachte. Außerdem war da in mir noch immer der Wunsch, auch irgendetwas zu können und das obwohl ich schon mehr konnte, als die meisten Personen die ich kannte und sogar mehr als Nayeli, die unter so vielen Talenten trotzdem sehr zufrieden zu leben schien. „Und übst du fleißig, mein Schatz?“, hörte ich Mums freundliche Stimme am anderen Ende der Leitung.„Ja“, antwortete ich. „Ich hab mich heute schon in einen Vogel, eine Katze und in einen Wolf verwandelt.“„Einen Wolf? Das ist ja wunderbar, mein Schatz. Dein Dad wäre sicher stolz auf dich.“ „Ja“, sagte ich leise. „Das glaube ich auch.“ In meinem Kopf hörte ich Anthonys Gedanken erneut: Du siehst aus wie dein Vater. Ein Klopfen an der Tür ließ mich aufhorchen. „Moment, Mum, da ist jemand an der Tür“, sagte ich und presste den Hörer dann gegen meine Brust. „Herein?“ Die Tür ging auf und Nayeli betrat den Raum. „Oh, tut mir Leid, ich wollte dich nicht stören.“Ich winkte ab. „Schon okay. Was gibt es?“ „Es findet eine Besprechung im Wohnzimmer statt. Wir würden uns freuen, wenn du auch dazu kommst.“ „Oh“, sagte ich und legte den Hörer wieder ans Ohr. „Mum?“ - „Ja, mein Schatz?“„Ich muss leider Schlussmachen.“ - „Schon okay, mein Schatz. Schlaf gut und träum was Süßes. Ich hab dich lieb.“

„Danke, Mum. Ich dich auch.“Ich legte auf und folgte Nayeli nach unten. „Gibt es so was hier öfter?“, fragte ich, als wir gerade die Treppen ins Erdgeschoss hinab liefen. „Konferenzen? Nur wenn jemand wirklich etwas Wichtiges zu sagen hat, das alle wissen müssen. Wir sind hier zu so unterschiedlichen Tages- und Nachtzeiten aktiv, dass es manchmal notwendig ist, alle förmlich zusammen zu trommeln.“ Im Wohnzimmer hatten sich alle Familienmitglieder auf das Sofa und zwei Sessel verteilt, während Anthony auf einem Hocker ganz vorn saß. Nun, da ich mit Nayeli den Raum betrat, warf er einen kurzen Blick zu mir, ehe er sich wieder den Anderen zuwandte. „Gut, jetzt wo Billy auch da ist, kann ich ja anfangen“, sagte Anthony und stand auf, nachdem ich mich mit Nayeli neben Sangreal gesetzt hatte. Alle Augenpaare folgten ihm aufmerksam. Für ein paar qualvolle Sekunden hielt er sich noch zurück und ließ seinerseits die smaragdgrünen Augen über uns alle wandern, ehe er endlich sagte, was er zu sagen hatte.„Ich möchte einen Umzug vorschlagen.“

Ein paar stockende Atem waren vernehmbar und bei fast allen wurden die Augen ein gutes Stück größer. „Aber wir könnten noch ein gutes Jahr oder zwei hier leben ohne aufzufallen?“, sagte Edward. Bella und ein paar andere nickten zustimmend. „Ich weiß, ich weiß“, gab Anthony zu und kratzte sich kurz am Hinterkopf. Damit, dass sein Vorschlag nicht sofort auf Zustimmung stoßen würde, hatte er wohl gerechnet. „Es soll ja auch kein dauerhafter Umzug sein, nur für eine Weile und wenn ihr euch nicht damit arrangieren könnt, wäre ich auch bereit, allein zu gehen-“ „Was?!“, schrie Luna förmlich dazwischen und schnitt ihm damit jedes weitere Wort ab.Sangreal legte einen Arm um ihre Tochter und drückte sie behutsam, sah dabei jedoch Anthony an. „Du weißt, dass Luna, Nayeli und ich dir überall hin folgen werden“, stellte sie klar.„Stopp, stopp, stopp“, schnitt nun seinerseits Edward Sangreal ab. „Wohin soll es denn eigentlich gehen?“ „Forks“, antwortete Anthony.„WAS?“, fragten Bella, Seth, Renesmee und Jake nun wie aus einem Munde.Anthony begann etwas nervös einen Schritt zurück zu machen und rieb sich die Hände. „Billy macht große Fortschritte. In ein paar Tagen wird sie sich ohne Probleme nach freiem Willen verwandeln und ihre Form ändern können. Ich könnte ihr in ihrer gewohnten Umgebung weiterhin helfen, bis sie ganz allein zurechtkommt, aber was noch viel wichtiger ist: wir können gleichzeitig nach der Ursache für ihre erste Verwandlung suchen.“ „Ja, Billy hat dann vielleicht kein Problem mehr mit Vampiren, aber was ist mit den anderen Menschen?“, fragte Bella. „Was ist wenn uns jemand erkennt? Wir sind optisch um keinen Tag gealtert.“ „Bella, das ist fünfzig Jahre her.“„Neunundvierzig seit dem Tag unseres Umzugs nach New Hampshire“, korrigierte ihn Edward.„Wie auch immer.“ Anthony verdrehte kurz die Augen. „Wer dich damals kannte ist inzwischen längst weggezogen, dement oder sogar tot.“Bella sah mit einem Mal betroffen aus und Edward legte beschützend einen Arm um seine Frau. „Dir ist nicht klar, was für ein Schritt das für Bella ist, Anthony“, sagte er. „Ich weiß wie sich Verlust anfühlt, wenn du das meinst“, gab er zurück.Edward erwiderte nichts. Für ein paar Sekunden kehrte eine bedrückende Stille ein. Für mich fühlte es sich nur deshalb komisch an, weil ich das in diesem, bisher ansonsten eigentlich fröhlichen Haus nicht so erlebt hatte, für alle Anderen hingegen, schien es ein bekanntes Gefühl zu sein. Ich sah es in ihren Gesichtern.„Nein“, sagte Bella dann und irgendwie hörte es sich an, als wollte sie mit ihren Worten einfach dafür sorgen, dass irgendetwas nicht näher zur Sprache kam, das eben im Begriff gewesen war, angesprochen zu werden. „Ani hat Recht Edward und ich kann mich nicht ewig davor drücken. Ich habe mich für dieses Leben entschieden und muss die Konsequenzen tragen. Dazu zählt es eben auch an Orte zurückzukehren, die mich mit Erinnerungen an Personen verbinden, die nicht unsterblich sind. Ich denke, das wird in meinem Leben noch öfter vorkommen. Du kannst mich nicht ewig davor beschützen und es ist nun mal die Ewigkeit, für die ich mich entschieden habe.“Edward schien ihre Worte zu verinnerlichen. Er sah kurz auf den Fußboden und nickte langsam, dann hob er wieder den Kopf. „Okay, Liebste und was sagt ihr dazu?“Jacob und Seth sahen einander an und grinsten dann beide. „Wir waren ohnehin schon öfter in La Push, aber es wird toll sein, mal wieder längere Streifzüge durch die Wälder zu machen und außerdem kann ich Embry dann etwas unter die Arme greifen“, sagte Jacob. „Oh und nicht zu vergessen das Surfen!“, fügte Seth hinzu.„Und das Klippenspringen!“, sagte Jake.Bella seufzte.„Renesmee?“, fragte Edward.Renesmee warf einen Blick auf Jacob, ehe sie antwortete. „Ich liebe Forks und La Push. Ich bin dort geboren, habe dort erfahren, dass ich schwanger war und habe dort geheiratet. Wie könnte ich was dagegen haben?“„Mariella?“ „Ich nehme an Seth wird mich vom Surfen und Klippenspringen nicht versöhnen, aber das nehme ich gern in Kauf.“„Sangreal?“„Wie ich schon sagte, wo immer Anthony ist, werde ich sein.“„Okay.“ Edward nickte kurz vor sich hin, ohne jemanden direkt anzusehen. „Dann ist es also entschieden. Wir gehen zurück nach Forks.“

 

Forks

„Weißt du, Packen ist eigentlich wie Tetris spielen. Für jeden Gegenstand gibt es einen Platz und hat man den gefunden, passt alles zusammen.“ Seths Stimme war heiter wie eh und je. Ich zog eine Augenbraue hoch, nickte aber. „Redest du über Mariella und dich?“, fragte Jacob plötzlich, der eben den Raum betreten hatte, um einen wackligen Turm aus braunen Kartons hinaus zu tragen. „Nein, eigentlich nicht, aber jetzt wo du's sagst“, antwortete Seth und grinste zu seiner Freundin hinüber. Sie lächelte sanft zurück und widmete sich dann wieder ihrem Hab und Gut. Was ich von Zuhause mitgenommen hatte, war schnell wieder im Koffer verstaut gewesen, also half ich nun den beiden dabei einzupacken, was sie mitnehmen wollten. Die Möbel blieben wohl alle an Ort und Stelle, weil sie die Villa in Forks ebenso voll möbliert verlassen hatten. In wenigen Tagen ging es bereits zurück in meine Heimat. Einerseits war ich glücklich darüber, meine Mom und meine Geschwister wiederzusehen, andererseits hatte ich eigentlich gedacht, meine Auszeit würde länger dauern, aber ich war jetzt schon ziemlich gut darin, mich zu verwandeln, wann immer ich es wollte und auch mit den verschiedenen Tierarten kam ich immer besser zurecht. Im Hof verstaute Jake die Kisten sorgsam in einem Umzugslaster, der in einer Stunde losfahren würde. „Du freust dich bestimmt auf deine Familie, oder?“, fragte Nayeli, neben die ich mich im Hof gestellt hatte, um meinem Opa zuzuschauen. „Ja, schon“, antwortete ich. „Aber?“, hakte sie nach. Ich legte etwas verlegen meine rechte Hand an meinen linken Oberarm. „Was ist mit dir? Ihr verlasst eure Heimat nur meinetwegen...“ Nayeli schüttelte sanft lächelnd ihren hübschen Kopf. „So darfst du das nicht sehen. Wir sind Umzüge gewohnt, wir ziehen alle drei bis fünf Jahre um. Das ist halb so schlimm. Wir haben überall und nirgendwo unsere Heimat. Im Grunde, sind wir dort Zuhause, wo wir zusammen sein können. Wenn es aber einen Ort auf dieser Welt gibt, zu dem die Familie Cullen sich wirklich verbunden fühlt, dann ist es definitiv Forks.“„Ja?“, fragte ich zaghaft. Sie nickte noch etwas kräftiger und strich mir dann über den Rücken. „Ja. Und außerdem ziehen wir auch nicht wirklich deinetwegen dorthin. Dein Training könnte ja genauso gut hier fortgesetzt werden.“ Ihre Worte beruhigten mich ungemein. Ich fühlte mich immer unwohl, wenn ich in das Leben anderer Leute eingriff, egal ob es nun gewollt oder ungewollt war. Ich wollte niemandem schaden und ich wollte nicht für schlechte Dinge in ihrem Leben verantwortlich sein.„Hast du auch noch was zum Verstauen?“, fragte Anthony und riss mich damit aus meinen Gedanken. Etwas ertappt starrte ich zu ihm nach oben. Er setzte sich an den Rand der Ladefläche. Ich hatte nicht mal mitbekommen, dass er sich überhaupt im Inneren des Lasters aufgehalten hatte. Ich musste wohl noch sehr viel nachholen, um meine Instinkte auf den Stand der Anderen zu bringen. Egal ob es nun sehen, hören oder riechen war. Bei keiner Disziplin konnte ich hier irgendjemandem auch nur annähernd das Wasser reichen.„Nein“, antwortete ich und schüttelte den Kopf. Mit einem Mal spürte ich einen Luftzug, verursacht durch Luna, die zu ihrem Vater auf die Ladefläche gesprungen war. „Aber ich“, sagte sie und verstaute demonstrativ ein paar Kisten. Jede gewöhnliche 14-Jährige hätte sich wahrscheinlich helfen lassen, für sie war das Gewicht offensichtlich nicht der Rede wert. ***Wir fuhren erst nach dem Umzugslaster los. Den Vorsprung, spekulierte Edward, würden wir ohnehin sehr bald ausgeglichen haben. Er hatte mir auch angeboten einen Flieger zu nehmen, da die Fahrt sehr lange dauern würde, sich jedoch nicht vermeiden lassen würde, weil die Autos andernfalls mit einem extra Laster transportiert werden müssten.Obwohl ich derart lange Autofahrten nicht gewohnt war und mein Magen sich wahrscheinlich von dem aller Mitreisenden wohl noch am ehesten umkrempeln würde, lehnte ich ab. Ich weiß nicht, warum ich das tat. Vielleicht hatte ich insgeheim Angst etwas zu verpassen, wenn ich diese Erfahrung nicht machen konnte. Ich hatte schon so oft das Gefühl gehabt etwas zu verpassen, angefangen damit, dass ich niemals ein Strahlen im Gesicht meines Vaters bewirken konnte, indem ich das erste Mal „Dada“ oder „Daddy“ sagte. Natürlich würde ich mich heute nicht mehr daran erinnern, aber meine Mutter oder mein Vater hätten mir davon erzählen können. Sie hatte mir nie davon erzählt, weil es nie passiert war.Nein, ich wollte nun jede einzelne Erfahrung einsammeln wie ein kostbares Gut...Und dazu gehörte es nun auch, mit Sangreal und Nayeli in Edwards Auto die Pazifikküste entlang zu fahren. Ich wusste nicht viel über Autos, abgesehen davon, dass es groß, schwarz und teuer aussah, fiel mir zu diesem Wagen nichts weiter ein. Die anderen Autos sahen aber zumindest genauso teuer aus, mit dem Unterschied, dass sie allesamt nur zwei Sitze hatten. Bellas Ferrari war das Einzige, von dem ich wusste, um was für ein Modell es sich handelte. Sie fuhr uns zusammen mit Edward voraus, während Seth und Mariella in einem violetten Sportwagen hinter uns fuhren. Jacob und Renesmee in ihrem weißen Flitzer hatten wir längst aus den Augen verloren. Genauso Luna und Anthony in dessen schwarzen Cabrio. Irgendwie hatte Luna es tatsächlich geschafft, nicht in einem Auto mit mir zu sitzen und stattdessen ihre Mutter mit mir fahren zu lassen. Aber gut, für mich war das vielleicht auch mal eine Möglichkeit, mehr über sie herauszufinden. Ich wusste nur nicht so recht, wie ich das anstellen konnte, ohne unhöflich oder zu neugierig rüber zu kommen. „Alles in Ordnung?“, erkundigte sich Sangreal nach meinem Befinden. Ich hob den Blick und sah im Rückspiegel, dass ihre silbergrauen Augen auf mich gerichtet waren. „Ähm... ja“, sagte ich, nickte und begann leicht zu lächeln – wie immer, wenn ich mich ertappt fühlte.„Okay“, antwortete sie. „Du bist nur so still und du meintest ja, lange Fahrten wärst du nicht gewohnt.“ „Wir können gern Plätze tauschen, wenn dir das lieber ist?“, bot Nayeli an. „Nein, nein“, sagte ich und hob die Hände. „Mir geht es gut, wirklich.“„Machst du dir Sorgen, ob du schon bereit bist, wieder nach Forks in die Schule zu gehen?“, fragte sie dann, wahrscheinlich dachte sie, dass das der Grund für meine Nachdenklichkeit war.„Nein, das ist es nicht“, gab ich zu. „Was dann?“ Sie ließ nicht locker. Sangreal kicherte kurz. „Bitte sei nachsichtig mit Nayeli. Sie ist zwar der Meinung keine Gabe zu besitzen, aber da sind wir uns manchmal nicht ganz sicher. Meiner Ansicht nach, hat sie ein außergewöhnliches Gespür für die Stimmlage anderer Lebewesen, gekoppelt mit dem Drang diesen zu helfen.“ Nayeli sah verlegen drein. „Tut mir Leid, ich kann nicht anders.“ „Nicht doch“, sagte Sangreal und streichelte ihrer Adoptivtochter durchs Haar. „Wahrscheinlich ist das so“, sagte ich, verschränkte die Arme und lehnte mich zurück. „Talent ist nämlich genau das richtige Schlagwort.“ „Ja?“ Nayeli sah mich fragend an. Einen Moment haderte ich noch mit mir, dann sprudelte es einfach aus mir heraus: „Warum wollte Anthony mir nicht sagen, was für ein Talent Luna hat?“ Sangreal und Nayeli begannen beide mit einem Mal zu lachen und ich kam mir wie ein Idiot vor und sank tiefer und tiefer auf der Rückbank. „Das bereitet dir also so Kopfzerbrechen?“, fragte Nayeli. „Ja“, gab ich nach kurzem Zögern zu. „Er schien mir zuerst nicht mal verraten zu wollen, dass sie überhaupt eine Gabe hat.“Nayeli sah von mir zu Sangreal, als wartete sie darauf, dass ihre Ziehmutter die Sache in die Hand nahm und so war es dann auch.„Nun...“, begann sie nun wieder ernster. „Das hat weniger mit ihrer Gabe an sich zu tun, sondern viel mehr mit der Beziehung, die die beiden zueinander haben. Du musst wissen, so sehr meine Tochter mir äußerlich ähnelt, so sehr ähnelt sie ihrem Vater innerlich. Sie sind beide sehr verschlossen und lassen nur wenige Personen an sich heran, aber hast du ihr Herz einmal für dich gewonnen, lassen sie dich nicht im Stich. Wenn Anthony dir also nichts dazu sagen möchte, dann liegt es daran, dass das Lunas Wunsch ist. Er will ihr die Wahl lassen, was sie von sich Preis geben möchte und was nicht.“ Ich seufzte. „Dann erfahre ich es nie...“ „So?“, fragte Sangreal. „Ich hab das Gefühl, Luna kann mich nicht leiden.“ Sangreal warf einen Blick zu Nayeli, die daraufhin den Kopf schüttelte. „Ich sagte doch, es liegt nicht an dir, Billy. Gib ihr Zeit.“

Daraufhin beließen wir es dabei und sprachen das Thema während der Fahrt nicht mehr an. Stattdessen plauderten wir über die verschiedenen Orte, an denen sie schon gewohnt hatten. Da sie das alle paar Jahre taten, gab es davon einige – unter anderem auch Irland und Neuseeland. Ich fand es irre spannend und mir war es unbegreiflich, wie sie sich auf so einen langweiligen Ort wie Forks freuen konnten, aber sie taten es.Und nach einer schier endlosen Fahrt, die mich ein ums andere Mal dazu gebracht hatte 'Wie lange noch?' zu fragen, bogen wir dann endlich in die Auffahrt des großen Hauses mitten im Wald ein. Das Tor zur Garage im Erdgeschoss war bereits geöffnet und die Wagen der Anderen standen darin. Den Umzugslaster sah ich jedoch nicht. Wir hatten eben den Wagen neben Bellas rotem Ferrari abgestellt, da kam sie mit einem Knäuel aus Plastiktüten um die Ecke und verstaute diese in einem Karton. „Na, seid ihr auch endlich da?“, fragte sie neckisch.„Es kann ja nicht jeder mit 670 PS und 300 Kilometern die Stunde durch Amerika düsen.“ „Stimmt“, sagte Bella und zwinkerte uns zu. „Kommt ihr? Die Möbel sind zumindest schon mal von ihren Folien befreit.“ Oben angekommen sah ich dann zum ersten Mal das Innere des Hauses, das ich sonst nur von außen gesehen hatte, als ich in meiner Kindheit mit meinen Geschwistern den Wald erkundete. Alles war hell, offen und freundlich. Die riesige Glasfassade ähnelte der des Hauses in Alaska und tauchte die Möbel in das strahlende Abendrot des Himmels. Kein Staubkorn verriet, dass dieses Haus die letzten fünf Jahrzehnte leer gestanden hatte. Ich nahm an, dass sie hier direkt nach ihrer Ankunft damit begonnen hatten, alles in Vampirblitzgeschwindigkeit zu entstauben.

„Wow“, hauchte ich, als ich schließlich zusammen mit einigen anderen im Wohnzimmer stand. „Es ist etwas kleiner als unsere Anwesen es seit Irland gewesen waren“, sagte Edward.„Klein?“, fragte ich und schluckte. Renesmee kicherte. „Dad meint, dass wir jetzt nicht mehr unsere eigenen Suites haben, sondern jeweils nur ein größeres Zimmer.“ „Bella und ich werden in unser Häuschen im Wald ziehen“, erklärte Edward. „Mein Zimmer im dritten Stock steht euch also auch zur Verfügung.“ „Dann nehmen Mariella und ich mal wieder das Erdgeschoss. Das Büro braucht ihr ja nicht mehr, oder?“ „Nein“, antwortete Edward. „Um das Familienunternehmen hat sich hauptsächlich Jasper gekümmert.“ „Jake und ich werden dann wohl die goldene Mitte nehmen und in den ersten Stock ziehen“, sagte Renesmee und erntete ein befürwortendes Nicken von Jacob.„Dann bleibt uns wohl wieder mal die oberste Etage“, sagte schließlich Anthony. „Sieht wohl so aus“, meinte Edward und kramte sein Smartphone aus der Hosentasche. „Ich bin mal eben nachhaken, wo der Umzugslaster bleibt“, fügte er dann hinzu und ging nach draußen.„Ich bin für eine Führung!“, rief Nayeli plötzlich aus und hob die Hand. Plötzlich griff sie nach meiner und hob sie ebenfalls hoch. „Billy auch!“ Bella lachte. „Meinetwegen gern, folgt mir.“ Begleitet von Renesmee zeigte uns Bella daraufhin das gesamte Haus, inklusive der geheimen Räume im dritten Stock, die mit, inzwischen veralteten, Computern ausgestattet waren, mit denen sich die Cullens, so Bella, gelegentlich in Systeme hackten, um Daten zu manipulieren und so ihre Geheimidentitäten zu wahren. Ich hätte das gewiss als illegal und falsch ansehen können, betrachtete es jedoch höchstens als aufregend, weil ich wusste, dass es eigentlich nicht rechtens war, jedoch notwendig. Ich assoziierte mit „Geheimidentität“ eher Superhelden anstelle von Verbrechern und stand damit nicht mal allein da. Bella erzählte mir, dass sie Edward auch eher in diesem Licht gesehen hatte, ganz gleich wie oft er ihr versicherte, eine Gefahr für sie zu sein.Nach meiner Führung ging ich zurück ins Wohnzimmer. Inzwischen war es dunkel draußen und die Bäume, die ich durch die Glasfassade sehen konnte, hatten fast etwas unheimliches, so wie sie sich sanft davor im Wind wogen. Beinahe wäre mir entgangen, dass ich nicht allein war. Anthony stand mit verschränkten Armen neben einem Bücherregal und sah ebenfalls nach draußen. Für einen kurzen Moment sah er irgendwie traurig und nachdenklich aus, doch kaum dass er mich bemerkte, änderte sich sein Blick und ich begann anzuzweifeln, was ich eben gesehen hatte. „Du bist sicher müde und möchtest nach Hause in dein Bett?“, fragte er.Ich setzte ein Grinsen auf. „Eigentlich nicht. Es sind so viele neue Eindrücke. Aber ich will mich nicht durchs Haus schleichen müssen, weil meine Geschwister und Mum schon im Bett liegen, von daher werde ich mich wohl bald auf die Socken machen.“„Wartet deine Mutter nicht auf dich?“, fragte er verwundert.Mein Grinsen wurde noch breiter. „Ich wollte sie überraschen.“ Ein kleines Lächeln huschte über seine Lippen. „Wenn du möchtest, bringe ich dich nach Hause.“Angesichts der Dunkelheit draußen, konnte ich das Angebot kaum ausschlagen und selbst wenn es draußen taghell gewesen wäre, hätte ich wahrscheinlich zugesagt. „Gerne.“ Draußen sah ich, dass der Umzugslaster inzwischen angekommen war. Der Hof wurde vom Licht der Veranda und ein paar Solarleuchten ausgeleuchtet, während Mariella, Seth und die Anderen einen Karton nach dem Anderen ins Haus trugen. Luna sprang von der Ladefläche und kam auf uns zu. „Gehst du weg?“, fragte sie ihren Vater. „Ich bringe Billy nach Hause.“ „Oh, ich komme mit“, sagte sie daraufhin. Es war nicht so, als fragte sie um Erlaubnis und ich ahnte, dass sie das wahrscheinlich sonst auch nicht nötig gehabt hatte. Anthony ließ seinen Blick kurz Richtung Wald schweifen und zog währenddessen einen Autoschlüssel aus der Hosentasche. „Wir nehmen das Auto. Wir haben hier noch keine Kleidungsstationen und ich habe keine Lust einen Rucksack mitzuschleppen oder nackt mit Leah zu reden“, antwortete er, zwinkerte Luna kurz zu und ging dann Richtung Garage. Luna funkelte mich etwas finster an, doch hielt ich es für besser, ihrem Blick auszuweichen und machte ebenfalls rasch kehrt. Anthonys Wagen war ein schwarzer BMW Z4 Roadster und hatte nur zwei Sitzplätze. Die Fahrt dauerte etwa eine Viertelstunde. Da wir kaum miteinander sprachen, begann ich relativ schnell müde zu werden. Erst der Anblick unseres Hauses ließ mich wieder etwas wacher werden. In einigen Räumen, darunter die Küche und der Raum meiner Schwester, brannte tatsächlich noch Licht. Schon als ich aus dem Wagen stieg und Anthony meine Koffer für mich aus dem Kofferraum holte, wurde mir etwas mulmig. Ich war zwar nicht so lang weg gewesen, wie ich es vermutet hatte, doch ich hatte mich zweifelsohne verändert, seit ich das letzte Mal hier gewesen war und etwas in mir wünschte sich, dass alle, die mein altes Ich gekannt hatten, es genauso sehen und akzeptieren würden. „Alles okay?“, fragte Anthony, nun da ich vor der Treppe zu unserer Haustür stand und keine Anstalten machte, zu klingeln. Hastig setzte ich mich in Bewegung und drückte dann doch auf den kleinen Knopf. Ich hörte sofort Schritte im Haus, dennoch dauerte es länger als sonst, bis die Tür letztlich aufging. Zuerst dachte ich, das läge vielleicht daran, dass ich zu so später Stunde klingelte und wer auch immer da gerade lief, vorher einen Blick aus dem Fenster geworfen hatte, um nachzusehen, wer das denn sein könnte, der da vor der Tür stand, doch dann dämmerte mir, dass mein Gehör sich wahrscheinlich einfach verbessert hatte. Mich überkam unwillkürlich ein Glücksgefühl, was darin resultierte, dass ich meinen Bruder regelrecht anstrahlte, kaum dass er die Haustür geöffnet hatte. Er sah mich einen Moment entgeistert an, dann warf er einen Blick in Richtung Anthony, der am Fußende der Treppe mit meinen Koffern stand. „Mom?!“, rief er ins Hausinnere, noch ehe er mich begrüßte. „Hey, Bruderherz!“, begrüßte stattdessen ich ihn als Erste. „Hey“, sagte er daraufhin und lächelte nun seinerseits auch. „Komm mal her.“ Er nahm mich in den Arm und drückte mich, dann sah er abermals hinter mich und ließ mich langsam wieder los. „Hi“, begrüßte er nun auch meine Begleitung. „Hallo Harry“, gab Anthony zurück. Die Tatsache, dass er genau wusste, wie sein Gegenüber hieß, ließ meinen Bruder verwundert drein schauen. „Billy!“, hörte ich dann Mom rufen, kaum das sie in den Hausflur eingebogen war. Auch sie umarmte mich herzlich und gab mir dann einen zärtlichen Kuss auf die Wange. „Du bist wieder da? Das ist ja toll“, sagte sie zu mir, wand sich dann jedoch an Anthony. „So früh?“ Er nickte und machte, die Hände hinterm Rücken, einen Schritt nach vorn auf die unterste Stufe. „Deine Tochter lernt schnell.“ „Das freut mich“, sagte sie und lächelte wieder mich an. „Kommt rein. Harry, nimmst du bitte die Koffer deiner Schwester?“ Mein Blick fiel wieder auf meinen Bruder, der noch immer unseren Onkel anstarrte. „Klar“, sagte er dann und huschte eilig sowohl an meiner Mutter und mir, als auch an Anthony vorbei.

„Möchtest du etwas trinken?“, fragte Mom, so wie sie es bei Gästen immer tat, als wir in der Küche standen und öffnete schon den Schrank mit den Gläsern. „Nein, danke“, sagte Anthony und hob die Hand. „Mhm“, murmelte Mom und sah nun mich an. „Du, Schatz?“ „Klar“, sagte ich. Ich hatte eigentlich keinen Durst, aber ich wollte nicht, dass sie den Schrank umsonst geöffnet hatte und sich vielleicht doof vorkam. Wenn ich es nicht besser wüsste, hätte ich gesagt, sie wäre ziemlich nervös und ich hätte gern gewusst, warum. „Ich muss gleich wieder zurück, den Anderen helfen, den Umzugslaster auszuräumen.“ Das verwunderte mich nun aber mindestens genauso, wie das Verhalten meiner Mom. Der Laster war bestimmt schon dreimal ausgeräumt, während wir hier sprachen. In mir keimte unweigerlich das Gefühl auf, dass die beiden irgendein Problem miteinander hatten. „Umzugslaster?“, fragte sie ihn, dann kehrte Stille ein, ehe es ihr dämmerte. „Moment... Ihr zieht wieder nach Forks?!“ Ihr Blick wandelte sich schlagartig von fragend zu nahezu empört.Anthony ignorierte das gekonnt und lächelte sogar ein ganz klein wenig. „Ich habe um den Umzug gebeten, um herauszufinden was die Ursache für Billys Verwandlung war.“„Was?!“, fragte sie und knallte die Schranktür derart zu, dass der Magnetverschluss, der eigentlich das Zufallen der Tür verhindern sollte, gar keine Chance hatte. „Bist du verrückt?! Das letzte Mal, als die Cullens hierher zogen, hat das zu einem explosionsartigen Anstieg der Werwolfpopulation geführt! Wie kannst du riskieren, dass noch mehr unschuldige Kinder da hinein gezogen werden?! Ist Billy nicht genug?!“ Sie schrie nahezu.Anthony hob beschwichtigend die Hände. „Keine Panik, Leah. Das wird nicht passieren. Zwischen Werwölfen und Vampiren muss lediglich ein Kräftegleichgewicht herrschen. Die einzigen, vollwertigen Vampire, die einen Ausbruch des Gens wirklich begünstigen würden, sind Edward und Bella, aber Embry, Jacob, Seth, Billy, Luna und ich sind bereits Werwölfe. Es werden keine weiteren benötigt, daher werden auch keine folgen, vertrau mir.“ Mom sah noch immer skeptisch drein. Es dauerte einen langen Moment, bis sie nickte.„Meinetwegen.“ Jetzt erst öffnete sie den Kühlschrank und holte eine Flasche Saft für mich heraus. „Was denkst du, was du finden wirst?“ Anthony zuckte die Achseln. „Keine Ahnung, vielleicht einen Vampir?“Mom nickte etwas gedankenverloren und schenkte mir Saft ein. „Habt ihr denn noch keine Nachforschungen angestellt?“, wollte Anthony wissen. Mom schüttelte den Kopf und schraubte die Flasche wieder zu. „Embry ist momentan viel zu sehr mit seiner Freundin beschäftigt.“Anthony verdrehte die Augen. „Klar... seine Prägung.“„Denkst du denn Billy kann jetzt wieder zur Schule gehen?“„Sie hat sich jetzt gut unter Kontrolle, selbst wenn ein Vampir vor ihr steht“, sagte er. Ohne es wirklich wahrzunehmen, setzte ich mich bei diesen Worten stolz etwas aufrechter hin, doch was dann kam, ließ mich wieder meinen Rücken krümmen und nach meinem Glas greifen. „Sie wird aber ohnehin nicht allein sein. Luna ist von uns die Einzige, die das richtige Alter und Aussehen für die Middle School hat. Sie wird sie als Austauschschülerin begleiten und hoffentlich mehr herausfinden.“ „Hoffentlich...“, wiederholte Mom, dann folgte erneut ein kurzer Moment der Stille.„Hoffentlich weißt du, was du da tust“, sagte sie dann.Anthony machte einen Schritt nach vorn, stützte sich mit den Händen am Tisch ab und sah meine Mom eindringlich an. „Das habe ich in der Vergangenheit vielleicht nicht immer, aber jetzt tue ich es, Leah. Du kannst dir sicher sein, dass ich nie etwas tun würde, was dir oder deinen Kindern schadet.“ Mom öffnete kurz den Mund leicht, ohne etwas zu sagen, dann schloss sie ihn jedoch wieder und nickte. „Ich weiß.“***Auch am darauffolgenden Tag, ließ mich das Gespräch zwischen meiner Mom und Anthony nicht los, als ich durch den dichten Wald zurück zum Cullen Haus ging, um meine Verabredung mit meinem Onkel für einige Wiederholungsübungen ja nicht zu verpassen. Irgendetwas an den beiden war komisch gewesen und ich nahm mir vor, herauszufinden was der Grund für ihr Verhalten war. Doch zunächst musste ich mich mental damit abfinden, dass ich Luna fortan in der Schule an meiner Seite haben würde. Warum konnte es nicht Nayeli sein? Das wäre so toll gewesen! „So ein Mist!“, knurrte ich und trat gegen einen etwas größeren Stein. Statt mir die Zehen dabei zu brechen, schleuderte ich ihn zu meiner Verwunderung weg. Ich folgte seinem Flug allerdings nicht und starrte stattdessen auf meinen Fuß. Eine Gestaltwandlerin zu sein hatte zumindest bisher weitaus mehr positive als negative Seiten. Erst als ich den Stein Sekunden später noch immer nicht aufkommen oder irgendwo dagegen knallen hörte, sah ich auf – und blickte mit einem Mal in zwei smaragdgrüne Augen, in einem Gesicht, gerahmt von einem Vorhang aus seidenen, langen, braunen Haaren.„Luna!“, rief ich aus.Sie nahm den Stein von einer, in die andere Hand, dann ließ sie ihn einfach fallen. Wieder folgte ich ihm nicht, hörte nur seinen dumpfen Aufprall im Laub. „Du erinnerst dich sogar an meinen Namen?“, fragte sie sarkastisch.Ich hob eine Augenbraue, sagte jedoch nichts dazu.„Ich habe schon befürchtet, du hast nur noch Augen für meinen Vater und blendest den Rest der Welt einfach aus“, fuhr sie fort.„Was?“, fragte ich. Sie machte jedoch keine Anstalten, meine Frage zu beantworten und sah mich einfach leer an.„Er ist mein Lehrer. Nicht mehr. Er ist der Einzige, der mir das beibringen kann. Es war nicht so, als hätte ich eine Wahl gehabt“, versuchte ich ihr dann klar zu machen. „Du hättest das viel schneller hinbekommen können. Du hast dich doch nur so dusslig angestellt und bist davon gerannt, um seine Aufmerksamkeit zu bekommen!“, schrie sie mich mit einem Mal an.„Das stimmt nicht!“, antwortete ich, nun ebenfalls ziemlich sauer. „Ich hatte Angst. Das... das ist alles neu für mich! Ich bin in dieser Welt nicht geboren worden, so wie du!“„Aber du wünschst dir, es wäre so!“, warf sie mir vor. „Wer würde das denn nicht?“, gab ich zu. „Du hast ein absolut sorgenfreies Leben. Du hast schon viel mehr von der Welt gesehen, als andere es in ihrem ganzen Leben tun werden. Du hast Talente und Fähigkeiten, von denen andere nur Träumen können und eine große Familie, die hinter dir steht. Ich dagegen bin als normales Mädchen aufgewachsen, bin jeden Tag zur Schule gegangen, habe mich des Öfteren mit Mitschülern herumärgern müssen und mit Lehrern und schlechten Noten. Mein Leben war so eintönig und langweilig, wie die Steine am Strand von La Push. Und ja... ich habe tolle Geschwister und eine wunderbare Mom, aber...“ Während ich sprach spürte ich, wie sich nach und nach Tränen in meinen Augen bildeten. Nun verschwommen, sah ich wie Luna bis auf etwa einen halben Meter auf mich zuging. „Aber?“ Ihr Tonfall und ihre Körperhaltung, mit vor der Brust verschränkten Armen, zeigte mir deutlich, dass sie genau wusste, was ich sagen wollte, dennoch zwang sie mich förmlich es auszusprechen.

Einen Moment noch kämpfte ich damit, meine Tränen zurückzuhalten, dann jedoch sprudelten sie zusammen mit den Worten aus mir heraus. „Aber keinen Vater!“, schrie ich nun fast. „Ich vermisse ihn jeden verdammten Tag, obwohl ich ihn nie gesehen habe! Ich hatte nie die Chance, mit ihm zu reden, von ihm umarmt oder geküsst zu werden. Er hat mich nie zur Schule gebracht oder mir bei Hausaufgaben geholfen. Er hat mir keine Gutenachtgeschichten vorgelesen oder mir Pflaster aufs Knie geklebt, wenn ich es aufgeschrammt hatte. Alles was ich von ihm habe, sind Erzählungen von denen, die das Glück hatten, ihn kennengelernt zu haben, ein paar Videos und Bilder!“

Ich schluchzte und versuchte mir die Tränen mit dem Handrücken wegzuwischen, aber kaum, dass eine fort war, folgte schon die Nächste. Mein Blick war nun noch verschwommener, aber ich meinte kurz etwas Weiches in ihrem Gesicht zu sehen. Nachdem ich ein, zwei Mal geblinzelt hatte, war es jedoch schon wieder verschwunden und genau das ließ meine Trauer fast in Wut umschlagen. „Du dagegen“, blaffte ich sie daraufhin an. „Du hast all das und könntest glücklich damit sein, aber was machst du stattdessen? Du fängst mich im Wald ab, machst mir Vorwürfe und bist im Grunde nur eifersüchtig, weil ich für einen kurzen Moment eine vage Vorstellung davon haben durfte, wie es wäre, einen Vater zu haben! “Ich wusste genau, wie ihre Augen aussahen, wenn sie wütend war. Ich hatte mich oft genug selbst im Spiegel betrachtet, wenn ich sauer war und jetzt im Moment, schien sie ziemlich wütend zu sein, so sehr funkelte das Smaragdgrün. Zunächst erwiderte sie nichts auf meine Worte hin. Während den Sekunden, in denen nun keiner von uns etwas sagte und wir einander nur anstarrten, konnte ich nicht mal Vögel zwitschern hören. Wahrscheinlich hatten wir alle Tiere im Umkreis verjagt. „Du...“, begann sie dann leise, ehe sie schrie: „Du hast keine Ahnung!“

Nun sah ich auch in ihren Augen Tränen funkeln. „Wüsstest du, dass mein Vater mitschuldig am Tod seines Bruders ist, wäre er doch der Letzte, den du an dich ran lassen würdest!“

Mein Herzschlag setzte kurz aus. Ich wusste nicht was ich sagen, was ich denken sollte. Stattdessen starrte ich sie fassungslos an. Über ihre Wangen rollten Tränen, während sie bei mir versiegten. Ich war nicht mehr in der Lage welche zu weinen, so sehr schockte es mich. „Du lügst“, brachte ich gerade noch so atemlos heraus. Sie schüttelte den Kopf. „Nachdem er ein paar Menschen getötet hatte, ging Dad nach Italien und schloss sich einem Vampirzirkel an. William wollte ihn zurück nach Hause holen, aber er hat sich nicht dazu überreden lassen. Er hat ihm den Rücken zugedreht und ihn stehen lassen, daraufhin hat einer der Vampire ihn getötet. Er hatte keine Chance. Als Dad es bemerkte, war er schon blutüberströmt.“In meinem Kopf überschlugen sich die Bilder, während meine Beine langsam nachgaben und mein Körper zu zittern begann. Ich konnte nicht sagen, ob mir nun zu heiß oder zu kalt war oder wo gerade oben und wo unten war. Der ganze Wald schien sich um mich herum zu drehen. Dann spürte ich das weiche Laub und die feuchte Erde unter meinen Händen, spürte wie die Feuchte den Stoff meiner Hose durchdrängte und die Haut darunter erreichte. Dunkle Erde grub sich unter meine Fingernägel, als ich sie langsam zur Faust ballte. „Du lügst“, sagte ich dann noch einmal und spürte erneut heiße Tränen in meinen Augen aufsteigen, so sehr und so unbarmherzig, dass sie zu brennen begannen und ich selbst den Waldboden unter mir nicht mehr sah. Ich hörte keine Antwort von ihr und begann zu schluchzen.

Mom hatte mir nie erzählt, wie genau Dad gestorben war, sie hatte mir nur gesagt, er wäre von einem Vampir umgebracht worden, weil er ihn für einen echten Werwolf gehalten hatte. Ich konnte nicht sagen, was mir in diesem Moment mehr schmerzte, das Wissen darum, warum er gestorben war, für wen oder wie. Was Letzteres anging, hatte ich mir immer gewünscht, dass er keine Schmerzen gehabt hatte und es schnell gegangen war. So wie Luna es jedoch schilderte, musste es schrecklich gewesen sein. Blutüberströmt hatte sie gesagt... Mein Vater, starb irgendwo in Italien, so weit weg von meiner Mutter, wahrscheinlich sogar noch auf irgendeinem harten, dreckigen Asphalt und das Letzte, woran er sich erinnerte, war sein Bruder, der sich von ihm abgewandt hatte, obwohl er ihm nur hatte helfen wollen. Wie konnte er nur so grausam sein? Wie konnte jemand, den ich so freundlich und hilfsbereit und sanft kennengelernt hatte, so kalt sein? Das hatte Dad nicht verdient... Langsam öffnete ich meine noch immer brennenden Augen. Ich hatte angenommen, dass meine Cousine längst gegangen und mich allein gelassen hatte, doch sie war noch immer da. Wenige Meter vor mir, hatte sie sich hingesetzt und sich, die Arme um die Beine geschlungen und das Kinn auf die Knie gebettet, gegen einen Baum gelehnt. Auch aus ihren Augen flossen Tränen und ihr sonst so bleiches Gesicht hatte nun einen dezent rosanen Teint. Warum sie weinte, vermochte ich nicht zu sagen. Vielleicht weil sie trotz allem Mitleid für mich empfand? Im Grunde war es mir egal. Dass sie es ursprünglich im Zorn gesagt hatte, um mir weh zu tun, war mir ebenfalls egal. Alles woran ich denken konnte waren die schrecklichen Bilder in meinem Kopf und der Gedanke daran, dass all die guten Erlebnisse der letzten Zeit nur ein Trugbild gewesen waren...„Billy?“ Anthonys sanfte Stimme ließ uns beide aufsehen. Er stand in etwas Entfernung zu uns und wirkte geschockt von unserem Anblick. Als er in unsere tränennassen Gesichter blickte, erstarrte er kurz, dann wand er sich zunächst an seine Tochter. „Luna?“, fragte er sie, ohne sich jedoch von der Stelle zu bewegen. Sie antwortete nicht, wich stattdessen seinem Blick aus und fixierte das Laub, woraufhin ihr Vater stattdessen auf mich zuging, sich vor mir auf den Boden kniete und seine Hände an meine Schultern legte. Normalerweise hatten wir fast dieselbe Körpertemperatur. Jetzt fühlten sie sich für mich aus irgendeinem Grund kalt an. „Was ist passiert?“, fragte er besorgt. Ich erwiderte seinen Blick, sah in sein besorgtes Gesicht und fragte mich, ob das auch das Letzte gewesen war, was mein Vater gesehen hatte. Waren es diese Augen gewesen, in der er blickte, bevor sich seine für immer schlossen? Wie konnte er mich überhaupt so ansehen? Wie konnte er meinen Vater so entsetzlich im Stich lassen und mich dann so ansehen? Dad wollte ihm helfen und alles, was er dafür bekommen hatte, war der Tod. Und mir hatte er damit jede Chance auf ein normales Leben genommen, ein Leben mit einem Vater, der mich liebte. „Billy?“, fragte er mich erneut, nun etwas drängender. Ich kniff die Augen zu und drehte mein Gesicht zur Seite. Ich wollte nicht mehr in diese Augen sehen. „Billy“, wiederholte er ein drittes Mal, dann legte er seine Hände an meine Wangen und zwang mich, ihn anzusehen. „Ich habe auf dich gewartet. Was ist passiert? Bist du verletzt?“Als ich ihn weiter stumm ansah, wurde er noch nervöser. „Billy, bitte rede mit mir!“Schließlich schob ich seine Hände grob weg und wich ein paar Zentimeter zurück. „Billy?“, fragte er, nun mit einer Spur von Misstrauen in seiner Stimme.

Ich nahm all meine restliche Kraft zusammen, um ihn noch einmal direkt anzusehen. Ich wollte keine Schwäche zeigen, kein Zittern in meiner Stimme zulassen. „Ist es wahr? Musste Dad sterben, weil er dich zurück nach Hause holen wollte?“Nun war er es, der zurückwich, während seine Augen größer wurden und sein Gesicht bleicher, als es ohnehin schon war. Wäre ich nicht so sehr mit meinem eigenen Scherbenmeer beschäftigt gewesen, vielleicht hätte ich dann gehört, wie etwas in ihm zerbrach...

 

[Anthony] Scherbenmeer

„Ist es wahr? Musste Dad sterben, weil er dich zurück nach Hause holen wollte?“Musste Dad sterben... weil... dich...

Dad sterben... weil... dich...weil... dich... du... du... du... Ich nahm ihre Sätze nicht mal als Ganzes wahr. Für mich zählten nur Bruchteile davon und alles was ich heraus hörte war: „Es war deine Schuld.“ Sie sah mich mit ihren großen, grünen Augen an. Trotz der Tränen war ihr Blick fest und bestimmt. Ich musste unweigerlich an meine erste Begegnung mit Leah nach Wills Tod denken. Blanker Hass war es gewesen, der, von ihr ausgehend, wie eine Welle über mich hereingebrochen war. Mit einigen schnellen Schritten, hatte sie die Distanz zwischen uns überwunden, dann hatte sie ausgeholt. Sie hatte eine solche Wucht in ihrem Schlag gehabt, dass sie mir die Nase gebrochen hatte und mir kurz schwarz geworden war. „Ja, ist es nicht schön, dass deine Wunden wieder verschwinden, als hätte es sie nie gegeben, während er an seinen sterben musste?!“, hatte sie mir unter zusammengebissenen Zähnen zu gezischt, als sie sah, wie meine Wunde wieder heilte. Ich hatte zu keiner Sekunde daran gedacht, mich zu wehren. Wie könnte ich? Ich hatte es doch nicht anders verdient. Im Gegenteil, ich war mir sicher gewesen, dass ich noch viel mehr verdient hätte, als nur eine Faust in meinem Gesicht. Und so hatte ich fortan begonnen jeden Schmerz als gerechte Strafe anzusehen, selbst den, den Caius mir zugefügt hatte.

Und auch jetzt hatte ich nicht vor, mich zu wehren. Ich hatte kein Recht dazu. Billy dagegen hatte jedes Recht auf die Wahrheit. „Ja“, antwortete ich nach einer gefühlten Ewigkeit auf ihre Frage. Ihre Augen wurden daraufhin noch etwas größer. Ihr Mund öffnete sich, ohne dass ein Wort ihre Lippen verließ, dann wich sie vor mir zurück. Ein Zittern erfasste ihren Körper, sie verwandelte sich in einen Vogel und flog davon.Während sie immer höher flog, sank ich immer tiefer, bis ich schließlich auf dem Waldboden kauerte und die Augen zusammenkniff. So musste sich vielleicht ein Soldat fühlen, den eine alte Kriegswunde schmerzte...

„Daddy?“ Selbst die zarte Stimme meiner Tochter konnte mich kaum erreichen. Erst als ich ihre Hand an meiner Schulter spürte, fand ich meine Worte wieder, jedoch ohne sie anzusehen. „Warum?“, fragte ich einfach nur, mit noch immer gesenktem Kopf. Sie drückte sanft meine Schulter. „Daddy...“, wiederholte sie schluchzend. Langsam sah ich zu ihr auf. Ihr verweintes Gesicht und die noch immer daran herunter fließenden Tränen fühlten sich an, als stochere jemand unbarmherzig mit einem Messer in dem klaffenden Loch herum, das mein Herz bluten ließ. Dennoch, ich musste diese Frage stellen. „Warum hast du das getan?“Sie zögerte. „I-ich... ich habe... n-nur... i-ich... ich weiß es nicht.“ Ich wand meinen Blick wieder von ihr ab und schüttelte kaum merklich den Kopf, ehe ich mich mühselig wieder aufraffte bis ich, noch etwas schwankend, auf den Beinen stand. „Dad, b-bitte“, stammelte sie unter Tränen, als ich müde an ihr vorbei schritt. „E-es t-t-tut m-m-mir l-leid...“

Ich kam nicht weit. Drei Meter war ich gelaufen, dann lehnte ich meine Stirn gegen den nächsten Baum und schloss erneut die Augen. Eine Weile sagte keiner von uns beiden etwas, dann erst hatte sich Luna so weit beruhigt, dass sie wieder leise, jedoch ohne zu zittern, sprechen konnte. „Vielleicht... war ich einfach nur eifersüchtig...“Ihre Erkenntnis überraschte mich nicht. Ich hatte schon früh bemerkt, dass Billy für sie ein Dorn im Auge war, aber ich hatte gehofft, dass sich die beiden annähern würden, wenn sie nur genug Zeit miteinander verbrachten. Leider war es dazu nie gekommen. Wie hätte ich Leah und vor allem Billy meine Hilfe versagen können, nur weil meine Tochter damit nicht einverstanden war? Wenn es jemanden gab, für den ich alles tun würde und wenn es auch nur bedeutete, ein kümmerliches Prozent meiner Schuld damit zu tilgen, dann waren es Wills Kinder und seine Frau. „Eifersüchtig“, wiederholte ich ihre Worte.„Ich weiß, es war dumm von mir“, gab sie zu. „A-aber... ich... es war noch nie so. Ja, Nayeli war auch immer da gewesen, aber zu Nayeli warst du immer ganz anders, als zu mir. Ich wusste immer, welchen Platz sie in deinem Leben hat und welchen ich. Bei Billy wusste ich das nicht... ihr hattet soviel gemeinsam, ihr habt soviel zusammen unternommen u-und sie hat es auch noch genossen. Es hat ihr gefallen... Ich hatte irgendwie Angst sie würde meinen einnehmen...“Ich lachte bitter und drehte mich zu ihr um. „Versetz' dich doch mal in ihre Lage. Wärst du an ihrer Stelle, ich tot und Will am Leben, hättest du da nicht vielleicht genauso gehandelt?“„Das kann ich nicht, Dad“, erwiderte sie, während ihre Unterlippe wieder zu zittern begann. „Ich war nie in dieser Situation und ich werde es nie sein.“ Sie sah furchtbar traurig aus und voller Sorge. Als ich nichts dazu sagte, kam sie auf mich zu und sah hilfesuchend zu mir auf. „Bitte, Dad, sieh mich nicht so an!“, sagte sie flehend. „Du alterst nicht, dein Leben ist endlos, meines wird es auch sein. Du wirst immer für mich da sein, nicht wahr?“Glasklare Tränen kullerten ihr hübsches Gesicht herab, während sie mich erwartungsvoll ansah. Meine eigenen Augen wurden bei diesem Anblick feucht, dennoch versuchte ich zu lächeln und wischte ein paar ihrer Tränen vorsichtig mit dem Daumen weg. Ich gab ihr einen Kuss auf die Stirn, dann beugte ich mich zu ihr herab. „Ich kann dir nichts versprechen, worüber ich keine Macht habe. Ich altere nicht, aber ich bin nicht unsterblich, mein Engel. Doch was ich dir versprechen kann, ist, dass du immer einen Platz in meinem Herzen haben wirst, den dir niemals irgendjemand wird wegnehmen können. So wie es für die Erde nur einen Mond gibt, gibt es nur dich für mich.“ Trotz der Tränen lächelte sie daraufhin etwas, dann umarmte sie mich und ich strich ihr beruhigend über den Rücken und durch ihr langes Haar und schloss die Augen. Von dem Tag, an dem sie geboren wurde, hatte sich mein Leben komplett verändert. Sie hatte eine Lücke darin gefüllt, von der ich nicht mal gewusst hatte, dass es sie gegeben hatte. Wie könnte ich ihr jetzt böse sein? Was geschehen war, war unausweichlich gewesen. Die Wahrheit kommt immer ans Licht...***Gemeinsam mit meiner Tochter ging ich als Nächstes zurück zum Anwesen. Niemand kreuzte unseren Weg, als wir in den zweiten Stock gingen. Wahrscheinlich waren noch immer alle mit dem Auspacken beschäftigt. Auch in unserem Bereich des Hauses türmten sich die Kartons. Sangreal hatte wohl alle Hände damit zu tun.„Hey, ihr zwei“, hörten wir sie uns begrüßen, während sie noch im Nebenzimmer war, das einmal ihr und mein Schlafzimmer werden sollte. „Ich hab mir überlegt, ob wir nicht vielleicht die Wand strei- … chen... sollen“, begann sie euphorisch, doch kaum dass sie uns sah, verlor ihre Stimme jegliche Euphorie. „Was ist passiert?“, fragte sie noch im Türrahmen stehend. Besorgt ging sie anschließend zu Luna hinüber, um sie genauer anzusehen. Sie sah ihr nasses, rötliches Gesicht und strich ihr besorgt durch das Haar, das ihrem so ähnlich war. Im nächsten Moment wand sie sich dann plötzlich in meine Richtung. „Was ist passiert?“, wollte sie nun energisch von mir wissen und drückte unsere Tochter beschützend an sich.„Billy weiß es“, sagte ich nur. Sangreal verstand sofort, lockerte die Arme, die sie um Luna gelegt hatte leicht und sah sie verwundert an. „Es tut mir Leid, Mom“, sagte diese betroffen. Nun ließ Sangi sie komplett los. „Luna!“, mahnte sie. Luna sah nun entsetzlich klein aus und wäre wahrscheinlich am liebsten durch das geschlossene Fenster verschwunden. „Das ist jetzt nicht wichtig, Sangi“, sagte ich. - „Ani, du kannst ihr doch nicht immer alles durchgehen lassen!“„Luna weiß, dass sie einen Fehler gemacht hat. Ich muss jetzt erst mal Billy finden. Sie ist einfach davon geflogen.“ „Und was willst du tun, wenn du sie gefunden hast?“, fragte sie. Ich schüttelte traurig den Kopf. „Ich weiß es nicht.“Sie ging auf mich zu und strich mir beruhigend über den Oberarm. „In Ordnung. Am besten gehst du erst mal zu ihr nach Hause.“Ich nickte und gab ihr zum Abschied einen Kuss. „Bitte kümmere dich um Luna.“ ***Leahs Wagen stand nicht vor dem Haus, als ich eine Viertelstunde später meinen dort abstellte. Dem mulmigen Gefühl in meinem Bauch zum Trotz, klingelte ich an ihrer Haustür. Nach kurzem Warten öffnete ihr Sohn sie. „Ja?“, fragte er vorsichtig, als er mich sah.„Hey Harry, ist deine Schwester da?“, kam ich gleich zum Punkt. „Welche?“, wollte er daraufhin wissen. Ich verdrehte die Augen. Ja, natürlich, Billy war ja nicht Leahs und Wills einzige Tochter. „Billy.“ Mein Gegenüber schüttelte den Kopf. „Ähm, nein, ist nicht da.“ „Und deine Mutter?“ - „Auch nicht.“ Ich ließ kurz den Blick abschweifen und musterte ein Fenster im ersten Stock, das eventuell zu Billys Zimmer gehören könnte. Wobei ich mir aufgrund der violetten Vorhänge doch nicht so ganz sicher war. Als Nächstes konzentrierte ich mich auf die Geräusche im Haus. Irgendjemand war definitiv darin, aber ich konnte nicht sagen wer, weil der dominanteste Herzschlag von Harry ausging und dieser alles andere übertönte. „Noch was?“, fragte er mich, als ich nichts weiter sagte. Kurze Fragen, knappe Antworten, erhöhter Puls. Er war ganz offensichtlich nervös, was mich unweigerlich zu dem Entschluss brachte, dass er seine kleine Schwester vor mir versteckte. Entnervt verdrehte ich erneut die Augen. Mir gefiel nicht was ich tun musste, aber welche Wahl hatte ich? Ich musste mit ihr reden. Einmal seufzte ich noch, dann setzte ich mich entschlossen in Bewegung und preschte an Harry vorbei ins Haus. „Was zum?“, fragte er und folgte mir dann ohne die Tür hinter sich zu schließen. „Hey! Sie... du... darfst hier nicht einfach rein!“Mit suchendem Blick ging ich durch den Flur und sah dabei links und rechts in die Zimmer. „Ich bin dein Onkel, Harry. Du darfst mich duzen.“ „Onkel hin oder her, das ist unser Haus!“, beschwerte er sich weiter. Plötzlich fegte eine Katze an uns vorbei nach draußen. Das war dann wohl das Geräusch gewesen, das ich im Haus gehört hatte.„Verdammt“, zischte ich!- „Ich sagte doch, hier ist niemand!“ „Anthony?“Schlagartig drehten wir uns beide um. Leah stand mit einem großen Einkaufskorb im Arm im Türrahmen und sah etwas perplex drein. „Was machst du hier?“, fragte sie, als sie auf uns zuging. „War Billy hier?“, fragte ich. Leah zuckte mit den Achseln und sah hinunter zu ihrem Korb. „Keine Ahnung, ich war einkaufen. Heute ist mein freier Tag. Warum? Ist etwas vorgefallen?“Ich ließ die Schultern etwas sinken. „Sie weiß es, Leah.“ Genau wie Sangreal zuvor, verstand auch sie sofort. „Harry“, wand sie sich an ihren Sohn und zog eine Zeitschrift unter den Joghurtbechern und einem Salatkopf hervor. „Ich hab dir die neue Vogue mitgebracht.“„Super, danke Mom!“, rief er aus, nahm sie sich und verschwand in den ersten Stock. Zu einem anderen Zeitpunkt hätte ich mir mehr Gedanken darüber gemacht, warum ihr Sohn ausgerechnet die Vogue las, jetzt dachte ich nicht mehr weiter daran und folgte Leah in die Küche.„Wie ist es dazu gekommen?“ - „Luna hat es ihr gesagt.“„Du hast deiner Tochter davon erzählt?“„Ich habe keine Geheimnisse vor ihr.“Leah sah kurz betroffen drein und machte sich langsam daran, ihre Einkäufe aus dem Korb zu nehmen und auf dem Küchentisch zu sortieren. „Ich halte auch nicht viel davon, aber in diesem speziellen Fall fand ich es besser, nicht ins Detail zu gehen. Wie kann ich ihr von etwas erzählen, bei dem ich nicht dabei war? Es wäre nur eine Version dessen gewesen, was mir erzählt wurde. Ich wollte, dass sie dir gegenüber unvoreingenommen ist. Dass sie dich kennenlernen kann, ohne all das. Was hat Luna ihr denn erzählt?“ - „Ich weiß es nicht.“„Du weißt es nicht?“„Leah“, antwortete ich, der Verzweiflung nahe, ließ mich auf einem der Holzstühle nieder und sank förmlich in mir zusammen. „Es verfolgt mich. Es kommt immer wieder. Egal wie oft ich versuche, damit klar zu kommen, es endet nicht.“„Hat sie irgendetwas zu dir gesagt?“, wollte Leah wissen. Vor meinem inneren Auge sah ich ihr trauriges und zugleich wütendes und enttäuschtes Gesicht. „Sie fragte, ob es wahr ist, dass Will sterben musste, weil er mich nach Hause holen wollte.“Leah hielt sich langsam die Hand vor den Mund und wand mir den Rücken zu.Meine Augen begannen erneut feucht zu werden, mein Herz schlug umso schneller, je länger sie so da stand. „Leah?“, fragte ich vorsichtig.Sie wischte ein paar Tränen weg, als sie sich umdrehte. Zu meiner Überraschung setzte sie sich mir gegenüber hin und sah nun verblüffend stark aus. Ich hatte sie schon immer irgendwo für ihre Stärke bewundert. Ich konnte nur vermuten, wie es für sie gewesen sein musste, Will zu verlieren, wo sie ihn nicht nur so sehr geliebt hatte, sondern noch dazu auf ihn geprägt worden war. Dennoch hatte sie weitergemacht – ihren Kindern zu liebe. „Okay“, sagte sie und faltete die Hände über dem Tisch. „Zuallererst, möchte ich dass du weißt, dass ich dir nicht die Schuld an seinem Tod gebe. Ich weiß, das war nicht immer so und ich habe meine Zeit gebraucht, um es erkennen.“Ich nickte, meine Augen fixierten dabei jedoch die Tischplatte. Vielleicht, weil ich Angst hatte, dass sie in ihnen sah, dass ich ihr ihre Worte nicht so ganz glauben konnte. Ich hatte mir selbst auch nach vierzehn Jahren nicht völlig vergeben können. Wie um alles in der Welt, war sie dazu in der Lage? „Anthony.“ Beim Klang meines Namens sah ich sie widerwillig doch an. „Willst du mir damit sagen, dass ich ihr Zeit lassen muss?“, fragte ich.Zu meiner Verwunderung schüttelte sie den Kopf. „Nein, du weißt nicht, was Luna ihr erzählt hat. Je länger ihr das als einziger Anhaltspunkt bleibt, desto mehr wird es für sie zur Wahrheit, auch wenn es falsch ist. Du musst sie suchen und ihr sagen, was damals wirklich passiert ist. Du und nur du allein kannst das, niemand sonst. Erst wenn sie deine Version der Geschehnisse kennt, hat sie das Recht, sich ein Urteil über dich zu bilden. Wenn sie dich dann noch immer für schuldig hält, kommt der Punkt, an dem sie Zeit brauchen wird.“Ich nickte verhalten. „Danke.“ Meine Stimme war kaum mehr als ein Hauch. Leah antwortete mit einem sanften, befürwortenden Lächeln.Langsam stand ich auf. Meine Beine fühlten sich noch immer ein bisschen an wie Pudding. „Ich weiß nicht, wo ich sie suchen soll...“ „Oh doch, das weißt du“, sagte Leah nur.***Es gab nicht viele Orte, die ich hier in der Gegend kannte. Es gab jedoch einen, den ich bei keinem meiner Besuche ausgelassen hatte, egal wie schwer es mir manchmal gefallen war, dorthin zu gehen. Für meine Nichte gab es jetzt sicher keinen Ort, an den sie eher gehen würde, als diesen. Leah hatte Recht gehabt. Ich wusste im Grunde genau, wo ich sie finden würde und so fuhr ich zum Friedhof von La Push.

 

Er lag etwas außerhalb, fernab der Wohnhäuser. Es war inzwischen Nachmittag und außer mir schien niemand sonst hier zu sein – auch Billy nicht. Statt sie jedoch weiter zu suchen, ließ ich mich vor dem Grab mit der Aufschrift William Edward Black-Cullen nieder. Auf den Blättern der weißen Blumen glitzerten einzelne Wassertropfen. Wahrscheinlich war Leah heute schon hier gewesen, denn geregnet hatte es nicht.

Mein Blick fiel auf die angefeuchtete Erde, wenige Zentimeter vor meinen Knien. Wie in Trance hob ich meine Hand langsam, vergrub die Finger darin und drehte sie dann wieder um. Als ich meine Faust öffnete, lag etwas Erde darin und bildete einen starken Kontrast zu meiner hellen Haut.Und ich erinnerte mich wieder an das letzte Mal, als ich diese Erde berührt hatte, als ich meine Hände darin vergraben und meine Schuld eingestanden hatte:

Bruder, bitte vergib mir, dass ich nicht stark genug bin, um dir deinen letzten Wunsch zu erfüllen.

Aber die Last meiner Schuld liegt so schwer auf meinen Schultern und ich trage sie mit mir... Tag für Tag.

Ich hoffe... eines Tages werden unsere Eltern mir vergeben können, dass ich ihnen ihren Sohn genommen habe.

Ich hoffe... eines Tages wird unsere Schwester mir vergeben können, dass ich ihr ihren Bruder nahm.

Ich hoffe... eines Tages... können deine Kinder mir vergeben, dass ich ihnen ihren Vater genommen habe.

Und... und ich hoffe, eines Tages kann deine Frau mir vergeben, dass ich ihr ihren Mann nahm.

Aber... Ich werde mir niemals selbst vergeben, dass ich dir dein Leben nahm!“

 

Mum und Dad hatten mir vergeben, ebenso Mariella, selbst Leah. Was mich betraf, so war, nach meinem Gespräch mit Will, ganz gleich, ob es nun wirklich stattgefunden hatte oder nur in meinem Kopf und nach Caius Tod, eine große Last von mir abgefallen. Dennoch hatte ich es nie geschafft, mich ganz davon zu entsagen und jetzt wusste ich auch warum: seine Kinder hatten mir nicht vergeben. Ohne ihre Vergebung würde ich mir selbst nie gestatten, gänzlich frei von Schuld zu sein. Natürlich war dies kein Garant dafür, dass ich mich dann wirklich davon losreißen und die Schuld bei demjenigen sehen würde, der Will tatsächlich die Wunden zugefügt hatte, die zu seinem Tod geführt hatten: Caius, der bereits dafür gerichtet worden war. Dennoch musste ich Billy finden und ich würde lügen, wenn ich sagte, dass ich nicht doch tief in meinem Innern darauf hoffte, dass sie mich nicht als den Mörder meines Bruders, ihres Vaters, sah. Gleichzeitig wusste ich, dass ich es nicht allein schaffen würde und kramte mein Smartphone aus der Tasche, um Luna darum zu bitten, zu mir zu kommen.

 

Während ich auf meine Tochter wartete, blieb ich einfach dort sitzen. Zwischenzeitlich war ich nicht mehr allein hier. Ein paar Reihen weiter pflanzte eine alte Dame frische Blumen und flüsterte dabei leise. Jeder andere hätte wahrscheinlich angenommen, sie redete mit sich selbst, doch meinem feinen Gehör entging nicht, dass sie die Worte an ihren Mann richtete, der unter der Erde lag.Ich lächelte bitter, wusste ich doch, dass sie keine Reaktion von ihm kriegen würde. Sie schien das wenig zu kümmern. Ich seufzte schwer und musterte wieder das Grab meines älteren Bruders. „Du hast mich immer Kleiner genannt. Hast gesagt, ich soll endlich erwachsen werden, mir eine Freundin suchen... Ich war immer in dem Glauben, ich wäre nie dazu in der Lage und habe dich enttäuscht. Und jetzt, wo ich meine eigene kleine Familie habe, bist du nicht mehr da, um sie kennen zu lernen...“Großartig, jetzt fing ich auch schon damit an... Ich wand meinen Blick ab und sah hinunter zum Grab der alten Dame. Wie es der Zufall wollte, sah sie just in diesem Moment zu mir hinauf und lächelte mich an. Ich sah wieder weg, spürte jedoch, dass sie sich in Bewegung gesetzt hatte und auf mich zu ging.„Es tut gut, mit ihnen zu reden, nicht wahr?“, sagte sie ruhig. Ich nickte nur. Sie hatte nicht den typischen dunklen Teint der Reservatsbewohner, trug ein weißes Kleid mit rotem Blumenmuster und eine Perlenkette um den Hals. Eigentlich zu schön, um einfach nur auf den Friedhof zu gehen, aber wenn man bedachte, dass sie mit ihrem Mann redete, warum sollte sie sich für ihn dann nicht auch schick kleiden? „Wenn ich mit Oscar rede, stelle ich mir immer vor, sein Geist schwebe über seinem Grab und höre mir zu. So fühle ich mich nicht so allein. Wir waren über siebzig Jahre verheiratet, allen Hindernissen zum Trotz. Meine Eltern waren nicht sehr begeistert davon, dass ich 'einen Indianer' heiraten wollte und sie ließen mich nicht nach La Push ziehen. Er hat seine Heimat für mich aufgegeben und ich konnte ihm erst nach seinem Tod seine Rückkehr ermöglichen. Jetzt sind meine Eltern tot und ich lebe hier, damit ich ihn jeden Tag besuchen kann. Manche Dinge sollte man tun, solange man noch die Zeit dazu hat, egal was andere sagen.“„Das stimmt“, antwortete ich traurig. „Aber in anderen Dingen sollte man auf das hören, was einem andere sagen...“

Du hast gesagt, ich solle nach Hause gehen, Will...„Oh, mein Lieber“, sagte sie dann. „So schlimm es auch scheinen mag, alles auf dieser Welt hat seinen Grund.“ Damit hatte sie nicht ganz Unrecht, das musste ich mir eingestehen. Hätte ich auf Will gehört und wäre nach Hause gegangen, als er mich darum bat, wäre er noch am Leben und bei seiner Familie. Allerdings hätte Caius dann nicht die Abschlachtung der Halbvampire gefordert und Sangreal wäre nicht aus Volterra geflohen. Wären wir dann auch ein Paar geworden? Gäbe es heute Luna, hätte Will überlebt? Oder hatte ein Leben etwa das Opfer eines anderen gefordert?

Was wäre wenn war wirklich die schlimmste Frage, die einem im Kopf herumspuken konnte... Aber im Grunde waren alle Antworten darauf nichtig, denn ich würde sie nie erfahren. Was zählte, war das hier und jetzt und dorthin wurde ich zurückgeschleudert, als Billy plötzlich in der Mitte der Grabreihe stand, nur drei Gräber von Wills entfernt. „Billy“, hauchte ich und rappelte mich auf. Die alte Dame ließ ihren Blick von mir zu ihr schweifen und schien zu spüren, dass hier etwas im Argen war. „Nun, ich werde dann mal nach Hause gehen. Ihnen beiden einen schönen Abend noch“, verabschiedete sie sich und ging. Ich antwortete nicht darauf, sah ihr nicht nach, starrte stattdessen meine Nichte an.„Du hier?“, fragte sie nur. Ich konnte ihren Blick nicht richtig deuten. War sie wütend? Oder einfach nur enttäuscht? Vielleicht traurig? Sie ließ mir keine Zeit lange darüber nachzudenken und wand sich zum gehen um. „Billy, bitte!“, rief ich ihr nach, doch sie ging weiter – bis sie plötzlich vor Luna stand. „Bitte bleib“, appellierte meine Tochter traurig an sie, wagte es jedoch nicht, sie anzufassen. „Das sagst ausgerechnet du mir? Wolltest du nicht, dass ich deinem Vater fern bleibe?“ Ich konnte Billys Gesicht nicht sehen, ihr Tonfall war jedoch eher mürrischer Natur. „Ich weiß, was ich gesagt habe und es tut mir Leid“, entschuldigte sich Luna und sank dabei den Kopf. „Sagst du das, um deinem Daddy zu gefallen?“, fragte Billy spöttisch.Luna schüttelte den Kopf, ihre Augen waren wieder feucht. „Ich sage es deinetwegen. Du hast ein Recht auf die Wahrheit, die ganze Wahrheit, und der Einzige von dem du sie erfahren kannst, ist mein Vater. Wenn du also erfahren willst, was damals wirklich passiert ist, solltest du jetzt nicht gehen.“Daraufhin drehte sich Billy um und richtete ihre Worte an mich. „Du hast bereits zugegeben, dass du es warst, für den er starb“, erinnerte sie mich. „Ich weiß“, gab ich zu und setzte mich langsam in Bewegung. Etwa einen Meter vor ihr blieb ich stehen. „Und dabei bleibe ich auch.“- „Also was willst du dann noch?“„In meinen Augen, bin ich schuldig. In den Augen meines Vaters, meiner Mutter, meiner Schwester... bin ich es nicht.“„Natürlich, sie sind deine Familie!“, konterte sie.„Wir sind auch deine Familie!“, mischte Luna sich ein, doch hob ich sofort die Hand. „Luna, bitte.“Meine Tochter sah betroffen weg. Ich beugte mich etwas zu Billy hinunter. „Ich bitte dich hier und jetzt nicht um Vergebung, Billy. Ich bitte dich nur darum, dir ein eigenes Urteil über das zu bilden, was damals geschah. Du hast ein Recht es zu erfahren, so wie es meine Pflicht ist, es dir zu erzählen. Es war nicht richtig, dir dieses Wissen vorzuenthalten, aber deine Mutter tat es für mich, ohne dass ich davon wusste. Sie wollte, dass du mich kennenlernen kannst, ohne dass all das wie ein dunkler Schatten über uns hängt.“Ihre Augen wurden wieder glasig. „Dich als freundlichen, gutmütigen Menschen kennenzulernen, nur um dann festzustellen, dass du deinen eigenen Bruder allein in seinem eigenen Blut hast sterben lassen ist also besser, ja?“Mein Herz sank schlagartig noch tiefer, als es die ganze Zeit über ohnehin schon saß. Glaubte sie das wirklich? „Bitte, Billy, gib mir diese eine Chance. Ich will nicht, dass du mit dieser Version der Geschichte leben musst.“Billy wischte sich ein paar Tränen weg. „Woher will ich wissen, dass deine Version die Richtige ist? Wer sagt mir, dass du dir nicht alles schön lügst?“ „Weil ich es dir nicht erzählen werde, ich werde es dir zeigen.“

Reise in die Vergangenheit

Verwundert über das, was er da eben von sich gegeben hatte, sah ich ihm in die Augen. Als wäre es ihr Stichwort gewesen, verließ Luna ihren Platz hinter mir und stellte sich neben ihren Vater. Obwohl sie mich eigentlich zuvor umzingelt hatten, fühlte ich mich erst jetzt, da sie nebeneinander standen, in der Unterzahl. Als wäre es unmöglich, gegen dieses Vater-Tochter-Gespann anzukommen. Und... ich fühlte mich allein. Unwillkürlich huschten meine Augen für den Bruchteil von Sekunden hinüber zu Daddys Grab, dann versuchte ich wieder, mit möglichst hartem Blick, Anthony und Luna zu fixieren. „Wie?“, fragte ich kurz und bündig.„Ich kann die Erinnerungen einer Person visualisieren, so dass eine andere Person sie sehen kann. Ich dringe dabei tief in das Gedächtnis ein. Es ist also nicht möglich die Visualisierung zu manipulieren.“Das also war Lunas bis dato geheime Gabe. Bis vor kurzem hatte ich noch unbedingt wissen wollen, was es war, jetzt war mir diese Information ziemlich egal geworden. Viel mehr interessierte es mich nun, was mit Dad passiert war. Anthony hatte Recht, ich konnte nicht mit dem Bruchstück der Geschichte leben, dass Luna mir praktisch in ihrer Wut entgegen schrie. Ich wollte alles. Jedes Detail. „In Ordnung“, gab ich schließlich meine Zustimmung. „Danke, Billy“, sagte Anthony daraufhin. Eigentlich hatte ich gedacht, wir würden das einfach auf dem Friedhof machen, stattdessen lief ich wenig später mit Luna und Anthony bis tief in den Wald hinein. Als kaum noch etwas vom restlichen Tageslicht durch die Baumwipfel schien, begann ich Fragen zu stellen.„Warum die Geheimniskrämerei?“ „Weil es zu viel Aufsehen erregen würde“, erklärte Luna.„Warum? Sehen die anderen Leute das etwa auch?“Luna schüttelte den Kopf und sah traurig zu Boden. „Nein, aber in dem Moment, in dem ich auf die Erinnerungen zugreife, durchlebt die Person, der sie gehören, all das erneut mit derselben Intensität wie zu der Zeit, als sie diese Erfahrungen gemacht hat. Dieselbe Freude, dasselbe Glücksgefühl oder derselbe Schmerz und dieselbe Trauer, je nachdem welcher Art die Erinnerung ist.“So ganz wusste ich nicht, was mich da erwarten würde, aber irgendwie wurde mir bei ihren Worten noch mulmiger als mir ohnehin schon war. Wäre Anthony so kalt und berechnend, wie das Bild, dass ich mir von ihm durch Lunas Worte gemacht hatte, würde er sicherlich keine Reaktionen zeigen, wenn er alles nochmal durchmachen würde, oder nicht? Wir standen jedoch gerade mitten im Nirgendwo. Nicht einmal Vögel hörte ich, so einsam war es hier. Ich merkte, wie bereits jetzt etwas in mir zu bröckeln begann, dennoch konnte ich nicht auf diese Erinnerung verzichten. „Okay“, sagte Anthony. „Hier ist es gut.“Ja, mitten im Nirgendwo traf es gut.Luna und ihr Vater setzten sich ins Laub. Ich tat es ihnen gleich. Als sie ihre Hand ausstreckte, um sie an seine Wange zu legen, nahm er diese plötzlich in seine Hände und sah sie eindringlich an. „Luna, ich möchte dass du immer weiter machst, egal was passiert. Von meinem dreißigsten Geburtstag bis zu der Zerschlagung der Volturi.“„Aber Dad-“, wollte sie erwidern, wurde jedoch von ihm unterbrochen. „Egal. Was. Passiert.“Lunas Augen füllten sich mit Tränen. „Okay?“, fragte Anthony sanft. Luna schürzte die Lippen, während zwei Tränen ihre blasse Haut hinunter liefen. „Okay.“Ich sah kurz weg. Das war wirklich harter Tobak. Und das alles taten sie meinetwegen... Luna hob die Hand und bat so stumm um die Erlaubnis, ihre andere Hand an meine Wange legen zu dürfen. „Tut es weh?“, stellte ich eine letzte Frage. Luna schüttelte traurig den Kopf. „Uns beiden nicht.“Ich rückte zur Antwort einfach näher, dann schloss sie die Augen. Ich sah eben noch hinüber zu meinem Onkel, der nun ebenfalls die Augen geschlossen hatte, da spürte ich einen seltsamen Sog – und stand im nächsten Moment in einem Flur. Es war ein seltsames Gefühl, ich sah die Sonne von draußen hereinscheinen, ich sah meine Füße auf dem Boden stehen, doch ich spürte weder die Wärme der Sonne, noch den Boden. Ich konnte nicht sagen, ob er hart oder weich war. Und es schienen, zu meiner Verwunderung, tatsächlich meine Füße zu sein, nicht Anthonys, so als stünde ich einfach so in seinen Erinnerungen herum. Der Äußere Rand meines Blickfeldes war verschwommen, als sähe ich ihn durch Milchglas. Das Zentrum war mehr oder weniger klar. Als ich dann eine Art Kinderkichern hörte, stellte ich fest, dass auch Geräusche etwas dumpf klangen, jedoch gleichzeitig ein wenig widerhallten. Die Urheber des Kicherns, zwei kleine Kinder, stürmten im nächsten Moment an mir vorbei und rannten ins nächste Zimmer. Ich konnte sie kaum richtig sehen, da waren sie schon wieder weg. Erst als ich sie im Nebenzimmer stehen sah, erkannte ich, dass es sich um meine Geschwister handeln musste. Ich hatte Bilder aus ihrer Kindheit gesehen, doch der eindeutigste Beweis dafür, waren die Personen neben ihnen: mein Vater, lebendig und warm lächelnd, und meine Mutter, mit einem ebenso zarten Lächeln auf den Lippen. Ihre Hand hatte sie schützend auf ihren runden Bauch gelegt. Ich war hier gewesen, in diesem Raum, zusammen mit meinem Vater! Es fühlte sich an, als würde ich mich daran erinnern, dass es so gewesen war, obwohl ich keine Erinnerung an diese Zeit hatte.

Plötzlich wurde alles um mich herum undeutlicher und als Nächstes stand ich in einem abgedunkelten Raum. Ein Blick auf die Fenster verriet mir, dass es ein Raum unter der Erde, eine Art Keller, sein musste. Warum hatte er den Raum gewechselt? Warum war er nicht bei Dad geblieben? Ich wünschte mir, ich könnte diesen Raum einfach verlassen und wieder nach oben gehen, doch als ich mich in Bewegung setzen wollte, schaffte ich es nur bis zur Tür, dann ging es nicht mehr weiter. Wahrscheinlich existierte immer nur der Raum, den Luna für mich durch Anthonys Erinnerungen visualisierte. Als würde mein Wunsch erhört werden, stand plötzlich mein Vater mit im Raum.„Ich finde es schade, dass du erst zu spät kommst und dann gleich wieder abhaust“, sagte er in einem sehr enttäuschten Ton. Allein seine Stimme zu hören, und sei es nur in diesem komischen dumpf-widerhallenden Klang, ließ mein Herz höher schlagen.

„Welchen Unterschied macht es, ob ich nun da oben rumsitze oder hier?“, erwiderte mein Onkel nach einer kurzen Stille. „Einen Großen“, meinte Dad. „Du musst ja nicht viel reden, wenn du nicht möchtest-“„Es geht nicht darum, was ich WILL“, fiel Anthony ihm ins Wort. „Es interessiert niemanden, was ich will.“Er winkte ab. „Ach, Ani, das ist doch kindisch. Du bist dreißig Jahre alt, wann entschließt du dich dazu, dich auch so zu verhalten? Wie wäre es, wenn du dir endlich mal eine Partnerin suchst?“

„Oh, verzeih, dass ich noch nicht geprägt worden bin“, antwortete Anthony säuerlich.„Davon rede ich gar nicht. Schau dir doch zum Beispiel mal Rosalie und Emmett an oder unsere Großeltern, die haben sich alle ohne Prägung gefunden.“„Will, es geht nicht immer nur darum, zu heiraten, Kinder zu kriegen und einen Baum zu pflanzen“, konterte Anthony, stand auf und ging zu einer Art Klappe in der Wand. „Mein Leben ist nicht so perfekt, wie deines und wird es vielleicht nie sein. Aber das ist es auch nicht, was ich mir wünsche.“„Was ist es dann?“, fragte mein Dad, doch sein Bruder ging dennoch.„ANTHONY!“, rief Dad ihm nach.Das Bild kippte erneut und einige Eindrücke huschten in Rekordzeit an mir vorbei. Die meisten sah ich kaum, ehe sie wieder verschwanden. Für einen Augenblick meinte ich meinen Onkel zu sehen, wie er ein Mädchen gegen eine Wand presste und küsste, doch Luna hielt sich daran nicht weiter auf. Ob sie es tat, weil es ihr nicht gefiel, dass ihr Vater ein anderes Mädchen als ihre Mutter küsste oder ob sie irgendwie unterscheiden konnte zwischen Erinnerungen, die für den Vorfall mit meinem Vater relevant waren und irrelevanten, wusste ich nicht. Luna hielt in einer Szene an, in der Anthony zwei dunkelgekleideten Vampiren in einer Gasse gegenüber stand. Ich erkannte sie an ihren Augen. Zumindest soviel hatte meine Mom mir von den kalten Wesen erzählt. Zwischen ihnen und Anthony saß ein zitterndes Mädchen. „Nur ein kleiner Imbiss. Greif ruhig zu. Du wirst feststellen, dass Menschenblut nicht nur viel köstlicher ist, als die rote Brühe von Ratten und Mardern, sondern dir auch ein neues, wundervolles Lebensgefühl gibt", schwärmte der kleinere der Vampire, ein Mädchen mit braunen Haaren, kaum älter als ich es war. Anthony schüttelte den Kopf. „Niemals.“ Ich seufzte erleichtert, doch dann preschte der zweite Vampir vor, biss das Mädchen und warf sie, blutend und weinend, vor Anthonys Füße, so dass dieser sie reflexartig auffing. Nur einen Augenblick lang, sah er sie noch an, hauchte ihr ein 'Es tut mir Leid' zu, dann schlug auch er seine Zähne in ihren Hals und ich stieß einen Schrei aus, hatte ich doch etwas derartiges, wenn überhaupt, nur in Horrorfilmen gesehen. Ob ich nun auch wirklich geschrien hatte? Weder Luna noch Anthony unterbrachen jedenfalls die Visualisierung. „Sehr schön“, frohlockte die kleine Vampirin.„Du Monster!“, schrie Anthony sie an.„Wer ist hier das Monster?“, fragte sie gehässig. „Sieh dich doch mal an und sieh, was vor deinen Füßen liegt. Du hast ihr das Leben genommen.“Anthony begann heftig zu zittern und wäre sicher auf sie losgegangen, hätte ihn nicht plötzlich ein starker Schmerz erfasst, der ihn in Ohnmacht fallen ließ. Wieder flitzten die Erinnerungen an mir vorbei. Ich sah Opa Jakes enttäuschtes Gesicht, ich sah Renesmee weinen und Anthony vor dem Körper des toten Mädchens stehen und irgendetwas in einer fremden Sprache flüstern. Ich sah Anthony die Augen aufschlagen und blickte in tiefes Rot, statt dem Smaragdgrün, das ich kannte und dann sah ich ihn gemeinsam mit Mariella an einer Art Flussbett sitzen. „Ich bin ein Monster“, hallte seine Stimme in meinem Kopf wider. Luna huschte weiter. Nun stand ich in einem dunklen Wohnzimmer. Nur der laufende Fernseher brachte etwas Licht in die Finsternis und tauchte die Personen, die er anstrahlte, Opa Jake und allen voran Anthony und Renesmee mit ihrer hellen Haut, in bunte Lichter.„Warum gehst du mir seit Tagen aus dem Weg?“, fragte Anthony seinen Vater. „Hör mal, was ist daran so ungewöhnlich, wenn wir uns ein paar Tage nicht sehen? Ich meine, du hast dein Leben. Ich hab meins. Du bist erwachsen. Das ist normal“, antwortete dieser.Anthony trat daraufhin näher an ihn heran, seine Augen verengten sich zu schlitzen. „Vor wenigen Tagen erst, hab ich ein unschuldiges Mädchen umgebracht. Das ist nicht normal.“Jacob sagte erst mal gar nichts. Sein Gesicht war vollkommen entspannt, sah seinen Sohn an ohne auch nur ein Lid zu bewegen. Es war ein kurzer Moment der Stille. Dann meldete er sich wieder zu Wort. „Doch. Ist es. Du bist ein Vampir. Ich hab mir sagen lassen, sowas machen die öfter.“ Seine Stimme klang gespielt heiter und fröhlich. Anthony schien vor Wut zu platzen. Renesmee wollte ihn wegschieben, doch blieb er wie angewurzelt stehen, starrte weiter seinen Vater an, der wiederum in den Fernseher starrte, als wäre er gar nicht mehr da. „Ah!“, sagte er dann doch auf einmal. „Noch was.“ Nun trat auch er näher an seinen Sohn heran. „Du kannst froh sein, dass wir deinem Bruder nichts erzählt haben, der hätte dir nämlich garantiert mehr dazu zu sagen gehabt, als wir.“ Seine Worte waren ein zischendes Flüstern. Es war keine Heiterkeit mehr in ihrem Klang.Obwohl ich alles eher sah, als wäre ich Zuschauer in einem sehr lebensechten Film und nur sehen konnte, was Anthony gesehen hatte, nicht jedoch seine Emotionen direkt spürte, entging mir nicht, dass die Worte seines Vaters ihn getroffen hatten.Wieder folgten mehrere Erinnerungen in kurzen Abständen. Doch trotz der rasenden Geschwindigkeit mit der sie vorbei huschten, war ich mir ihrer Grausamkeit bewusst. Ich sah rotes Blut, sah wie mein Onkel seine Zähne in wehrlose Opfer schlug. Eines davon ein junges Mädchen, mit dem er sich zuvor noch unterhalten zu haben schien.Noch während ich ihr Blut den Schnee verfärben sah, hörte ich die verächtliche Stimme Jacobs, die bereits von einer anderen, späteren Erinnerung zu stammen schien.„Ich fass es nicht“, hörte ich ihn sagen „Jetzt legst du schon deine Klassenkameraden um? Vor was machst du denn dann noch Halt, wenn du schon kleine Mädchen ermordest? Attackierst du uns vielleicht auch irgendwann?“Ich sah wie Schneeflocken auf ein Mädchenfahrrad fielen, dessen Reifen sich noch immer langsam drehten, als wäre eben erst jemand abgestiegen.„Das würde ich nie tun, und das weißt du auch!“, hörte ich Anthony protestieren.„Ja... ja... ich glaubte mal, dass ich was über dich wüsste“, antwortete Jake. „Aber spätestens jetzt...weiß ich, dass ich nichts über dich weiß.“„Va-“, wollte Anthony eben erwidern, da tat es einen dumpfen Schlag, dann schwenkte die Erinnerung auch bildlich dorthin, wo die Gespräche stattgefunden hatten: in einer Küche standen und saßen alle Familienmitglieder, auch die, die zu der Zeit, als ich in Alaska war, abwesend gewesen waren. Jacob stand direkt vor Anthony, der noch taumelte, sich dann wieder hinstellte und seinen Vater erschrocken ansah.

„Benutz dieses Wort nicht mehr für mich!“, befahl dieser.Mir blieb keine Zeit, das Geschehene sickern zu lassen, schon schwankte wieder alles und ich stand mit Mariella und Anthony auf einem kleinen Hügel. Es war dunkel und ich sah, Mariellas Tränen im Mondlicht funkeln, wie kleine Diamanten.„Ani, es tut mir leid! Bitte! Es tut mir leid!“, flehte sie. Dann flüsterte sie: „Du bist mein Bruder, und ich liebe dich...“ Er drehte sich langsam zu ihr um, sah sie an, nahm sie dann in den Arm und legte seine Wange auf ihren Kopf, während er ihr durchs Haar strich und sie sich an seine Brust kuschelte.„Nein, mir tut es leid“, sagte er leise. „Ich habe dein Vertrauen zuerst gebrochen. Ich hätte der Versuchung nicht nachgeben dürfen. Ich hätte so leben müssen, wie unsere Eltern es uns beigebracht haben. Ich hätte nie gedacht, dass ich das mal sage, aber ich kann Vater sogar verstehen. Ich glaube, wenn ich an seiner Stelle wäre, würde ich auch ausrasten.“Mariella lachte bitter.„Wie auch immer...“, fuhr er fort. „Sag Mutter bitte, dass es mir gut geht und dass sie sich keine Schuld zu geben braucht. Und Vater auch nicht. Niemandem. Und, Mariella?“Er wischte ihre Tränen mit dem Daumen weg und gab ihr einen Kuss auf die Stirn. „Ich liebe dich auch, meine kleine, große Schwester.“Die Kulisse änderte sich erneut. Dieses Mal stand ich in einem ziemlich leeren Raum mit altem Gemäuer und Marmor-Boden. Am auffälligsten waren die große Glaskuppel an der Decke als einzige Lichtquelle und die breite Treppe auf deren oberster Stufe drei Throne standen, in denen schwarzgekleidete, rotäugige Vampire saßen, ähnlich denen, die Anthony in der Gasse angegriffen hatten.„Wie lautet dein Name, junger Mann?“, fragte einer von ihnen.Mein Onkel zögerte einen Moment, schien zu überlegen, was er antworten sollte, dann sagte er: „Anthony.“„Und weiter?“, hakte der Rotäugige nach.. „Nichts weiter“, sagte Anthony kühl.Die drei Vampire saßen in ihren Thronen, als täten sie den ganzen Tag nichts anderes.„Ich ersuche euch um Aufnahme in eure Reihen“, hörte ich Anthonys Stimme, dann begannen die Bilder wieder zu verschwimmen und eine erneute Abfolge verschiedener Momente spielte sich vor meinen Augen ab. Als erstes sah ich einen Mann in einem Korridor vor Anthony herlaufen. „Ich bitte dich inständig. Geh, solange du noch kannst. Das hier, das ist kein Ort für dich.“ Es war eine mir unbekannte Männerstimme, von der ich ausging, dass sie zu eben diesem Mann gehörte. Er hatte schwarzes Haar und, wenn ich es richtig sah, indianische Züge.

Luna hielt sich nicht weiter hier auf. Als Nächstes sah ich endlich mal wieder ein bekanntes Gesicht: ihre Mutter. Sie ging in dem Raum mit der Glaskuppel auf Anthony zu und trug ein schwarzes, eng anliegendes Kleid. Ihre Augen waren allerdings, zu meinem Entsetzen, nicht von dem schönen Grau, das ich kannte – sie waren Rot. In verschiedenen Szenen sah ich, wie die beiden miteinander sprachen, wie sie in einem Swimmingpool saßen und wie mit einer Gondel fuhren. Die schönen Szenen wurden kurz von einem Schreckensmoment durchbrochen, in dem Sangreal verzweifelt wimmerte und Anthony gegen eine Wand gepresst wurde, doch dann sah ich sie erneut miteinander reden und sich schließlich vor einem Kamin küssen. Luna respektierte die Privatsphäre ihrer Eltern und ging weiter, doch ich konnte mir ziemlich gut denken, was danach passiert war... Die nächste Szene war leider weniger schön. Ein Tisch flog gegen eine Wand und verlor dabei ein Bein.„WARUM HAST DU MIR NICHT DIE WAHRHEIT GESAGT?!“, fuhr Anthony den Kerl, dem er durch den Korridor gefolgt war, an.„Was hättest du getan, wenn du es gewusst hättest? Wärst du dann einfach gegangen? Wohl kaum. Du hättest genauso wie ich versucht, das zu beenden und alles nur schlimmer gemacht“, antwortete er mit einem leichten Anflug von Zorn. „Wenn du einfach zurück nach Hause gegangen wärst, so wie ich es dir gesagt habe, dann wären wir jetzt nicht in dieser Situation!“„Ach?“, konterte mein Onkel und trat näher auf ihn zu. „In welcher Situation bist DU denn?“„Ich habe dir gesagt, dass du gehen sollst. Ich habe dir gesagt, dass du die Finger von ihr lassen sollst!“, ignorierte sein Gegenüber die Frage.Plötzlich ging die Tür des kleinen Zimmers auf und ein großer Vampir - war es der aus der Gasse mit dem blutenden Mädchen? - stand im Türrahmen. „Anthony. Caius wünscht dich zu sehen“, sagte er in einer Tonlage, die einen Widerspruch nicht duldete. Gespannt folgte ich Anthony und dem bösen Vampir durch weitere Korridore und einen Aufzug, dann betrat ich zum dritten Mal den Glaskuppel-Saal – und sah meinen Vater am Fuß der Marmor-Treppe stehen. Am oberen Ende stand einer der Vampire, die ich zuvor auf den Thronen hatte sitzen sehen. Ich ahnte, was nun kommen würde und spürte mein Herz rasen.Mit traurigem Blick musterte Dad seinen Bruder. „Ani, bitte komm zurück nach Hause. Mutter... wir alle sind krank vor Sorge um dich.“„Es geht mir gut“, antwortete dieser kühl. - „Ani... das hier... das ist kein Ort für dich.“ „Es ist kein Ort für dich. Geh zurück zu deiner Frau und deinen Kindern. Sie brauchen dich mehr, als ich es tue.“- „Aber wir brauchen dich.“Mein Onkel lachte bitter auf. „Es ist so, Ani“, bestätigte Dad ihm daraufhin nochmal. „Bitte, komm mit mir nach Hause.“„Nein“, antwortete Anthony knapp und sah ihn ausdruckslos an. „Ani.“ Dad redete noch etwas langsamer und trat näher. „Ist es dir denn vollkommen egal, wie es Mutter geht. Oder Mariella?“ Anthonys Fassade begann zu bröckeln. Er schürzte die Lippen und sah zur Seite. „Geh wieder“ sagte er knapp und setzte sich dann in Bewegung.

Ich wollte schreien, ich wollte flehen. Wollte ihm sagen, dass er nicht gehen durfte, dass er meinen Vater jetzt nicht allein lassen sollte, dass dies seinen Tod bedeuten würde. Ich sträubte mich dagegen, diesen Raum mit ihm zu verlassen, wurde jedoch gegen meinen Willen fortgezogen. Kein Wort verließ meine Lippen. Mein Mund öffnete sich, doch nichts kam heraus. Ich spürte, wie Tränen begannen, mir die Wange herunterzulaufen, als ich mit Anthony durch den Korridor ging, doch wenn ich versuchte, sie wegzuwischen, blieben sie an Ort und Stelle. Immer wieder sah ich zurück, doch war hinter mir nur noch Dunkelheit. Plötzlich hielt ich an und sah wieder nach vorn, um zu sehen, was der Grund dafür war. Anthony war auf die Knie gegangen und lehnte sich keuchend gegen eine Wand und hielt sich den Bauch. Was ich dann hörte, war keine Stimme mehr, sondern das unverkennbare Geräusch eines schnell schlagenden, vor Panik rasenden Herzens - Anthonys Herzens. Er stürmte unverzüglich zurück zu seinem Bruder, doch als er dort ankam, lag mein Vater bereits blutüberströmt am Fuß der Treppe.Anthony rannte zu ihm, fühlte Dads Puls, dann registrierten wir beide die tiefen Bisswunden. Anthony hob langsam den Blick und taxierte den Vampir, über dessen Lippen ein triumphierendes Lächeln huschte. Ein Knurren entfuhr Anthonys Kehle, er stand auf und war im Begriff auf ihn zuzugehen, ich jedoch blieb neben Dad sitzen. Ich wollte ihm so gern helfen, wusste jedoch gleichzeitig, dass ich nichts würde ändern können. Ich konnte die Vergangenheit nicht ändern. Die Verzweiflung darüber trieb mir noch mehr Tränen in die Augen. Anthony kniete sich wieder neben mich und Dad und hob dessen Kopf vorsichtig an. Seine Lider begannen zunächst zu flackern, dann öffnete er langsam die Augen. Einen Atemzug lang erlaubte ich mir, den Blick von Dad abzuwenden und sah, dass auch Anthonys Augen glasig waren.„Hey, Kleiner“, flüsterte Dad.„Will“, antwortete Anthony leise. „Es tut mir so leid. Ich-“ „Nein“, unterbrach er ihn, hob seine Hand und legte sie an seine Wange. „Das muss es nicht. Bitte, gib dir keine Schuld.“ Anthony schien etwas erwidern zu wollen, schloss jedoch wieder den Mund und kniff die Augen zusammen, wodurch einige Tränen aus ihnen quollen und seine helle Haut hinab liefen. „Versprich mir, dass du dir keine Schuld gibst“, bat Dad erneut. Das kann ich nicht... hörte ich dann Anthonys Antwort dreifach widerhallen, obgleich er augenscheinlich nichts geantwortet hatte. Ich nahm an, dass dies das gewesen war, was er in diesem Moment gedacht, jedoch nicht auszusprechen gewagt hatte.„Ani, bitte, geh zurück nach Hause.“ „Ich werde heimgehen“, antwortete er, nahm Dads Hand von seiner Wange und drückte sie. „Aber nicht ohne dich. Carlisle kann dir sicher helfen...“Dad schüttelte den Kopf. Sein Gesicht war nass geschwitzt, sein Atem wurde flacher. „Nein, Kleiner.“Ungläubig schüttelte nun auch ich den Kopf. Warum? Warum ausgerechnet Dad? Warum hatte dieser Vampir das gemacht? Warum mein Daddy?Schließlich begann er heftig zu husten und Blut zu spucken. Anthony hob seinen Oberkörper an, in der Hoffnung er könne so besser atmen. Er sah mindestens so verzweifelt aus, wie ich mich fühlte, mit dem Unterschied, dass er den Ausgang dieses Augenblicks im Gegensatz zu mir nicht gekannt hatte. Ein letztes Mal hustete Dad noch, dann verlor sein Körper in Anthonys Armen jegliche Spannung. „Will!“, schrie er ihn an. Daraufhin öffnete er noch einmal die Augen und lächelte seinen kleinen Bruder an. Sekunden später schlossen sich seine Lider und sein Lächeln verschwand. Anthony und ich blieben mit rasenden Herzen zurück, während seines niemals wieder schlagen würde...

Ungläubig schüttelte mein Onkel immer wieder den Kopf, dann legte er Dads leblosen Körper vorsichtig auf dem Marmorboden ab. Kurz sah er zu den drei Thronen, doch der Vampir, der meinen Vater auf dem Gewissen hatte, war verschwunden. Ich nahm an, dass Anthony ihn nun suchen würde, doch ich irrte mich. Er blieb bei seinem Bruder und weinte stumme Tränen. Eine nach der anderen liefen sie sein Gesicht hinab. „Ani!“, hörte ich dann die vertraute Stimme von Lunas Mutter rufen. Wenige Sekunden später kniete sie neben den beiden. „Um Himmelswillen, was ist passiert, Ani?“, fragte sie erschrocken. „Caius“, hauchte Anthony zur Antwort, ohne seinen Blick von Dad abzuwenden. Sangreal hob erschrocken die Hand vor ihren Mund. „Ich war das, Sangi“, sagte er dann verzweifelt. „Er kam um mich nach Hause zu holen, er bat mich heim zu gehen. Ich- ich- ich-“, versuchte er immer wieder einen Satz zu beginnen.„Nein!“, erwiderte Sangreal und nahm ihn in den Arm. „Caius war das. Red‘ dir nichts anderes ein, Ani.“ Beruhigend strich sie ihm über den Rücken. „Ihr werdet beide nach Hause kommen, versprochen.“ Die Szene verschwamm vor mir. Schemenhaft sah ich, wie Dad in ein Flugzeug verladen wurde... Dann hörte ich Donnergrollen. Trotz eines Unwetters flog das Shuttle über den Ozean und schließlich stand Anthony, mit Dad im Arm, vor der Tür eines großen Hauses. Ich sah, wie Mariella sie öffnete, wie ihr ihr Lächeln entglitt. Das Bild verschwamm. Ich befand mich wieder in Anthonys Zimmer. Dieses Mal lag er auf dem Bett und starrte ausdruckslos auf die Decke, während seine Schwester sich an ihn gekuschelt hatte und zu schlafen schien. Die Szene wurde von schluchzenden Geräuschen übertönt, dann änderte sie sich erneut. Nun sah ich Opa Jacobs Rücken – und Dad. Er lag in einem Bett und wirkte, als würde er schlafen. Anthony streckte seine Hand aus und wollte sie auf die Schulter seines Vaters legen.

„Vater...“, flüsterte er leise, doch es kam zu keiner Berührung. „Lass mich allein...“, sagte Jacob, woraufhin Anthony kurz inne hielt, sich dann umdrehte und ging.Es war seltsam, sie so zu sehen. Ich hatte sie in den Tagen, in denen ich bei ihnen gewesen war, ganz anders miteinander umgehen sehen. In diesen Erinnerungen wirkten sie aber schrecklich distanziert und irgendwie kalt. Ich spürte, dass Anthony sich wünschte, dass dem nicht so wäre, aber ich konnte mir im Moment nicht vorstellen, was den Wandel in ihrer Beziehung verursacht haben könnte. Ich wusste ja, dass sie sich nun sehr gut verstanden. Irgendetwas musste also passiert sein.Die nächste Szene wurde mit dem Geräusch eines dumpfen Schlages und knackenden Knochen eingeleitet. Mum war offensichtlich im Flur direkt auf meinen Onkel zugelaufen und hatte ihm ihre Faust ins Gesicht geschlagen.„Leah, Leah, beruhig‘ dich“, redete Edward ihr gut zu, während er sie festhielt. Sie wand sich in seinem Griff, kam jedoch nicht frei. „Lass mich!“, schrie sie ihn an. Ihr Gesicht war feuerrot und voller Tränen. Auf der ihr gegenüberliegenden Seite saß Ani auf dem Boden und rappelte sich gerade wieder langsam auf. Ich sah noch, wie der letzte Rest einer Wunde sich verschloss und schließlich verschwand. Mum hielt in ihrer Bewegung inne. „Ja“, sagte sie verbittert und mit zusammengebissenen Zähnen. „Ist es nicht schön, dass deine Wunden wieder verschwinden, als hätte es sie nie gegeben, während er an seinen sterben musste?!“„Leah“, mahnte Edward, ehe er einen kurzen Blick nach hinten warf, wo sich bereits neugierige Zuschauer versammelt hatten. „Bitte geht.“ Anthony stand nun wieder und sah meine Mutter an. „Wenn du nur wüsstest, wie sehr ich mir wünschte, ich könnte den Platz mit ihm tauschen.“

Abermals änderte sich der Ort des Geschehens. Die Tränen, die ich geweint hatte, als ich sah, wie mein Vater gestorben war, waren noch nicht ganz getrocknet, da folgten bereits Frische, nun da ich sein Grab sah. Ich hatte dieses Grab sehr oft gesehen. Fast jeden Tag hatte ich es besucht, die Blumen gegossen und meinem Dad von meinem Tag erzählt, wie es andere Kinder beim Abendbrot taten. Nun aber, sah ich zum ersten Mal, wie es kurz nach Daddys Beisetzung ausgesehen hatte. Die Erde war frisch und türmte sich. Es befanden sich Kerzen und Kränze davor und was später ein Grabstein sein würde, war jetzt noch ein schlichtes Kreuz. Mariella war ebenfalls hier und stand in etwa zwei Metern Abstand hinter Anthony, der sich vor das Grab gekniet hatte. Er starrte auf den Grabschmuck und rührte sich eine ganze Weile nicht, dann vergrub er seine Hände in der frischen Erde.

„Bruder... bitte vergib mir, dass ich nicht stark genug bin, um dir deinen letzten Wunsch zu erfüllen. Aber die Last meiner Schuld liegt so schwer auf meinen Schultern und ich trage sie mit mir... Tag für Tag.“ Seine Stimme war leise. Fast schien es, als flüsterte er es Dad unter der Erde zu. Dennoch hörte ich die Verzweiflung, die in seiner Stimme lag, deutlich heraus.„Ich hoffe...“, begann er nun zu schluchzen. „Eines Tages werden unsere Eltern mir vergeben können, dass ich ihnen ihren Sohn genommen habe. Ich hoffe... eines Tages wird unsere Schwester mir vergeben können, dass ich ihr ihren Bruder nahm.“ „Ich hoffe... eines Tages... können deine Kinder mir vergeben, dass ich ihnen ihren Vater genommen habe. Und... und ich hoffe, eines Tages kann deine Frau mir vergeben, dass ich ihr ihren Mann nahm.“„Aber...“, sagte er nach einer kurzen Pause. Er zog die Hand aus dem Boden und drehte sie, so dass etwas Erde in seiner Handfläche lag, dann ballte er sie mitsamt der Erde zu einer Faust. „Ich werde mir niemals selbst vergeben, dass ich dir dein Leben nahm!“

Es war ein seltsames Gefühl hier zu stehen, zu wissen, dass es sich um eine Erinnerung handelte und sich dennoch so angesprochen zu fühlen. Ob er gewusst hatte, dass ich die Schuld eines Tages bei ihm sehen würde? Ob er sich davor gefürchtet hatte?

 

„Bitte hör auf“, bat Mariella ihren Bruder. Er hatte die Augen geschlossen. „Mit was?“, fragte er tonlos und ließ die Hände wieder sinken. „Es ist nicht deine Schuld!“Plötzlich öffnete er seine Lider und funkelte sie an. Durch das Rot in seinen Augen wurde sein finsterer Blick noch verstärkt. „Wessen Schuld soll es denn dann sein, Mariella?!“- „Die des Vampirs, der ihn angegriffen hat!“ Er schüttelte den Kopf und schnaubte. „So einfach ist das nicht, Mariella. Wenn ich nicht gegangen wäre, dann wäre er noch am Leben!“ „Und was ist mit mir?!“, schrie sie nun auch fast selbst. „Ich hab ihn doch darum gebeten, dich zurückzuholen.“Anthony drehte sich zu ihr und nahm ihre Hände in die seinen. „Das ändert nichts. Es bleibt dabei. Wenn ich nicht gegangen wäre, hättest du ihn nicht darum bitten müssen. Egal wer noch daran beteiligt war. Am Ende bin ich es doch, der es zu verantworten hat und genau deshalb werde ich auch gehen.“„W-was? Wohin?“, fragte sie verzweifelt. „Zurück nach Volterra.“ - „Du willst wieder bei denen leben?“Er schnaubte verächtlich. „Ganz sicher nicht. Ich will nur Gleiches mit Gleichem vergelten.“- „Was heißt das? Was hast du vor?“ Er schüttelte den Kopf und antwortete nicht.

Mariella hielt seine Hand fester. „Tu das nicht. Bitte bleib bei mir, Ani.“Sein Mund formte sich zu einem Lächeln, obwohl ein paar vereinzelte Tränen seine hellen Wangen herab liefen. „Wenn der Mond durch dein Verschulden in Blut getränkt ist, wohin willst du dann gehen?“

Seine Worte verursachten bei mir eine Gänsehaut, dann verschwamm wieder alles und das Nächste, was ich sah, waren dunkle Gänge. Gänge die ich bereits öfter während dieser Reise in die Vergangenheit gesehen hatte: die Gänge der Volturi. Anthony schritt zielsicher auf einen Raum zu und öffnete dessen Tür derart grob, dass sie fast gegen die Wand knallte. Im Inneren stand ein prächtiges, altes Himmelbett. Die Vorhänge waren an den vier Pfosten zusammengefaltet und festgebunden, auf dem Bettrand saß eine Vampirin mit derart langem, blondem Haar, dass ein Teil davon auf dem Bett lag. Das war dann allerdings auch alles, was ich von ihr sah, denn sie hatte Anthony den Rücken zugewandt und drehte sich nicht mal um, als sie ihn längst bemerkt zu haben schien.Aus seiner Kehle kam ein tiefes Knurren.„Du willst mich also töten?“, fragte sie mit einem Anflug von Müdigkeit in ihrer ansonsten wohlklingenden Stimme.Anthony antwortete nicht, setzte einfach so zum Sprung an. Seine Füße hatten sich kaum vom Boden gelöst, da zog ihn wieder jemand zurück, dessen Kommen er durch seine Wut offensichtlich nicht bemerkt hatte. „Santiago“, knurrte Anthony. Er schien den Vampir zu kennen, der ihm nun die Arme am Rücken fixierte, was ziemlich schmerzhaft aussah. Aus einer anderen Ecke des Raumes trat nun eine weitere Vampirin mit kurzem, hellem Haar hevor. Sie hatte ein kleines Lächeln auf den Lippen. „Deine Gabe ist wirkungslos gegen mich, Corin“, sagte Anthony mit zusammengebissenen Zähnen, während Santiago ihn weiter im Griff hielt.„Das spielt keine Rolle. Du bist jetzt ohnehin Caius kleines Spielzeug.“ Anthonys Augen weiteten sich kurz.„Bring ihn in die Halle“, befahl die Vampirin. Santiago nickte. Ich hatte den Drang, meinem Onkel zu helfen, obwohl ich wusste, dass ich es nicht konnte, also folgte ich ihnen einfach beklommen durch die Gänge. Sie wechselten die ganze Zeit über kein Wort.Schließlich kamen wir in besagter Halle an. Wie ich vermutet hatte, handelte es sich dabei um den Glaskuppel-Saal.Caius saß auf seinem Thron, als Anthony in den Raum gebracht wurde. Er nickte Santiago zu, woraufhin dieser meinen Onkel los ließ. Kurz funkelten sie einander an, dann zog sich der Vampir zurück.„Du bist so berechenbar“, spottete Caius, dann stand er auf und schritt die Marmorstufen hinab, während sein langer, schwarzer Umhang über den Boden glitt. „Dachtest du ernsthaft, ich würde sie unbewacht lassen? Sie ist niemals schutzlos. Erst recht nicht, wenn rachsüchtige Missgeburten durch die Gänge streifen.“ Er ließ eine kurze Pause aufkommen, ehe er fortfuhr. „Hybriden...“, sagte er dann. Er sprach das Wort mit einer solchen Verachtung aus, dass es mich kaum gewundert hätte, wenn er im nächsten Augenblick auf den Boden spuckte. „Die Natur hatte ihre Gründe, als sie die Menschen als unsere Nahrungsquelle auswählte. Unsere Nahrungsquelle - nicht mehr.“

„Aro scheint das anders zu sehen oder weshalb bin ich hier?“, antwortete Anthony hochnäsig.Caius Mundwinkel hoben sich zu einem gehässigen Lächeln. „Wo du es schon mal ansprichst: mir wurde mitgeteilt, du hättest bereits... erledigt, was er wollte, das du tust. Er wird es mir also nachsehen, wenn ich dir den Kopf abgerissen habe.“Ein weiteres Mal sah ich, wie sich die grünen Augen meines Onkels weiteten. Ich hatte keine Ahnung, von was Caius sprach, er offenbar schon. Doch die Zeit zu antworten, blieb ihm nicht. Im nächsten Moment sprang Caius auf ihn zu, woraufhin Anthony auswich. Was darauf folgte, war eine einzige Hetzjagd quer durch den gigantischen Saal. Bereits nach wenigen Minuten fiel mir auf, dass Anthony deutlich schneller zu sein schien als der Volturi. Doch dieser Vorteil wurde durch eine kleine Unachtsamkeit zunichte gemacht. In jenem Moment, als eine der Türen an den Seiten aufschwang, Mariella, Seth und Sangreal den Raum betraten und Erstere den Namen ihres Bruders rief, nutzte Caius die Gunst der Stunde und versetzte meinem Onkel einen Schlag, der ihn erst über die Fließen rutschen ließ, bevor er auf dem Bauch liegend und keuchend zum stehen kam. Kurz darauf wurde er gepackt und wieder auf die Beine gezogen. Obwohl er sich mit aller Kraft dagegen wehrte, gelang es ihm nicht, sich aus dem Griff des Vampirs zu befreien. Dann ging plötzlich die große Tür am anderen Ende des Raumes auf und der Rest der Familie trat ein. Geschlossen standen sie nun, Schulter an Schulter, dem Volturi gegenüber, der sich davon allerdings unbeeindruckt zeigte.Plötzlich begann alles um mich herum zu zucken und flackern, ähnlich einem Fernseher mit schlechtem Empfang. Ich sah wie gelegentlich jemand sprach, hörte jedoch nichts. Auch schien das was ich sah, nicht zusammenhängend zu sein, sondern eher sprunghaft. War die Erinnerung an dieser Stelle etwa unvollständig? Oder versuchte Luna nur einen Teil zu überspringen? Noch ehe ich mir richtig Gedanken dazu machen konnte, verschwanden die Bilder vor meinem inneren Auge komplett. Zurück blieb zunächst Dunkelheit, dann schlug ich die Augen auf und blinzelte.

 

Ich befand mich wohl noch immer im Wald und nun da ich mich wieder im hier und jetzt befand, spürte ich auch das Laub unter mir. Nur sehen konnte ich noch nicht so wirklich. Kleine Lichtkugeln tanzten vor meinen Augen und erschwerten mir die Sicht. Es dauerte ein paar Sekunden bis ich klarer sehen konnte und feststellte, dass meine Cousine zwar immer noch neben mir saß, sich jedoch ihrem Vater zugewandt hatte. Sie hatte ihre Hände in den Schoß gelegt und schien darauf zu warten, dass auch er wieder sehen konnte. Bei ihm dauerte es noch länger, als bei mir. Wahrscheinlich war es sehr viel anstrengender, der Sender, als der Empfänger zu sein. „Warum hast du aufgehört?“, fragte er angestrengt.Luna sah betroffen drein. „Die Erinnerungen wurden lückenhaft.“„Das stimmt nicht, ich kann mich sehr gut daran erinnern, was in diesem Raum passiert ist. Du hast sie nur zerhackt, indem du versucht hast, sie zu überspringen.“Sie wand ihren Blick ab und starrte stattdessen auf das Laub. „Du hast mich mit deinem Schild blockiert, Dad.“ „Weil du sie überspringen wolltest. Ich habe dir schon einmal gesagt, es ist nicht deine Aufgabe, mich zu beschützen.“Lunas Augen wurden erneut feucht, woraufhin Anthonys Blick sofort etwas weicher wurde. Er legte ihr eine Hand an die Wange, um sie zu beruhigen. „Nicht weinen, Prinzessin...“

„Du weißt, ich kann es nicht richtig steuern. Negative Erinnerungen ziehen meine Gabe an wie das Licht eine Motte. Wenn ich zu weit springe, oder-“„Bitte“, unterbrach er sie sanft, jedoch bestimmt. „Nur noch die Schlacht. Es gibt da etwas, was Billy unbedingt sehen muss.“Luna schüttelte energisch den Kopf. „Das geht nicht, Dad. Bitte!“

„Es wird alles gut“, antwortete er mit einem zuversichtlichen Lächeln auf den Lippen, von dem ich nicht wusste, ob es echt oder falsch war. Angesichts Lunas Panik vermutete ich jedoch Letzteres.Kurz haderte sie noch mit sich, dann legte sie mehr oder weniger widerwillig ihre Hand an seine Wange und hob die Andere wieder in meine Richtung. Ich rückte näher an sie heran, so dass sie mich berühren konnte, dann schloss ich wieder die Augen.Dieses Mal dauerte es länger, bis der Sog mich in Anthonys Erinnerungen zog. Eine Fülle von Geschehnissen fegte binnen Bruchteilen von Sekunden an mir vorbei. Ich konnte kaum sagen, was ich sah, so schnell war es schon wieder weitergezogen. Stellenweise wirkte es jedoch, als käme Luna kaum von manchen Erinnerungen los. Etwa als ich sah, wie ihr Vater ihre Mutter vor irgendetwas oder irgendjemandem zu beschützen schien und dabei gegen einen Baum prallte. Ich erinnerte mich daran, was Luna gesagt hatte: „Negative Erinnerungen ziehen meine Gabe an wie das Licht eine Motte.“ Ich ahnte schreckliches und starrte im nächsten Moment in die weit aufgerissenen Augen des Mannes, der einige Erinnerungen zuvor noch mit meinem Onkel gestritten hatte. Mit dem Tod ringend griff er nach Anthonys Shirt und öffnete den Mund. Nach einem Schwall Blut, folgten gurgelnde Worte: „Wenn dir auch nur irgendetwas an ihr liegt“, presste er hervor, dann ließ ihn los, ließ den Kopf zurück auf die Erde sinken. „Dann halte sie auf. Er darf sie nicht kriegen.“

Zum zweiten Mal sah ich an diesem Tag in den Erinnerungen meines Onkels, wie jemand in seinem eigenen Blut liegend verstarb.

Obwohl ich nicht wusste, wer der Mann gewesen war, spürte ich förmlich, dass Anthony auch um ihn getrauert hatte. Er schien jedoch keine Zeit gehabt zu haben, um bei ihm zu verweilen und lief stattdessen in einen Wald und vernahm plötzlich einige Stimmen. Als er zu erkennen schien, wen er da hörte, nahm sein Gang deutlich an Tempo zu, bis er schließlich rannte.

Was ich dann sah, ließ nicht nur Anthony erschaudern: der Vampir, der meinen Vater ermordet hatte, stand umringt von einigen anderen dunkelgekleideten Vampiren in einer Kreisformation. Zwei von ihnen hielten jeweils Mariella und Renesmee fest.

„Nein!“ , brüllte diese. „Anthony, lauf! Bitte!“

 

Als hätte sie ihre Worte nicht an ihren Sohn, sondern an ihre Enkelin gerichtet, begann alles um mich herum erneut zu zucken und stocken, da Luna versuchte, die nachfolgenden Momente zu überspringen, ihr Vater sie in ihrem Vorhaben jedoch blockierte. Dann spürte ich erneut einen Sog und stellte mich darauf ein, gleich wieder im Wald zu sitzen und landete tatsächlich auch in einem – jedoch keinem realen. Ich befand mich noch immer im Kreis der Vampire. Seit dem Moment, den ich eben noch sah, hatte sich jedoch einiges verändert. Mariella war fort, Anthony lag auf dem Boden, den Kopf auf dem Schoß seiner Mutter und Sangreal saß zusammengekauert zwischen zwei Vampirfrauen.

„Nein“, hörte ich meinen Onkel schwer atmend flüstern.„Du irrst dich, kleine Cullen. Wenn sich hinter einem Namen zwei Leben verbergen, wenn in einem Körper zwei Herzen schlagen, dann genügt die Nennung eines Namens durchaus. Ich hätte sie gehen lassen, wenn er ihren Namen genannt hätte, aber er zog es vor, seine Schwester zu retten“, säuselte Caius triumphierend.„Nein“, flüsterte Anthony erneut verzweifelt. Sanft schob er seine Mutter weg und robbte sich mühsam in Sangreals Richtung. „Sangi... Ist das wahr?“, fragte er zittrig. Sangreal schien einen Moment zu überlegen, schüttelte dann jedoch hastig den Kopf. „Er lügt“, wimmerte sie. „Bitte bleib ruhig.“„Ich lüge?!“, fauchte Caius daraufhin. „ICH lüge?“ Ganz so, als sei das ihr Stichwort gewesen, stand plötzlich eine Vampirin hinter Sangreal, zog sie auf die Beine und schob ihr Shirt nach oben. Das Licht war schummrig und man musste schon zweimal hinsehen, aber ich wusste ja, wer mir gerade diese Erinnerungen in meinen Kopf projizierte. Ich wusste, wer in diesem kaum merklichen Babybauch heranwuchs.

Anthonys Blick wandelte sich binnen Bruchteilen von Sekunden von verzweifelt zu entschlossen, dann begann er zu zittern und verwandelte sich in den größten, schwarzen Vogel, den ich jemals sah. Er flog umher, tötete dabei ein paar Vampire mit seinen gigantischen Krallen, dann packte er mit genau diesen nahezu sanft seine Mutter und Sangreal und flog mit den beiden davon.Die Landung oder wie er sich zurückverwandelte, sah ich nicht mehr. Stattdessen verschwamm alles um mich herum langsam, als tauchte man ein frisches Aquarellbild in Wasser, dann verdunkelten sich die Farben, bis zur völligen Finsternis. Und während meine Augen nicht sahen, vernahmen meine Ohren das Geräusch eines schnell schlagenden Herzens. Das Pochen wurde jedoch nach und nach leiser, bis ich nicht nur nichts mehr sah, sondern auch nichts mehr hörte.

 

Und schließlich spürte ich das Laub. Meine Hände griffen danach, unter meine Fingernägel schob sich feuchte Erde. Meine Augen hielt ich geschlossen, beschränkte mich vorerst auf meine übrigen Sinne, die jedoch im ersten Moment auch nicht weiter von Nutzen waren. Meine Hände fühlten sich taub an, als wären sie eingeschlafen, meine Ohren waren zu, als säße ich in einem Flugzeug. Ich versuchte zu schlucken, um den Druck loszuwerden, doch es half nichts. Nach einer gefühlten Ewigkeit kamen dann langsam sowohl meine Sehkraft, als auch mein Gehör wieder zu mir zurück.„Daddy?“ Lunas sanfte, flehende Stimme war das Erste was ich damit wahrnahm. Automatisch richtete ich meinen Blick in die Richtung, aus der ich sie vernommen hatte. Meine Cousine hatte mir den Rücken zugedreht und kniete neben ihrem Vater, der der Länge nach, in Bauchlage und ohne Bewusstsein, auf dem Waldboden lag. „Daddy?“, fragte Luna erneut. Nun da ich mir der Situation bewusst war, fiel mir auf, dass sie weinte. „Was ist passiert?“, fragte ich vorsichtig und rückte näher.Luna schüttelte den Kopf und schluchzte. „Ich weiß nicht. I-ich...“ Sie begann nach Luft zu schnappen. „Es war zu viel. Einfach zu viel.“ Plötzlich hörten wir ein Rascheln in der Nähe und im nächsten Moment kamen Edward, Jacob, Seth und Sangreal durch sämtliches Gestrüpp auf uns zu gerannt. „Luna!“, rief Letztere und wollte auf ihre Tochter zu laufen, wurde jedoch von Jacob zurückgehalten. „Lass mich!“, beschwerte sie sich.„Edward?“ Jacob wand sich mit unsicherem Klang in der Stimme an den Vampir, woraufhin dieser sich neben Anthony kniete. Ganz vorsichtig hob er ihn hoch, um ihn umzudrehen und ihm prüfend die Hand an die Stirn zu legen. „Leere...“, flüsterte er mit geschlossenen Augen, dann öffnete er sie und wand sich an Luna. „Was ist passiert?“, stellte er dieselbe Frage, wie ich sie ein paar Minuten zuvor gestellt hatte.Luna kam erneut in Erklärungsnot. „Ich weiß nicht... ich- ich-“„Er wollte mir zeigen was damals passiert... was mit Dad passiert ist“, versuchte ich ihr zu helfen.Edwards Augen weiteten sich. „Du hast deine Gabe eingesetzt um seine Erinnerungen zu visualisieren?“Luna nickte.„Welche?“, fragte Jacob nervös.„Verschiedene... Wills Tod.... Nahuels Tod... der Moment, in dem er von mir erfuhr...“, zählte sie langsam auf.„Warte. Die Schlacht mit den Volturi?“, hakte Jacob entsetzt nach. „Er wäre damals beinahe drauf gegangen!“ Edward sah sie ernst an. „Du weißt, dass du deine Gabe mit Bedacht einsetzen musst.“„Ich weiß!“, schrie sie ihn verzweifelt an. „Himmel ja, ich weiß! Ich hab ihn darum gebeten, es sein zu lassen! Mehrmals! Aber er wollte nicht! Ich hab ihm gesagt, dass ich das nicht tun kann. Dass ich das nicht tun will, aber er... er...“ „Jake“, zischte Sangreal, woraufhin dieser sie losließ, so dass sie ihre Tochter endlich in den Arm nehmen und ihr beruhigend über den Rücken streicheln konnte. „Schon gut, mein Schatz“, flüsterte sie dabei leise. Edward schloss erneut die Lider und horchte nach irgendetwas, dann schlug er sie wieder auf.„Keine Sorge, er wird schon wieder. Du hast ihn nur mental ausgeknockt. Körperlich ist er absolut gesund. Ein oder zwei Tage Schlaf, dann ist er wieder ganz der Alte.“***

Etwa eine Stunde später saß ich mit Nayeli in der Küche und nippte an einer Tasse Kaffee. Für gewöhnlich trank ich das schwarze Gebräu eigentlich nicht, aber nun da mein Kopf so voll war, fühlte ich mich, als bräuchte ich Koffein, zur Stärkung. An Schlaf war für mich ohnehin nicht zu denken, obwohl ich mich ziemlich ausgelaugt fühlte.Ich seufzte, woraufhin mein Gegenüber das Wort ergriff. „Es muss sehr hart für dich gewesen sein, nicht nur die Umstände zu erfahren, durch die dein Vater starb, sondern alles auch noch mit anzusehen, als wärst du dabei gewesen und dennoch nicht eingreifen zu können.“ Ja, Nayeli schien wirklich talentiert darin zu sein, zu wissen, was in anderen Personen vor sich ging. „Ja“, sagte ich. „Aber wenigstens bin ich nicht umgekippt.“„Du musst dir keine Vorwürfe machen“, erklärte Nayeli.- „Tue ich nicht. Es tut mir eigentlich eher um Luna leid. Sie wollte das alles wirklich nicht...“„Sie weiß, dass ihre Gabe gefährlich sein kann.“„Hat sie dir schon mal etwas gezeigt?“, fragte ich neugierig.„Den Tod meiner Mutter.“- „Deiner Mutter?“Sie nickte. „Nachdem Aro, das Oberhaupt der Volturi, erfuhr, dass Caius Anthony angegriffen hatte, hat er ihn dafür nicht etwa bestraft. Im Gegenteil, er wollte seine Loyalität zurückerobern, indem er ihm einen Wunsch gewährte. Caius wünschte sich den Tod fast aller Halbvampire in Volterra. Meine Mutter und ich waren zwei davon, doch Sangreal fand sie, kurz vor ihrem Tod, und versprach ihr, sich um mich zu kümmern. Obwohl sie einer der wenigen Halbvampire war, die nicht auf Caius Abschussliste stand, ist sie anschließend mit mir zusammen zu Anthony und seiner Familie geflohen.“ Ich war also nicht die Einzige, die eine geliebte Person hatte sterben sehen. Im Gegensatz zu Nayeli hatte ich jedoch noch meine leibliche Mutter. Mich überkam mit einem Mal ein starkes Gefühl von Dankbarkeit. Ich dankte meiner Mutter dafür, dass sie nach Dads Tod nicht aufgegeben hatte. Dass sie für uns weitergemacht hatte. Nayeli schien bei Sangreal und Anthony zweifelsohne sehr glücklich zu sein, dennoch konnte ich mir ein Leben ohne meine Mum nicht vorstellen. Mein Kopf drehte sich leicht Richtung Treppe. Luna konnte sich ein Leben ohne ihre beiden Eltern sicher auch nicht vorstellen. Nayeli folgte meinem Blick. „Ich denke nicht, dass wir sie nochmal sehen werden, bevor er aufwacht.“ Schon wieder fühlte ich mich in ihrer Gegenwart wie ein offenes Buch.Bevor ich etwas dazu sagen konnte, gesellte sich Jacob zu uns an den Tisch. Er stellte sich neben mich, beugte sich herab und legte seine Unterarme auf die Tischplatte. „Alles okay?“, fragte er mich.Ich sah ihn verdutzt an. „Bei mir?“Jacob lächelte leicht. „Siehst du in diesem Raum noch ein junges Mädchen, das bis vor ein paar Wochen noch ein ganz gewöhnlicher Teenager und nun praktisch live beim Tod ihres eigenen Vaters dabei war?“Ich schürzte die Lippen. „Ich bin ziemlich hart im Nehmen.“Jetzt war es an meinem Großvater verdutzt zu gucken. Er zog einen Stuhl zurück und setzte sich neben mich. „Ich bin fast eher etwas traurig, dass er mir nicht alles zeigen konnte, was er wollte. Es war ihm wohl ziemlich wichtig.“„Was war das Letzte, das du gesehen hast?“, fragte er.Ich überlegte kurz. „Er hatte sich in einen Vogel verwandelt und Sangreal und Renesmee weggetragen.“ „Mhm... vielleicht wollte er dir zeigen, dass Caius für das was er tat, gebüßt hat.“- „Hat er?“„Leah hat ihm den Kopf abgerissen.“„Mum?!“, fragte ich erstaunt.Jacob grinste fast. „Deine Mum, ja. Nachdem Ani ihm eine Hand abriss.“

Normalerweise wollte ich nie jemandem etwas böses. In diesem Fall jedoch, fühlte ich Genugtuung durch das, was mir eben erzählt wurde. Es gab diesen Vampir also nicht mehr. Gut. Jacob erhob sich wieder. „Ich kann mir vorstellen, dass es etwas langweiliger ist, es nur erzählt zu bekommen, anstatt es zu sehen, aber bitte tu mir einen Gefallen und lass dir von Ani nichts mehr von dem zeigen, was damals passiert ist, ja?“„Okay.“ „Gut“, sagte er und machte sich zum gehen auf. Ich sah ihm nicht nach, hörte jedoch seine Schritte. Erst als er abrupt stehen blieb, wand ich mich um. Der Grund für seinen Stop war Luna, die die Küche betreten hatte. Jake legte ihr behutsam eine Hand auf die Schulter. „Alles okay, Kleines?“ Luna nickte, sah ihn jedoch nicht an. Ihr Blick war einzig und allein auf mich gerichtet und mir wurde direkt wieder etwas mulmig deswegen. War sie etwa wieder zu ihrer alten Feindseligkeit zurückgekehrt? Machte sie mich jetzt für den Zusammenbruch ihres Vaters verantwortlich?Hilfesuchend sah ich Nayeli an, die ebenfalls angespannt wirkte, nun da ihre Schwester unerwartet doch das Zimmer ihres Vaters verlassen hatte.Nachdem Jacob gegangen war, ging sie auf uns zu und setzte sich auf den Stuhl, auf dem er eben noch gesessen hatte.„Ich... ich äh... ich wollte mich bei dir entschuldigen“, sagte sie zögerlich. Anscheinend war sie es nicht gewöhnt, sich etwas eingestehen oder sich gar für etwas entschuldigen zu müssen. „Es war nicht richtig von mir, so gemein und kalt dir gegenüber zu sein. Das war sehr dumm und du konntest nichts dafür. Ich habe dir das Leben unnötig schwer gemacht, obwohl es für dich bestimmt schon anstrengend genug war, mit der neuen Situation klar zu kommen.“Ich lächelte und hob ihr meine Hand hin. „Entschuldigung angenommen.“Lunas Mund formte sich ebenfalls zu einem leichten Lächeln. Es war das erste Mal, dass ich sie lächeln sah, ohne das ihr Vater mit uns im selben Raum war. Sie nahm meine Hand und schüttelte sie sachte. „Danke.“ Kurz kehrte eine peinliche Stille ein, die glücklicherweise von Nayeli beendet wurde. „Wie geht es Anthony?“„Edward sagt, er sei okay“, antwortete sie nachdenklich. „Na ja, er hat zwei Abschlüsse in Medizin“, witzelte sie – oder meinte sie das ernst? „Ja, ich vertraue ihm“, erwiderte Luna, dann stand sie auf. „Ich werd‘ jetzt trotzdem wieder hochgehen. Euch zwei noch einen schönen Abend und eine gute Nacht.“Ihrer Verabschiedung nach zu urteilen, ging meine Cousine dann die Treppen mit der Absicht hinauf, nicht mehr vor dem morgigen Tag wieder herunterzukommen.Nun war es Nayeli, die seufzte. „Hast du Hunger?“, fragte sie dann.Ich streichelte mit kreisenden Bewegungen meinen Bauch. Ich war heute Morgen ohne Frühstück aus dem Haus gegangen. Folglich hatte ich den ganzen Tag noch nichts gegessen, dennoch war das flaue Gefühl, das ich bei dem Gedanken an alles, was ich kürzlich sah, durchaus sehr sättigend. Es fühlte sich an, als würde nichts weiter in meinem Magen Platz finden, dennoch stand Nayeli auf und öffnete ein paar Schränke und Schubladen, um Kochutensilien heraus zu holen.Dass sie gern und viel kochte war mir schon früh aufgefallen. Schmecken tat alles, was sie zauberte ohnehin. Aber das war bei Onkel Seth als Lehrer auch kein Wunder. Trotzdem fragte ich mich insgeheim, ob sie durch solch ein menschliches Talent vielleicht zu kompensieren versuchte, dass sie keine außerordentlichen vampirischen Fähigkeiten besaß.„Würdest du dir manchmal wünschen, du hättest eine Gabe?“, fragte ich nach kurzem Zögern vorsichtig.„Wünschst du dir das?“, stellte sie die Gegenfrage, während sie Nudelwasser aufsetzte.Ich zuckte mit den Achseln. „Ich weiß nicht. Ich weiß ja nicht, was es so gibt.“Nayeli lachte leicht. „Man kann sich leider nicht aussuchen, welche Gabe man haben möchte. Bei Menschen, die zum Vampir werden, kann sich eine bereits früher vorhandene Neigung oder Begabung stärker zeigen, nachdem sie gebissen wurden. Bei Halbvampiren können sich Talente vererben. Dennoch ist kein Talent je doppelt vorgekommen, weil die meisten Kopfsache sind und jeder Kopf ein wenig anders funktioniert, denkt oder fühlt.

Renesmee zum Beispiel kann dir zeigen, was sie denkt, indem sie dir ihre Hand ans Gesicht legt. Luna kann dir dagegen zeigen, was eine dritte Person denkt, indem sie euch beide berührt. Am Anfang fanden das alle wohl noch großartig, besonders bei schönen Erinnerungen war das ganz toll. Bis sich herausgestellt hat, dass sie gleichsam auch starke Schmerzen verursachen kann, wenn sie auf traurige oder gefährliche Erinnerungen zugreift. Das Schlimmste dabei ist, dass sie es nicht kontrollieren kann. Sie wird von den stärksten Erinnerungen angezogen und kommt kaum von ihnen los. Leider neigt fast jeder dazu, sich an negativem eher festzuhalten, als an positivem, weswegen die Erinnerungen, die sie am meisten anziehen, meistens die Schmerzhaftesten sind. Sie selbst spürt nichts davon und da sie währenddessen die Augen schließen und sich ganz darauf konzentrieren muss, sieht und hört sie auch nicht, wie man leidet. Das Ende vom Lied ist das, was du heute gesehen hast. So gesehen bin ich eigentlich ganz glücklich darüber, kein Talent zu haben. Ich kann niemandem eine Freude damit bereiten oder das Wetter vorhersagen, aber ich kann auch niemandem wehtun.“Ich nickte gedankenverloren. Auf die Art hatte ich es noch gar nicht betrachtet. Während ich Nayeli beim Kochen beobachtete, spürte ich nach und nach ein immer stärker werdendes Pochen in meinem Kopf und stand vorsichtig auf. „Gleich wieder da“, entschuldigte ich mich und ging ins Wohnzimmer, wo ich Edward vermutete. In der Tat saß er dort und las ein Buch, dessen Titel ich aufgrund meiner Kopfschmerzen kaum lesen konnte. Als er mich bemerkte, sah er von seiner Lektüre auf. Zunächst war sein Blick noch neutral, dann sah ich die Besorgnis darin – im nächsten Augenblick stand er dann plötzlich neben mir und fing mich auf, noch bevor ich überhaupt realisiert hatte, dass ich im Begriff gewesen war, zu fallen. „Billy!“, rief er und hob mich auf den Arm. „Edward!“, hörte ich Bella rufen, dann stand auch sie plötzlich da. „Was ist passiert?“ „Nur ein kleiner Schwächeanfall“, sagte er und legte mich aufs Sofa. „Liebste, holst du bitte ein Glas Wasser und etwas Schokolade?“ „Schokolade?“ fragte ich und zog eine Augenbraue hoch. Bella ging trotzdem. „Es ist, wie ich sagte, Luna muss ihre Gabe mit Bedacht einsetzen. Auf den ersten Blick ist sie harmlos, sie kann aber auch gefährlich werden.“ Besonders für jemandem mit leerem Magen, fügte ich gedanklich hinzu.„Du hast den ganzen Tag noch nichts gegessen?“, fragte er. „Hätte ich gewusst, was heute alles auf mich zukommen würde, hätte ich das Croissant sicher nicht verschmäht“, scherzte ich.Edwards Mundwinkel zuckten leicht. „Okay, jetzt isst du erstmal etwas und dann bringe ich dich nach Hause.“„Nein!“, schrie ich fast und griff reflexartig nach seinem Arm, als er sich erheben wollte. „Nein“, wiederholte ich dann leise, nun da er mich anstarrte. „Nein, ich will gern hier übernachten meine ich... ich... Mum macht sich sicher Sorgen, wenn ich so fertig nach Hause komme.“„Du hast Angst, dass sie dir zukünftig den Umgang mit uns verbietet?“ Ich nickte verhalten. Welchen Wert würde es haben bei jemandem zu lügen, der die eigenen Gedanken lesen konnte?„Das wird nicht passieren“, sagte Edward. - „Wer war nochmal das mit den Zukunftsvisionen?“ Edward lachte. „Alice, meine Schwester, aber ich brauche sie nicht, um dir das zu sagen.“ - „Warum?“

„Leah weiß, dass wir keine braven Lämmer sind, aber sie weiß auch, dass wir nur dein Bestes wollen und dass du hier in guten Händen bist.“„Ich würde trotzdem gern hier bleiben“, sagte ich.„Okay“, antwortete er. „Wir haben allerdings, aufgrund fehlender Schlafender in diesem Haus bisher einen Mangel an Betten und die, die wir vor einigen Tagen herschicken ließen, sind genau abgezählt.“- „Macht nichts. Diese Couch hier ist bequemer als mein eigenes Bett und war ganz bestimmt auch zwanzig Mal teurer.“ Edward lachte erneut. „Dann wäre das ja geklärt.“***

Am nächsten Morgen wachte ich nach einem traumlosen Schlaf auf, als hätte die Couch auf mir gelegen, anstatt ich auf ihr. Mein Kopf pochte noch immer leicht und es fiel mir schwer, mich an den Vorabend zu erinnern. Was hatte Nayeli noch gleich gekocht? Irgendwas mit Nudeln?Ich gähnte, streckte mich verschlafen und rieb mir den brummenden Schädel. Als ich im nächsten Moment polternde Schritte und Stimmen im ersten Stock hörte, war ich jedoch schlagartig wach und sah neugierig Richtung Treppe.Zu meiner großen Verwunderung war der Erste, den ich an diesem Morgen sah, derjenige, den ich in einem der Zimmer über mir wähnte: Anthony, bei dem ich davon ausgegangen war, dass ihn der gestrige Tag noch mehr mitgenommen haben musste, als mich. Gleich gekleidet wie am Vortag und mit zerzaustem Haar, stand er plötzlich mitten im Wohnzimmer und starrte mich mindestens so überrascht an, wie ich ihn wohl gerade anstarrte. Dass Jake direkt hinter ihm zeternd die Stufen herunterkam, schien ihn nicht weiter zu interessieren. „Sei doch bitte ein einziges Mal in deinem Leben vernünftig und hör-“ Jacob stoppte mitten im Satz, als er realisierte, dass sein Sohn ihm gar nicht zuhörte. Er selbst schien jedoch nicht minder überrascht darüber zu sein, dass ich die Nacht hier verbracht hatte. Im Augenwinkel sah ich weitere Familienmitglieder, die Treppe hinab kommen, dann jedoch auf den einzelnen Stufen stehen bleiben, darunter Luna, Sangreal, Mariella und Renesmee.„Billy?“, fragte Anthony schließlich. Jacob begann mit dem Kopf zu schütteln. „Ani, nein“, sagte er dabei und sah ihn mit großen, dunklen Augen an. Mein Onkel drehte sich ruckartig um. „Wo ist das Problem? Es sind fünf Minuten, dann ist es vorbei.“„Fünf unnötige Minuten“, erwiderte Jacob.„Für dich vielleicht, für sie ganz bestimmt nicht“, konterte Anthony und gestikulierte dabei kurz in meine Richtung, ohne mich jedoch dabei anzusehen. „Ani, du weißt nicht, was passiert ist. Es könnte ein Traum gewesen sein, Halluzinationen, zu wenig Luft im Gehirn... du warst mehr Tod als lebendig.“- „Es ist egal, was es war. Für mich war es real.“„Wenn sie von Will träumt, ist es für sie sicher genauso real.“- „Das war realer, als ein Traum es jemals hätte sein können.“

Ich hatte keine Ahnung, worum es hier eigentlich ging, doch da es um meinen Vater zu gehen schien, hörte ich aufmerksam zu.„Es ist trotzdem nicht real genug gewesen, um eine echte Erinnerung zu sein. Man kann nicht mit Toten sprechen.“ Jacob sah ihn eindringlich an und hatte dabei eine Traurigkeit in den Augen, wie ich sie bei ihm bisher noch nie gesehen hatte. Bis dato war er immer mein lustiger Großvater gewesen. Immer mit einem tollen Spruch auf den Lippen und einem Grinsen im Gesicht. Mein Herz begann schlagartig etwas schneller zu schlagen. „Du hast mit Dad geredet?“, platzte es aus mir heraus. Dass das eigentlich unmöglich und Jacobs Skepsis berechtigt war, blendete ich aus. Wenn es um Dad ging fiel bei mir jede Logik über Bord. Anthony drehte sich zu mir um. „Ja.“„Nein“, sagte Jacob, was meinen Onkel dazu brachte, sich wieder ihm zuzuwenden – mit ziemlich finsterem Blick. „Warst du dabei?“, fragte er unter zusammengebissenen Zähnen. Ich spürte förmlich, wie sich die Atmosphäre im Raum änderte; wie sich alles auflud. Das kam nun schon eher deren Umgang miteinander, wie ich es in Anthonys alten Erinnerungen gesehen hatte, näher. „Ja. Ich sah dich sterben, auf dieser Wolldecke und in Emmetts Arm, bevor Catriona kam“, antwortete Jacob traurig.Mehrere Sekunden lang taxierten sie einander stumm mit Blicken. „Lass mich es ihr zeigen“, sagte Anthony dann derart ruhig, dass es mich in dieser angespannten Situation überraschte. Offensichtlich war er nicht scharf darauf, in alte Muster zurückzufallen. „Nein.“ Jacob schüttelte mit feuchten Augen den Kopf.- „Da war kein Schmerz.“„Du wärst fast gestorben.“- „Das spielt keine Rolle. Ich erinnere mich nicht daran, währenddessen Schmerzen gehabt zu haben. Luna kann nur wiedergeben, woran ich mich erinnere. Gib ihr eine Person mit Gedächtnisverlust und sie wird nichts sehen.“„Das weißt du nicht.“ Jacob blieb bei seinem Standpunkt. „Doch das tue ich.“ Anthony ebenso. „Ich kenne meine Tochter.“Jacob seufzte und rieb sich die Stirn. „Und ich meinen Sohn. Du wirst nicht nachgeben.“„Nein“, sagte Anthony und lächelte dabei leicht. Jacob tat es ihm gleich. Dann wand mein Onkel den Blick Richtung Treppe und richtete seine Augen auf meine Cousine. „Luna“, sagte er sanft, woraufhin diese nickte und sich zögernd in Bewegung setzte, um zu ihm hinunter zu kommen. Ich hatte keine Ahnung, wie ich nun reagieren sollte, also schob ich einfach mal die dünne Decke beiseite, die noch immer meine Beine bedeckt hatte und setzte mich, die Füße auf dem Boden, mit geradem Rücken aufs Sofa. Gespannt auf das, was nun kommen würde, folgten meine Augen Luna, die sich neben mich setzte. Sie sah fast so traurig aus wie Jacob wenige Minuten zuvor. Ihr Vater kam zu uns, kniete sich vor ihr auf den Boden und nahm ihr Gesicht in seine Hände. „Hey, du kannst das“, sprach er ihr Mut zu. „Mach dir keine Sorgen. Es wird alles gut.“„Das hast du letztes Mal auch gesagt“, erinnerte sie ihn.Seine Mundwinkel hoben sich zur Antwort, ein Kommentar sparte er sich jedoch dazu, sah stattdessen mich an. „Bereit?“ „Ich denke schon“, antwortete ich unsicher. In Wahrheit schlug mir das Herz bis zum Hals, aber ich bezweifelte, dass das irgendjemandem hier im Raum entging. Ihren Ohren waren einfach zu gut. Mein Onkel ließ sich dennoch nicht von seinem Vorhaben abbringen, er nickte Luna zu, woraufhin diese wieder je eine Hand auf unsere Wangen legte. Ein paar Atemzüge lang geschah nichts, dann zog mich ihr Sog erneut in die Anthonys Erinnerungen. Als ich meine Augen aufschlug, befand ich mich in der Auffahrt eines in Nebel gehüllten Anwesens. Vor mir stand ein Auto mit laufendem Motor. Zögerlich ging ich um den Wagen herum und sah, dass Anthony darin saß. Er schaltete den Motor aus und lehnte sich im Fahrersitz zurück. Dann fiel sein Blick offenbar in seinen Rückspiegel, woraufhin er sich plötzlich umdrehte. Als er dann aus dem Wagen stieg, ging ich reflexartig einen Schritt zurück, um nicht von der Autotür erwischt zu werden und folgte dann seinem Blick. In der Ferne sah ich im Nebel die Gestalt eines Menschen. Ziemlich undeutlich und verschwommen stand er da, umringt von Nebelschwaden, die sich nach und nach lichteten, bis sowohl Anthony, als auch ich meinen Vater darin erkannten.

Mein Onkel rannte an mir vorbei, um ihn stürmisch zu umarmen. Ich hatte mal im Internet ein Video über Soldaten, die nach Hause zurückgekehrt waren und von ihren Familien begrüßt wurden, gesehen. Das hier kam dem ziemlich nah. Anthony schien ihn gar nicht mehr loslassen zu wollen, aus Angst er würde sich in Luft auflösen, so wie es der Nebel um uns herum gerade tat. „Ich dachte du wärst tot“, sagte er, als er sich für einen Augenblick von ihm löste, nur um ihn anschließend erneut zu umarmen.„Alles ist gut“, sagte mein Vater sanft lächelnd. „Sagst du das, weil ich will, dass du es sagst? Wiederholst du meine Worte, weil du nur einer meiner Gedanken bist?“, fragte Anthony ungläubig.Dad schüttelte den Kopf. „Das fragst du mich? Wann, das frage ich dich, hast du jemals auf das gehört, was ich dir gesagt habe?“ „Nicht sonderlich oft...“, gab Anthony kleinlaut zu und fügte hinzu: „Leider.“„Nicht doch.“ Dad legte seine Hand auf die Schulter seines Bruders. „Ich sagte dir doch, du sollst dir keine Schuld geben.“ Als Anthony darauf nicht reagierte und ihn einfach nur ansah, beugte er sich langsam vor und legte seine Stirn an Anthonys.„Ich hab dich vermisst“, flüsterte dieser. „Ich habe dich auch vermisst, Kleiner. Euch alle.“ Zögerlich ließen sie einander los.„Warum hast du mir keine letzten Worte für Leah mitgegeben? Warum hast du sie für mich verschwendet?!“, brach es dann aus Anthony heraus.„Ich war deinetwegen nach Volterra gekommen“, antwortete Dad. „Mach dir darüber bitte keine Gedanken, Kleiner. Keine Worte der Welt hätten Leah sagen können, was ich für sie empfinde und wie sehr ich es bedauere, sie allein lassen zu müssen. Aber sie kannte mein Herz so gut, wie sonst niemand auf der Welt. Wir teilten uns praktisch eines. Alles, was sie sich wünschte, das ich ihr gesagt hätte, hätte ich ihr genauso gesagt.“„Du hast eine kleine Tochter.“ Als Anthony mich erwähnte, machte mein Herz einen Hüpfer. Gespannt hing ich an Dads Lippen. Gleich, gleich würde er etwas über mich sagen. Es ging um mich! „Ich weiß und darüber freue ich mich sehr, auch wenn sie ihren Daddy leider nicht kennenlernen kann.“ Meine Augen wurden schlagartig ganz heiß und füllten sich mit Tränen. Keine Sekunde konnte ich sie zurückhalten, da quollen sie mir schon aus den Augen und liefen mir übers Gesicht.

Andere Mädchen wünschten sich Ponys, einen Prinzen auf einem weißen Schimmel und später Geld, tolle Klamotten und einen gut aussehenden Freund. Ich dagegen hatte mir immer nur meinen Dad gewünscht. Mit ihm reden zu können, ihn berühren zu können. Ein aufmunterndes Wort vor einer Schularbeit, eine zärtliche Umarmung vor dem Schlafengehen, mehr nicht.

Dad wusste es. Er wusste, ich würde ihn nie sehen. Wusste er auch, wie sehr ich mir jeden Tag wünschte, er wäre bei mir? Wusste er, dass ich sein Bild in meinem Geldbeutel trug und unter meinem Kissen. Beobachtete er mich, wenn ich an seinem Grab saß? Mir war es egal, was das hier war. Traum, Halluzination, Realität. Ich vergaß Jacobs Worte und ging mit tränennassem Gesicht auf meinen Vater zu. Ich streckte die Hand nach ihm aus. Ich wollte ihn berühren, seine Haut spüren. War sie wärmer als meine? Oder vielleicht kälter? Wenige Zentimeter bevor ich antworten auf meine Fragen kriegen konnte, blockierte mich etwas. Ich konnte meinen Arm nicht weiter strecken. Ich konnte ihn nicht anfassen. Es war als umschloss ihn eine Art unsichtbare Sphäre. „Daddy!“, rief ich verzweifelt in der Hoffnung er würde sich zu mir umdrehen. Doch er nahm keinerlei Notiz von mir. Sein Blick war stur auf seinen Bruder gerichtet.

„Leah wird sie zu einer starken, selbstbewussten, hübschen, jungen Frau erziehen, da bin ich mir sicher“, sagte er zu ihm.„Nein“, murmelte ich. „Ich bin nicht stark... nicht stark genug. Dad, ich vermisse dich!“, rief ich ihm entgegen. „Dad, bitte sieh mich an. Dad!“Immernoch keine Reaktion. Sowohl Anthony als auch mein Vater setzten ihre Unterhaltung unbeirrt fort. „DAD!“, brüllte ich noch verzweifelter.

„Billy!“, hörte ich dann eine Stimme rufen. Obwohl es zweifellos ein Schrei war, klang er sehr weit weg. „Billy, komm zu dir! Mach die Augen auf!“

Langsam kam die Stimme näher.

„Billy!“Dann war sie schließlich klar und deutlich – und mit ihr kam der Sog. Plötzlich spürte ich etwas nasses auf meiner Stirn. Im selben Moment, in dem ich meine Lider öffnete, setzte ich mich ruckartig auf, ohne vorher bemerkt zu haben, dass ich überhaupt gelegen hatte. Unsicher sah ich mich um. Ich war noch immer im Wohnzimmer, lag jedoch auf dem Fußboden. Ausnahmslos jeder, der in diesem Haus wohnte, saß in meiner unmittelbaren Nähe, ob nun mit mir auf dem Boden oder auf der Couch. Mir am nächsten saßen Anthony, Luna, Jake und Seth. Sie alle hatten ihre besorgten Blicke gemein. „Was ist passiert?“, fragte ich, als mir der nasse Lappen von der Stirn rutschte und in meinen Schoß plumpste. „Zuerst...“, begann Onkel Seth langsam. „Hast du angefangen zu weinen, dann hast du plötzlich gezittert und kurz darauf hast du geschrien.“ „Du hast dich an Luna festgehalten wie ein Saugnapf. Nachdem wir dich von ihr losbekommen hatten, bist du weggetreten“, sagte Jacob. „Wie lange?“, fragte ich und hob den Lappen auf.- „Nicht lang. Nur ein paar Minuten.“Ich sah von Jake langsam hinüber zu Anthony. Er war der Einzige in diesem Raum, der mich nicht ansah. Er hatte den Blick gesenkt und die Lider fast geschlossen. Die Art wie er mit gekrümmtem Rücken da saß, ließ für mich nur einen Entschluss zu: es tat ihm Leid, dass er mir diese Erinnerung gezeigt hat, obwohl Jacob ihm geraten hatte, es nicht zu tun. Ich horchte in mein Inneres. Nein... es musste ihm nicht leid tun. Natürlich, es hatte wehgetan, sehr sogar. Ich hatte – mal wieder – Tränen vergossen. Dennoch, es war für mich die einzige Möglichkeit gewesen, zu erleben, wie mein Vater über mich sprach und zwar so, als stünde ich direkt daneben. Das war für mich unbezahlbar und gleichzeitig jede meiner Tränen wert. Und dafür war ich ihm unglaublich dankbar. Aber ich wusste nicht, wie ich ihm das sagen sollte, also entschloss ich mich, ihm stattdessen etwas anderes zu sagen, was mir auf dem Herzen lag, was jedoch sicherlich ebenso seit über einem Jahrzehnt auf seinem gelegen hatte. „An... Ani“, zögerlich benutzte ich seinen Kosenamen. Es war das erste Mal, das ich das tat, aber Dad hatte ihn benutzt, daher fühlte es sich für mich richtig an, es ebenfalls zu tun. Nur wer ihm wirklich nahe stand, nannte ihn so und nach allem, was ich in den letzten Stunden gesehen hatte, fühlte ich mich ihm näher, als den meisten anderen Menschen auf dieser Welt. Unsicher hob er den Blick langsam und sah mich an. Tränen sah ich in seinen Augen keine, trotzdem strahlten sie eine gewisse Traurigkeit aus. Es war kaum zu beschreiben. „Es tut mir Leid, was ich gestern früh gesagt habe. Es war nicht richtig von mir, dir diese Dinge vorzuwerfen. Ich weiß jetzt, was wirklich passiert ist und dafür bin ich dir, und auch Luna, sehr dankbar. Da waren so viele Fragen in all den Jahren, auf die man mir nie eine Antwort gab und ihr habt mir, ohne zu zögern, alles beantwortet, was ihr beantworten konntet. Danke.“Ein zartes Lächeln seinerseits war meine Antwort. Leider hielt es jedoch nicht lange an. „Was ist?“, fragte Luna besorgt, der dies ebenfalls nicht entgangen war. Kurz sah er sie an, dann richtete er seine Antwort jedoch an mich. „Ich danke dir, Billy, aber deine Vergebung ist nicht die Einzige, die mir noch fehlt.“ Ich verstand sofort. „Madeleine und Harry“, hauchte ich. Er nickte.

 

***

 

Bis zum Nachmittag ruhte ich mich noch im Haus meiner Verwandten aus. Mum und meine Geschwister würden sowieso nicht eher Zuhause anzutreffen sein. Die ganze Zeit über dachte ich darüber nach, wie Harry und Madeleine das neue Wissen um die Umstände, unter denen Dad starb, aufnehmen würden. Gestern erst, hatte ich meinen Onkel für den Tod meines Vaters verantwortlich gemacht, heute hoffte ich, dass meine Geschwister eben genau das nicht tun würden.Kurz vor Sechs, wenige Minuten bevor wir aufbrechen wollten, verließ ich gerade das Badezimmer im ersten Stock, blieb jedoch im Türrahmen stehen, als ich Anthony und Sangreal an der Treppe ins Erdgeschoss stehen sah. „Du schaffst das schon“, hörte ich Letztere gerade noch sagen. Sie sah mit einem zarten Lächeln auf den Lippen zu ihm empor. Zur Antwort beugte er sich zu ihr hinab und küsste sie. Er fuhr dabei mit den Fingern einer Hand durch ihr langes braunes Haar, während die Andere an ihrer Hüfte ruhte. Ich spürte förmlich, wie meine Wangen rot wurden und eigentlich hätte ich sofort einen Schritt zurück gemacht und ihnen ihre Privatsphäre gelassen, doch die beiden sahen zusammen derart perfekt aus, dass ich einfach nicht weg schauen konnte. Was ich allerdings nicht bedacht hatte war, dass die Sinne meines Onkels bei weitem zu gut waren, als das er mich nicht bemerkt hätte. Noch während des Kusses sah ich, wie er langsam zu lächeln begann, weswegen sich Sangreal von ihm löste. „Hey Billy“, sagte er dann, ohne jedoch die Augen von ihr abzuwenden.Ertappt wie ich mich fühlte, stand ich plötzlich kerzengerade da. „Ähm, ja?“„Können wir?“, fragte er und sah mich nun auch an. Ich nickte zügig, woraufhin er schließlich mit mir zum Auto ging, wo Luna bereits wartete.

 

 

***Meinen Geschwistern zu erzählen, was damals passiert war, war weniger interaktiv, als es bei mir der Fall gewesen war. Es war unmöglich Luna noch einmal dazu zu bringen, irgendjemandem diese Erinnerung zu zeigen. Zu groß war ihre Angst, ihrem Vater noch einmal weh zu tun. Anthony wünschte sich natürlich, Madeleine und Harry dieselben Möglichkeiten zu geben, wie ich sie bekommen hatte und wahrscheinlich erhoffte er sich durch die Visualisierung auch eher sie erreichen zu können, als wenn er es ihnen nur erzählte.

Hilfe bekam er aber dieses Mal von einer anderen Seite: Mum war anwesend, als wir am Nachmittag in der Küche saßen und über die Geschehnisse von vor vierzehn Jahren sprachen. Nachdem ich mit Anthony und Luna nach Hause gefahren war, war ich Mum erst mal um den Hals gefallen. Ich war ihr nicht böse, weil sie mir nichts gesagt hatte, denn ich verstand ihre Beweggründe. Im Gegenteil, ich war sogar froh darüber. Hätte sie es mir einfach so erzählt, ich weiß nicht, was ich getan hätte. Meine Schwester und mein Bruder jedoch, gingen ziemlich souverän mit dem um, was man ihnen erzählte. Auch ohne die Hilfe der Gabe seiner Tochter, versuchte mein Onkel so ausführlich wie nur möglich zu erzählen. Beginnend von seinem, Tante Mariellas und Dads Geburtstag bis hin zu dem Moment, an dem er vor seinem Grab gesessen hatte. Nichts davon ließ er aus. Lediglich alles was danach kam, verschwieg er. Er beließ es dabei ihnen zu sagen, wie leid es ihm getan hatte und ihnen zu versichern, dass Dads Mörder tot war, verlor jedoch weder ein Wort darüber, dass dieser ihn zuvor vergiftet, noch darüber, dass er noch einmal mit Dad gesprochen hatte. Diese Erinnerung war allein mir vorbehalten und sorgte dafür, dass mir etwas warm ums Herz wurde. Es war, als hätte er mir damit etwas ganz besonderes geschenkt, etwas einzigartiges.

Nachdem er geendet hatte, sagten meine Geschwister eine Weile gar nichts, dann begann Harry dezent zu nicken. „Ich verstehe“, sagte er leise und hob den Blick, um unseren Onkel anzusehen. Das war allerdings noch nicht ganz das, was Anthony hören wollte und so blieb sein Blick unverändert erwartungsvoll, bis auch meine Schwester endlich Worte fand.„Danke.“ Ihre Stimme war kaum lauter als die unseres Bruders. „Für die Wahrheit. Ich habe mir immer gedacht, dass da mehr dahinter steckte, als das was man uns sagte, aber ich kann verstehen, warum Mum es uns verschwiegen hatte.“Anthony sah noch immer verunsichert aus. Mum lächelte leicht, obwohl ihre Augen feucht waren. „Hör auf so zu schauen“, tadelte sie ihn. „Du hast es geschafft. Du hast es ihnen gesagt. Das hast du dir doch immer gewünscht.“„Wirklich?“ Madeleine sah verwundert drein. „Warum hast du das so lange mit dir rumgeschleppt?“Anthony zuckte mit den Achseln. „Vielleicht habe ich auf den richtigen Moment gewartet...“Madeleine schüttelte den Kopf. „Ich denke nicht, dass es den tatsächlich gibt.“„Wahrscheinlich nicht“, stimmte er zu. Ich spürte mit einem Mal den inneren Drang zu Dads Grab zu gehen und stand ruckartig auf, wodurch sich mein Stuhl mit einem schleifenden Geräusch nach hinten schob. „Mum, ich muss nochmal los“, rief ich aufgebracht.„Was?“, fragte sie verdutzt. Anthony und Luna standen nun ebenfalls auf. „Wir gehen dann auch mal, Leah.“ „Alles klar“, antwortete sie dann und begleitete uns alle zur Tür. Wir standen gerade am Treppenabsatz, da hörte ich wie jemand meine Mutter beim Nachnamen rief und drehte mich suchend um. In etwa drei Metern Entfernung kam eine blonde Frau auf uns zu.„Mrs. Black-Cullen, Mrs. Black-Cullen!“, rief sie weiter winkend und kam mit schnellen Schritten auf uns zu. Meine Mutter sah überrascht auf ihre Armbanduhr. „Oh, das hatte ich ja fast vergessen. Moment, ich hole die Unterlagen.“ Nachdem sie im Haus verschwunden war, stellte sich die Besucherin vor.„Hey, du musst Maddis kleine Schwester sein“, begrüßte sie mich und reichte mir die Hand. „Mein Name ist Helena. Ich bin Referendarin aus Deutschland und mache hier mein Auslandsjahr. Ich habe deine Schwester im Internet kennengelernt und dann haben wir festgestellt, dass die Schule, an der ich momentan unterrichte, gar nicht so weit von der ist, an der sie lernt. Und nachdem sie mir erzählt hat, wo und wie ihr so lebt, dachte ich mir, dass es vielleicht eine tolle Idee die Quileute und ihr Reservat mal im Unterricht in der Forks Middle School vorzustellen. Anscheinend besteht da noch ordentlich Wissensbedarf, obwohl La Push so nah ist.“ „Das wäre wenigstens mal Lernstoff, bei dem ich sofort mitreden kann“, scherzte ich. Sie lachte mit mir. Irgendwie hoffte ich, dass ich sie wirklich bald mal in einem Fach haben würde. Nicht, weil der Stoff es mir dann einfach machte, sondern weil sie nett war. Ihre langen blonden Haare fielen ihr leicht gelockt über die Schultern, während sie lachte. Es wäre sehr erfrischend mal eine so junge Lehrkraft zu haben, denn älter als Mitte Zwanzig schätzte ich sie nicht.

„Dad?“ Lunas Stimme erinnerte mich daran, dass die beiden ja auch noch da waren. Als ich mich umdrehte, sah ich Luna am Shirt ihres Vaters zupfen und zu ihm hochschauen, während er unsere neue Bekanntschaft anstarrte. “Wollen wir dann, Dad?“, fragte Luna erneut, wurde jedoch weiter ignoriert. „Achso“, sagte ich dann zu Helena. „Das sind mein Onkel Anthony und meine Cousine Luna.“ Keine fünf Sekunden später hätte ich mir dann am liebsten selbst eine für das gescheuert, was ich eben gesagt hatte. So jung, wie Anthony aussah, wäre er ja mit kaum mehr als zehn Jahren Vater geworden. Anthony sagte jedoch nichts dazu, also ging ich davon aus, dass es ihm nichts ausgemacht hatte und hoffte einfach, dass Helena nicht weiter darüber nachdachte. In der Tat war ein freundliches „Hallo“ alles, was sie dazu zu sagen hatte. „So“, hörte ich dann Mum, die gerade wieder aus dem Haus trat und Helena einen kleinen Stapel Papiere gab. „Bitteschön.“ „Vielen lieben Dank“, sagte Helena und nahm die Schriftstücke entgegen. „Ich muss dann auch gleich weiter. Auf Wiedersehen Mrs. Black-Cullen und vielleicht sehen wir uns ja in der Schule.“ Sie zwinkerte mir noch einmal zu, drehte sich um und ging.

„Gut, ich geh dann auch mal“, verabschiedete ich mich daraufhin und machte mich in die ihr entgegengesetzte Richtung auf zum Friedhof.

Romeo und Julia

Dafür, dass ich gerade in Forks auf einem Parkplatz stand, schien die Morgensonne erstaunlich kräftig. Ob das nun ein gutes Omen für Lunas ersten Schultag an der Forks Middle war? Ich wusste zumindest, dass sie nicht im Sonnenlicht funkelte, wie es Vampire eigentlich taten. Problematisch dürfte die Sonne also nicht für sie sein.

Während ich auf einer kleinen Steinmauer saß, um auf ihr Eintreffen zu warten, spürte ich ein Kribbeln an der Hand und stellte fest, dass sich ein kleiner Käfer gerade dazu entschlossen hatte, über eben diese zu laufen. Ich war zwar nicht so der Naturfan wie meine Schwester, trotzdem war es nicht meine Art Tiere umzubringen – selbst dann nicht, wenn sie mehr als vier Beine hatten. Also ließ ich das Käferchen wieder zurück auf den Stein laufen, wo ich nun auch einige Artgenossen bemerkte und lieber aufstand. Ganz so tierlieb war ich dann doch nicht, dass ich zwischen Krabbeltieren sitzen bleiben wollte.

Luna ließ sich scheinbar Zeit, also beobachtete ich eben weiter das Treiben auf der Steinmauer. Besonders ins Auge fielen mir dabei die relativ zahlreichen Pärchen, die sich Hintern an Hintern fortbewegten, schätzungsweise sie vorwärts, er rückwärts. Ich stellte es mir ziemlich frustrierend vor, derart durch die Gegend geschleift zu werden. Vielleicht war der Kerl aber auch froh, dass er nicht selbst entscheiden musste, wo es als Nächstes hinging. Verwirrt über meine eigenen Gedanken schüttelte ich den Kopf. Worüber dachte ich da eigentlich nach?

Plötzlich vernahm ich ein ziemlich auffälliges Motorengeräusch in der Ferne. Kurz darauf hielt Anthonys schwarzer BMW einen Meter vor mir und beide Insassen stiegen aus. Lunas Begeisterung über ihren ersten Schultag schien sich, ihrem Blick nach zu urteilen, in Grenzen zu halten.„Da wären wir“, sagte ihr Vater. „Guten Morgen, Billy.“ „Hey“, begrüßte ich die beiden. „Ich hole euch nach dem Unterricht wieder ab“, sagte Anthony.„Okay“, antworteten wir, wie aus einem Munde. „Aber nicht vergessen-“, setzte er erneut an, wurde jedoch von seiner Tochter unterbrochen.„Wenn jemand uns zusammen sieht und fragt. Du bist mein älterer Bruder. Ich weiß. Es reicht, wenn du es mir einmal sagst. Ich bin nicht so vergesslich wie wahrscheinlich Neunundneunzig Prozent der Leute in diesem Gebäude.“ Ich nahm einfach mal an, dass ich dieses eine Prozent sein sollte und buchte es als Kompliment ab.„Achtundneunzig“, korrigierte Ani. „Wenn man davon ausgeht, dass ein Vampir für Billys Verwandlung verantwortlich war.“„Na, deswegen bin ich ja da“, sagte Luna nun etwas erheiterter. Sie schien ihre Mission sehr ernst zu nehmen und froh darüber zu sein, sie anvertraut bekommen zu haben. „Etwas Neues lerne ich hier nämlich bestimmt nicht.“„Das würde ich so nicht sagen“, erwiderte ihr Vater, mit eine kaum merklichen, schelmischen Grinsen auf den Lippen. „Versuch aber in jedem Fall möglichst unauffällig zu bleiben.“Luna zeigte sich davon relativ unbeeindruckt. „Wollen wir?“Ich nickte, winkte meinem Onkel noch einmal zu und betrat dann mit ihr gemeinsam das Schulgebäude.

Die vielen Schüler, die sich hier vor Unterrichtsbeginn in den Gängen tummelten, schienen sie nicht nervös zu machen. Vielleicht war sie aber auch ganz einfach gut darin, ihre Nervosität zu verbergen.

Auch als wir später im Klassenraum waren und ich sie der Klasse als meine Cousine aus Alaska vorstellte, deren Familie kurzfristig hier herziehen musste, verhielt sie sich absolut souverän. Mit einem leichten Lächeln auf den Lippen, folgte sie mir zu meinem Platz und setzte sich auf einen freien Stuhl neben mir. Als ich mich, kaum dass ich saß, im Raum umsah, wurde ich zum ersten Mal Zeuge der Faszination, die Vampire – oder in ihrem Fall Halbvampire – auf Menschen hatten. Alle Blicke lagen auf ihr, einige fragend, viele bewundernd, manche der Jungs wirkten regelrecht benebelt. In mir kam eine Mischung aus Stolz und Eifersucht hoch. Ich wusste, dass ich zwar auch vampirische Gene hatte, diese kamen bei mir aber offenkundig in keinster Weise zum Vorschein. Luna dagegen war hübsch, elegant und hatte etwas Unnahbares an sich, das ich nicht wirklich beschreiben konnte.Auch meine besten Freunde Phoebe, Ann und Liz konnten ihre Blicke kaum von ihr lösen. Mir kamen Anthonys Worte in den Sinn. „Versuch aber in jedem Fall möglichst unauffällig zu bleiben.“ Ja. Klar. Natürlich. Nichts einfacher als das.Meine Cousine hingegen, ignorierte die auf sie gerichteten Blicke und widmete sich lieber den Schulutensilien, die ich aus meiner Tasche zog und auf dem Tisch platzierte. „Was ist das?“, fragte sie und nahm sich den dicken Wälzer zu meiner Linken. Auf dem Cover war das Gesicht einer Frau mit einem auffälligen, hellen Kreis in der Iris abgebildet.„Ach“, antwortete ich, während ich meine Stifte rauszog. „Das ist so ein altes Buch, das wir schon seit Wochen durchnehmen. Geht um eine Zukunft, in der die Körper der Menschen von Aliens eingenommen werden.“„Aha“, meinte Luna dann etwas gelangweilt und begutachtete das Cover. „Hat ja interessante Ideen, diese... Stephenie Meyer.“Nach dem ersten Gong befürchtete ich bereits, dass wir gleich von einer Menschentraube umringt sein würden, doch zu meiner Erleichterung beließen es die meisten Schüler bei Blicken. Lediglich meine Freundinnen begannen in der Cafeteria damit, Luna auszufragen, doch diese spulte alle Antworten perfekt ab, die ihr ihre Familie zurechtgelegt hatte und ließ es dabei zu keiner Zeit geschauspielert wirken. Sogar ich nahm ihr ihre Worte beinahe ab. „Schönes Armband, sieht echt teuer aus.“ Das Kompliment kam natürlich von Liz. Sie war schon immer auf teure Sachen fixiert gewesen und schreckte nicht mal davor zurück, ihren Eltern die Kreditkarte zu entwenden. Da sie beide als Anwälte gut zu verdienen schienen, fiel ihnen, so Liz, nicht einmal auf, dass etwas fehlte. „Danke“, sagte Luna schlicht. Jetzt musterte selbst ich das funkelnde Armband, das ihr zartes Handgelenk schmückte. Also das mit dem Unauffälligsein musste sie noch kräftig üben. „Moment. Ist das von Tiffany?!“, erkannte Liz erstaunt. „Ja“, antwortete Luna. „Mein Dad ist Hirnchirurg. Der Beste in ganz Alaska. Er wurde für einen ganz besonderen Fall extra herbestellt und da wir nicht wissen, wie lange er hier bleiben wird, sind wir mit gekommen.“ „Ist ja der Hammer!“, kam es von Phoebe. Prompt schossen mir Bilder in den Kopf, in denen Anthony mit Mundschutz im Kopf irgendeines Menschen herumfummelte. Ob er das überhaupt konnte? Ich musste unweigerlich kurz daran denken, wie er dieses Mädchen in der Gasse getötet hatte. „Was ist das?“, fragte die Halbvampirin ein weiteres Mal und riss mich damit aus diesen schrecklichen Erinnerungen. Sie faltete verwundert den Flyer auf, der ihr eben von einem Kerl in die Hand gedrückt worden war. Ich kannte diese Flyer schon. Sie waren bereits ausgelegen bevor ich nach Alaska aufgebrochen war und zeigten ein altes, gezeichnetes Bild von Romeo und Julia. Sie auf dem Balkon und er an einer Ranke, den Arm zu ihr empor streckend. Jetzt hatten sie allerdings auf jeden Flyer einen Aufkleber mit zusätzlichen Infos geklebt:

„Sondervorsprechen für die Rolle der Julia. Mehr Infos siehe Aushang.“

 

„Ach das“, erklärte ich. „Das Mädchen, das die Rolle spielen sollte, hat sich wohl ein Bein gebrochen und jetzt suchen sie eine Neue.“„Autsch“, sagte Luna. „Na ja, Glück für die neue Julia. Gehen wir da hin?“ „Das ist heute Nachmittag.“ - „Ja, na und?“ „Ach“, sagte ich und kratzte mich am Kopf. „Ich weiß nicht.“ Eine Hälfte von mir wollte dort hin, die andere sträubte sich dagegen. Ann nahm es mir jedoch ab, meiner Cousine mein Verhalten zu erklären. „Sie ziert sich nur so, weil Adrian den Romeo spielt!“, plauderte sie prompt ein, für mich intimes, Geheimnis aus. „Wer ist denn Adrian?“Ich verdrehte die Augen und verschränkte trotzig die Arme vor der Brust.

„Ein Junge aus unserem Jahrgang. Sie steht schon seit Jahren auf ihn.“

Verdammt, Ann...„Ein Grund mehr, dahin zu gehen, oder nicht?“, fragte Luna dann. „Was? Nein, ich geh da nicht hin.“„Ach, komm schon.“ Hätte man mir vor einigen Tagen gesagt, dass Luna mich heute so herzallerliebst anblinzeln würde, hätte ich ihm den Vogel gezeigt. „Ich will mir das gerne ansehen.“„Nein“, versuchte ich dennoch standzuhalten.„Bitte?“, versuchte sie es dagegen mit dem Zauberwort, „Bitte, bitte?“ Drei Mal. Ich seufzte. „Meinetwegen.“ „Klasse!“, sagte sie und ließ den Flyer in ihrer Tasche verschwinden. Als ob davon nicht bald genügend überall herumliegen würden.Am Nachmittag saß ich dann gegen meinen Willen im Saal unserer Theatergruppe. Ich versuchte möglichst niemanden anzusehen, als die bereits gecasteten Schauspieler sich zur Bühne begaben. „Ist er das?“, fragte Luna bereits beim ersten Kerl, den sie zu Gesicht bekam. „Nein“, murmelte ich etwas angesäuert. „Ist er das?“, fragte sie dann beim Nächsten. „Nein“, sagte ich wieder. „Ist er das?“ Ich schlug mir die Hand gegen die Stirn. „Na, sag schon. Ist er das?“ Unglaublich, dass das dasselbe Mädchen war, das mir an meinem ersten Tag in Alaska kaum gegenüber sitzen konnte. Es war, als hätte ich es nun mit einer ganz anderen Person zu tun. Ob das hier die echte Luna war? Die Luna, die von ihrer Familie, insbesondere ihrem Vater, so abgöttisch geliebt wurde? Wahrscheinlich schon, denn es war mir schwer gefallen zu verstehen, warum sie sie mochten, obwohl sie augenscheinlich zickig und egoistisch sondergleichen war. Das Mädchen, das nun neben mir saß, hatte zwar noch immer einen äußerst starken Willen, aber auch eine Herzlichkeit, der ich mich kaum entziehen konnte. Ich konnte ihr nicht mal böse sein, obwohl sie mich nervte. Als ich die Hand aus dem Gesicht nahm, erkannte ich, dass der Kerl nach dem sie mich eben gefragt hatte, in der Tat Adrian Dallas war. Groß, mittellanges, schwarzes Haar und wunderschöne, hellblaue Augen. Liz hatte nicht übertrieben, als sie sagte, dass ich ihn schon seit Jahren anhimmelte. Ich hatte mir schon unzählige Male überlegt, wie es wohl war, seine Lippen zu küssen oder über seine Muskeln zu streicheln. Ich hatte mich aber nie getraut ihn nach seiner Handynummer zu fragen oder ihn gar um ein Date zu bitten. Es gab so viele Mädchen, die etwas von ihm wollten, warum sollte genau ich die Eine sein? Das war unmöglich.„Das ist er also“, sagte Luna, ohne dass ein Wort meine Lippen verlassen hatte. „Hey“, sagte ich und rückte etwas von ihr weg.„Was ist? Ich hab dich nicht berührt. Man braucht dich doch nur anzuschauen“, rechtfertigte sie sich.Daraufhin entspannte ich mich wieder und versuchte den Blick auf die Bühne zu richten, ohne mich dabei allein auf Adrian zu fokussieren. Die Kandidatinnen saßen in der ersten Reihe, darauf wartend, vorzusprechen. Die eine oder andere davon hätte ich mir als Julia durchaus vorstellen können, meistens verging das aber wieder, kaum dass sie den Mund aufmachten und ihr darstellerisches Können zeigten. Adrian dagegen, spielte seinen Part als wäre er ihm auf den Leib geschrieben worden.„Horch! Sie spricht. O, sprich noch einmal, holder Engel!“, flehte er zur fünfzehnten Julia noch immer so leidenschaftlich verliebt hinauf, wie zur allerersten. Julia Nummer fünfzehn stand allerdings derart zittrig auf dem Kulissenbalkon, aus Pappe, beklebt mit Backsteinfolie, als hätte sie Höhenangst. „O Romeo! Warum denn Romeo?“, krächzte sie zurück. „Verleugne deinen Vater, deinen Namen!

Willst du das nicht“, sie machte eine kurze Pause, um einen Blick auf ihren Spickzettel zu erhaschen, „Schwör’ dich zu meinem Liebsten, und ich bin länger keine Capu- Capulet!“ Romeo-Adrian ließ den Blick senken. Ob das nun zur Rolle gehörte oder ob er sich das nur nicht weiter mit anschauen konnte, wusste ich nicht. Natürlich kannte ich die tragische Liebesgeschichte von Romeo und Julia, aber den genauen Ablauf des Stückes wusste ich nicht.„Okay“, ergriff nun auch der Leiter der Theatergruppe, Mr. Hatcher, das Wort und machte der Vorstellung ein Ende, indem er auch die fünfzehnte Julia zurück auf ihren Platz bat. So richtig begeistert war er bei keiner gewesen und das entging selbstverständlich auch nicht meiner Cousine. „Warum versuchst du es nicht mal?“, schlug sie vor. „Was?“, antwortete ich perplex. War das ihr Ernst? „Na ja, dein Liebesgesäusel wäre wenigstens nicht geschauspielert und du dürftest ihn küssen.“ „Nein“, sagte ich prompt. „Das mache ich nicht.“„Erzähl mir nicht, dass du das nicht wollen würdest“, gab sie zurück.„Nein! I-ich meine doch, aber ich blamier‘ mich doch nicht vor der halben Schule!“- „Ach komm schon, besser als die fünfzehn Julias da unten bist du bestimmt.“„Nein“, sagte ich noch einmal entschlossen und verschränkte die Arme vor der Brust. Luna verdrehte die Augen. „Wie du willst. Dann mach ich es.“Ihre Worte durchschossen mich wie ein Blitz. „Was?!“ Doch zu spät, schon war sie aufgestanden und schwebte die wenigen Stufen hinunter zur Bühne. Kaum, dass sie sie bemerkt hatten, lagen erneut alle Blicke auf ihr und zu keiner Zeit zweifelte ich daran, dass sie die Rolle kriegen würde. „Hallo?“, fragte der Leiter. Man sah ihm deutlich an, dass er keine Ahnung hatte, wer dieses Mädchen war, von ihrer Ausstrahlung jedoch sofort geblendet wurde. Das hätte ich halb so wild gefunden, wenn ich denselben Blick nicht auch in Adrians Gesicht sehen würde. „Hallo“, sagte sie. „Mein Name ist Luna Black-Cullen und ich möchte gerne als Julia Capulet vorsprechen.“ Ihr Gegenüber sah verwundert zu mir empor, der gemeinsame Nachname war ihm selbstverständlich nicht entgangen. Das war jedoch, abgesehen von unserer gemeinsamen Augenfarbe, dem wunderschönen Smaragdgrün unserer Väter, auch die einzige Gemeinsamkeit, die ich mit ihr hatte. Alle Black-Cullens die man in Forks kannte, hatten rötliche Haut und schwarzes Haar gehabt, mit Ausnahme meines Vaters und Bruders, deren Hauttöne heller gewesen waren. „Hey, bist du nicht heute zum ersten Mal an der Schule?“, fragte Martina, alias Julia Nummer Fünf, der es offensichtlich missfiel, weitere Konkurrenz zu bekommen. „Das stimmt“, sagte Luna, sah dabei jedoch weiter Mr. Hatcher an und würdigte sie keines Blickes. „Aber ich kenne das Stück in- und auswendig.“ Und das glaubte ich ihr sogar. Wahrscheinlich reichte es bei ihr, einmal ein Buch zu lesen und schon konnte sie einem die Seitenzahl eines jeden Satzes sagen. „Das ist natürlich sehr gut, aber wirst du denn auch hier wohnen bis zur Vorstellung in zwei Wochen?“ „Bestimmt“, sagte sie mit einem Lächeln auf den Lippen.Mr. Hatcher überlegte nur wenige Augenblicke, dann nickte er und bat sie mit einer Handbewegung auf den Balkon. Adrian sah ihr dabei hinterher, als wäre sie ein Einhorn oder eine Fee oder irgendetwas anderes überirdisch schönes. Leider schien er das nicht als Teil seiner Rolle zu tun. Als Luna dann oben auf dem Balkon auftauchte, war es auch an Romeo-Adrian sie anzustarren. „Doch still, was schimmert durch das Fenster dort? Es ist der Ost, und Julia die Sonne! –Geh auf, du holde Sonn’!“, flehte er zu sich selbst.

„Weh mir“, seufzte Luna, woraufhin ich mir einbildete, dass Adrians Sätze ihm leidenschaftlicher von den Lippen kamen, als sie es bei den anderen fünfzehn Julias zuvor getan hatten.„Horch! Sie spricht. O, sprich noch einmal, holder Engel!“„O Romeo! Warum denn Romeo? Verleugne deinen Vater, deinen Namen! Willst du das nicht, schwör’ dich zu meinem Liebsten, und ich bin länger keine Capulet!“, frohlockte Luna, als täte sie ihr Leben lang nichts anderes als auf diesem Balkon zu stehen und die Julia zu spielen.Dieses Mal wurden Romeo und Julia nicht von Mr. Hatcher unterbrochen. „Hör’ ich noch länger, oder soll ich reden?“, flüsterte Adrian zu sich selbst, gerade noch laut genug, so dass alle es hören konnten.„Dein Nam’ ist nur mein Feind. Du bliebst du selbst, und wärst du auch kein Montague. Was ist denn Montague? Es ist nicht Hand nicht Fuß. O, sei andern Namens! Was ist ein Name? Was uns Rose heißt, wie es auch hieße, würde lieblich duften“, schwärmte Luna weiter vom Balkon herunter.Romeo-Adrian trat näher an sie heran. „Ich nehme dich beim Wort. Nenn’ Liebster mich, so bin ich neu getauft, und will hinfort nicht Romeo mehr sein.“Plötzlich stand Mr. Hatcher auf und applaudierte. „Bravo, bravo!“, rief er aus und ließ nun tatsächlichen keinen Zweifel daran, wer die Rolle bekommen hatte. Ich versank währenddessen in meinem Stuhl. Nein, das mit dem Unauffälligsein hatte sie wirklich nicht kapiert und ich sah Anthony bereits jetzt vor meinem inneren Auge ausrasten – wenn er das denn ihr gegenüber überhaupt konnte. Nachdem die chancenlose Konkurrenz den Saal verlassen hatte, schleifte ich mich hinunter zur Bühne, um meine Cousine aufzugabeln. Wir waren schon ziemlich spät dran und es würde mich nicht wundern, wenn ihr Vater bereits auf dem Parkplatz auf uns wartete. Am liebsten hätte ich sie einfach am Arm gepackt und hinaus geschleift, doch kaum, dass ich die letzte Stufe hinter mich gebracht hatte, stand mit einem mal Adrian hinter ihr und tippte ihr auf die Schulter. „Hey“, begrüßte er sie auf ihren fragenden Blick hin. „Ich bin Adrian Dallas“, stellte er sich vor. „Ich weiß“, sagte Luna.„So?“, fragte er verwundert.

Oh bitte, bitte lüg.„Meine Cousine hier hat mir schon von dir erzählt.“ Nein! Und als ob das nicht genug wäre, war es nun sie, die mich am Arm zu sich zog.

„Ah. Hi“, begrüßte er nun auch mich. „Hi“, hauchte ich leise. Lauter ging irgendwie nicht. - „Billy-Sue, nicht?“Er erinnert sich an meinen Namen?!„Ähm... nur Billy oder Bills. Wie du möchtest.“

- „Ah, okay. Gut zu wissen.“„Ja“, sagte ich und schob mir nervös eine Haarsträhne hinters Ohr. „Na, jedenfalls freut es mich, dass du die Rolle bekommen hast. Du warst wirklich gut, Luna.“ „Danke“, antwortete sie schlicht.„Ähm... Lu-Luna, ich glaube wir müssen dann los“, versuchte ich mich irgendwie aus der Affäre zu ziehen. „Stimmt“, sagte sie. „Na dann, wir sehen uns.“ „Bye!“, rief er uns hinterher, als wir den Saal verließen. „Warum hast du das gemacht?!“, fuhr ich sie an, kaum dass wir auf dem Parkplatz waren. „Deinetwegen“, antwortete sie, ohne mich dabei anzusehen oder gar lauter zu werden. „Meinetwegen?!“, fragte ich verständnislos. „Ja, du wolltest die Rolle ja nicht spielen.“„Ach und da dachtest du, bevor ich mit ansehen muss, wie irgendeine Tussi ihn knutscht, gucke ich lieber dir dabei zu?!“Nun blieb sie mit einem Mal doch stehen und sah dabei irgendwie betroffen aus. „Nein“, sagte sie und schüttelte sanft den Kopf. „Ich dachte mir, wenn du deine Chance schon verstreichen lässt, mehr mit ihm zu unternehmen, gebe ich sie dir wenigstens. Du kannst bei den Proben dabei sein.“ Dann ging sie mit leicht gesenktem Kopf weiter und ich folgte ihr, nun mit einem schlechten Gewissen und etwas Abstand.Schließlich hielten wir nicht vor Anthony sondern, zu unser beider Verwunderung, vor Nayeli, die neben Mariellas violettem Wagen stand. „Wo ist Dad?“, wollte Luna sofort wissen. „Ihm ist was dazwischen gekommen“, antwortete ihre Schwester. „Na kommt, steigt ein. Ich kann Autofahren.“ Die ganze Fahrt über sprach ich kein Wort. Auch Luna und Nayeli wechselten kaum Worte und beließen es bei: „Und wie war dein erster Tag?“ - „Gut.“

 

Da unsere Familie unbedingt wissen wollte, wie der Tag gelaufen war, luden sie mich an diesem Abend zum Essen ein. Ich ging davon aus, dass Anthony dann dieselbe Frage stellen würde, wie zuvor Nayeli, doch ließen sich Lunas Eltern zunächst ordentlich Zeit damit, überhaupt an den Esstisch zu kommen. Wir hatten unsere Teller bereits zur Hälfte leer, als die beiden schließlich die Treppe runter kamen und sich zu uns setzten. „Hey“, sagte Jake daraufhin lächelnd. „Jetzt, da ihr zwei auch mal da seid, könnten die Mädels ja endlich mal berichten, wie der Tag so gelaufen ist.“ „Ziemlich unspektakulär“, sagte Luna und rollte ihre Spagetti. Meine Nudeln wären daraufhin fast von der Gabel gerutscht. „Unspektakulär?“„Uneinigkeit im Paradies?“, fragte Ani nun. „Allerdings“, sagte ich dann etwas empört. Ich warf noch einmal einen prüfenden Blick zu meiner Cousine. Sie wirkte nicht so, als würde sie es mir übel nehmen, wenn ich mit der Sprache rausrückte. Im Gegenteil, sie schien es gelassen zu nehmen. „Luna wird in zwei Wochen in unserem großen Sommertheaterstück die Julia spielen.“ Daraufhin hörte ihr Vater schlagartig damit auf, seinen Bissen weiter zu kauen und auch Sangreal schien im ersten Augenblick wenig begeistert. Kaum hatte Ani geschluckt, war er es nun, der sich die Hand an die Stirn hob und dabei den Kopf schüttelte. „Hab ich dir nicht gesagt, du sollst dich bemühen nicht aufzufallen?“ „Ja“, sagte sie ohne jeglichen Skrupel. „Und das habe ich.“ „Indem du direkt mal vor versammelter Schule eine Hauptrolle mimst? Wenn du unbedingt ins Theater willst, warum muss es Julia sein? Warum konnte es nicht ein... ein Baum sein?“- „Dad, ich spiele doch keine Pflanze! Ich hielt es für unauffälliger, wenn ich mich beteilige und vielleicht ist der Vampir ja auch in der Theatergruppe oder einer der Komparsen oder ein Zuschauer bei der Vorstellung.“ „Bist du dir sicher, dass das der Grund war? Oder wolltest du vielleicht einfach nur im Mittelpunkt stehen?“ Dass Anthony zurückstichelte wunderte mich dann doch etwas. Ich hatte damit gerechnet, dass er sich mit ihrer Reaktion zufrieden gab oder eher noch, dass er sich freute, dass sie die Rolle bekommen hatte. Luna schien die Situation so auch nicht zu gefallen. Sie stand wütend auf und nahm ihren Teller gleich mit. Ohne einen weiteren Ton verließ sie mitsamt diesem das Zimmer, allerdings nicht ohne die Tür zu diesem derart kräftig zuzuschlagen, dass wir es alle noch hörten.„Wow“, sagte Seth nach einem Moment der Stille.„Was war das denn?“, fragte Jacob. „Ani?“, sagte Sangreal leise und legte ihre Hand an Anthonys Schulter. Sie sah ein bisschen besorgt aus. „Alles okay?“, fragte sie. Auch er stand ohne ein Wort auf und ging – allerdings ohne Teller. Zwar war sein Gang lautlos, doch überhörten wir nicht, wie die Haustür sich leise öffnete und wieder schloss. „Toll, so ein idyllisches Beisammensein am Abend, nicht wahr?“, kam es von Jake. Renesmee warf ihm einen finsteren Blick zu. Eine halbe Stunde später half ich Mariella und Nayeli noch beim Abwasch, während der Rest der Familie sich zurückgezogen hatte. „Nun schau doch nicht so betrübt drein, Billy“, sagte Mariella und stellte die abgetrockneten Teller in den Schrank. „Streit gibt es bei einer großen Familie immer mal wieder. Das ist ganz normal. Du streitest dich bestimmt auch ab und zu mit deinen Geschwistern, oder?“ „Ab und zu?“, antwortete ich und versuchte zu lächeln. Mariella lächelte zwar auch, doch ich spürte, dass sie sich insgeheim genauso sorgte, wie ich. „Ich weiß nicht“, sagte ich dann. „Ich glaube, ich habe Luna Unrecht getan.“ „Mhm? Was meinst du?“, fragte Nayeli. „Sie wollte, dass ich für den Part der Julia vorspreche, aber ich wollte nicht, weil... na ja“, ich spürte wie meine Wangen noch roter wurden, als sie es bereits waren, „der Junge, der den Romeo spielt... süß ist.“„Wäre das nicht eher ein Grund den Part zu spielen?“, fragte Mariella.„Eigentlich schon“, sagte ich. „Aber ich sehe mich einfach nicht als Julia... ich meine... Julia ist doch hübsch und anbetungswürdig... und vor allem hat sie keine indianischen Züge.“„Also, ich hätte diese Julia mal richtig interessant gefunden“, kam es plötzlich von der Seite. Edward stand mit einem Mal im Türrahmen. „Es ist spät, Billy. Ich würde dich jetzt gern heimfahren, bevor Leah hier aufkreuzt.“ Ich überlegte kurz. „Ja... aber.“ „Okay, ich warte“, antwortete Edward, ohne dass ich noch etwas dazu sagen musste. Manchmal war diese Gedankenleserei auch ganz angenehm. Ich lächelte und ging rasch hoch in den zweiten Stock. Als ich in den Wohnbereich hier oben eintrat, sah ich Sangreal auf dem breiten Fenstersims sitzen und in die finstere Nacht hinaus blicken. Anthony war also wohl noch immer nicht zurück. „Ähm“, sagte ich nur, woraufhin sie mich bemerkte und sich zu mir drehte. „Ich wollte zu Luna.“Als sie mich ansah, meinte ich für einen Augenblick eine Träne in ihren Augenwinkeln glitzern zu sehen. „In ihrem Zimmer“, sagte sie und zeigte auf eine Tür, ein paar Meter hinter ihr. „Danke“, sagte ich und beließ es dabei. Ich hätte sie gern gefragt, ob alles okay ist, doch war ich mir relativ sicher, dass sie mir nicht erzählen würde, was los ist.Ich klopfte an das Zimmer ihrer Tochter. Als ich nichts hörte, öffnete ich vorsichtig die Tür. Der Mond war alles, was die Finsternis in diesem Raum durchbrach. In seinem sanften Schein sah ich die Silhouette des leeren Pastatellers auf Lunas Nachttisch. Zuerst dachte ich, sie schliefe schon, doch dann bewegte sie sich plötzlich und knipste eine kleine Leselampe über sich an. „Hey“, begrüßte ich sie. Was Besseres fiel mir nicht ein.„Hey“, tat sie es mir gleich. Sie setzte sich in ihrem Bett auf und deutete auf ihren Bettrand. Ich ließ mich darauf nieder, wusste jedoch im ersten Moment nicht so recht, wie ich anfangen sollte. „Ich... es tut mir Leid. Du wolltest mir etwas Gutes tun und ich mache dir auch noch Vorwürfe.“„Schon, okay. Schwamm drüber.“„Ehrlich?“, hakte ich nach. „Ja. Vergeben und vergessen.“

„Ähm... dein Dad-“„Ach“, unterbrach sie mich. „Der beruhigt sich schon wieder. Ein paar Runden als Adler in der Luft und alles ist wieder im Lot. Er kommt bestimmt zur Vorstellung. Du wirst schon sehen.“Ich nickte. „Ja, ganz bestimmt.“***Am darauffolgenden Nachmittag saß ich dann erneut im Theatersaal und sah den Darstellern bei ihren Proben zu. Heute war die Kampfszene an der Reihe. Adrian stellte sich darin ziemlich geschickt an, sein Gegner, ein Junge namens Stefan, den ich nur ein paarmal gesehen, mit dem ich allerdings nie ein Wort gewechselt hatte, musste sich jedoch anstrengen, nicht hinzufallen und als er letztlich hinfallen und sterben durfte, so wie es Tybalt nun mal tat, sah auch das ziemlich unbeholfen aus und erinnerte eher an den sterbenden Schwan. Das Einzige, was der Szene etwas Dramatik verlieh, war das Kunstblut, das über das Bühnenparkett floss.Ricardo, der unsicher auf sein weißes Textblatt starrte, verpasste fast seinen Einsatz, so gebannt starrte er auf das rote Rinnsal. „Eh... Flieh’, Romeo! Die Bürger sind... sind in.. eh.. Wehr!“ „Nein, nein, nein!“, beschwerte sich Mr. Hatcher. „Junge, du musst deinen Text doch längst können, es sind nur noch dreizehn Tage bis zur Vorstellung und wir Proben ja nicht erst seit gestern!“ Ricardo sah betroffen zu Boden. „Ja... Entschuldigung. Sie haben Recht.“ Der Lehrer seufzte. „Okay. Das war’s für heute. Morgen proben wir die Hochzeit.“ Er warf einen freundlichen Blick auf Luna, die neben mir saß. „Und du lernst deinen Text“, sagte er dann zu Ricardo und schob ihn weg, woraufhin er nickte und geknickt den Raum verließ. Als wir aufstanden, kam uns Adrian mit einer Wasserflasche, aus der er einen schnellen Schluck nahm, entgegen und grinste. Ich starrte gebannt auf einen Wassertropfen, der sein hübsches Kinn hinablief, wurde dann aber von Lunas Ellbogen erwischt.

„Äh, Hi“, brachte ich dann gerade so heraus. „Na, der arme Rici ist leider nicht so textsicher wie du, was?“ Luna lächelte. „Vielleicht würde es ihm ja helfen, einen der Filme anzuschauen, anstatt nur den trockenen Text zu lesen.“ „Das sollte man ihm vielleicht mal vorschlagen“, antwortete er. Obwohl ich wusste, dass Luna nichts dafür konnte, fühlte ich mich übergangen. Sie fing jedoch absichtlich keinen neuen Satz an, woraufhin ich mir schnell überlegte, was ich sagen könnte.„Na, solange Romeo und Julia ihren Text können!“ Okay, das war schwach. Echt schwach.Adrian lachte. „Das stimmt.“ Plötzlich hörten wir, wie hinter der Bühne etwas rumorte und reckten die Köpfe. Zunächst sah ich nur dunkelblondes Haar, dann erkannte ich, wer da mit dem Wischmopp auf die Bühne kletterte: der Sohn des Hausmeisters. „Hey, da kommt ja die Putzfrau!“, scherzte Adrian. „Sehr witzig“, sagte der Andere und begann, das vergossene Kunstblut aufzuwischen. „Wenn ihr mal weniger sterben würdet, hätte ich weniger Arbeit.“ Adrian kicherte und klopfte ihm auf die Schulter. „Und wofür wirst du dann bezahlt?“„Als ob ich dafür Geld kriegen würde.“„Stimmt ja, der gute Herr bekommt nur Kost und Logis.“„So ist es.“ Er wrang den Lappen in einem Eimer aus. „Kost und Logis?“, hakte ich nach. „Ja, unser Chris hier wohnt beim Hausmeister zur Untermiete.“„Also bist du nicht sein Sohn?“ Er schüttelte den Kopf. „Nein, aber es war die günstigste Unterkunft.“ „Ach, ich Idiot!“, sagte Adrian plötzlich. „Ich hab euch ja noch gar nicht vorgestellt. Chris, das sind Luna und Billy.“ „Freut mich“, sagte Chris und lächelte uns an. „Und uns erst“, antwortete Luna und lächelte zurück. Wenn ich es nicht besser wüsste, hätte ich es für einen sich anbahnenden Flirt gehalten. „Er räumt uns im Grunde, seit wir begonnen haben zu proben, permanent hinterher“, erzählte Adrian. „Ja, könnte mir nichts schöneres vorstellen, als Kunstblut aufzuwischen und Waffen zu polieren.“„Nicht zu vergessen die Pappbäume, die du immer so behutsam reparierst.“„Ja, die sind mir besonders teuer.“ „Ich hätte doch als Baum vorsprechen sollen“, sagte Luna wenige Augenblicke später, als wir gemeinsam mit ihrer Schwester im Wagen saßen.„Was?“ Nayeli prustete los. „Nichts. Luna hat sich nur in den Hausmeisterburschen verguckt.“„Hausmeister? Ernsthaft, Luna?“, fragte sie. Ihr Unterton war etwas empört, dennoch hatte sie ein Lächeln auf den Lippen. Sie musterte ihre Schwester im Rückspiegel. „Du weißt, Anthony erschlägt ihn mit seinem eigenen Besen, wenn er davon erfährt.“ „Er muss es ja nicht wissen“, antwortete Luna, packte einen kleinen Spiegel aus und begann sich darin anzuschauen. „Solange ihr ihm nichts verratet.“ Nayeli und ich sahen einander an. „Ich schweige wie ein Grab“, sagte ich. „Ich schließe mich an“, sagte Nayeli. ***Die darauffolgenden Tage zählten dann zu den wahrscheinlich aufregendsten und gleichsam schönsten, die ich bisher erleben durfte. In der Schule war mir meine Cousine eine große Hilfe. Egal um welchen Stoff es sich handelte, sie verstand sofort worum es ging. Ganz gleich, ob es eine biochemische Formel, Wurzelziehen oder Vokabeln waren. Die Nachmittage dagegen, galten der Theatergruppe. Adrian hatte schnell bemerkt, dass Luna sich mehr für Chris interessierte, als für ihn, schien aber nicht sonderlich betrübt darüber. Zu meiner großen Freude, redete er stattdessen mehr mit mir.

Luna half Chris gerade dabei, ein paar Teile der Kulisse ins Lager zu tragen, so dass ich zum ersten Mal allein mit ihm war. Wir standen in dem kleinen Orchestergraben vor der Bühne. Er schraubte eine Flasche Kunstblut zu und verstaute sie in eine Art Koffer. „Widerliches Zeug“, sagte er. „Hast du es schon probiert?“, fragte ich neugierig.„Na ja, Romeo stirbt ja etwas unspektakulär an Gift, aber das eine oder andere Mal wurde ich in anderen Stücken schon erschossen, dann musste es mir aus dem Mund quillen. Das war schon ziemlich eklig. Ich frage mich sowieso, warum es Theaterblut nicht auch mit Geschmacksrichtungen gibt. Erdbeere oder Schoko wäre doch ganz nett.“Ich kicherte. „Das stimmt. Aber dann würde Stefan bestimmt noch schlechter sterben, um mehr davon zu kriegen.“ Adrian lachte auf. „Wahrscheinlich. Dann doch lieber ekliges Kunstblut, anstatt den sterbenden Schwan noch öfter leiden zu sehen.“Ich musste grinsen. Er sah ihn also genauso wie ich. Eine Gemeinsamkeit. Besonders viele hatte ich bisher leider nicht entdeckt, dazu wusste ich zu wenig von ihm. Als ich nichts mehr sagte, grinste er nur zurück. „Apropos Geschmäcker. Was ist denn deine Lieblingseissorte?“ „Vanille.“„Der Klassiker. Sehr schön. Darf ich dich dann auf ein Eis einladen? Montagnachmittag vielleicht?“Da am Sonntagabend die Vorstellung war, gab es in der darauffolgenden Woche nachmittags keine Proben mehr. „Gerne“, sagte ich begeistert zu.Und dann lächelte er das schönste Lächeln, das ich in einem Gesicht je sah.

 

***

 

Mit der Vorfreude auf unser gemeinsames Date und den Schmetterlingen in meinem Bauch war es dann gar nicht mehr so schlimm, Luna und Adrian bei ihrem großen Auftritt zuzuschauen.

 

„Was ist das hier? Ein Becher, festgeklemmt in meines Trauten Hand?“, sagte Julia, kaum dass sie aus ihrem Schlaf erwachte. „Gift, seh’ ich, war sein Ende vor der Zeit. – O Böser! Alles zu trinken, keinen güt’gen Tropfen mir zu gönnen, der mich zu dir brächt’?“ Und dann beugte sie sich zu ihm herab. „Ich will Dir deine Lippen küssen. Ach, vielleicht hängt noch ein wenig Gift daran.“ Und küsste ihn, ohne dass es mir groß etwas ausmachte. In der Tat hatten andere deutlich mehr Probleme mit dem Stück als ich. Als Julia nach zwei Stunden Vorstellung schließlich zur Waffe griff, um dem bereits verendeten Adrian zu folgen, war es Anthony neben mir, der sich mit der Hand am Kinn etwas vorbeugte. Ich meinte ihn sogar kurz zittern zu sehen und wunderte mich für einen Augenblick, warum ihm das so nah ging, aber er hatte ja bereits ein paar Leute sterben sehen, da war es nachvollziehbar, dass es ihm nahe ging, seine Tochter sterben zu sehen – wenngleich nur zur Show. Doch selbst als wir eine Viertelstunde später im tröpfelnden Regen auf dem Parkplatz standen und zusammen mit Sangreal auf Luna warteten, die noch in der Umkleidekabine war, wirkte er noch immer unruhig. „Die Vorstellung war großartig, nicht wahr?“, versuchte ich die Stimmung zu lockern. „Ja, ganz große Klasse“, pflichtete mir Lunas Mutter bei. Ihr Vater hingegen, sah mehr nach links und rechts, als dass er darauf achtete, was wir miteinander sprachen. Irgendwie musste ich bei dem Anblick an ein Tier auf der Flucht denken. „Ist alles in Ordnung, An-“, wollte ich dann doch fragen, wurde jedoch unterbrochen. „Tony?!“, fragte eine mir unbekannte Frauenstimme, woraufhin wir uns alle umdrehten. Hinter den parkenden Autos, vor denen wir standen, kam eine Frau auf uns zu. Sie hatte ein paar Sommersprossen und im Licht der Laternen, rotblondes Haar. „Cat?!“ Anthony schien von ihr mindestens so überrascht zu sein, wie sie von ihm. Nun mit einem Grinsen im Gesicht, kam sie zu uns herüber und fiel ihm erstmal um den Hals. Er sah zuerst noch etwas überfallen aus, strich ihr aber dann über den Rücken. Nachdem sie ihn losgelassen hatte, umarmte sie auch Sangreal. „Ist ja der Wahnsinn, was macht ihr denn hier?“„Ähm, wir wohnen hier“, antwortete mein Onkel.„Wirklich? Seit wann?“ Sie wirkte mit einem Mal etwas angespannt.„Nicht lang. Zwei Wochen.“ Daraufhin lockerte sie sich wieder. „Achso.“„Warum?“ Nun war es diese Cat, die unsicher nach links und rechts sah, ehe sie Anthony am Ärmel packte und etwas mehr zu sich zog. „Es ist möglich, dass sich ein Kantor in der Stadt aufhält.“„Was?!“, zischte Ani. Cat nickte. „Ich bin ihm seit ein paar Monaten auf den Versen.“„Moment“, brachte sich nun auch Sangreal ein. „Heißt das nicht auch, dass es hier einen Vampir geben muss?“„Das weiß ich nicht. Vielleicht ist er auch nur auf der Durchreise.“„Aber wir wissen es“, meinte mein Onkel. Cat sah verdutzt drein.„Irgendetwas hat das Gestaltwandler-Gen in meiner Nichte aktiviert. Deswegen sind wir hier.“Cat sah kurz hinüber zu mir, dann wieder zu Ani. „Vielleicht war es wirklich ein Vampir, den er jagt. In jedem Fall müsst ihr aufpassen. Er tötet schnell und präzise. Und er lässt selten Spuren zurück. Es war sehr schwer ihm zu folgen. Ich weiß nichtmal, ob er noch hier ist, oder ob er schon weitergezogen ist.“Der Regen wurde allmählich stärker, so dass ich meine Kapuze hoch zog. Anthony nahm jedoch keine Notiz von den dicken Tropfen, die auf ihn hinab fielen und seine Kleider und sein Haar durchnässten. „Huhu!“, rief Luna nun vom anderen Ende des Parkplatzes, kam zu uns gerannt und schmiegte sich als erstes gegen ihren Vater, der schützend die Arme um sie legte, jedoch weiter Cat ansah. „Kannst du das rausfinden?“, fragte er ernst.Sie nickte und kramte ihr Smartphone aus der Tasche, woraufhin auch mein Onkel seines aus der Jackentasche zog. „Ich gebe mein Bestes und sage dir sofort Bescheid, wenn ich mehr weiß“, versprach sie, als sie die Nummern austauschten. „Danke“, bedankte mein Onkel sich. Bei der Heimfahrt wenige Minuten später, war die Stimmung dann entsprechend mies. Luna, der das Gespräch entgangen war, konnte sich selbstverständlich keinen Reim darauf machen und hätte es wahrscheinlich gern gehabt, wenn wir uns über ihre Darbietung unterhalten hätten. Sie saß neben mir auf der Rückbank und sah bedrückt den Regentropfen zu, die in Spuren die Scheibe hinunter wanderten, während Anthony uns in Edwards Wagen nach Hause fuhr. „Luna?“, richtete er schließlich das Wort an sie, worauf sie sogleich erwartungsvoll aufsah. „Du gehst nicht mehr zur Schule.“ Lunas Augen weiteten sich. „Wie bitte?!“, brüllte sie dann fast. „Glaub mir, es ist besser so.“ Seine Stimme war ruhig und sanft wie eh und je, während Luna zu kochen begann. „Das kannst du nicht machen, Dad!“„Ich kann machen, was immer ich will“, antwortete er und hielt das Lenkrad noch etwas fester.„Nein, Dad! Ich... ich hatte nur zwei Wochen! Ich hab gerade erst Freunde gefunden!“ Er antwortete nichts, starrte stur aus der Frontscheibe.„Dad!“, brüllte sie verzweifelt und weinte. „Nein.“ Das war dann auch sein letztes Wort, ehe er mit mir gemeinsam aus dem Wagen stieg und mich zur Tür brachte. Ich traute mich nicht, nochmal zurück zum Wagen zu schauen, nachdem ich sie aufgeschlossen hatte, denn ich wusste, dass ich darin nur meine Cousine weinen sehen würde. „Kannst du kurz deine Mutter holen?“, fragte er und trat mit mir gemeinsam ein. Ich nickte und ging nach oben. Mum saß, wie häufig um diese Uhrzeit, an ihrem Schreibtisch und plante den Schulstoff für den morgigen Tag. Sie spürte jedoch sofort, dass etwas nicht in Ordnung war und ging rasch mit mir nach unten. „Anthony, ist etwas passiert?“, wollte sie besorgt wissen.„Es ist möglicherweise ein Kantor in Forks unterwegs.“„Kantor?“, hakte sie nach.„Kantor. Vampirjäger“, half er ihr auf die Sprünge. „Du erinnerst dich vielleicht an Cat. Das Mädchen, das uns, zusammen mit ihrem Vater, beim Kampf gegen die Volturi half.“ Mum verschränkte die Arme und zog dabei ihr Nachthemd enger um sich. „Ach, die Kleine, die dich geheilt hat.“

Er nickte zur Antwort. „Sie ist einem ihrer Artgenossen bis hier her gefolgt, kann aber nicht mit Sicherheit sagen, ob er sich noch hier aufhält, oder nicht.“ „Vampirjäger, sagst du? Heißt das, hier ist tatsächlich ein Vampir unterwegs?“„Möglicherweise, aber um ehrlich zu sein, ein Vampir allein wäre mir lieber.“Mum sah ihn fragend an.„Ein Vampir ist in den meisten Fällen ziemlich fasziniert von uns Mischwesen. Ein Kantor unterscheidet nicht zwischen einem vollwertigen Vampir und einem Halben. Ich weiß nicht mal, ob er nicht vielleicht sogar Gestaltwandler angreift. Cat meinte mal zu mir, für ihresgleichen seien beides Monster.“ „Was willst du mir damit sagen?“ „Ich will sagen, dass es besser wäre, wenn Billy nicht mehr zur Schule geht, bis wir sicher sind, dass er nicht mehr hier ist.“Mum sah zu mir herab. Sie sah ziemlich betrübt aus. „Es ist natürlich deine Entscheidung, Leah, sie ist deine Tochter. Ich habe mich jedenfalls dazu entschieden, Luna nicht mehr dorthin gehen zu lassen.“„Willst du sie etwa für den Rest der Zeit in der Villa einsperren?“„Wenn es sein muss“, sagte er kühl. Mum nickte. „Gut. Danke, ich werde darüber nachdenken.“ „Alles klar“, sagte er leise und wand sich zum Gehen. Ich wartete noch, bis das Motorengeräusch seines Wagens verschwunden war. „Und was jetzt?“, fragte ich dann vorsichtig.Mum ging hinüber zur Küchentheke und begann damit, sich einen Tee zu machen. „Sag du es mir“, kam es von ihr. „Möchtest du Zuhause bleiben?“„Ganz ehrlich?“ Mum musterte mich stumm und wartete. „Nein“, sagte ich. „Ich glaube nicht, dass er uns während dem Unterricht etwas antun würde. Ich kenne Vampirjäger zwar nur aus Filmen, aber normalerweise, handeln die doch Inkognito und wollen kein Aufsehen unter den Menschen erregen. Ich denke, wir sind in der Schule sogar sicherer, als sonst wo.“ „Wir?“, fragte Mum. „Ich bezweifle, dass Luna sich einsperren lässt.“ Mum nickte erneut. „Wenn sie nur ein bisschen wie ihr Vater ist, wird sie sehr schnell ausbüxen, da hast du Recht.“Ich stimmte ihr stumm zu. Mum kannte Luna kaum. Ich dagegen, hatte in den letzten Wochen viel Zeit gehabt, sie kennenzulernen und mir war schon sehr früh aufgefallen, wie sehr sie ihrem Vater ähnelte. Daher wunderte es mich, erst recht nach Mums Worten keineswegs, dass sie am nächsten Morgen, wenngleich mit etwas Verspätung, im Klassenzimmer auftauchte und sich neben mich setzte, als hätte das gestrige Gespräch nie stattgefunden. „Morgen?“, begrüßte ich sie. „Morgen“, sagte sie und packte ihre Schreibutensilien aus. „Hat dein Dad seine Meinung geändert?“Luna schüttelte den Kopf. „Nein, und er und Mum hatten sich heute früh auch ziemlich in den Haaren.“„Deinetwegen?“Sie zuckte mit den Achseln. „Wahrscheinlich. Jedenfalls ist er daraufhin wütend abgerauscht und ich hab mich aus dem Staub gemacht.“„Aha“, sagte ich tonlos. Also ganz wie ich vermutet hatte. Sie rückte näher an mich ran. „Hast du denn eine Ahnung, was sein Problem ist?“„Er hats dir nicht erzählt?“Sie schüttelte schon wieder den Kopf. „Ich hab ihn mehrfach gefragt, aber er hat mir nie eine Antwort gegeben.“„Ist das ungewöhnlich? Für ihn, meine ich.“Sie überlegte kurz. „Ja... normalerweise hat er mir nie etwas verschwiegen, aber seit wir hier sind, ist er irgendwie seltsam...“„Vielleicht liegt es an... den Erinnerungen?“, versuchte ich einen Grund zu finden, in der Hoffnung ihr so etwas Trost zu spenden. „Keine Ahnung... ich werd's aber schon noch rauskriegen.“

„Hallo? Würden die Damen Black-Cullen bitte auch dem Unterricht folgen? Danke!“, beschwerte sich dann plötzlich unser Lehrer, woraufhin wir verstummten und unsere Aufmerksamkeit nach vorn richteten. Den Rest des Tages sprachen wir nicht mehr darüber. Spätestens ab der Mittagspause kam mir dann wieder in den Sinn, dass ich ja heute mein Date hatte. Ich hätte es nie für möglich gehalten, dass ich so etwas jemals vergessen konnte, aber es war mir, nach allem was gestern noch so passiert war, ganz entfallen. Nun konnte ich nur hoffen, dass Adrian es mir nicht übel nahm, dass ich mich nicht besonders für ihn rausgeputzt hatte. Und tatsächlich, als ich ihm am Nachmittag dann beim einzigen Eiscafé in der Stadt traf, strahlte er mich an, wie in jenem Moment, in dem ich ihm meine Zusage gegeben hatte. Es schien ihm egal zu sein, ob ich nun geschminkt war oder nicht, oder ob ich ein hübsches Kleidchen trug oder meine normalen Klamotten. Er begrüßte mich mit einem Küsschen auf die Wange und schon fühlte ich mich, als schwebte ich über den Wolken.Ich bestellte mir mein geliebtes Vanilleeis, er sich einen Schokobecher mit Erdbeertopping. Als er bemerkte, dass ich den Erdbeeren folgte, wie sie in seinem Mund verschwanden, bot er mir eine davon an. Dass ich das eigentlich nur getan hatte, weil ich mich fragte, wie diese Lippen wohl schmeckten, die sich um den silbrigen Löffel legten, erzählte ich ihm natürlich nicht. Auch nicht, dass ich meinte, eben dieser Löffel, auf dem er mir seine Erdbeere anbot, schmeckte besser, als andere Löffel. Ja, ich war förmlich im Himmel. - Und fiel dementsprechend tief, als mich mit einem Mal ein seltsames Gefühl von Übelkeit überkam. Eines, das ich nie zuvor gespürt hatte und daher nicht zuordnen konnte. Es war nicht die Übelkeit, die ich manchmal bei langen Autofahrten spürte, oder die, die kam, wenn ich etwas Schlechtes gegessen hatte. Mir war, tief in mir, direkt bewusst, dass es ganz sicher nicht die Erdbeere oder die daran klebende Sahne gewesen war. Als wenige Sekunden später mein Smartphone vibrierte, wusste ich, noch bevor ich das Gespräch annahm, dass ich richtig lag.„Ja?“, fragte ich dennoch unsicher. „Billy?“ Lunas Stimme, am anderen Ende, hörte sich an, als würde sie gleich weinen. „Mhm?“, murmelte ich. „Hast du das auch gespürt?“ Mein Herz begann noch schneller zu pochen. „Ja. Weißt du denn was das war?“ „Ich fürchte schon.“ Obwohl ich nichts sehnlicher getan hätte, als zusammen mit Adrian mein Eis leer zu essen, ließ ich ihn stehen. Die Situation war zu ernst, um sie zu ignorieren, das wusste ich schon, als wir in den Bus einstiegen, der uns zumindest bis zur letzten Haltestelle vor dem Waldrand brachte. Den Rest des Weges legten wir in Tiergestalt zurück. Lunas Gedanken fegten daraufhin durch mein Hirn und verursachten mir beinahe Kopfschmerzen. So richtig zuordnen konnte ich sie allerdings nicht, dazu waren sie zu wirr. Ich hörte jedoch immer wieder die Worte „Nein, bitte nicht“ und sah gelegentlich ihren Vater, Opa Jake und andere Wölfe aufblitzen. Kurz vor dem Anwesen zogen wir uns hinter einem Baum, wo wir ein paar Kleidungsstücke deponiert hatten, wieder etwas an und gingen dann gemeinsam zum Haus. Bereits Meter vor der Veranda, hörten wir drin lautes Geschrei.

„Was, verdammte Scheiße, läuft denn da gerade falsch bei dir?“, schrie Jacob aus Leibeskräften. Alle, die mit ihm im Raum standen, und das war, soweit ich es sah, jeder, der in diesem Haus wohnte, erstarrten daraufhin – auch Anthony, dem seine Wut offensichtlich galt und der nun, wie ein geschlagenes Tier, leicht gebückt, einen Schritt zurück machte. Jacob wurde ungehaltener, da sein Sohn nichts dazu sagte und wandte sich wutentbrannt an Bella. „Deaktivier seinen Schild“, befahl er zornig. „Jacob“, mahnte Edward. Jacob starrte Anthony weiter an. Erst als Renesmee es Edward gleich tat, reagierte er. „Jake, bitte, zwing ihn nicht“, bat sie und legte eine Hand auf den Arm ihres Mannes. „Ich zwing ihn nicht“, sagte er bitter. „Ich hab ihn ja auch nicht gezwungen, das Rudel zu verlassen, oder? Das hat er selbst entschieden. Warum. Auch. Immer.“ Das war die Übelkeit also gewesen. So fühlte es sich an, wenn ein Rudelmitglied ging. Wenn es schon so schlimm war, wenn jemand aus eigenem Antrieb das Rudel verließ, mochte ich mir gar nicht vorstellen, wie es sich anfühlte, wenn jemand starb.„Was?“, fragte Luna bestürzt und ging auf ihren Vater zu. „Warum hast du das getan?“ Anthony schüttelte den Kopf und wand dann den Blick von ihr ab. Er war nicht in der Lage, ihr in die Augen zu schauen, jedoch zitterte er erneut.Daraufhin ging seine Mutter zu ihm und legte ihm, wie zuvor Jacob, eine Hand auf den Arm. „Ani, was ist denn los? Du weißt, du kannst mit uns über alles reden, was bedrückt dich?“ „Hast du etwa wieder jemanden getötet?!“, entfuhr es plötzlich Jake, woraufhin Renesmee in finster ansah und auch mein Onkel schien das sauer aufzustoßen. „Das sind keine Kontaktlinsen“, sagte er nur und deutete auf sein Auge. „Was ist es dann?“, bohrte seine Mutter weiter nach. Er machte noch einen Schritt zurück, stand jetzt im wahrsten Sinne des Wortes fast mit dem Rücken zur Wand. „Was... was ist los, Ani? Bitte, wir können dir doch helfen.“Er schüttelte den Kopf. „Diesmal nicht.“„Was?“, flüsterte Renesmee. Plötzlich vernahm ich ein leises Schluchzen links neben mir. Sangreal stand an der Anthony gegenüberliegenden Seite, hatte die Arme schützend um sich selbst geschlungen und weinte leise Tränen. „Mum?“, fragte Luna besorgt, ging zu ihrer Mutter und strich ihr über den Rücken. Die Verzweiflung im Blick meiner Cousine wurde noch größer, als ihr Vater schließlich in die Knie ging und die Hände über dem Kopf zusammenschlug. Noch ehe er jedoch den Boden berührt hatte, landeten zwei seiner Tränen auf diesem und weitere folgten nach. Nun da er sich endlich zu erlauben schien, zu weinen, wurde sein Zittern etwas schwächer. „Ani!“, rief Renesmee aus und ließ sich neben ihm nieder. Opa Jake sah abwechselnd zu Sangreal und zu Anthony. „Oh, nein...“, sagte er dann, ganz so, als ahne er etwas Schlimmes. „Was?“, fragte Renesmee besorgt und sah zu ihm empor. „Jake, was ist los?“„Ich...“, begann Anthony langsam und schob die Hand seiner Mutter von sich. Er sah sie nichtmal an, während er sprach, hatte den Kopf stattdessen zur Seite gedreht und sah leicht nach unten. „Bin geprägt worden...“Renesmee faltete stumm die Hände vor dem Mund. Sofort sah ich zu Sangreal, diese schien es jedoch bereits zu wissen oder zumindest geahnt zu haben, denn sie stand noch immer unverändert, weinend in der Ecke. Luna dagegen, wurde von diesem Wissen förmlich überfahren. Noch bleicher, als sie für gewöhnlich war, stand sie da und starrte ihren Vater mit leicht geöffnetem Mund an, ohne dass aus diesem ein Ton kam.

„Es tut mir Leid“, fuhr mein Onkel fort. „Ich wollte das nicht. Ich dachte, dass ich Luna und Sangi schützen kann, indem ich es für mich behalte, aber das hätte bedeutet, dass ich mich nie mehr verwandeln kann. Also entschied ich mich dazu, das Rudel zu verlassen.“„Wer?“, fragte Jake. „Wer ist es?“ „Du kennst sie nicht. Sie ist wahrscheinlich keine 25. Sie ist mit Wills Tochter befreundet. Ich hab sie nur ein einziges Mal gesehen.“„Ein Mal zu viel“, sagte Seth. Mariella sah ihn mürrisch an. Auch ihre Augen waren feucht. „Es spielt keine Rolle. Ich werde sie nicht mehr sehen“, sagte Ani entschlossen.„Du willst dich von ihr fern halten? Anthony, das ist unmöglich“, versuchte Jake ihm klar zu machen.„Woher willst du das wissen?“, fragte Ani. Sein Tonfall wechselte langsam hin zur Wut. Schließlich stand er auf. „Woher wollt ihr alle das wissen? Ihr habt es doch nicht mal probiert. Ihr habt euch auf Babys geprägt und es einfach so hingenommen. Sam hat Leah einfach so verlassen. Keiner von euch hat gekämpft. Eure Legenden sagten euch, es muss so sein und ihr habt es stumm akzeptiert.“ „Ich sehe nichts falsches daran“, antwortete Jake. „Deine Mutter ist das Beste, was mir je passiert ist und sie hat mir drei wunderbare Kinder geschenkt.“„Ja, dir vielleicht, aber was bringt diese verdammte Prägung mir?! Perfekten Nachwuchs?“ Neue Tränen quollen aus seinen Augen. „Wie witzig! Mein perfekter Nachwuchs steht da vorn!“, schrie er und deutete auf Luna, die nun ebenfalls bitterlich zu weinen anfing. „Was soll dabei überhaupt rauskommen? Sie ist ein Mensch! Selbst Aro wusste, dass Luna wunderbar werden würde. Dass sie eine Gabe haben würde, dass ihre Mutter perfekt zu mir passte. Warum weiß das diese beschissene Natur nicht, oder dieses Schicksal oder was auch immer mich jetzt dazu zwingt, jemandem treu zu sein, auf Gedeih und Verderb, den ich gar nicht kenne?!“„Ich weiß, dass das jetzt hart für dich ist, aber eine andere Wahl hast du nicht.“ Jacobs Antwort war ganz ruhig und stand damit im Kontrast zum Tonfall seines Sohnes. „Man hat immer eine Wahl!“, fuhr dieser ihn an.Jacob schüttelte den Kopf. „Von der Person getrennt zu sein, auf die man geprägt ist, kann den Tod bedeuten.“„Ich hab es zwei Wochen geschafft, ich schaff es auch noch länger!“„Aber es tut weh, nicht wahr? Wie ein Pflock, den man einem ins Herz sticht...“, sagte Jake und man sah ihm an, dass er wusste, wovon er sprach. „Lieber mir, als Sangreal und Luna.“„An-“, begann Jake. „Nein“, unterbrach Ani ihn. „Was immer auch geschieht. Ich werde mich Mutter Natur nicht beugen.“ Mit diesen Worten verwandelte er sich in einen schwarzen Raben und flog durch die, noch immer geöffnete, Terrassentür davon. Alles was von ihm zurückblieb, waren die schwarzen Fetzen seiner Kleidung, die nach und nach zu Boden glitten.

[Anthony] Prägung wider Willen

Sich umdrehen und einfach gehen. Alles stehen und liegen lassen. Es hatte sich angefühlt wie früher. Vor vierzehn Jahren hatte ich das häufiger gemacht. Meistens um eine weitere Diskussion mit meinem Vater zu vermeiden. Heute war es aber nicht mein Vater, mit dem ich nicht mehr länger in einem Raum hatte sein können. Es waren die zwei Seelen, die ich am meisten liebte, auf dieser Welt: meine Tochter und meine Gefährtin. Wie hätte ich aufstehen können, wie zu ihr gehen und ihre Tränen wegwischen? Hätte ich sie küssen können und ihr zuflüstern, es werde alles wieder gut? Ich weiß es nicht. Seit diesem einen kurzen Moment, diesem einen Augenblick vor zwei Wochen, war alles anders. Es war, als hätte sich meine Welt binnen Sekunden komplett auf den Kopf gestellt.

 

Wann immer ich Will mit Leah und Mariella mit Seth gesehen hatte, hatte ich mir tief im Herzen oft gewünscht, auch diese eine Person treffen zu können. Diese Person, für die man alles tun, alles sein würde – so hatten es zumindest alle beschrieben, die sich geprägt hatten. An jenem Morgen, an dem ich, mit Sangreal neben mir, vor dem Kamin in Volterra aufgewacht war, hatte sich dieser Wunsch in Wohlgefallen aufgelöst. Als ich schließlich wusste, dass sie mein Kind unter dem Herzen trug, war ich mir sicher gewesen, dass sie die Richtige für mich war. Und an jenem Tag, an dem sie mir meine wundervolle Tochter schenkte, hatte ich begonnen, die Existenz dieser Person zu fürchten. Ich betete, hoffte, dass sie mir niemals über den Weg laufen würde. Und doch war ich nun zu einer Kompassnadel geworden und sie war mein Norden. Es war als zöge mich eine unsichtbare Kraft stets in ihre Richtung. Wenn ich versuchte, mich weiter zu entfernen wurde ich mit Schmerzen bestraft. Mir war schleierhaft, wie mein Vater die Prägung als Geschenk ansehen konnte, aber wahrscheinlich hatte er auch nie versucht, dagegen anzukämpfen. Ihm war es sicherlich gerade recht gewesen, schließlich half es ihm über sein gebrochenes Herz hinweg. Ich dagegen, ich hatte die Herzen Anderer gebrochen, ohne es zu wollen.

 

 

 

Am liebsten wäre ich Tag und Nacht geflogen, über Kontinente hinweg, aber ich schaffte es kaum bis nach Seattle ohne Schmerzen. Meine Flügel wurden mit jedem Schlag, der mich weiter von ihr entfernte, schwerer. Schließlich landete ich, nach wenigen Tagen des sinnlosen Umherirrens, auf irgendeinem Baum, in irgendeinem Park. Als Vogel lag ich nicht besonders gern auf Bäumen, also verwandelte ich mich in eine schwarze Katze und rollte mich auf einem Ast zusammen, um mich ein wenig auszuruhen. Die Tiergestalt dämpfte viele Gefühle etwas ab. Der Schmerz und die Trauer, die man als Mensch fühlte, waren als Tier anders. Sie waren zwar noch immer da, aber sie waren ertragbarer. Zwei Wochen hatte ich es geschafft, mich von ihr fernzuhalten. Läppische zwei Wochen. Genauso lang – oder besser erbärmlich kurz – war ich in der Lage gewesen, meine Prägung geheim zu halten. Andererseits, musste ich mir eingestehen, dass ich ein Idiot war. Wie hätte ich je glauben können, Sangreal würde es nicht merken? Ich war kaum in der Lage gewesen, ihr in die Augen zu sehen, geschweige denn sie zu küssen oder gar mit ihr zu schlafen. Generell hatte ich in diesen zwei Wochen sehr wenig Zeit im Bett verbracht. Ich war meistens zu nervös gewesen, um überhaupt still zu liegen. Am Furchtbarsten war es aber gewesen, wenn sie mir nahe war. Dann hatte ich zwar keine Schmerzen mehr, wurde jedoch von einem unerklärlichen Zittern heimgesucht. Wie ein Junkie kurz vor seinem nächsten Schuss. Anstatt sie dann jedoch zu suchen, um dem ein Ende zu machen, hatte ich es vorgezogen, den Rückzug anzutreten. Ich wollte um jeden Preis verhindern, sie noch einmal zu sehen, weil ich nicht in der Lage war, vorherzusagen, was ich tun würde, wenn ich ihr gegenüberstand. Würde ich dann den letzten Rest eigenen Willen verlieren, den ich noch besaß? Würde ich dann Sangreal und Luna komplett vergessen? Nein, es war, wie ich es meinem Vater und allen anderen gesagt hatte. Ich würde mich nicht beugen. Ich war schon immer frei gewesen. Ja, mit Sangreal war ich etwas ruhiger geworden, aber Freiheit war mir noch immer wichtig gewesen. Sie hatte das gewusst und auch akzeptiert. Angst, ich könnte sie betrügen, hatte sie, so hatte sie es mir erzählt, nie. Und ich hatte auch nie das Bedürfnis nach einer anderen verspürt. Sie passte so perfekt zu mir und gab mir alles, was ich mir je wünschen konnte. Nie hatte ich etwas vermisst.Menschen dagegen waren viel zu zerbrechlich. Man musste dauernd aufpassen, dass man ihnen nicht versehentlich etwas brach. Mit den meisten von ihnen hatte ich auch nur ein einziges Mal etwas gehabt, dann hatte ich mir eine Neue gesucht. Nicht, weil ich sie umgebracht hatte, sondern weil es mich einfach nicht erfüllte.Allerdings... musste ich zugeben, dass es da doch Eine gegeben hatte, die eine gewisse Anziehungskraft auf mich gehabt hatte: Cat. Ich erinnerte mich noch daran, wie ich sie in ihrem Badezimmer geküsst und sie mich hinterher gegen das Waschbecken gedrückt hatte. Ich erinnerte mich an den Geschmack ihrer Haut, als ich sie biss – und leider auch an den, ihres Blutes. Plötzlich kam mir wieder in den Sinn, was sie mir erst gestern mitgeteilt hatte. Eigentlich wollte ich mich auf die Suche nach diesem Kantor machen, um meine Familie zu schützen. Jetzt konnte ich kaum mehr einen klaren Gedanken fassen. Ich sprang von meinem Baum und begann auf meinen vier Samtpfoten durch den Park zu laufen. Hier und da kamen mir Menschen entgegen, die mich mit leichter Ver- und Bewunderung musterten. Denn wie alle unsere Tiergestalten, war ich auch als Kater deutlich größer, als meine scheinbaren Artgenossen. Trotzdem gelang es mir ohne Probleme, mich an ein Mädchen anzuschleichen, das mit einem Buch im Gesicht auf einer Wiese lag und zu dösen schien. Vielleicht wollte sie sich so vor der Sonnenstrahlung schützen, vielleicht war sie aber auch nur beim Lesen eingeschlafen. Ich vergewisserte mich kurz, dass mich keiner sah, dann näherte ich mich ihrer Tasche und zog mit geübten Pfoten und einem findigen Näschen ihr Smartphone heraus und verschwand mit dem Diebesgut im Maul wieder auf einen Baum, der von ein paar anderen Bäumen verdeckt wurde. In seiner Krone suchte ich mir einen Ast aus, von dem ich sicher war, dass er mich auch als Mensch tragen würde, dann verwandelte ich mich zurück. Tastendrücken war mit Fingern ganz einfach deutlich leichter, als mit Pfoten. Es klingelte bestimmt sechs oder sieben Mal, ehe am anderen Ende endlich jemand ran ging. „Ja?“, fragte dann eine weibliche Stimme. „Cat?“, fragte ich meinerseits. „Tony?!“ Diesen Spitznamen wurde ich bei ihr wohl nie los. „Können wir uns treffen?“„Ist etwas passiert? Hast du was gesehen?“, wollte sie daraufhin hektisch wissen. „Das erklär' ich dir dann.“„Mhm... okay“, gab sie sich zufrieden.„Ach und“, fügte ich schließlich hinzu. „Könntest du mir ein paar Klamotten mitbringen?“ Cat machte ein verdutztes Geräusch. „Eh... okay?“***Nach Einbruch der Dunkelheit kam sie schließlich zu mir in den Park. „Ich wusste, dass diese ganze Verwandlungssache einen Haken hat“, merkte sie an, während sie, gegen einen Baum gelehnt, darauf wartete, dass ich mich anzog. „Meinst du Dracula war nach seinen Fledermaustouren auch immer nackt?“ Ich sprang mit einem Satz vom Baum. Sie schrak nicht mal ein kleines bisschen zurück. „Vampire können sich nicht in Fledermäuse verwandeln, also nein.“„Vielleicht war er ja gar kein Vampir?“Ich verdrehte die Augen, dann ging ich. Sie folgte mir, bis wir auf gleicher Höhe liefen. „Ich hätte ja jetzt gesagt, du seist immer noch der alte Miesepeter, aber das stimmt nicht.“Ich blieb abrupt stehen. „Was?“„Du siehst furchtbar aus.“Ich starrte sie an. „I-ich meine, nicht so“, korrigierte sie sich selbst. „Du siehst heiß aus, keine Frage, aber irgendetwas stimmt nicht. Also?“„Diese ganze Verwandlungssache hat mehr als einen Haken“, begann ich zu erzählen...

 

***

 

Ich saß mit ihr in einem kleinen Restaurant in der Innenstadt. Mit einem Teller Ravioli vor sich und einem Glas Wasser in der Hand, sahen ihre Augen noch immer verwundert zu mir herüber. „Und du möchtest wirklich nichts essen?“ Ich schüttelte den Kopf. „Kriege keinen Bissen runter.“Sie nahm einen großen Schluck Wasser ehe sie sprach. „Und du kannst überhaupt nichts dagegen tun?“„Mein Vater ist sich sicher, dass es mich umbringen wird, wenn ich das tue...“„Hattest du nicht gesagt, das dient dazu eure Population zu schützen? Klingt mir eher so, als treibe es euch in den Selbstmord...“Ich lachte bitter. „Wahrscheinlich ist das so.“Sie sah traurig auf ihre Pasta.„Ich hatte gehofft“, suchte ich nach den richtigen Worten. „Na ja, vielleicht... kannst du mir... helfen?“Ihr Blick wurde fragend. „Du hast mich von den Toten zurückgeholt.“Sie wedelte mit einer aufgespießten Ravioli. „Ich hab dich geheilt. Du warst nicht tot. Ich kann keine Toten wiederbeleben. Und ich befürchte, ich kann dich auch nicht vor euren Traditionen schützen.“„Wenn die Prägung nur eine Tradition wäre“, sagte ich. „Dann könnte man sie wenigstens ändern. Aber es ist viel mehr als das. Tiefer. Stärker. Aussichtsloser...“„Tut mir Leid, dass ich dir dabei nicht helfen kann.“„Schon okay...“Was folgte war ein Moment der Stille.„Achso“, ergriff sie dann wieder das Wort. „Was ich dir zu diesem Kantor gesagt hatte. Dass er keine Spuren hinterlässt. Das ist nicht ganz richtig. Vorgestern hat es in Redmond in einem alten Fabrikgebäude eine Explosion gegeben. Die Behörden gehen davon aus, dass eine Gruppe Jugendlicher dafür verantwortlich ist und da niemand dabei zu Schaden kam, beschäftigen sie sich nicht weiter damit. Zumindest haben sie keine menschlichen Überreste gefunden.“Sie begann in ihrer Tasche zu kramen und zog dann ein kleines, durchsichtiges Fläschchen, gefüllt mit etwas, das ich am ehesten noch als Asche bezeichnen würde, heraus. „Was ist das?“„Es glitzert im Sonnenlicht.“„Du meinst...?“„Ja“, sagte sie und nickte mit einem siegessicheren Lächeln auf den Lippen. „Mein lieber Artgenosse hat das komplette Gebäude in die Luft gejagt, entweder um den Vampir zu töten oder um seine Überreste so zu beseitigen, dass er sich niemals wieder zusammensetzen kann.“„Hätte es da nicht auch ein Feuer getan?“„Hätte es. Aber er scheint eine Vorliebe dafür zu haben, es ordentlich Krachen zu lassen. Ich habe im Internet recherchiert und festgestellt, dass es in mindestens sieben der Orte, durch die ich kam, als ich ihn verfolgte, Explosionen gegeben hatte. Ich blöde Kuh hatte bisher nur nach Feuern gesucht und gar nicht daran gedacht, dass sie mit dem Kantor zusammenhängen könnten.“„Und was wirst du nun tun? Warten bis es wieder kracht?“„Nein, ich werde weiter Ausschau in den umliegenden Orten halten.“„Du denkst also, er ist immer noch hier im Staat?“Sie nickte erneut und mir rann ein kalter Schauer über den Rücken. Eigentlich sollte ich ihr bei ihrer Suche helfen. Doch ich wusste, dass ich dazu nicht in der Lage war. Ich konnte momentan weder essen, noch schlafen. Wie sollte ich da etwas jagen, das mich umbringen wollte? Plötzlich spürte ich ihre Hand auf meiner. Sie fühlte sich nicht ganz so kalt an, als ich sie in Erinnerung hatte. Wahrscheinlich, weil ich weniger warm war. „Mach dir keine Sorgen. Ich finde ihn und überzeuge ihn davon, euch in Frieden zu lassen.“Ich zwang mir ein müdes Lächeln auf die Lippen. „Warum habt ihr uns verschont, wo es doch offenbar die Regel ist, alles Übersinnliche auszulöschen?“Sie zuckte mit den Achseln. „Ich weiß es nicht. Es war die Art meines Mentors.“Ihre Wortwahl machte mich stutzig. „Deines Vaters? War? Warum war?“Sie sah traurig auf ihren, inzwischen mit wahrscheinlich kalten Ravioli gefüllten, Teller. „Er ist nicht mehr... da.“„Du meinst er ist tot?“Ein verhaltenes Nicken war die Antwort. „Er starb vor vier Jahren. Ich wollte ihn noch heilen, aber er hat es nicht zugelassen. Er sagte, es wäre Zeit für eine neue Runde. Ich weiß nicht, ob er inzwischen wieder auf der Welt ist, oder ob er noch wartet. Aber der Vampir, der ihn tötete, wird auf jeden Fall nicht wieder kommen.“„Hast du ihn getötet?“„Nein“, antwortete sie. „Ich habe ihn quer durch fünf amerikanische Staaten gejagt, aber dann kam mir der Kantor zuvor, den ich jetzt suche.“„Dann solltest du ihm vielleicht dafür danken, wenn du ihn dann endlich mal treffen solltest, anstatt nur die Überreste seiner Feuerwerke in Fläschchen abzufüllen.“Sie lächelte. „Es wäre mir lieber gewesen, ich hätte ihn selbst erledigt. Fionn war immerhin mein Mentor und ich fand es zu früh, um allein dieses Leben zu bestreiten.“„Da war er wohl anderer Meinung.“„Ja, das war er wohl.“***

 

 

 

Nachdem sich unsere Wege wieder getrennt hatten, folgten für mich nun weitere Tage des Herumirrens. Obwohl jede Faser meines Körpers zurück nach Forks wollte, blieb ich standhaft. Ich ignorierte den Teil in mir, der zu dem Mädchen wollte, das ich nicht kannte, genauso wie ich den Teil zu ignorieren versuchte, der meine Tochter in Sicherheit wissen und Sangreal nicht weh tun wollte. Ich wusste, dass sie mich vermisste und wünschte mir, ich würde dasselbe tun. Aber ich konnte nicht. Wann immer ich mir ihr Gesicht in Erinnerung rufen wollte, sah ich nur das dieses Mädchens.

 

Seth hatte mal erzählt, er könne die Gesichter anderer Mädchen nicht mehr sehen. Ich hatte nie verstanden, was er damit gemeint hatte. Jetzt tat ich es. Früher hatte ich Mädchen angesehen und für hübsch oder annehmbar befunden, jetzt war es, als würde ich eine kahle Wand betrachten. Da war einfach nur Leere. Wie konnte ich Sangreal je wieder gegenüberstehen, die Liebe, die sie für mich empfand in ihren Augen sehen und dabei selbst nichts empfinden?

 

Und was war mit Luna? Wie empfand ich für meine Tochter? War sie mir auch gleichgültig? Zu gerne hätte ich einfach die Augen geschlossen und in mich hinein gehört, doch wann immer ich sie schloss, sah ich nur wieder dieses Mädchen vor mir. Ich hielt mich von ihr fern, doch sie verfolgte mich, ohne es zu wissen, auf Schritt und Tritt. Ich konnte nach wie vor weder schlafen, noch essen und etwas mehr als eine Woche, nachdem ich meiner Familie von meiner Prägung erzählt hatte, begann das mir allmählich an die Substanz zu gehen.

 

So sehr, dass ich mich dazu entschloss, Seattle den Rücken zu kehren, um zumindest die Schmerzen etwas einzudämmen, die von der Entfernung verursacht wurden, die zwischen ihr und mir lag. Nachdem ich das Ortsschild von Forks passiert hatte, war dann aber selbstverständlich nicht sie mein Ziel, denn ihr zu begegnen, war nach wie vor genau das, was ich vermeiden wollte. Dennoch riskierte ich ziemlich viel, in dem ich mich ausgerechnet in der Nähe der Schule versteckte. Ich war mir zu nahezu einhundert Prozent sicher, dass Luna nicht auf mich hören und diese dennoch weiterhin besuchen würde. Ich konnte sie ja in meinem gegenwärtigen Zustand nicht wirklich kontrollieren und wahrscheinlich waren ihr ihre Schulkameraden gerade jetzt eine willkommene Abwechslung.

 

Welcher Art diese Abwechslung war, konnte ich, nun da ich mich hier im Gebüsch verschanzt hatte, wenige Augenblicke später, mit eigenen Augen sehen: meine Tochter, meine Prinzessin, mein Baby stand da, in einer Ecke des Schulhofs – und küsste einen Kerl.

 

Ja, da waren definitiv noch starke Gefühle in mir, die ich für mein Kind empfand und wenn es momentan nur das Bedürfnis danach war, diesem Jungen den Kiefer abzureißen, damit er mein kleines Mädchen nie wieder küssen konnte. „Sie werden so schnell erwachsen, nicht wahr?“Ich erschrak und hätte dabei beinahe meine Deckung verloren. Bella saß plötzlich neben mir und lächelte leicht. Zur Antwort grummelte ich nur. Sie verschränkte die Arme vor der Brust. „Du hattest immerhin doppelt so viel Zeit, wie ich. Renesmee war keine acht Jahre alt, da hatte sie deine Geschwister und dich schon in ihrem Bauch.“ In mir brodelte es daraufhin noch mehr. Sie würde doch nicht mit diesem Kerl... ? Oder hatte sie schon... ? Ein Knurren entfuhr den tiefen meiner Kehle. Der Kiefer war zu wenig. Jetzt wollte ich ihm zu gerne noch etwas anderes abreißen. „Was willst du tun? Willst du jetzt da runter gehen und eine Szene machen?“Ich sah Bella stumm an. „Nur zu“, sagte sie daraufhin und nickte in deren Richtung. „Nimm deiner Tochter das letzte bisschen Freude, das sie momentan noch in ihrem Leben hat.“Daraufhin wand ich meinen Blick von ihr ab und musterte stattdessen das Gras.

 

„Ihre Familie war immer alles für sie. Und jetzt fällt sie von einem Moment auf den Nächsten wie ein Kartenhäuschen auseinander. Ich kann mir nicht mal vorstellen, wie das gerade für sie sein muss.“Bella rückte etwas näher. „Ich kann mir auch nicht vorstellen, wie das gerade für dich sein muss.“Ich lachte bitter. „Und ich mir nicht, wie das weitergehen soll.“Sie sah mich eindringlich an. „Du siehst müde aus, Ani.“„Ich bin müde und kann doch nicht schlafen. Ich habe Hunger und kann doch nichts essen. Ich will hier weg und doch will ich bleiben“, sagte ich verwirrt. Sie legte ihre Hand an mein Gesicht. „Komm mit nach Hause.“ Ich schüttelte den Kopf. „Ich kann nicht... Sangi.“„Natürlich wird es schmerzvoll für sie sein, in deiner Nähe zu sein, aber nicht mit dir zusammen sein zu können. Aber für sie ist es noch viel, viel schlimmer, nicht zu wissen, wo du bist. Wir alle wissen, dass es nur zwei Möglichkeiten gibt. Entweder du bist bei ihr oder du liegst in irgendeinem Loch und vegetierst vor dich hin.“ „Es muss eine Dritte geben. Es muss einfach“, zischte ich.„Du machst das jetzt seit drei Wochen. Hast du den Hauch einer Möglichkeit gesehen oder gespürt?“Ich schüttelte den Kopf. „Nein, aber ich kann jetzt nicht aufgeben.“„Niemand hat etwas von Aufgeben gesagt.“Ich sah sie fragend an. „Was machst du überhaupt hier?“„Wahrscheinlich das Selbe wie du“, antwortete sie. „Mit dem Unterschied, dass ich besser bin, als du. Deine Sinne lassen ziemlich zu wünschen übrig.“„Ich möchte mal deine Sinne sehen, nachdem du drei Wochen mit fast leerem Magen rumgelaufen bist.“Widerwillig ließ ich mich von Bella in ihrem roten Ferrari nach Hause fahren. Bereits als wir in die Straße einbogen, die zum Anwesen führte, überkam mich ein ungutes Gefühl. Nicht das, was ich in Sangreals Augen sehen würde, machte mir Sorgen, sondern das, was ich dabei empfinden würde. Sehr wahrscheinlich nämlich Nichts...

 

Zunächst blieb mir das jedoch erspart. Die Erste, die ich sah, kaum dass ich aus dem Wagen gestiegen war, war meine Mutter. Sie kam auf mich zu gelaufen und umarmte mich. „Ani!“, sagte sie dabei erleichtert. Nachdem sie sich wieder von mir gelöst hatte, nahm sie mein Gesicht in ihre Hände. „Danke, dass du zurückgekommen bist.“ Von allen Dingen, die sie hätte sagen können, waren das die Worte, die ich am wenigsten erwartet hatte – und die, auf die ich am wenigsten antworten konnte. Daher schwieg ich, ließ sie meine Hand nehmen und ins Haus führen. Selbst hier sah ich Sangreal nicht. Stattdessen saßen meine Schwester, Seth, mein Vater und Edward im Wohnzimmer. „Mann Ani!“, entfuhr es Seth als Erster. „Du siehst echt furchtbar aus. Bist du sicher, dass du das weiter durchziehen willst?“ Ich sah ihn ausdruckslos an. „Ja“, sagte ich dann entschlossen und setzte mich mit etwas Abstand zu ihnen ebenfalls auf das Sofa.Im Augenwinkel sah ich, wie Edward eine Spritze vom Glascouchtisch nahm. „Was ist das?“, fragte ich.

 

Er vergewisserte sich, dass darin keine Luft mehr enthalten war. „Nur ein nettes, kleines Schlafmittel.“„Hast du mit Carlisle telefoniert?“, stellte ich daraufhin die nächste Frage. Er sah etwas enttäuscht drein. „Falls es dich beruhigt: ja, habe ich, allerdings nur bezüglich der Dosierung. Ich habe mehrere Abschlüsse in Medizin, da werde ich so eine kleine Schlafstörung bestimmt in den Griff bekommen.“„Und wenn ich wieder aufwache, was dann? Bin ich da nicht genau am selben Punkt wie jetzt?“„Möglicherweise. Aber ausgeruhter.“Mariella schaltete sich ein: „Es gibt dir zumindest etwas Zeit.“Ich musterte die klare Flüssigkeit in der Spritze. War es wirklich Zeit, die ich benötigte? Heilte sie wirklich alle Wunden? Konnte sie mich auch von der Prägung heilen? War sie überhaupt eine Wunde? Oder machte sie mich heil?Nein. Schwachsinn. Ich war heil gewesen, bevor ich diesem Mädchen in die Augen gesehen hatte. Ich hatte eine heile Familie, eine tolle Partnerin, eine wundervolle Tochter gehabt. Was hatte ich denn jetzt noch? Pures Chaos. „Bitte“, hörte ich meine Schwester sagen. Ich nickte. „Meinetwegen.“***

 

 

 

Es könnten Tage, Wochen, Monate vergangen sein, ehe ich meine Augen wieder aufgeschlagen hatte. Ich wusste es nicht, hatte kein Zeitgefühl mehr. Genau genommen wusste ich nicht mal genau, wo ich mich befand, als ich meine Lider öffnete. Ich starrte an die Decke und versuchte mich an das zu erinnern, was gewesen war, bevor ich eingeschlafen war. Aber ich erinnerte mich nur an die Spritze und an Edward. Wie war ich hier her gekommen? Und wo war ich überhaupt?Verunsichert drehte ich meinen Kopf nach Links – und sah mit einem Mal in zwei, mir sehr bekannte, graue Augen. „Sangi“, flüsterte ich heißer. Sie saß auf einem Stuhl neben dem Bett. Selbst wenn ich nicht vierzehn Jahre mit ihr zusammen gewesen wäre, hätte ich gesehen, dass sie unsagbar traurig war. Ihre Augen funkelten ein wenig, was mich darauf schließen ließ, dass sie erst kürzlich geweint hatte. Dennoch setzte sie ein leichtes Lächeln auf, nun da sie sah, dass ich wach war. „Wo bin ich?“, fragte ich, während ich mich, noch etwas zittrig, aufsetzte. „In einem Zimmer in Edwards und Bellas Haus“, antwortete sie. Gut, das erklärte zumindest, warum ich hier absolut nichts wiedererkannte.Sie reichte mir ein Glas mit Wasser. Als ich die klare Flüssigkeit sah, wurde mir umso bewusster, wie trocken meine Kehle eigentlich war. Ich trank alles auf einen Zug leer und gab ihr das leere Glas zurück. „Wie lange hab ich geschlafen?“, konnte ich nun mit wieder relativ normaler Stimme fragen. „Zwei Tage“, sagte sie. „Edward meinte das wäre das Mindeste.“Ich hatte zwei komplette Tage durchgeschlafen? Mein Magen fühlte sich plötzlich schrecklich leer an. „Warte“, kam es von ihr nun, dann stand sie auf und verließ den Raum. Keine Minute später kam sie mit einem weißen Becher zurück, den sie mir reichte. Noch ehe ich den Inhalt gesehen hatte, roch ich, dass es Tierblut war. Immer mal wieder huschten meine Augen zu ihr, während ich den Becher leerte. Sie dagegen sah konstant aus dem Fenster. Warum war die Natur nur so grausam zu uns? Sie spürte noch immer, was ich brauchte. Ich dagegen spürte nichts. Und selbst wenn ich in diesem Augenblick wissen würde, was sie sich gerade wünschte. Ein Kuss, eine Umarmung, eine Liebesklärung. Ich würde es ihr nicht geben können. „Es tut mir leid.“ Das war alles, was ich stattdessen sagte. Langsam wand sie den Blick vom Fenster ab und sah zu mir. „Du musst das nicht tun“, sagte sie dann. „Was?“, fragte ich verwundert. „Mich entschuldigen?“Sie schüttelte den Kopf. „Nein. Das hier. Das alles hier. Du musst das nicht tun.“Ich sah sie stumm an. Ihre Unterlippe begann zu zittern. „Du musst dich meinetwegen nicht kaputt machen, Ani. Ich weiß, du kannst nichts dafür... ich-“ Sie brach ab, erhob sich mit verschränkten Armen von ihrem Platz und ging durch den kleinen Raum, während ihr Träne um Träne über die Wange rann. „Ich hätte es wissen müssen. Wir waren uns so ähnlich, aber ein Teil von dir... ein Teil von dir ist ein Werwolf. Und Wölfe prägen sich. Ich habe es bei deinen Eltern gesehen, ich habe es bei deiner Schwester gesehen. Leah hat mir davon erzählt. Im Grunde bin ich doch selbst schuld. Ich hätte es wissen müssen.“Ich schüttelte den Kopf und stand auf – nur um mich kurz darauf wieder auf die Bettkante zu setzen, weil mir schwindlig war. „Ani!“ Sie kam sofort zu mir und kniete sich vor mich hin.„Ich mache mich nicht deinetwegen kaputt“, sagte ich müde.Sangreals Augen sahen fragend zu mir empor. „Auch nicht für Luna“, fügte ich hinzu.Beim zweiten Versuch schaffte ich es schließlich aufzustehen. Sie tat es mir gleich. Mindestens zwei Köpfe kleiner als ich, stand sie nun besorgt vor mir. Vorsichtig hob ich die Arme und legte meine Hände an ihre Oberarme. In dem Moment, in dem ich sie berührte, zuckte sie kurz kaum merklich zusammen, so als hätte sie Angst, sie würde mir damit wehtun. „Ich tue es für mich“, sagte ich schließlich. „Seit ich denken kann, gab es für mich nichts Wichtigeres als Freiheit. Ich möchte tun was ich will, gehen wohin ich will und lieben wen ich will.“Sangreal senkte den Blick. Eben erst getrocknet, rannen nun neue Tränen über ihr bleiches Gesicht. Ich nahm eine Hand und legte sie vorsichtig unter ihr Kinn, so dass sie mich ansehen musste. „Vergiss niemals, dass ich dich gewählt habe, als ich noch frei war.“ Sie nahm meine Hand von ihrem Kinn und küsste sie. „Danke“, hauchte sie, dann legte sie ihre Hand an meine Wange. Kurz sah es so aus, als wolle sie sich auf die Zehenspitzen stellen und mich küssen, so wie sie es früher oft getan hatte, doch schien sie sich im letzten Moment dagegen zu entscheiden und verließ stattdessen zuerst den Raum, dann das ganze Haus. Ich hörte noch, wie sie durch das Laub im Wald lief.

 

Minuten nachdem ich keinen Schritt mehr von ihr wahrgenommen hatte, setzte ich mich in Bewegung. Edwards und Bellas kleines Haus hatte keine Küche. Den leeren Blutbeutel, den Sangreal für mich in den Becher umgefüllt hatte, fand ich auf einem kleinen Couchtisch neben einem erloschenen Kamin. Weitere Beutel waren in einer kleinen Kühlbox unter dem Tisch. Aber mir war jetzt nicht nach Nahrungsaufnahme, daher ging ich weiter durch das Haus. Im Schlafzimmer stand ein gigantisches Bett. Hinter einer gläsernen Tür ging es hinaus in einen kleinen Rosengarten. Ansonsten befand sich nichts in diesem Zimmer, aber das war wahrscheinlich auch nicht notwendig. Schließlich öffnete ich die letzte Tür im Haus. Hinter ihr kam ein kleines Zimmer mit weißen Wänden und vielen gepolsterten Möbeln zum Vorschein, auf denen man kaum würde sitzen können, da sie bereits von großen Plüschtieren belagert wurden. An einer Wand befand sich ein ebenfalls weißes Himmelbett. Daneben war ein kleines Nachttischchen mit einer runden Lampe und zwei Schubladen. Die untere stand etwas offen. Ich setzte mich auf das Bett und schob sie noch etwas weiter auf. Ein Buch mit blankem, violettem Umschlag lag darin. Ein ebenfalls violettes Satinband markierte die Stelle, die ich aufschlug. Sie war nur wenige Seiten vor Ende des Buches.Forks, 20. Oktober 2009

 

 

 

Liebes Tagebuch,

 

 

 

heute war ich wieder mit Mommy und Daddy jagen. Mein Jacob war natürlich auch dabei. Aber ich hab ein viel größeres Reh gefangen als er.

 

Da war er richtig grantig und ich hab ihm angeboten bei mir mitzuessen.

 

 

 

Ach so.. ja.

 

 

 

Ich hab dir ja schon erzählt, dass wir umziehen müssen. Mommy hat gesagt, dass sei leider notwendig, weil wir anders sind und nicht immer an einem Ort bleiben können.

 

 

 

Das Tagebuch meiner Mutter zu lesen war wahrscheinlich nicht gerade die feine Art. Trotzdem blätterte ich weiter.Forks, 1. November 2009Liebes Tagebuch,

 

Jake hat mir heute gesagt, dass er auch sehr traurig sein wird, weil er seine Familie verlassen muss. Ich will nicht, dass er traurig ist. Aber wenn er nicht mit uns käme, wäre ich wahrscheinlich noch viel, viel trauriger... Wie war das noch mit der Prägung gewesen? Sie hatte angeblich nur Auswirkungen auf den Geprägten. Die Person auf die man geprägt war, behielt jedoch ihren freien Willen. Trotzdem schien Mum von Anfang an an Dad gehangen zu haben... Forks, 21. November 2009Liebes Tagebuch,

 

heute ist es soweit. In einer Stunde fahren wir zum Flughafen. Die meisten unserer Sachen wurden schon abgeholt. Dich werde ich hierlassen. Ich hoffe, du bist mir nicht böse, aber jetzt beginnt für mich ein neuer Lebensabschnitt, daher möchte ich mir dafür ein neues Tagebuch zulegen. Bei dir habe ich auch nur noch sieben Seiten frei. Mum hat versprochen, dass wir irgendwann wieder kommen werden. Und wenn der Zeitpunkt da ist, werde ich dich wieder aus der Schublade holen und dir auf diesen sieben Seiten schreiben, was in der Zwischenzeit alles passiert ist.Ich musste unweigerlich leicht schmunzeln. Sieben Seiten für fünfzig Jahre? Mit Sicherheit hätte Mum, als sie an diesem Tag zum letzten Mal in dieses Tagebuch schrieb, nicht im Traum daran gedacht, dass sie exakt fünf Jahre später drei Kinder auf die Welt bringen würde. Ich setzte das Satinband wieder auf die Stelle, auf der es gewesen war und legte das Buch zurück in die Schublade. Bella hatte Recht. Meine Mutter war so wahnsinnig schnell erwachsen geworden. Ich hatte es immer für selbstverständlich genommen, dass meine Tochter relativ normal gewachsen war. Trotzdem hatte ich die Zeit mit ihr nicht weniger genossen. Ihre ersten Schritte, ihre ersten Worte, ihre erste Jagd, ihre erste Verwandlung... ich war immer dabei gewesen, nie hatte ich das Gefühl gehabt, irgendetwas verpasst zu haben – bis heute. Ich konnte sie momentan weder beschützen, noch wusste ich, was in ihrem Herzen vorging und das grämte mich. Ich wollte nicht, dass diese Prägung noch mehr zerstörte, als sie es bereits getan hatte. Entschlossen stand ich vom Kinderbett meiner Mutter auf und verließ ebenfalls das kleine Häuschen im Wald. Als ich durch den Türrahmen trat, roch ich noch einen Hauch von Sangreals Duft. Das Verlangen nach ihr war verschwunden, doch selbst die Prägung war nicht in der Lage, meine Erinnerungen zu löschen. Die Erinnerungen an eine Zeit, als mein Herz noch ihr gehört hatte.Langsam ging ich weiter, bis ich zu einem unserer neuen Kleiderdepots kam. Ich verstaute dort meine Klamotten, dann verwandelte ich mich in einen Vogel und machte mich auf Richtung La Push.

 

***

 

Nach Betreten des Reservats, unterdrückte ich das dringende Verlangen in eine bestimmte Richtung zu fliegen und landete stattdessen auf einem Fenstersims der kleinen Schule. Vielleicht war es reine Intuition, vielleicht hatte es damit zu tun, dass wir demselben Rudel angehörten, jedenfalls war ich mir ziemlich sicher gewesen, dass Leah just in diesem Moment hinter eben jenem Fenster unterrichtete. Sie schien ein ähnlich gutes Gespür zu haben, denn ich brauchte nicht mal mit dem Schnabel gegen die Scheibe zu klopfen, damit sie mich bemerkte. Kaum war ich gelandet, wanderten ihre Augen bereits in meine Richtung.Erst das Schnippen eines Jungen in der hinteren Reihe, der es offensichtlich leid war, seine Hand in die Luft zu heben, ohne beachtet zu werden, ließ sie wieder ihre Schüler ansehen. „Ja?“, sagte sie und nickte dem Jungen zu.„Können wir auch im Internet recherchieren?“„Das Thema ist 'Tiere und Pflanzen meiner Heimat'. Das bedeutet du sollst in den Wald gehen und die Welt um dich herum beobachten und nicht in deinen Computer starren.“Der Junge fixierte das Blatt auf seinem Tisch und nickte. „Hat noch jemand eine Frage?“ Die Klasse war sich einig und schüttelte den Kopf. Auch ohne tierische Sinne wäre mir nicht entgangen, dass sie es eilig hatte, ihren Unterricht zu beenden. Ihren Schülern schien es auch nicht zu entgehen. „Gut“, sagte sie dann und begann damit ihre Lehrutensilien zusammen zu packen. „Dann wünsche ich euch viel Spaß in eurer kommenden Unterrichtsstunde.“„Danke, Leah“, kam es wie aus einem Munde.

 

Daraufhin verließ ich meinen Posten und flog zu einem weiteren Kleiderdepot in der Nähe, um mich umzuziehen. Als Leah das Schulgebäude verließ, war ich bereits voll bekleidet. Ich kam gerade aus dem Wald gelaufen, da Schritt sie an mir vorbei und ich machte ein, zwei schnelle Schritte, um mit ihr gleichauf zu sein.„Hey“, begrüßte sie mich. „Ich frag mal lieber nicht, wie es dir geht.“Ich seufzte. „Ja, ich weiß, man sieht es mir an.“Leah nickte und warf mir einen bemitleideten Blick zu, während wir durch das Reservat liefen.„Deswegen bin ich hier. Leah....“, begann ich. „Du hast dein ganzes Leben in La Push verbracht, du bist mit den Legenden aufgewachsen, dein Vater war lange Jahre im Rat. Wenn du irgendeine Möglichkeit kennst, wie ich aus dieser Sache hier rauskommen kann, dann sag es mir bitte und wenn es nur ein Flüstern ist.“Sie blieb abrupt stehen und sah mich ausdruckslos an. „Warum fragst du ausgerechnet mich das?“„Das hab ich doch schon gesagt, weil du-“Sie unterbrach mich, das Gesicht nun mit einem wütenden Funkeln versehen. „Glaubst du es hat einen Moment gegeben, an dem ich mich nach dem Tod deines Bruders von der Prägung befreien wollte? Von dem Schmerz, den das Loch verursachte, das er in meinem Leben, in meinem Herzen, hinterlassen hat?“ „Nein, ich-“, versuchte ich sie zu beschwichtigen. „Diese Prägung war alles, was ich je wollte. Er war alles, was ich je wollte. Die Prägung aufzugeben hätte bedeutet, ihn aufzugeben. Er war fort, aber unsere Liebe war noch da. Sie ist immer noch da. Und solange ich ihn liebe und mich an ihn erinnere, wird er nie ganz weg sein. Er wird in meinem Herzen weiterleben. Für immer.“Ich hob die Hände. „Ich weiß, ich weiß. Es tut mir leid.“ Wie dumm war ich eigentlich? Ich ließ es dabei bewenden und setzte mich wieder in Bewegung. Leah folgte mir wenige Augenblicke später. Ein paar Minuten liefen wir dann stumm nebeneinander her.„Ani“, sagte sie nun etwas einfühlsamer. „Selbst wenn es in unseren Legenden eine Lösung für dein Problem gäbe, würde ich darauf keinen Wert legen. Es hieß, nur männliche Quileute würden sich verwandeln. Ich war der erste Beweis, dass das nicht stimmt. Auch wurde der Prägung nachgesagt, sie sei äußerst selten und doch wurden wir alle irgendwann geprägt. Die einen früher, die anderen später.“- „Und wieder andere viel zu spät...“„Was denkst du... hättest du sie willkommen geheißen, hättest du dich früher geprägt?“, fragte sie sanft. Ich zuckte mit den Achseln, während ich mit gesenktem Kopf weiterging. „Ich weiß nicht. Ich habe Will früher oft darum beneidet, dass er dich hatte. Ich dachte geprägt zu sein wäre zumindest mal ein Schritt in die richtige Richtung. Die Richtung, die mich meinem Vater näher bringen würde. Am Ende hab ich es auch ohne Prägung geschafft und bis vor kurzem war ich mir sicher gewesen, dass es so sein sollte.“Ich erinnerte mich daran, wie meine Mutter sich an ihrem Hochzeitstag zu mir herunter gebeugt hatte. Ich war mir so sicher gewesen, dass Sangreal der Deckel war, von dem sie gesprochen hatte. Konnte ich wirklich so falsch gelegen haben? Wäre es vielleicht besser gewesen, ich hätte Sangi nie kennengelernt und stattdessen weiter auf eine Prägung gehofft? Wann hatte ich diese Hoffnung überhaupt aufgegeben? Hatte ich eigentlich jemals wirklich gehofft? Wenn ich so darüber nachdachte, war ich davon ausgegangen, zu sehr Vampir zu sein, um mich zu prägen? War das vielleicht das Schlupfloch, das ich so verzweifelt suchte? Sträubte ich mich deswegen so sehr dagegen, anstatt mein Schicksal einfach anzunehmen, so wie es die anderen Geprägten getan hatten? Weil ich zu viel Vampir war?„Ani? Ani?“ Erschrocken hob ich den Kopf und sah Leah an. Ich hatte keine Ahnung, wie oft sie schon meinen Namen gesagt hatte, ehe ich reagierte. Erst ihre Hand an meiner Schulter hatte mich zum Stehen bleiben gebracht. Ihre Augen huschten an einen Punkt hinter mir und ich folgte ihnen. Ohne mir dessen bewusst gewesen zu sein, war ich die ganze Zeit über zielstrebig zu Leahs Haus gelaufen.

 

Nun sah ich auch warum: auf der Treppe vor der Haustür saß Madeleine mit ihrer Freundin. Helena. Das Mädchen, auf das mein innerer Kompass gerichtet war. Das Mädchen von dem ich mir sicher war, dass es mein Verderben sein würde, obwohl Mutter Natur eine gemeinsame Zukunft für uns vorgesehen hatte. „Hey Mum!“, rief Leahs Erstgeborene uns freudig entgegen, nun da sie uns entdeckt hatte. „Scheiße“, zischte ich, so dass nur Leah es hörte. Sie sah betroffen drein. „Es tut mir Leid, das wusste ich nicht.“Am liebsten hätte ich mich umgedreht und wäre davon gerannt, aber meine Beine weigerten sich, auch nur einen Schritt zu tun, der mich weiter von ihr entfernte. „Soll ich sie fortschicken?“, flüsterte Leah. Ich schwieg.„Mum?!“, rief Madeleine dann erneut. „Ist alles okay?!“Leah lächelte zu ihrer Tochter hinüber. „Alles in Ordnung, Maddie. Bitte geht doch schonmal ins Haus!“ Es lagen einige Meter Luftlinie zwischen uns, dennoch fühlte ich mich, als hätte mich dieses Mädchen an der Hand gepackt.

 

Kaum das die beiden im Haus verschwunden waren, sank ich auf die Knie. Leah tat es mir gleich und legte besorgt ihren Arm um mich. „Warum kann ich nicht einfach hier weg?“, wimmerte ich beinahe. „Weil du bei ihr sein möchtest.“Ich ballte die Hände zu Fäusten und vergrub dabei meine Fingernägel in der Erde. Je mehr ich versuchte mich gegen den Drang zu sträuben, ins Haus zu gehen, desto stärker überkam mich Übelkeit, gepaart mit Schüttelfrost. Es dauerte nicht lang, da konnte Leah das nicht mehr länger mitansehen. „Ani, bitte lass uns rein gehen.“Vor meinem inneren Auge sah ich Sangreal und Luna. Ich wusste, wenn ich jetzt dieses Haus betrat, wenn ich nachgab, dann würde ich mich unweigerlich von den beiden entfernen – noch weiter, als ich mich bereits entfernt hatte. Schlimmer noch: möglicherweise gab es dann keinen Weg mehr zurück. Vielleicht brach dann der letzte Rest ab, der mich noch mit den beiden verband. Ich schüttelte den Kopf. „Nein“, würgte ich hervor. Ich nahm alle Kraft zusammen, die ich aufbringen konnte und stand auf. „Ani, bitte!“, flehte Leah nun fast. Nein, Mutter Natur bekam mich nicht. Nicht mich. Niemals mich. Mühselig setzte ich einen Fuß vor den Anderen – fort von hier, hinein in den Wald. Es waren nur wenige Meter bis dahin. Wenige Meter die sich anfühlten, als müsste ich dafür die halbe Welt umrunden. Doch ich ging weiter. Setzte einen Schritt vor den Anderen.Vielleicht, so glaubte ich, musste ich nur weit genug aus ihrem Radius gelangen, damit die Anziehungskraft wieder sank. Dass die Prägung aber so nicht funktionierte, davon hatte ich ja keine Ahnung. Meine Unwissenheit wurde prompt bestraft: kaum dass meine Finger die Rinde des ersten Baumes im Wald berührten, sackte ich vor diesem zusammen, zitterte und übergab mich. Der einzige Trost bei alledem war noch, dass das Blut, das aus meinem Mund quoll, nicht meines war, sondern das Tierblut, das mir Sangreal gereicht hatte. Leah schien diese Tatsache nicht im Mindesten zu beruhigen, möglicherweise hielt sie es aber in all der Aufregung auch für mein eigenes Blut und war deshalb so aufgebracht. „Ani, Ani bitte hör auf damit. Du kannst nicht dagegen ankommen.“„Wer sagt das“, presste ich hervor.„Bitte“, wiederholte sie nur.Ich schüttelte den Kopf und kniff die Augen zusammen. “Nein.“Sie legte ihre Hand auf meine. „Du bist eiskalt. Bitte kommt mit ins Haus. In ihrer Nähe wird es dir gleich besser gehen.“„Ich will aber nicht in ihrer Nähe sein“, beteuerte ich.„Doch, das willst du.“„Nein“, sagte ich voller Überzeugung. „Mein Körper will das. Mehr nicht.“„Anthony“, ihre Stimme nahm einen mahnenden Tonfall an. Sie griff in ihre Jackentasche. „Ich rufe jetzt Jacob an!“Ich wusch mir das Blut vom Mund. Lächerlich. „Ich bin doch nicht einer deiner Schüler.“Sie ließ sich nicht beirren und drückte auf dem Display ihres Smartphones herum. Na schön. Sollte sie meinen Vater doch anrufen. Bevor er hier eintraf, war ich bereits über alle Berge – dachte ich zumindest und verwandelte mich, wieder mal ohne Rücksicht auf meine Klamotten, in einen Vogel. Ich stieß mich vom Boden ab und stieg empor. Es fühlte sich an, als hingen zwanzig Menschen an jedem meiner Flügel, trotzdem flatterte ich weiter. Ich wollte die kleine Lokomotive sein, die es über den Berg schaffte. Doch der Berg war zu hoch. Ich fiel.

 

Den Schmerz des Aufpralls auf der kalten, harten Erde spürte ich kaum. Vielleicht war ich auch kurz bewusstlos gewesen. Ich konnte es nicht sagen. Ich konnte ja nicht mal oben von unten unterscheiden, ehe ich zwei warme Hände an meinen Federn spürte, die mich in irgendetwas Weiches einwickelten. „Warum bist du nur so stur“, hörte ich Leah. Ich nahm einen leichten Salzgeruch war. Vorsichtig nahm sie meinen rechten Flügel und schien ihn zu begutachten. „Hast du dir was getan?“ Sie zog die Nase hoch. Weinte sie etwa? Plötzlich rüttelte es. Sie war mit mir aufgestanden und ging zum Haus. Aufgeregt begann ich zu flattern, musste aber feststellen, dass ich kaum dazu in der Lage war. Meine Flügel schmerzten zu sehr. Trotzdem, ich wollte nicht in dieses Haus! Leah war sich dessen bewusst, dennoch ging sie weiter. In der Küche saß ihre Tochter mit ihr. Ich sah sie nicht, vergrub meinen Kopf irgendwo in dem Stoff um mich herum, aber ich spürte sie. Es war ein seltsames Gefühl, mit ihr in einem Raum zu sein. Vielleicht war es vergleichbar mit dem Gefühl nach einer Wanderung im Schnee ein Zimmer mit einem Kamin zu betreten. Das Feuer war verführerisch warm und strahlte Wohlbehagen aus. Bei dem Gedanken, sie mit einem Kamin zu vergleichen, bekam ich schlagartig einen Kloß im Hals. Warum ausgerechnet ein Kamin?„Ist das ein Vogel, Mum?“, fragte Madeleine verwundert. „Ohje, ist er verletzt?“, erkundigte sich Helena. „Ich weiß nicht. Ich-“, Leah suchte nach den richtigen Worten. Bitte, bring mich wieder raus, dachte ich. Aber sie war kein Wolf, sie konnte meine Gedanken nicht hören. Selbst wenn sie es könnte, sie würde es dennoch nicht tun, da war ich mir ziemlich sicher. Sie teilte die Meinung meines Vaters. Gegen eine Prägung war nicht anzukommen. Es war zwecklos. Und da ich das in ihren Augen nicht verstand und auch nicht verstehen wollte, versuchte sie es nun wohl auf die harte Tour. „Helena, kennst du dich mit Tieren aus?“, fragte Leah. „Ich hab mal ein Praktikum beim Tierarzt gemacht.“„Gut“, antwortete Leah daraufhin. „Nimmst du ihn kurz, bitte? Ich komme gleich wieder.“Mit diesen Worten bugsierte sie mich eilig auf Helenas Schoß und verschwand die Treppen hinauf.Bevor ich ihre erste direkte Berührung spürte, hatte ich mir vorgenommen, einfach von ihrem Schoß zu hüpfen. Doch kaum lag ich auf ihm und fühlte, wie ihre Finger über meine Federn strichen, verschwand mein Widerstand gänzlich. Völlige Entspannung überkam mich. Wochenlang hatte ich kein Auge zugemacht, nun musste ich mir alle Mühe geben, nicht direkt einzuschlafen. Auch schien es so, als linderte sie die Schmerzen in meinen Flügeln. „Was ist denn jetzt los?“ Madeleines Stimme hörte sich an, als stünde sie weit weg. „Ich weiß nicht“, vernahm ich gerade noch so die Stimme ihrer Freundin. So gut hatte ich mich seit Wochen nicht mehr gefühlt.

 

Dann wurde ich plötzlich hochgehoben und die nachlassende Wärme ließ mich hochschrecken. Es polterte und schaukelte und kurz darauf spürte ich etwas sehr Großes, Weiches unter mir. Ich brauchte eine ganze Weile, ehe ich meine Orientierung zurück hatte, um zu registrieren, dass Leah mit mir in ein Zimmer im ersten Stock gelaufen und mich auf ihr Bett gelegt hatte. Jetzt erst nahm ich auch den Klamottenstapel neben mir war. „Das sind ein paar alte Sachen von Will“, sagte sie, dann verließ sie den Raum und zog die Tür hinter sich zu.

 

Eine ganze Weile starrte ich die Kleidung meines Bruders an, während ich versuchte, den Wirrwarr in meinem Kopf irgendwie zu entknoten. Schließlich atmete ich tief durch, schloss die Augen und wartete auf den Hitzestrom, der mich zurück in meine menschliche Form verwandelte. Als ich dann wieder ein Mensch war, wurde mir erst so richtig bewusst, dass meine Arme bis vor kurzem noch gebrochen waren und sich noch immer im Heilungsprozess befanden. Dementsprechend langsam war ich dann auch mit dem anziehen. Ich hatte noch nicht mal mein Hemd richtig an, da ging die Tür auf und Leah trat ein. „Soll ich dir helfen?“, fragte sie. „Danke, aber ich werde es wohl noch schaffen, mir ein Hemd anzuziehen“, lehnte ich ab.Ich spürte ihren prüfenden Blick auf mir, als ich mich daran machte, es langsam zuzuknöpfen. „Du hast dir die Arme gebrochen?“, kam es zaghaft von ihr. „Wen kümmert's? In ein paar Minuten ist alles komplett verheilt.“Sie wollte gerade noch etwas antworten, da öffnete sich die Tür und ihre Tochter kam herein. „Mum, alles okay?“, fragte sie beim Betreten des Raumes. Als sie mich bemerkte, wurden ihre Augen größer. „Was ist denn hier los? Wo ist der Vogel?“Leah und ich warfen einander Blicke zu, dann sahen wir wieder Madeleine an, die zum Zeichen ihrer Offenbarung den Mund öffnete. „Oooh!“Das Geräusch der ins Schloss fallenden Haustür ließ mich aufhorchen. Instinktiv ging ich zum Fenster und warf einen Blick hinaus. Helena verließ das Haus und schritt davon. „Wo geht sie hin?“, fragte ich etwas geistesabwesend.„Zu ihrem Nebenjob im Schwimmbad“, antwortete Madeleine. „Würde mich mal jemand aufklären was hier los ist?“ Nachdem Helena aus meinem Blickfeld verschwunden war, drehte ich mich wieder zu meiner Schwägerin um. „Leah, warum hast du das getan?“„Das fragst du noch?“, konterte sie. „Meinst du ich sehe dir dabei zu, wie du eingehst?“- „Ich gehe nicht ein, ich kämpfe!“„Ach, das nennst du also kämpfen ja?“- „Ja!“„Was ist denn hier los?“ Billys Stimme ließ uns aufhorchen. „Du bist ja schon zurück“, sagte ihre Mutter.Billy nickte ihr zu, dann sah sie mich an. Ich wusste nicht, was ich ihr sagen sollte und hüllte mich lieber abermals in Schweigen. Als ich in dem Vorhaben, ebenfalls das Haus zu verlassen, einen Schritt nach vorn machte, ergriff Leah wieder das Wort. „Reicht es denn nicht, dass Billy keinen Vater mehr hat? Ist Luna nun die Nächste?“Ich kniff die Augen zusammen. War ja klar, dass sie nun auf diese Schiene rutschte. Langsam drehte ich mich zu ihr um: „Wie ich schon sagte, ich kämpfe. Und sie ist einer der Gründe, für die ich das tue.“ Dann schritt ich an Billy vorbei und verließ das Haus. Zu gerne hätte ich sie gefragt, wie es Luna ging, doch wie sollte es ihr schon gehen? Im Grunde kannte ich die Antwort ja bereits.Ursprünglich hatte ich wohl vorgehabt nach Hause zu gehen, um mich zumindest Wills Klamotten zu entledigen, denn sie zu tragen war irgendwie seltsam. Stattdessen trugen mich meine Füße abermals in eine andere Richtung... ***

 

Wenig später stand ich dann vor der großen Hecke, die als Sichtschutz für die Badegäste im Schwimmbad von Forks diente. Das Grünzeug war für mich kein Hindernis. Ich machte mich unsichtbar und kletterte darüber hinweg und anschließend auf einen daneben stehenden alten Baum, in dessen Krone ich mich verstecken konnte. Die Sonne erbarmte sich heute für einige wenige Stunde dazu, auch diesem verregneten Ort ihre Strahlen zu schenken, was dazu führte, dass das kleine Schwimmbad ziemlich gut besucht war. Trotz der frühen Stunde – es war noch nicht mal Mittag – waren schon einige Besucher hier. Die meisten schienen ältere Semester zu sein, doch in einer Ecke hatte sich eine ganze Gruppe kleiner Kinder versammelt, die auf etwas zu warten schien.

 

Mein Blick fiel auf ein kleines, weißes Häuschen am Beckenrand. Die Tür schwang auf und Helena trat heraus. Sie trug ein kurzes, weißes Shirt, dessen roter Rückenprint signalisierte, dass sie hier Rettungsschwimmerin war. Ihr Bikini hatte ein Blättermuster mit verschiedenen Grüntönen und einigen wenigen rosanen Blüten. Das Höschen war sichtbar, das Oberteil nur schemenhaft zu erkennen. Sie hatte eine tadellose Figur und ein kleines Piercing am Bauchnabel, das funkelte, wann immer ein Sonnenstrahl darauf fiel. Ihr langes, blondes Haar hatte sie zum Pferdeschwanz gebunden, so dass es leicht mitschwang, als sie die wenigen Schritte zu ihren Schützlingen ging. Als sie vor ihnen stand, begann sie sie über die bevorstehende Aufgabe aufzuklären, die darin bestand, eine bestimmte Anzahl an Bahnen zu schwimmen und anschließend nach roten Ringen zu tauchen. Die Kinder hörten aufmerksam zu, dann half sie dem einen oder anderen noch dabei, die Schwimmflügel anzulegen, während einige Ungeduldige sich an den Beckenrand setzten und die Füße ins Wasser streckten. Sie war gerade damit beschäftigt einem kleinen Mädchen mit blonden Zöpfen und einem pinken Badeanzug den ersten Flügel über das zarte Ärmchen zu ziehen, da fiel mein Augenmerk auf zwei hitzige Jungs, die einen Dritten kleineren am Beckenrand anzupöbeln schienen. Zunächst nur verbal, nahmen sie ihm kurz darauf die Schwimmflügel weg, woraufhin er begann, sich rückwärts zurückzuziehen. Das wäre natürlich kein schlechtes Vorhaben gewesen, wäre hinter ihm nicht das vier Meter tiefe Becken gewesen, in dem Nichtschwimmer, Flügelchen hin oder her, nichts verloren hatten. Der kleine Mann nahm allerdings nur Notiz von den Jungen, die ihn drangsalierten und realisierte gar nicht, dass er nur noch einen Schritt vom Wasser entfernt war.Helena übrigens genauso wenig. Als der Knirps im Wasser landete war sie noch mit dem zweiten Schwimmflügel des Mädchens beschäftigt. Geistesgegenwärtig machte ich einen Satz von meinem Baum und dann direkt ins Wasser. Normalerweise hätte ich mich zuvor unsichtbar gemacht oder zumindest auf ein menschliches Tempo geachtet, jetzt konnte ich nur hoffen, dass alle Badegäste, die mich sahen, entweder zu dement oder zu jung waren, als das man ihnen glauben würde. Das Kind hatte keine drei Mal mit den Armen gerudert, da saß ich mit ihm schon wieder am Beckenrand. Erschrocken war er allerdings trotzdem derart darüber, dass er Sekunden später zu weinen begann, woraufhin Helena angerannt kam. „Was ist denn passiert?“, fragte sie mit großen Augen. „Er ist ins Becken gefallen“, antwortete ich und warf einen finsteren Blick zu den beiden Burschen, deren Verdienst das gewesen war. Sie stahlen sich still und heimlich davon und setzten sich zu den anderen Kindern, die uns neugierig musterten.Helena ließ den Blick über das Becken schweifen, das an der Stelle, an der er hinein gefallen war, noch immer Wellen schlug. Als ihr klar wurde, dass er nicht etwa im daneben angrenzenden Nichtschwimmer-Bereich gelandet war, musste sie schlucken. Auch ohne Prägung hätte ich ihr angesehen, dass sie gerade mit Schuldgefühlen zu kämpfen hatte. „D-das... es tut mir so leid“, sagte sie dann leise und nahm mir den weinenden Knirps ab. Sie ging mit ihm hinüber zu den Anderen, wo nun ein älterer Herr stand, der ebenfalls ein weißes Shirt mit rotem Schriftzug trug. Er nahm ihr stillschweigend das Kind ab und schenkte ihr ein warmes Lächeln. Trotzdem hatte sie mit den Tränen zu kämpfen, als sie sich umdrehte und in dem kleinen Häuschen verschwand. „Sooo Kinder, wir gehen jetzt alle in Paaren zu den Umkleidekabinen, damit ihr angezogen seid, wenn eure Eltern euch abholen kommen“, sagte der Mann.Teilweise meckernd, teilweise mit dem besten Freund oder der besten Freundin flüsternd, trotteten sie daraufhin, immer zwei nebeneinander, davon. Ich sah ihnen nach, bis sie in den Umkleidehäuschen am anderen Ende der Anlage verschwunden waren, dann wollte auch ich mich zum Gehen aufmachen, doch ein leises Wimmern hielt mich davon ab. Fast mechanisch gingen meine Beine die wenigen Meter zum Rettungsschwimmerhäuschen. Ich klopfte an und trat erst ein, als das Wimmern verstummte. Helena saß auf dem Boden und lehnte mit dem Rücken gegen den Schreibtisch hinter ihr. Das weiße Shirt hatte sie in eine Ecke geworfen, neben ihr lag ein Blatt Papier und ein Telefon. Ihre Unterlippe zitterte und sie wusch sich mit dem Handrücken über ihr Gesicht, bevor sie die Gegenstände zu ihrer Linken aufhob und aufstand, um sie auf den Schreibtisch zu legen. „Ich hab ihre Eltern angerufen“, klärte sie mich auf, während sie mir ihren Rücken zugewandt hatte. Ihr Bikini war nur mit einem dünnen Band zugeschnürt. Ich konnte über mich selbst nur den Kopf schütteln. Das war doch jetzt nicht wichtig!„Ich bin eine miserable Aufpasserin“, sagte sie.„Aber nein“, gab ich zurück. „Das kann doch jedem Mal passieren. Ich meine, dafür seid ihr ja eigentlich zu zweit, oder nicht?“Sie nickte, aber ihre Mundwinkel hingen noch immer etwas unten.„Hey“, sagte ich sanft und trat näher an sie heran. „Der Kleine war vielleicht fünf Sekunden im Wasser.“„Deinetwegen“, antwortete sie und ein zartes Lächeln zeichnete sich auf ihrem Gesicht ab. „Danke“, fügte sie hinzu.

 

Zu sehen, wie die Traurigkeit meinetwegen von ihr abfiel, verursachte ein Kribbeln in mir – eines, das ich zu gleichen Teilen liebte und fürchtete. Lieben, weil es sich einfach nur gut anfühlte und Fürchten, weil ich mich nicht gut dabei fühlen wollte. Es war nicht richtig. Es war nicht mal meine eigene Entscheidung gewesen. Irgendeine blöde Wolfsache band mich an dieses Mädchen. Ich sah in ihre braunen Augen und drohte darin zu versinken. Alles strampeln würde nichts bringen, denn die Natur wollte es so. Sie kontrollierte das Wetter, die Jahreszeiten, sie erschuf Leben und nahm es wieder. Nichts auf dieser Erde war gegen sie gefeilt. Wie also sollte ich, vergleichsweise kleines, unbedeutendes Lebewesen gegen sie ankommen?

 

Ich nahm erst wahr, wie nah ich an sie heran getreten war, als ich ihren Atem auf meinen Lippen spürte. Ich konnte ihr Herz pochen hören, immer schneller und schneller. Ich roch das Blut, das durch ihre Venen gepumpt wurde. Ich schloss die Lider und sog den Duft ein. „Du tröpfelst“, sagte sie dann plötzlich. Ich riss die Augen auf und trat erschrocken zurück. Eine Sekunde später und ich hätte sie geküsst! Sie stand da, die Schreibtischkante mit den Händen greifend und hatte den Blick leicht gesenkt. Die leichte Röte in ihrem Gesicht entging mir dennoch nicht. „Die solltest du schnell wechseln oder trocknen. Das kann eine böse Erkältung geben.“Ja, da kam eindeutig die Lehrerin durch. Eigentlich könnte ich ihr einfach sagen, was ich war und dass menschliche Krankheiten mir nichts anhaben konnten. Die Schweigepflicht der Werwölfe gegenüber Sterblichen war dadurch ausgehoben, dass ich auf sie geprägt war und was die Vampire anging, so würde sie auch das früher oder später herausfinden. Doch ich schwieg. Warum? Vielleicht weil ich mich noch nicht bereit dazu fühlte, aufzugeben und sie in mein Leben zu lassen, denn das würde bedeuten, Sangreal – und vielleicht auch Luna – zu verlieren. Und ein Leben ohne meine Tochter konnte ich mir, trotz der Prägung, nicht vorstellen. Ich wusste und spürte, dass ich für sie noch immer Liebe empfand, auch wenn ich ihr das momentan nicht zeigen konnte und mich von ihr fern hielt. Ich zog mir Wills nasses Hemd über den Kopf und wrang es ein paar Mal aus, so dass das Wasser vor meine Schuhe platschte. Im Augenwinkel sah ich, dass sie nun noch roter wurde und anfing, an ihrem Pferdeschwanz herum zu zupfen. Wenn ihr gefiel, was sie sah, warum hatte sie dann verhindert, dass ich sie küsste? Ich überlegte kurz, ob ich sie einfach fragen sollte, doch kam ich nicht mehr dazu. Es klopfte an der Tür und Helena stürmte, wohl erleichtert darüber einen Grund zu haben, mich nicht mehr länger anzustarren, zu ihr, um sie zu öffnen. Es wäre mir egal gewesen, wenn der alte Mann davor gestanden und seine Schlüsse gezogen hätte, hätte er mich gesehen, wie ich da halbnackt hinter ihr stand. Selbst eines der kleinen Kinder hätte mir nur ein leichtes Schmunzeln über die Situation entlockt. Doch nicht meine Tochter. Es waren nur ein paar Sekunden. Helena stand mit einem Lächeln an der Tür, das verschwand, kaum dass sie sah, wie sich Lunas Augen mit Tränen füllten. „Luna!“, rief ich ihr noch nach, doch sie drehte sich um und war bereits verschwunden, als ich den Türrahmen erreicht hatte...

 

Verdächtigungen

 

Bäume fegten an mir vorbei, Farne und Sträucher streiften mein rostrotes Fell, an manchen blieb sogar ein Fellbüschel hängen.Die weiße Wölfin rannte vor mir. Normalerweise war ich auf meinen vier Pfoten sogar etwas schneller als sie, doch nun, da sie so aufgewühlt war, hatte ich alle Mühe, ihr durch die Wälder von Forks zu folgen. Die Bilder, die dabei durch ihren – und damit auch meinen – Kopf fegten, waren verzerrt und wechselten ständig. Mal sah ich ihre Mutter weinen, dann sah ich wieder ihren Vater mit Madeleines Freundin. Natürlich hatte ich noch versucht, sie zu besänftigen. Ich hatte ihr gut zugeredet, schließlich konnte sie nicht zu hundert Prozent sicher sein, dass das, was sie zu sehen geglaubt hatte, auch wirklich so passiert war. Aber sie ließ sich nicht umstimmen und zugegebenermaßen war die Beweislast erdrückend. Wir sahen sie beide praktisch jeden Tag. Sie bei unseren Großeltern und Onkel Seth, ich bei meiner Mutter.

Kurz vor dem Anwesen verwandelten wir uns zurück und schnappten uns ein paar Kleider, die wir vorsorglich unter einem großen Stein in einer Plastiktüte platziert hatten. Wieder war sie schneller als ich. Ich humpelte ihr noch mit einem lose neben mir baumelnden Ärmel und ohne Schuhe nach, da war sie bereits fertig angezogen. „Hey!“, rief ich, um sie zum Stehenbleiben zu bewegen, doch sie ignorierte mich und lief stattdessen stur weiter Richtung Haus. Eilig zog ich meinen Pullover fertig an, dann legte ich an Tempo zu und packte sie am Arm. „Stopp, stopp, stopp!“Eine Mischung aus Wut und Trauer spiegelte sich in ihrem ansonsten nach wie vor überirdisch hübschen Gesicht wider, als sie sich umdrehte.„Was hast du denn jetzt vor?“, wollte ich wissen. „Da rein gehen und es meiner Mutter sagen!“, schrie sie fast. Tränen begannen ihr Gesicht herunterzulaufen, eine nach der anderen. „Was?! Warum das denn? Willst du, dass sich deine Eltern noch schneller trennen?!“„Natürlich nicht!“, erwiderte sie. „Aber sie hat ein Recht es zu wissen!“„Dann lass es ihn ihr doch sagen“, schlug ich vor. Sie schüttelte ungläubig den Kopf. „Was, wenn er es ihr nicht sagt?“„Aber das ist doch eine Sache zwischen deinem Vater und deiner Mutter.“„Ja, das war es. Aber jetzt wo ich dieses Wissen habe, kann ich es nicht einfach für mich behalten. Das wäre meiner Mum gegenüber nicht fair. Sie hat ein Recht darauf, es zu erfahren!“Das waren ihre letzten Worte, ehe sie sich umdrehte und ins Haus ging. Ich überlegte kurz, ihr unmittelbar zu folgen, vielleicht um doch noch irgendetwas zu retten, entschied mich aber dann dagegen und ging erstmal zurück, um mir ein Paar Schuhe anzuziehen. Es war schließlich, wie ich gesagt hatte, eine Sache zwischen ihren Eltern und nun möglicherweise auch ihre Sache, aber ganz bestimmt nicht meine. Auch wenn ich nicht wirklich von mir sagen konnte, dass ich nicht darin involviert war, schließlich bekam ich alles seit Wochen mit...

Angefangen hatte es schon einen Tag, nachdem Anthony nach seinem Geständnis davongeflogen war. Ich hatte eigentlich angenommen, Luna würde sich in ihrem Zimmer verkriechen, doch sie war bereits am folgenden Tag wieder in der Schule – allerdings nicht des Lernstoffes wegen. Ihr Interesse galt ganz klar Chris. Und während Adrian mir gegenüber ziemlich verhalten war, seit ich ihn hatte sitzen lassen, kamen sich Chris und Luna zunehmend näher. Anthony war keine Woche fort, da waren sie in der Schule bereits als Paar bekannt. „Wann willst du ihn denn deinen Eltern vorstellen?“, hatte ich sie in einer ruhigen Minute gefragt. Wir hatten gerade Mittagspause und saßen auf einer Bank auf dem Schulgelände.Sie hatte mit den Achseln gezuckt. „Keine Ahnung. Meine Mum hat gerade andere Sorgen.“- „Aber deine Eltern würden ihn bestimmt gerne kennenlernen.“„Meine Eltern?!“, sie betonte das Wort und sah dabei etwas angewidert aus. „Mein Vater hat sich seit fast einer Woche nicht blicken lassen.“Ich antwortete nichts darauf. Ich hatte nie einen Vater in meinem Leben gehabt und konnte daher nur vage erahnen, wie sie sich gerade fühlen musste, nun da ihrer plötzlich aus ihrem verschwunden war. Sie hatten eine derart enge Bindung gehabt, dass ich keinerlei Zweifel daran hatte, dass die gleichgültige Art, die sie seiner Abwesenheit gegenüber zeigte, nur eine Fassade und Chris nichts weiter als ein Versuch, sich abzulenken waren. Dass ich Recht hatte, zeigte sich nur zwei Tage nach diesem Gespräch. Mein Handy hatte geklingelt, sie war am anderen Ende der Leitung. „Hey“, hatte ich sie begrüßt, zunächst aber nur ein Schluchzen gehört.- „Kannst du vorbei kommen?“ Mich überkam ein böses Déjà-vu-Gefühl, trotzdem – oder gerade deswegen – hatte ich mich eilig auf den Weg zu ihr nach Hause gemacht. Nachdem Mariella mich mit trauriger Miene herein gebeten hatte, fand ich Luna im Wohnzimmer auf der Couch sitzend und auf den Tisch starrend. Ich setzte mich stumm daneben und wartete darauf, dass sie etwas sagte. „Er ist hier.“ Es waren die ersten drei Worte nach mindestens fünf Minuten Schweigen. Ich beugte mich überrascht etwas vor. „Wer? Ani?!“Sie nickte, ohne mich anzusehen. „Wo?“, fragte ich, um keine Stille mehr aufkommen zu lassen. „In Bellas und Edwards Häuschen.“„Hast du mit ihm gesprochen? Oder... oder ihn wenigstens gesehen?“Kopfschütteln. „Warum?“Sie wirkte daraufhin noch geknickter. „Ich konnte nicht... ich... ihn so zu sehen. Das geht nicht.“„Aber du vermisst ihn doch...“, flüsterte ich. „Natürlich“, gab sie zu meiner Verwunderung ganz offen zu. „Als ich gestern Abend von Chris heim kam, hat er aber schon geschlafen. Edward meinte es kann zwei oder drei Tage dauern, bis er wieder aufwacht.“ Dann hörten wir, wie die Haustür geöffnet wurde und Edward trat herein. Er trug eine Art Kühlbox auf dem Arm und begrüßte uns, als er uns da sitzen sah. Wenig später stieß Bella hinzu. Sie hatte wiederum eine weiße Tüte, deren Inhalt rötlich durch das dünne Plastik schimmerte.Ich sah Luna etwas verstört an. Sie winkte ab. „Das ist nur Tierblut. Dad würde nie Menschliches trinken.“Trotzdem ran mir ein Schauer über den Rücken. Bella und Edward gingen gemeinsam in die Küche, wahrscheinlich um die Blutbeutel in die Kühlbox zu legen. Luna und ich fuhren weiter damit fort uns anzuschweigen, ehe die beiden wieder zu uns kamen. Nun hatte Bella die Box auf dem Arm. „Luna, würdest du?“, fragte sie freundlich. Lunas Blick ging hinüber zu Edward, der sie sanft anlächelte. Er musste ihren Zwiespalt in ihren Gedanken gelesen haben. „Es ist euer Haus“, erwiderte meine Cousine.„Wohl wahr, wohl wahr“, sagte Edward. „Aber momentan scheint es eures zu sein. Sangreal ist auch da. Also?“Luna verschränkte die Arme und sah weg. „Nein.“Edward nickte. „Gut, wir richten deiner Mutter liebe Grüße aus“, ließ er uns wissen, dann machte er sich gemeinsam mit seiner Frau zum Gehen auf. Sie hatten noch nicht mal die Haustür erreicht, da stand Luna plötzlich auf. „Okay, okay!“, rief sie ihn nach, dann wand sie sich an mich. „Begleitest du mich?“***Bellas und Edwards Häuschen – wie Luna es genannt hatte – war in der Tat keine schäbige, alte Hütte im Wald, sondern ein kleines, ansehnliches Haus mit Wänden aus grauen Ziegeln und einem wunderschönen, gepflegten Vorgarten, durch den sich ein geschwungener Pfad aus verschieden großen Steinen schlängelte. Von außen sah es aus, wie ein vollwertiges Zuhause. Innen stellte sich heraus, dass man beim Konzipieren auf eine Küche verzichtet hatte. Verständlicherweise.Luna selbst schien hier auch noch nicht gewesen zu sein, denn auch sie sah sich verwundert um und stellte die Box dann ins Wohnzimmer. „Es ist wunderschön hier“, flüsterte sie. „Ja, das ist es“, pflichtete ich ihr bei, ging weiter durch die wunderschön eingerichteten Räumlichkeiten und fand ein Detail nach dem Anderen.

„Luna.“ Ich rief sie nicht. Das war gar nicht nötig gewesen. Sie wusste, warum ich stehen geblieben war und vor dem Türrahmen wessen Raumes ich gerade stand. Es dauerte einen Moment, ehe sie es wagte, die wenigen Schritte zwischen uns zu überbrücken und sich neben mich zu stellen. Langsam, ganz langsam spähte sie durch die halb geöffnete Tür.Ihre Mutter saß auf einem kleinen Hocker, der direkt vor einem großen Himmelbett platziert war. Die Vorhänge waren zusammengefaltet an die vier Pfosten, die Richtung Decke ragten, gebunden worden. Von ihrem Vater sah man relativ wenig, aber was man sah, sah zwar ziemlich friedlich aus, allerdings sah man ihm auch an, wie bitter nötig er diesen Schlaf hatte. „Hi Mom“, flüsterte Luna fast, als sie den Raum betrat. Ich folgte ihr langsam und stellte mich neben sie, als sie etwa einen Meter vor ihrer Mutter stehen blieb. Ihr Blick fiel auf Sangreals Hände, die Anthonys Hand umschlossen. Obwohl sie nur flüchtig in unsere Richtung gesehen hatte, entging Sangreal nicht, worauf die Aufmerksamkeit ihrer Tochter lag. „Ich kann ihn nur berühren, wenn er so tief schläft, wie jetzt“, sagte sie leise. Mein Herz wurde bei ihren Worten schwer. Ich wusste genau, wie es war, jemanden berühren zu wollen und es nicht zu können. Sangreal wusch sich eine frische Träne weg, die sich eben aus ihrem Auge stehlen wollte, dann stand sie auf und überließ ihrem Kind den Hocker. Sie nickte uns beiden noch einmal kurz zu, schenkte uns sogar ein leichtes Lächeln, dann verließ sie den Raum und schloss die Tür hinter sich. Luna starrte eine ganze Weile auf den Hocker, ohne sich zu bewegen und ich meinte schon, sie hätte eine Art Schock.„Luna?“, fragte ich vorsichtig. Sie zuckte kurz zusammen, als hätte ich sie eben aufgeweckt, dann trat sie näher heran und ließ sich schließlich langsam auf dem Hocker nieder, auf dem eben noch ihre Mutter gesessen hatte. Die Stille hatte uns abermals eingeholt. Eine Viertelstunde saß sie nur da und ich stand etwas hilflos daneben. Es war nicht so, dass es mich störte oder mir die Beine wehtaten, es war einfach nur ein beklemmendes Gefühl. „Meinst du, er träumt?“, fragte ich in der Hoffnung, dass sie antworten würde.Aber das tat sie nicht. Stattdessen stand sie vorsichtig auf, beugte sich über ihn und legte ihre Hand ganz langsam an seine Wange. Ich brauchte einen Moment um darauf zu kommen, dass sie gerade versuchte eine Antwort auf meine Frage zu bekommen, indem sie schlicht in seine Gedanken sah.Sie verharrte ein paar Minuten, dann setzte sie sich mit einem bedrückten Ausdruck im Gesicht wieder hin.„Nichts“, antwortete sie.„Wie ist denn das möglich?“, fragte ich verdutzt. Ich wusste zwar, dass man aufwachen und sich nicht an seine Träume erinnern konnte, aber sie gar nicht erst zu träumen?„Das kann bei sehr starken Medikamenten schon mal vorkommen. Das hat Edward wahrscheinlich mit Absicht gemacht. Würde er träumen, würde er seine Probleme darin verarbeiten und könnte sich nicht so gut erholen.“„Achso“, sagte ich. Ich fragte mich, ob sie das öfter machte. In die Träume anderer schauen. Die Frage lag mir auf der Zunge, doch ich verwarf sie wieder.„Weißt du, was mich am traurigsten macht?“, fragte sie mich nun. Ich sah sie verwundert an und schüttelte den Kopf. „Zu wissen, dass er wieder gehen wird, kaum dass er wach ist.“Ich wusste nicht, was ich darauf antworten sollte. Ich hatte meinen Dad nie kennengelernt. Als ich auf die Welt gekommen war, hatte ich ihn bereits verloren. Wie fühlte es sich wohl an, zu wissen, dass man im Begriff war, etwas zu verlieren und es dennoch nicht verhindern zu können? Ich musste an die Bilder denken, die sie mir gezeigt hatte. Dad, wie er in der Halle der Volturi in seinem eigenen Blut starb. Ich hatte direkt daneben gestanden und konnte es doch nicht verhindern. Ja, das kam Lunas Situation wohl noch am ehesten nah. Und doch... ich hatte in diesem Moment gewusst, dass ich die Vergangenheit sah und kannte die Zukunft. Sie aber, befand sich gerade in der Gegenwart und ihre Zukunft war ungewiss. Ich wusste nicht, ob sie in ihrem Inneren vielleicht noch ein Fünkchen Hoffnung hatte, dass er es doch schaffen würde, sich gegen die Prägung zu wehren oder ob sie schon aufgegeben hatte.

 

***Am darauffolgenden Tag war ich mit Luna, Jacob, Renesmee, Onkel Seth, Mariella, Nayeli, sowie Bella und Edward im Wohnzimmer gesessen. Edward saß an einem sehr alt und sehr teuer aussehenden Klavierflügel und spielte ein schön und irgendwie zugleich traurig klingendes Lied. Bella, neben ihm, lauschte den Klavierklängen, Mariella hatte ihren Kopf müde an Seths Schulter gelehnt und die Augen geschlossen und Renesmee und Jacob wechselten stumme, besorgte Blicke. Plötzlich hörte Edward auf, zu spielen. „Sie kommt“, sagte er, ohne den Blick von den schwarzen und weißen Tasten zu nehmen.

Dann ging die Verandatür auf und Sangreal trat ein. Alle, bis auf Edward, hatten sie angesehen, dann bot Nayeli ihr einen Platz neben sich an. Langsam schritt sie zu ihrer Ziehtochter und ließ sich auf dem Sofa nieder, wo sie sich zunächst müde ein paar Haare aus dem Gesicht strich.„Wie geht es ihm?“, fragte Anthonys Mutter.„Den Umständen entsprechend gut, denke ich“, antwortete sie. „Der Schlaf scheint ihm gut getan zu haben.“ Ihre letzten Worte hatte sie an Edward gerichtet, dessen Mundwinkel sich daraufhin leicht hoben, sich dann jedoch sofort wieder senkten.„Er hat das Haus verlassen“, sagte Bella und erklärte damit Edwards Blick. In solchen Momenten wünschte ich mir, mein Gehör wäre besser ausgeprägt oder zumindest trainiert, schließlich hatte ich keine Ahnung, wie gut es eigentlich sein konnte. Es hatte sich in den letzten Monaten zwar deutlich gebessert, nun da ich mir bewusst war, was ich war, trotzdem lag es weit hinter dem von Bella und Edward zurück. Das mochte wohl auch daran liegen, dass die beiden vollwertige Vampire waren, während ich nur ein Werwolf mit versteckten Vampirgenen war. An Letzteres musste ich mich zwar immer wieder selbst erinnern, weil ich es gerne mal vergaß, aber irgendwo musste Renesmees Erbe ja geblieben sein.„Er geht durch den Wald“, beschrieb Edward nun. „Er will sich wohl verwandeln.“Sangreals Kopf hob sich. Man sah ihr förmlich an, wie ihr die wildesten Gedanken durch ihn gingen. „Jetzt ist er weggeflogen“, beendete Bella schließlich das Szenario.Sangreal fiel wieder ein klein wenig in sich zusammen, dann ließ sie den Kopf nach vorn auf ihre Handfläche sinken und weinte. Nayeli strich ihr beruhigend über den Rücken. „Nicht weinen... es muss ja nicht heißen, dass er zu... ihr... fliegt.“

Als wäre das sein Stichwort gewesen, stand Jake plötzlich ziemlich aufgebracht auf und ging durch den Raum. „Besser wäre es“, sagte er, verschränkte die Arme und sah etwas grimmig aus der Fensterfront. Sangreal gerötetes Gesicht war schlagartig auf ihn gerichtet. Er hätte ihr wahrscheinlich genauso einen Hieb in die Magengrube geben können.„Jake!“ Renesmee war wohl derselben Meinung.„Was?!“, zischte er angesäuert. „Er ist nun mal ein Werwolf. Werwölfe prägen sich.“Nun stand auch sie auf und ging zu ihm hinüber. „Es gab Zeiten, da hätte ich mir gewünscht, du hättest das erkannt.“„Muss das sein?“, fragte er. „Ja“, konterte sie. „Du machst es dir immer so verdammt einfach. Unser Sohn ist nun mal weder ein Werwolf, noch ein Vampir, noch ein Mensch. Ich weiß, dass wir zusammen gehören und bin dankbar dafür und glücklich über die Prägung, aber er ist das nicht. Er hat sich in den vergangenen vierzehn Jahren eine kleine Familie aufgebaut. Kannst du nicht verstehen, dass er darum kämpfen möchte?“Jacob sah sie ungläubig an. „Natürlich kann ich das.“- „Warum hilfst du ihm dann nicht?“

Seine Mimik wurde weicher. „Weil es dafür keine Hilfe gibt, Nessie. Wenn ich auch nur die kleinste Chance sehen würde, dass sein Widerstand zu einem guten Ende führen wird, würde ich ihm helfen. Aber ich weiß, dass es kein gutes Ende nehmen wird und ich kann unmöglich mein Kind dabei unterstützen, sich selbst zu zerstören.“ Renesmee erwiderte nichts darauf. Er gab ihr einen sanften Kuss auf die Wange, dann verließ er den Raum.Sangreal strich sich selbst gedankenverloren über den linken Oberarm. „Vielleicht hat er Recht.“„Du willst schon aufgeben?“, Mariella klang empört. Sangreal sah sie etwas perplex an, so als hätte sie mit einer solchen Reaktion von ihr nicht gerechnet.

„Solange er nicht aufgibt, solltest du es auch nicht tun. Es geht hier um eure gemeinsame Zukunft, also solltet ihr auch gemeinsam darum kämpfen.“Nachdem Sangreal auch daraufhin nichts sagte, stupste Mariella Seth neben sich an. „Nicht wahr, Seth?“ Er wirkte etwas überfordert. „Ähm... ja, ja!“, pflichtete er ihr dann bei, wirkte aber nicht so recht überzeugt von dem, was er da von sich gab.

Auch Mariella entging das nicht. „Seth“, mahnte sie enttäuscht.Er hob die Hände. „Es tut mir leid, es tut mir leid. Ich hab bisher nur glückliche Pärchen unter den Geprägten gesehen und kann nicht sagen, wo das hinführt, aber vielleicht schafft er es ja. Ich meine, solange er nicht mit ihr schläft, ist doch alles noch offen.“Sangreal blinzelte, als hätte sie sich verhört. „Bitte was?“Mein Onkel tauschte einen verstohlenen Blick mit Mariella. „Na ja, die Prägung dient dazu, die Nachkommenschaft unserer Art sicher zu stellen. Manche sagen auch, sie würde für besonders guten, kräftigen und gesunden Nachwuchs sorgen.“ Er hielt kurz inne, dann erzählte er weiter: „Wie auch immer... jedenfalls haben Sam und Emily, Jake und Nessie und auch meine Schwester, nachdem sie aufhörte, sich zu verwandeln, die Erfahrung gemacht, dass...“, er machte eine kurze Pause. „Na ja, dass es ziemlich schnell geht.“

„Schnell geht? Dass was schnell geht?“, wollte Sangreal wissen. Seth seufzte und begann sich nervös am Kopf zu kratzen. „Uff... eeeh...“„Nun sag schon“, flehte Luna fast.

„Na ja, wenn man geprägt ist, spürt man quasi instinktiv, wann der richtige Zeitpunkt ist. Man nimmt das gar nicht so bewusst wahr, man will einfach nur mit dem Anderen schlafen. Mariella wollte keine Kinder. Ihr Wunsch war für mich die höchste Priorität, deswegen galt das für uns nicht, aber Nessie und Jake waren sich dessen gar nicht so recht bewusst. Sie hatten ja auch nicht in La Push gelebt und gesehen, wie Emily ein Kind nach dem Anderen bekam.“„Ich hab die Pille genommen und bin trotzdem schwanger geworden“, fügte Renesmee hinzu.Sangreal ließ den Kopf wieder hängen. „Das heißt also, wenn Anthony mit diesem Mädchen schläft, wird sie mit großer Wahrscheinlichkeit...“ Sie beendete den Satz nicht. Seth nickte. Ich sah von Seth weg und hinüber zu Luna. Ihre Iris zitterte unruhig hin und her. Sie erinnerte mich an jemanden, auf den gerade eine Stampede zugerast kam. Dieses Mal brauchte ich mir Edwards Gabe nicht zu wünschen, ich war mir auch so ziemlich sicher, was sie gerade dachte. Wenn das wirklich passiert, was wird dann aus mir? Wird mein Vater mich dann immer noch lieb haben? Wird er mich vergessen? In diesem Moment bekam ich eine neue Erkenntnis: es war schlimm für ein Kind, seinen Vater durch den Tod zu verlieren, es war aber nicht minder schlimm, ihn am Leben zu wissen und sein Herz zu verlieren. Und hätte ich nach dieser Unterhaltung geahnt, was Luna in jenem Aufseherhäuschen im Schwimmbad sehen würde, ich hätte sie nie angerufen, um ihr zu sagen, dass ihr Vater eben unser Haus verlassen hatte. Ich hätte nicht zu meinem Smartphone gegriffen, hätte ihren Kontakt gewählt und ihr mitgeteilt, dass er es zudem nur wenige Augenblicke nach Madeleines Freundin verlassen hatte und ich wäre nicht mit ihr zum Schwimmbad gegangen.

Aber ich hatte all das getan.

 

Nun stand ich also da. Im Wald vor der Cullen-Villa. Darauf wartend, dass irgendetwas geschah. Aber es geschah zunächst nichts. Ich überlegte bereits, ob ich einfach auch ins Haus oder gar heimgehen sollte, da raschelte es plötzlich einige Büsche weiter. Es gab Zeiten, da hätte mich das beunruhigt. Inzwischen wusste ich, dass die meisten Tiere eher Angst vor mir hatten und ich spürte auch, dass das Rascheln gar nicht von einem Tier kam. Dementsprechend wenig überrascht war ich, als Anthony sich als Urheber der Geräusche entpuppte. „Wo ist sie?“, fragte er kurz angebunden und etwas außer Atem. „Im Haus“, antwortete ich ebenso schlicht. Er lief einfach schnurstracks an mir vorbei. Kein Danke. Kein Bitte. Okay, dachte ich mir und entschloss mich nun doch dazu, ebenfalls ins Haus zu gehen, um in Erfahrung zu bringen, was ich mit meinem simplen Telefonat angerichtet hatte.

Beinahe hätte ich die Tür, die sich hinter Ani schloss, mit der Nase abgefangen, denn er achtete überhaupt nicht darauf, was um ihn herum geschah. Es war ihm aber auch nicht wirklich zu verdenken...Er fand seine kleine Familie in ihren Räumen im dritten Stock. Sie saßen beide auf einem Ecksofa mit sehr breiter Sitzfläche aus weißem Leder. Luna hatte ihren Kopf an die Brust ihrer Mutter gelegt, die ihr über den Rücken streichelte. Als Ani den Raum betrat, huschten ihre Augenpaare zu ihm hinüber, ansonsten veränderten sie ihre Position jedoch nicht. „Okay...“, er holte hörbar Luft, ehe er weiter sprach. „Was immer ihr vermutet, nichts davon ist passiert!“ Sangreal und Luna tauschten misstrauische Blicke, dann löste sich Letztere von ihrer Mutter. „Ich habe nicht mit ihr geschlafen!“, fuhr Anthony fort.Sangreal sah ihn finster an. „Den Satz habe ich aus deinem Mund schon mal gehört.“„Und er entspricht genauso der Wahrheit, wie er es damals getan hat!“, versicherte er ihr. „Dann hat sich herausgestellt, dass du heftig mit ihr rumgeknutscht und auch etwas für sie empfunden hast.“

„Du hast um die Wahrheit gebeten“, erinnerte er sie. „Und um die bitte ich jetzt wieder“, sagte sie monoton. „Es ist, wie ich es sagte. Nichts von dem, was ihr denkt, ist passiert. Ich habe nicht mit ihr geschlafen, ich habe sie nicht mal geküsst.“„Nicht mal?“, wiederholte sie. Er sah etwas überrumpelt drein. „Musst du jedes meiner Worte auf die Goldwaage legen? Ich bin nervös, da kann einem ein Wort zu viel schon mal rausrutschen.“- „Warum bist du nervös? Wenn da nichts passiert ist, hast du doch nichts zu verbergen?“„Aber ich habe vieles zu verlieren, Sangi.“Sie fixierte ihn stumm. Er wiederum schien zu überlegen, was er als nächstes sagen sollte. „Hör mir zu, Sangi, ich würde dich niemals willentlich verletzen“, beteuerte er weiter. „Dass du dir die Prägung nicht ausgesucht hast ist mir schon bewusst“, sagte sie. Er schüttelte traurig den Kopf. „Warum machst du es mir dann so schwer?“ Ihr klappte der Mund leicht auf. „Was erwartest du von mir?! Ich wollte dich gehen lassen. Ich wollte es wirklich. Aber du hast gesagt, du möchtest kämpfen. Nicht für mich, nicht für Luna, aber du wolltest kämpfen. Und keine drei Stunden später wirst du von unserer Tochter in flagranti erwischt?! Ausgerechnet von ihr? Muss das sein?“„Ich sagte doch schon, dass es so nicht war. Ich... mein Shirt war nass. Ich bin in das Becken gesprungen, um ein Kind rauszufischen. Ich wollte es nur trocknen!“Sie biss sich auf die Unterlippe und verschränkte die Arme vor der Brust. „Du weißt, wie bescheuert sich das anhört, oder?“„Ja, verdammt!“, kam es laut von ihm. Sangreal sah etwas geschockt drein, woraufhin er die Augen schloss und tief durchatmete, ehe er wieder sprach: „Okay... sag mir was ich tun soll. Bitte.“Sie schien einen Moment zu überlegen. Mein Blick schweifte zu Luna, die noch immer auf dem weißen Sofa saß und ziemlich fertig aussah. Ihre Eltern streiten zu sehen, schien etwas ziemlich neues für sie zu sein. Sangreal kamen indes die Tränen. „Ich weiß nicht, was du tun sollst, Ani. Ich weiß nicht mal, was ich tun soll.“„Sangi“, antwortete er sanft und ging einen Schritt auf sie zu – und sie daraufhin zwei zurück. „Nein, fass mich nicht an! Ich will dir nicht wehtun!“Er machte noch einen Schritt in ihre Richtung. „Aber du tust mir doch gar nicht weh.“„Nein!“, schrie sie daraufhin hysterisch.Ich fragte mich, wann sie zuletzt geschlafen hatte, denn sie wirkte ganz so, als wäre sie einem Nervenzusammenbruch ziemlich nah.

„GENUG!“, brüllte Luna dann plötzlich und ihre Eltern verstummten schlagartig. Mit einem hochroten Gesicht, über das noch immer Tränen rannen, ging sie dann auf ihren Vater zu. „Es ist gar nicht so lange her, da hast du mir versprochen, dass ich immer einen Platz in deinem Herzen haben werde, den mir nie jemand wegnehmen kann.“ Sie blieb vor ihm stehen und sah mit feuchten, grünen Augen zu ihm hinauf. „Habe ich diesen Platz immer noch?“Ihr Vater sah stumm zu ihr hinab. Ob er nur überrascht über ihre Frage war oder ob er tatsächlich über die Antwort nachdenken musste, wusste ich nicht. Für Luna waren diese paar Sekunden jedoch schon ein paar zu viel. Sie schüttelte den Kopf und noch ehe ein neuer Schwall Tränen über sie hereinbrechen konnte, floh sie aus dem Raum. „Nein! Luna, bitte!“, hörte ich meinen Onkel daraufhin zum zweiten Mal meiner Cousine nachrufen, doch sie stürmte bereits die Treppen hinab und anschließend zur Tür hinaus. Ohne etwas zu Sangreal oder Anthony zu sagen, folgte ich ihr. Ich wusste nicht warum. Es war einfach nur ein dumpfes Gefühl. Eines, das aus dem Bauch heraus kam und mir sagte, dass ich das tun musste. Sie war nicht nur meine Cousine. Sie war zu einer sehr guten Freundin für mich geworden, wenn nicht sogar zu meiner besten.

Obwohl sie sich nicht verwandelte, musste ich mich ganz schön anstrengen, um sie einzuholen. Als ich es endlich geschafft hatte, steckte sie gerade ihr Handy wieder in die Tasche. „Wo willst du hin?“, fragte ich etwas außer Atem. „Weg. Einfach nur weg“, sagte sie mit einer Mischung aus Trauer und Zorn in ihrer ansonsten schönen Stimme. „Er hat das bestimmt nicht so gemeint, Luna, er-“Sie blieb abrupt stehen, so dass ich beinahe gegen sie lief, und drehte sich zu mir um. „Was denn so gemeint? Er hat nichts gesagt. NICHTS!“Sie wirbelte noch einmal herum und lief wieder weiter mit großen, schnellen Schritten in die Richtung, in die sie zuvor gelaufen war. „Luna!“, rief ich ihr nach, doch sie ignorierte mich. Ich folgte ihr quer durch den Wald und dann auf den Straßen und Gehwegen von Forks, Washington. Wir waren derart schnell zu Fuß, dass ich hoffte, dass uns unterwegs niemand sah. Ihr zu sagen, sie solle langsamer laufen, würde jedoch ohnehin nichts bringen, daher sprach ich es gar nicht erst aus und bemühte mich stattdessen lieber, den Anschluss nicht zu verlieren. Irgendwann standen wir schließlich vor dem Schulgebäude. Es war Freitagnachmittag. Die meisten Schüler dürften bereits nach Hause gegangen sein. Doch die Person, die Luna hier aufsuchte, war kein Schüler. Zielsicher schritt sie zu den Quartieren des Hausmeisters. Sie musste nicht mal an der Tür klopfen, da schwang sie schon auf. „Hey“, begrüßte er meine Cousine, legte seinen Arm um ihre Hüfte und zog sie an sich, um sie zu küssen. Mich ignorierte er dagegen völlig. Auch als sie sich nach einer gefühlten Ewigkeit voneinander lösten, sah er nur sie an. Ihre Augen waren wieder feucht. „Küsse ich etwa so schlecht?“, scherzte er. Luna verzog den Mund zu einem leichten Lächeln, das ihr sichtlich schwer fiel. „Spinner.“„Was ist denn los?“, wollte er dann wissen. „Ich weiß nicht. Irgendwie... ist alles kaputt“, sagte sie, ohne ihn direkt anzusehen. „Stress mit deiner Familie? Hast du ihnen etwa von mir erzählt?“Sie schüttelte den Kopf. „Nein.“„Gut“, antwortete er zu meiner Überraschung. Bisher war ich immer davon ausgegangen, dass sie ihn nicht vorstellte, weil sie es nicht wollte. „Es geht nicht um dich. Es geht um meinen Vater, er- ich“, sie suchte die richtigen Worte. „Ich glaube meine Eltern werden sich trennen.“Chris zog die Luft scharf ein. „Scheidungen sind nie schön.“„Meine Eltern sind nicht verheiratet“, berichtigte sie. „Trotzdem sind Trennungen hässlich“, sagte er. „Luna“, versuchte ich mich wieder einzubringen. „Bitte, wir sollten nach Hause gehen. Du musst mit ihm reden!“Meine Cousine beugte sich demonstrativ vor, um ihren Freund noch einmal zu küssen. Dieses Mal fraßen sie einander fast auf und ich kam nicht umhin die Augen zu verdrehen. „Luna!“Sie drehte sich zu mir um, ohne die Arme von seinem Hals zu lösen, die sie ihm umgeschlungen hatte. „Geh doch nach Hause. Niemand hält dich auf.“„Ich möchte aber, dass du mit mir kommst.“„Sie möchte aber nicht.“ Chris blaue Augen funkelten mich an, so dass mir urplötzlich ein richtiger Schauer über den Rücken lief. Trotzdem ballte ich die Hände zu Fäusten. „Halt du dich da raus!“Ich musste wieder an meine erste Begegnung mit ihm denken. Damals hatte ich mich ähnlich gefühlt, wie jetzt. Kurz darauf hatte ich mich verwandelt. Plötzlich kam mir ein Verdacht... Aber... er war doch kein Vampir. Konnte er wirklich der Auslöser gewesen sein? Die Hitze, die in mir hochstieg, ließ kaum Zweifel zu, doch widersprach es allem, was ich gelernte hatte. Wer – oder besser – was, war dieser Kerl? Ich atmete einmal tief durch und bemühte mich um einen einfühlsamen Tonfall. „Luna, bitte komm mit mir nach Hause.“Vampir oder nicht. Chris hatte etwas an sich, was wahnsinniges Unbehagen in mir auslöste. Ich hatte ihn in den Wochen, in denen er mit Luna zusammen gewesen war, nur wenige Male gesehen und nicht viel mit ihm gesprochen, daher ging ich davon aus, dass ich ihn nur besser kennenlernen musste und mein mieses Gefühl ihm gegenüber dann sicher verfliegen würde, aber er hatte auch nicht wirklich viel Spielraum gelassen. Sie waren immer nur zu zweit irgendwo hingegangen. Luna hatte ihn nie ihrer Familie vorgestellt, geschweige denn hatten wir mal etwas zu dritt unternommen. So wirklich Mühe, ihren Freunden zu gefallen, gab er sich nicht. Ihr machte er dagegen umso schönere Augen, wobei ich nicht nachvollziehen konnte, was sie an ihm fand. Wahrscheinlich zogen sie einander mit ihrer Arroganz an, was anderes konnte ich mir nicht vorstellen... Chris ging wieder dazu über, mich zu ignorieren. „Hier ist es nicht so schön. Sollen wir woanders hin?“„Wohin?“, wollte Luna wissen. Es klang keinesfalls unsicher, eher neugierig. Es wäre mir lieber gewesen, es wäre Ersteres. „Das siehst du dann“, sagte er nur und nahm ihre Hand, dann schritten beide an mir vorbei nach draußen und ich fühlte mich wie eine Idiotin, die mit einer Wand sprach. „Luna, bitte!“, flehte ich nun fast, während ich ihnen Richtung Industriegebiet folgte. „Geh nach Hause, Billy“, befahl meine Cousine.„Ich kann gern zu dir nach Hause gehen!“, provozierte ich. „Und deinem Vater von deinem ach so tollen Freund erzählen!“„Tu was du nicht lassen kannst“, erwiderte sie, ohne stehen zu bleiben. Chris neben ihr lächelte leicht, was mich wieder zittern ließ. Was lief hier nur falsch? Ich wollte mich zwicken, um mich zu vergewissern, dass das hier nicht nur ein mieser Traum war. Schließlich blieb ich dann doch stehen und sah den beiden zu, wie sie in der Ferne schrumpften, während das miese Gefühl in mir wuchs. Einen kleinen Moment haderte ich noch mit mir, dann drehte ich mich um und rannte, ich ließ die Hitze in mir aufsteigen, bis ich auf leichten Schwingen über Forks hinweg flog. Es war das erste Mal seit langem, dass ich mich nicht um meine Klamotten scherte, aber irgendetwas in mir, sagte mir, dass ich keine Zeit verstreichen lassen durfte.

 

 

***Die Sonne war bereits im Begriff unter zu gehen, als ich im Wald nahe dem Cullen Anwesen landete und mir eilig ein paar Klamotten über zog. Ich wusste nicht mal ob es nun meine oder doch welche von Luna waren. Egal. Ich stürmte direkt über die angelehnte Verandatür ins Haus und anschließend in den dritten Stock. Vielleicht würde mich Luna dafür hassen, aber das war mir gleich... Ich musste einfach meinem Bauchgefühl folgen.In dem Moment, in dem ich das Wohnzimmer betrat, sah ich Edward gerade noch im Augenwinkel auf der obersten Treppenstufe stehen und bekam den Eindruck, dass er hatte verhindern wollen, dass Anthony mitbekam, dass ich zurückgekommen war, aber es war zu spät.Mein Onkel lag halb zusammengekauert auf dem weißen Sofa und hatte sein Gesicht in ein paar Kissen vergraben, von denen er sich langsam löste, nun da ich hier war. „Billy?“, fragte er leise, während er sich müde aufsetzte. „Billy!“, hörte ich meinen Namen ein zweites Mal etwas harsch aus Edwards Mund. Ich spürte wie sich seine kalte Hand um meinen Oberarm schloss und widerstand dem Drang ihn wegzustoßen. Stattdessen starrte ich ihn nur an. Hinter Edward betraten nun auch die Anderen, allen voran Jake, den Raum.Edwards Verhalten machte Anthony wohl nur noch misstrauischer. Etwas wacklig stand er auf und machte einen Schritt auf mich zu. „Wo ist Luna?“ Ich sah unsicher zu Edward. „Billy“, zischte Ani, woraufhin ich wieder ihn ansah. „Bitte“, sagte er dann sanft. „Mit Chris weggegangen“, antwortete ich.„Chris?“, fragte er. Natürlich, er kannte ihn ja gar nicht. „Ihr ähm... Freund.“ Seine Augen wurden nur minimal größer. Ich hatte eigentlich eine andere Reaktion erwartet. Dann schweifte sein Blick hinüber zu Bella, was mich noch etwas mehr verwirrte. „Ich habe die Vermutung, dass er der Auslöser für meine erste Verwandlung auf dem Schuldach war.“ „WAS?“, hörte ich nun gleich aus mehreren Mündern im Raum, wobei Anthony immer noch am lautesten war. „Er war da...“, fuhr ich fort. „Auf diesem Dach. Damals.“„Aber er ist doch kein Vampir?“, murmelte Ani grübelnd, ohne mich anzusehen.„Nein“, stimmte Bella ihm zu. „Ich erkenne einen Vampir oder Halbvampir durchaus.“„Ich weiß auch nicht warum. Es ist nur so ein Bauchding“, versuchte ich mich zu erklären.„Hatte er einen süßlichen Geruch?“, fragte mein Onkel an Bella gewandt. Langsam verstand ich. Bella hatte Luna während Anis Abwesenheit beobachtet und er wusste bereits von Chris.Bella sah nachdenklich aus. „Ehrlich gesagt... keine Ahnung. Ich kann mich jedenfalls an keinen auffälligen Geruch erinnern.“Und da war die Reaktion, die ich von meinem Onkel eher erwartet hatte: seine Augen wurden nun wirklich größer und sein Mund öffnete sich leicht. „Hat er überhaupt nach irgendetwas gerochen?!“, fragte er nun sichtlich nervös. Bella sah verwundert drein und wusste offenbar nicht, was sie antworten sollte. „Scheiße!“, presste er hervor und wollte einen Schritt nach vorn machen, da stellte sich ihm Edward in den Weg. „Wo willst du hin?“, fragte er.Anthonys grüne Augen bohrten sich förmlich in Edwards Bernsteinfarbene. „Lass. Mich. Durch.“ Er betonte jedes Wort. „Tut mir leid, aber nein, das werde ich nicht tun“, antwortete sein Gegenüber ruhig. Jacob trat hinter meinen Onkel, woraufhin er seinen Kopf leicht in dessen Richtung drehte, ohne sich jedoch umzudrehen. „Ich gebe zu, Edward und ich sind uns selten einig. Diesmal schon.“Langsam, ganz langsam, drehte sich Ani nun zu seinem Vater um. „Sie ist meine Tochter. Wärst du an meiner Stelle, was würdest du tun?“Jacob lachte bitter. „Vielleicht entgeht dir das gerade aber... ich bin an deiner Stelle. Ich würde mein Kind beschützen und das ist genau das, was ich tue. Ich beschütze dich.“Anthony schüttelte ungläubig den Kopf. „Und was ist mit deiner Enkelin?!“„Luna ist nicht erst seit gestern mit diesem Jungen zusammen. Bella hatte immer ein Auge auf ihn und er hat nie etwas getan, was unser Misstrauen weckte. Warum sollte er ihr ausgerechnet jetzt wehtun wollen? Er ist ja nicht mal ein Vampir oder Gestaltwandler. Wir haben keinen Vollmond. Wäre er ein Werwolf, könnte er ihr momentan auch nichts tun. Und ein Mensch kann ihr nicht schaden.“Anthony gestikulierte nach draußen. „Dieser Kerl ist kein Mensch, Vater!“„Woher willst du das wissen?“, sagte Edward. „Ich vertraue auf Billys Urteil“, antwortete er und mein Herz machte einen Hüpfer. „Möglicherweise bist du auch nur frustriert, weil sie weggelaufen ist und Trost bei jemand anderem als ihrem Daddy sucht?“, stichelte Jake, woraufhin sein Sohn ihn noch etwas böser ansah. Statt allerdings zu kontern, wandte er sich an Sangreal. „Und was ist mit dir?“, wollte er von ihr wissen.Sie sah etwas unsicher drein. „Ich denke sie braucht etwas Zeit um mit der Situation klar zu kommen und die sollten wir ihr geben. Sie ist erst seit kurzem weg.“„Ist das dein Ernst?“Sangreals Augen wurden wieder feucht. Sie wich seinem Blick aus.„Du bist müde, Ani. Du solltest dich ausruhen“, schlug Edward vor.„Ich ruhe mich aus, wenn ich meine Tochter in Sicherheit weiß. Danke, Dr. Cullen.“In jenem Moment, in dem er an Edward vorbei laufen wollte, schlangen sich Jakes muskulöse Arme um ihn und zogen ihn zurück, woraufhin Ani ein tiefes Knurren entfuhr. „Vater!“Angestrengt versuchte er sich aus seinem Griff zu befreien, was ihm jedoch nicht so recht gelang, bis er seinem eigenen Vater mit dem Ellbogen einen Schlag in die Magengrube versetzte. Jacob kniff kurz die Augen zusammen und stöhnte, während Ani erst flackerte und dann gänzlich verschwand. „Bella!“, rief Edward noch, doch als sie ihr Schild über den ganzen Raum gespannt hatte, sahen wir bereits das Fenster zerspringen und einzelne Bluttropfen durch die Luft fliegen.

Anthony blieb außer Reichweite ihres Schildes und damit unsichtbar. Doch wir alle wussten, dass er in die hereinbrechende Nacht hinaus verschwunden war. „Mist“, zischte Jacob und rieb sich die Stelle, an der er getroffen wurde. Renesmee trat an ihn heran und strich darüber. „Bitte sei ihm nicht böse. Er hat das bestimmt nicht so gewollt.“„Bin ich nicht. Ich hätte dasselbe getan“, antwortete er, woraufhin über Renesmees Mund sogar ein flüchtiges Lächeln zu sehen war. Edward sah derweil aus dem kaputten Fenster. „Was machen wir nun?“, fragte Bella und nahm seine Hand. „Vielleicht sollten wir ihm folgen“, antwortete er leise. „Glaubst du etwa auch, dass dieser Junge gefährlich ist?“- „Ich weiß es nicht. Wenn er es nicht ist, könnte Ani ihm aber gefährlich werden.“Als wäre das ihr Stichwort trat Mariella hervor, die sich bisher herausgehalten hatte. „Er würde nie jemandem wehtun, der Luna etwas bedeutet.“Edward sah von Mariella zu Renesmee, welche zustimmend nickte. Dann sah Edward zu Sangreal.„Ich denke auch, dass er ihm nichts tun wird, wenn er ungefährlich ist. Im schlimmsten Fall... blamiert er unsere Tochter dabei in Grund und Boden.“Nayeli seufzte. „Luna, Luna... ich hatte sie gewarnt.“„Die Sache mit dem Besen. Ich erinnere mich“, sagte ich zu ihr.„Billy.“ Ich wirbelte in Edwards Richtung, kaum dass er meinen Namen ausgesprochen hatte. „Ja?“

- „Weißt du wo die beiden hin wollten?“Ich schüttelte den Kopf. „Leider nicht.“- „Dann wird es etwas länger dauern sie zu finden.“ Er warf noch einmal einen Blick Richtung Fenster, dann wand er sich zu uns um. „Okay. Mariella, Seth, Nayeli, Billy, ihr bleibt hier, falls Luna oder Anthony zurückkommen und gebt uns in beiden Fällen Bescheid.“„Alles klar“, sagte Seth.

[Luna] In letzter Sekunde

 

Vor meinem inneren Auge sah ich meinen Vater oberkörperfrei hinter diesem Mädchen stehend. Diesem Mädchen, mit dem blonden, schulterlangen Haar. Diesem Mädchen, das ihn nicht verdient hatte... Sie war weder so klug und wahrscheinlich auch weder so hübsch, noch so talentiert wie meine Mutter. Und sie passte auch überhaupt nicht zu meinem Vater. Er hatte sie ja nicht einmal selbst ausgesucht. Diese Entscheidung war ihm abgenommen worden. Einfach so. Ohne ihn zu fragen. Oder sie. Oder uns.

Was hatte ich mir eigentlich dabei gedacht, als ich an die Tür klopfte? Hatte ich ihn von ihr fortziehen wollen? Ihn überreden, mit mir zu kommen? Ihn vielleicht um etwas bitten? Bitte treib es nicht mit ihr, ich will keine Halbgeschwister?

Wohl kaum.

Na ja, ich war sowieso zu spät gewesen. Und dann hatte ich nichts Besseres zu tun gehabt, als es meiner Mutter direkt auf die Nase zu binden. Hätte ich es vielleicht für mich behalten sollen, so wie Billy es mir geraten hatte? Spätestens in neun Monaten hätten wir alles doch erfahren, oder nicht? Er hätte es nicht ewig geheim halten können... so dumm war Mum nicht.

Und was war, wenn er die Wahrheit sagte? Wenn ich mich geirrt, wenn er gar nicht mit ihr geschlafen hatte? Sein Shirt auswringen. Ja, klar, Wasser war ja genug da gewesen...

Hatte er mich jemals angelogen? Ich konnte mich nicht daran erinnern. Es sei denn, er hatte die Lügen nie aufgedeckt und log mich mein ganzes Leben lang an... Ich spürte einen Stich im Herzen. So hatte ich noch nie von ihm gedacht. „Hey, Süße.“Chris strich mir eine einzelne Träne von der Wange, die ich nicht mal bemerkt hatte. „Nicht weinen“, sagte er einfühlsam. „Hast du dich umentschieden? Sollen wir wieder umdrehen? Wir können sie bestimmt noch einholen, wenn wir wollen.“

Er nannte sie nicht beim Namen. Ich war mir nicht mal sicher, ob er ihren Namen wusste.Ich schüttelte den Kopf.„Machst du dir etwa Sorgen? Dass sie zu deinem Vater geht und du dann Ärger bekommst?“Ärger. Das war wohl etwas untertrieben. Ich schüttelte noch einmal den Kopf. „Nein, das ist mir egal. Früher oder später hätte er es ohnehin erfahren. Aber er hat gerade sowieso ganz andere Probleme.“Chris nickte. „Okay, dann... dann lass uns doch weitergehen.“ Er nahm meine Hand und führte mich zu einem der vielen, teilweise stark baufälligen, Gebäude im alten Industriegebiet von Forks. Hier war sicherlich seit Jahren keine Menschenseele mehr gewesen. Die meisten Gebäude waren stark heruntergekommen, kaum eine Glasscheibe unbeschädigt. Er ging zu einer großen, schwer aussehenden Tür und schob sie, ohne jegliche Anstrengung, auf, dann ließ er mich das Gebäude betreten und folgte mir auf dem Fuß.Neugierig sah ich mich um, ließ meinen Blick um mich herum schweifen, während hinter uns die Tür wieder ins Schloss fiel.

„Wo sind wir?“, fragte ich und hörte sogleich meine Stimme an den mitgenommenen Wänden abprallen und in dem fast gänzlich kahlen Gebäude widerhallen. Abgesehen von ein paar offensichtlich kaputten und verstaubten Maschinen und einigen kahlen Edelstahltischen befand sich hier nichts mehr. Chris hob mich wortlos hoch und setzte mich auf einem eben dieser Tische ab, dann stellte er sich genau vor mich, so dass links und rechts von seiner Hüfte je eines meiner Beine über der Tischkante baumelte. Seine dunkelblauen Augen bohrten sich förmlich in die meinen und hatten dabei fast etwas unheimliches, das ich mir nicht wirklich erklären konnte. „Alte Schuhfabrik“, klärte er mich auf. „Sie faszinieren mich, weißt du“, fuhr er fort. „Alte Dinge.“Er streichelte mir gedankenverloren über den Unterarm, während er sprach und folgte dabei verträumt seinen eigenen Fingern, die über meine Haut fuhren.Ich lächelte. „Oh, schade, ich bin nämlich mit meinen vierzehn nicht gerade alt.“Seine Mundwinkel hoben sich ebenfalls zu einem schelmischen Grinsen. „Bist du das?“ Ich zog fragend die Augenbrauen zusammen.„Ah ja, richtig“, sagte er dann. „Das ist es, was du mir erzählt hast.“ Dann lachte er.Zum mitlachen war mir dabei aber irgendwie nicht so wirklich. Es klang komisch für mich, so als würde er mir vorwerfen ihn bezüglich meines Alters angelogen zu haben. Aber das war nur gespielt... Oder etwa nicht?

Er schien mein Unbehagen nicht zu bemerken, beugte sich zu mir und küsste mich. Im ersten Moment dachte ich darüber nach, mich ihm zu entziehen, gab dann aber nach und mich dem Kuss hin. Er strich durch mein seidig-braunes Haar, dann legte er seine Hand in meinen Nacken, ließ sie über meine Schultern gleiten und schließlich über meinen Arm, was mir eine Gänsehaut bescherte. Seine andere Hand legte sich derweil an meinen Hals. Wenig später machte sie sich daran, die Knöpfe meiner Bluse zu öffnen – einen nach dem anderen. Ich ließ es zu, bis ich plötzlich seine raue Hand auf der nackten Haut wenige Zentimeter über meinem weißen BH spürte. „Stop!“, sagte ich, woraufhin er seine Lippen von meinen nahm, sich aber ansonsten nicht bewegte. Er sah mich ausdruckslos an, während mein Herz immer schneller in meiner Brust pochte. „Ich glaube, ich bin noch nicht bereit dafür.“Ich wartete auf eine Reaktion, doch blieb sein Blick leer, was eine gewisse Panik in mir aufkeimen ließ. Bitte, sag irgendetwas.Und dann lächelte er doch noch ein verständnisvolles Lächeln. „Aber natürlich“, flüsterte er und sah mir dabei tief in die Augen.Ich atmete erleichtert auf und lächelte ebenfalls.Er nahm seine Hände von mir und machte einen Schritt zurück. „Aber natürlich...“Ich folgte ihm mit meinen Augen und sah, wie sich sein nettes, freundliches Lächeln wandelte und seine Augen zu funkeln begannen. „Wer ist schon bereit dafür, zu sterben.“

Mein Herzschlag schien einen Moment auszusetzen. Hatte er das gerade wirklich gesagt?Ich wollte aufspringen, da bemerkte ich, dass er, ohne dass ich es mitbekommen hatte, eins meiner Handgelenke mit einer Art Kabelbinder am Tisch festgebunden hatte. Mein Herz raste. „Chris, was soll das?!“, fragte ich panisch. Zur Antwort lachte er gehässig. „Lass mich gehen!“, schrie ich ihn an und verschob beim Versuch, mich loszureißen direkt den kompletten Tisch. „Damit kommst du nicht durch! Billy wird meinem Dad längst Bescheid gesagt haben!“Er hörte nicht auf zu lachen, schien sich seiner Sache bereits sicher.„Dein Lachen wird dir schon noch vergehen!“, zischte ich.Plötzlich verstummte er und ging, die Augen zu Schlitzen verengt, auf mich zu. „Ach ja, wird es das?“„Mein Dad reißt dich in Stücke!“, drohte ich in meiner Verzweiflung.„Soll er nur kommen und es versuchen“, sagte er. „Dann jage ich euch eben beide in die Luft. Das ist es nämlich, was ich tue. Blutsauger in die Luft jagen.“„Ich bin kein Vampir!“, erwiderte ich.Er schüttelte den Kopf. „Ja ja ja, du mit deinen hübschen, grünen Augen und deinem flatternden, kleinen Herzschlag. Du kannst damit vielleicht Menschen täuschen, aber mich nicht.“Er stand nun genau vor mir, sah zu mir herab und legte seine Hand an meine Wange, wie er es in den letzten Wochen oft getan hatte. „Mich nicht“, flüsterte er mir zu.Und dann spürte ich den Schmerz. Einen Schmerz, wie ich ihn noch nie gespürt hatte. Einen der sich anfühlte, als würde er mir die Lebenskraft entziehen und mich gleichzeitig zerreißen. Ich konnte nichts weiter, als die Augen zusammen zu kneifen und zu schreien. Einfach nur schreien. Selbst als ich seine Hand nicht mehr auf mir spürte und ihn durch meine, nun verschwommene Sicht, schemenhaft rückwärts gehen sah, blieb der Schmerz. Gnadenlos zwang er mich in die Knie, bis ich schließlich zusammen gekrümmt unter dem Tisch lag, unfähig zu irgendeiner Bewegung. Jetzt verstand ich auch den lächerlichen Kabelbinder. Einen Vampir würde er damit nie festhalten können, nicht einmal einen Halben. So wie ich mich aber jetzt fühlte, hätte es auch ein Bindfaden sein können. Mit aller Kraft versuchte ich, meine Lider offen zu halten, um ihn nicht aus den Augen zu verlieren, doch es war schier unmöglich, gegen die Erschöpfung anzukommen. Aber wenigstens war der Schmerz verschwunden. Was zurück geblieben war, war die Finsternis, die mich nun nach und nach verschlang...

 

*** „Luna! Luna! Luna!“ Die Stimme, die ich da hörte, war mir vertraut. Sehr, sehr, sehr vertraut. Und ich liebte sie. Von Anfang an hatte ich sie geliebt. Sie zu hören erfüllte meinen kalten Körper mit etwas Wärme und die Dunkelheit um mich herum mit Licht. Es war nicht viel, aber es war da. „Luna! Bitte, wach auf. Bitte!“ Die Verzweiflung in seiner Stimme zerriss mir das Herz. Wie gern wäre ich einfach aufgewacht, hätte ihn angelächelt und wäre mit ihm nach Hause gegangen, als wäre nichts gewesen. Aber das ging nicht. Mir fehlte die Kraft. Meine Lider waren zu schwer, um sie zu öffnen, meine Arme zu müde, um sie zu heben. Warme Hände legten sich links und rechts an meine Wangen. „Bitte, bitte mach die Augen auf!“, flehte er. Ich roch das Salz in der Luft und spürte seinen Atem auf meiner Haut. Sein Gesicht war meinem jetzt ganz nah. Ich wusste nicht wie, aber irgendwie gelang es mir schließlich doch zitternd meinen Arm zu heben und meine Hand an seine Wange zu legen. Es war als spielten seine Gedanken einen Film hinter meinen geschlossenen Lidern ab. Ein Film, der eine Erinnerung war. Ich sah ein Baby. Ein kleines, hilfloses Baby mit braunem Haar und heller Haut. Er hielt es im Arm und lächelte es an als wäre es aus purem Gold. Als wäre es alles, was er sich je gewünscht hatte und je wünschen würde, ohne dass er je daran geglaubt hatte, dass es so etwas überhaupt gab. Ein Wunsch, der mehr war, als man selbst. Der einem mehr bedeutete, als das eigene Leben. „Hey, mein kleiner Mond“, flüsterte er dem Baby zu, nun da es ihn mit seinen smaragdgrünen Augen ansah. Er streichelte seine zarte Haut. „Ich werde immer für dich da sein. Immer. Du wirst niemals allein sein, oder Angst haben müssen, oder traurig sein. Solange ich lebe, werde ich dich beschützen.“„Daddy...“ Meine Worte waren kaum mehr als ein Hauch. Sofort legte er seine Hand an meinen Handrücken, nahm sie aus seinem Gesicht und küsste sie. „Ich bin hier“, versuchte er mich zu beruhigen. Ich musste husten. „Ich bin hier“, wiederholte er und gab mir einen Kuss auf die Stirn.Mühsam öffnete ich meine Augen ein Stückchen.„W-wo bin ich“, fragte ich müde und kaum in der Lage, meinen Kopf zu heben, den er mit seiner Hand stützte. „Ich weiß es nicht, aber das spielt keine Rolle, weil wir diesen Ort gleich verlassen werden.“„Ach wirklich?“ Chris Stimme jagte mir erneut einen Schauer über den Rücken. So sehr, dass der Adrenalinschub mir die Kraft gab, wieder einigermaßen Herrin meiner Sinne zu werden. Aus Dads Kehle hörte ich ein tiefes Knurren. Er drehte sich um, ohne einen Zentimeter von mir zu weichen und schirmte mich ab, indem er vor mir kauerte. „So... das ist also 'Daddy'“, sagte er abfällig und ging weiter auf uns zu. Dads Knurren wurde lauter. „Was immer du meiner Tochter angetan hast, du wirst dafür bezahlen!“„Ich gebe dir gern meine Adresse. Du kannst mir dann meinen Schuldschein aus der Hölle zukommen lassen, Monster!“, antwortete er. Als wäre das sein Stichwort, stand Dad plötzlich auf, wodurch er Chris um etwa einen halben Kopf überragte. Das schien diesen allerdings nicht im geringsten einzuschüchtern. Er sah siegessicher zu ihm empor. „Sayonara!“, schrie er ihn an und streckte den Arm aus. Mir entglitt ein entsetzter Schrei, ging ich doch davon aus, dass er Dad die gleichen Schmerzen zufügen wollte, die er mir zuvor zugefügt hatte, aber nichts passierte.

Noch überraschter als ich, schien jedoch sein Gegenüber darüber zu sein. Chris sah aus, als hätte er einen Schlag ins Gesicht bekommen. Sein ausgestreckter Arm begann zu zittern und seine Augen weiteten sich, mehr und mehr mit jeder Sekunde, in der Dad weiterhin reglos da stand. Ich konnte sein Gesicht nicht sehen, nahm aber an, dass nun ein leichtes, triumphierendes Lächeln seine Lippen zierte. „Nicht mehr ganz so vorlaut, mh?“, provozierte er. „Verdammtes Monstrum!“, schrie Chris – dann ging er mit geballter Faust auf meinen Vater los. Dad konnte meinetwegen nicht ausweichen, daher blockte er seinen Schlag ab und schob ihn anschließend zurück und veränderte dabei den Winkel, in dem er zu mir stand. Doch selbst als er zurücksprang, folgte Chris ihm ohne große Schwierigkeiten, immer wieder in dem Versuch, ihn zu erwischen. Ich wusste, dass mein Vater außerordentlich flink war, wegen des ausgeprägten Werwolfgens schneller noch, als die meisten vollwertigen Vampire, doch Chris' Geschwindigkeit war ebenfalls beachtlich. Ich konnte ihren Bewegungen mit meinen müden Sinnen kaum folgen. Wie war es nur möglich, dass er meinem Vater Paroli bieten konnte, er war doch kein Vampir? War ich tatsächlich so blind gewesen, nicht zu merken, dass der Junge, mit dem ich zusammen war, kein gewöhnlicher Mensch war? Aber was war er dann? Ein Gestaltwandler? Nein, das war es auch nicht. Dann hörte ich plötzlich das Geräusch zerberstender Knochen und im nächsten Moment knallte Dad wenige Meter vor mir mit einer blutenden Nase zu Boden. „Dad!“, rief ich verzweifelt. Ich wollte aufstehen, stellte dann jedoch fest, dass ich noch immer den Kabelbinder am Handgelenk hatte und sank wieder auf den Boden. Mit großen Augen sah ich, wie Chris sich meinem Vater von hinten näherte. Er packte ihn am Kragen, zerrte ihn auf die Füße und wuchtete ihn anschließend mit aller Kraft gegen die nächste Betonwand. „Was bist du?!“, brüllte er ihn an. Er schlug seinen Kopf erneut gegen die Wand. „Was bist du?!“

„Lass ihn in Ruhe!“, schrie ich ihn weinend an, musste dann jedoch gleich wieder husten. Es spielte keine Rolle. Er ignorierte mich ohnehin, fixierte stattdessen weiter meinen Vater. Seine zornige Fratze verblasste jedoch, als er sah, wie sich Dads Nase von selbst heilte, bis nur noch das frische Blut Zeuge seiner einstigen Verletzung war.„Ah“, sagte Chris. „Selbstheilungskräfte. Na dann wollen wir doch mal sehen, ob die dir nicht vielleicht zum Verhängnis werden, Superman.“Ich wusste nicht, wovon er sprach, aber seine Worte machten mir Angst. Ich hörte ein leises Klicken. Dann sah ich, wie aus dem Nichts, dicken, schwarzen Rauch aufsteigen, der sich wie ein Schleier um alles legte und mir das Atmen zusätzlich erschwerte.

Daraufhin verlor ich die beiden. Ich sah wild um mich herum, aber alles was ich davon hatte, war ein furchtbares Brennen in den Augäpfeln.„Daddy?!“, rief ich verzweifelt, in der Hoffnung, dass er gleich aus dem Qualm treten und mich hier fortbringen würde, doch quälend lange, sah und hörte ich nichts.

Plötzlich tat es noch einen Schlag. Dieses Mal war es Chris der etwa einen Meter vor meinen Füßen landete. Dad stürzte sich auf ihn und schlug auf ihn ein, doch Chris hielt erneut stand, blockte viele seiner Schläge und schaffte es letztlich, sich unter ihm fort zu winden. Er verschwand für Bruchteile von Sekunden im schwarzen Schleier, dann tauchte er wieder auf, direkt hinter meinem Vater.„Daddy, pass auf!“, wollte ich ihn noch warnen, doch es war zu spät. Er nahm meinen Vater in den Schwitzkasten und zwang ihn auf die Knie. Dann sah ich, zu meinem großen Entsetzen, ein Messer in seiner linken Hand aufblitzen.

Nein, nein, nein, dachte ich. Doch meine Gedanken hielten ihn nicht von dem ab, was er vorhatte. Mit Entsetzen sah ich hilflos und bewegungsunfähig dabei zu, wie er meinem Vater einmal quer über den Bauch schnitt, woraufhin ihm ein Stöhnen entfuhr. Angesichts des Blutschwalls, der aus seinem, nun zerschnittenen, schwarzen Shirt quoll, hatte ich aber mit mehr gerechnet. Chris nutzte den Moment, in dem mein Vater vor Schmerz und Schock paralysiert war und drückte ihn erneut gegen die nächste Wand. Wieder schob sich eine dicke Rauchwolke vor mich, so dass ich sie erneut verlor. „Daaad!“, brüllte ich weinend. „Dad, bitte, Daaad!“

Oh mein Gott, dachte ich. Was passierte da gerade, wenige Meter vor mir, ohne dass ich es sehen konnte? Wer von beiden hatte die Oberhand? Riss Dad ihn gerade in Stücke? Oder wurde er vielleicht selbst in Stücke gerissen? Mit meiner übrigen Hand machte ich mich in meiner Not daran, den Kabelbinder zu lösen, doch zitterte ich zu sehr. Heiße Tränen liefen meine Wangen hinab, landeten auf dem Boden und auf meiner hellen Haut.

 

„Luna.“ Die leise Stimme meines Vaters brachte mich sogleich dazu, mich wieder umzudrehen. Ich hatte bereits mit dem Schlimmsten gerechnet, da trat mein Vater plötzlich aus dem Rauch heraus, ging zu mir und kniete sich vor mich.„Daddy!“, rief ich erleichtert und umarmte ihm mit meiner freien Hand, kaum dass er in meiner Reichweite war. Ich sah über seine Schulter hinweg, während er mein festgebundenes Handgelenk befreite. Von Chris fehlte jede Spur.Er löste sanft unsere Umarmung, legte seine Hände an meine Schultern und sah mich eindringlich an. „Hör mir zu, hör mir jetzt bitte genau zu“, bat er. Ich bekam es wieder mit der Angst zu tun. Das hier klang wie ein Abschied. Nein, das durfte nicht wahr sein. Konnte nicht wahr sein. Das war ein Scherz, ein schlechter, sehr, sehr schlechter Scherz. „Du drehst dich jetzt um, verlässt diesen Ort und dann rennst du. Du rennst so weit und so schnell du nur kannst und schaust nicht zurück, ja?“Ich schüttelte den Kopf und weinte bittere Tränen. „Nein, ich geh nicht ohne dich!“Er streichelte meine Wange und strich eine Träne mit seinem rußverschmierten Daumen weg. „Ich habe versprochen, dich immer zu beschützen.“„Solange du lebst“, erinnerte ich ihn zitternd.„Ja“, sagte er. „Und das werde ich. Ich lass dich nicht allein, versprochen.“Er küsste mich abermals auf die Stirn. „Und jetzt geh. Schnell. Bitte.“Ich nickte zaghaft.

Einen Moment zögerte ich noch, dann rannte ich.

Quer durch den Qualm und anschließend ins Freie. Ohne mich umzudrehen, so wie er es verlangt hatte.Und dann hörte ich den lautesten Knall meines Lebens. Die Erde begann unter mir zu beben. Ich schmiss mich auf den Boden und schlug die Hände über dem Kopf zusammen. Hatte sich soeben die Erde aufgetan? Hatte sie alles um mich herum verschlungen?

 

Was folgte war ein Moment der Stille. Alles was ich kurz darauf hörte war ein schriller Piepton, der wenig später jedoch wieder verschwand.

Zögerlich öffnete ich die Augen. Das Erste was ich sah, waren einzelne Aschepartikel, die um mich herum wirbelten wie Feen in einem Zaubergarten. Mein Nacken schmerzte ein wenig, dessen wurde ich mir bewusst, als ich versuchte den Kopf zu drehen, während ich mich aufsetze.

Zwei Herzschläge darauf wäre ich dann beim Anblick der Fabrik, in der ich eben noch gewesen war, beinahe wieder zu Boden geglitten. In der Front befand sich ein großes Loch, durch das man die Schutthaufen im Inneren sehen konnte. Überall lagen Teile der Maschinen herum und die Stahlbalken, die zuvor die Decke stabilisiert hatten, hingen kreuz und quer von ihr herab oder lagen zerbrochen auf dem Boden. Alles was aus Holz war oder anderweitig brennbar, hatte Feuer gefangen und über allem lag der Geruch von Tod und Zerstörung.

Meine Augen suchten und suchten, aber sie fanden nicht. Bitte nicht, dachte ich und wollte meine letzte Kraft mobilisieren, um aufzustehen, da hörte ich, wie hinter mir jemand meinen Namen rief. Meine Mutter ließ sich neben mir auf der Erde nieder und nahm mich in den Arm. „Oh mein Gott, du lebst“, flüsterte sie und gab mir einen Kuss auf die Wange, dann drückte sie mich wieder an sich. „Luna.“ Ich spürte eine kalte Hand auf meiner Schulter und zuckte kurz zusammen.

Edward war ebenfalls neben mir in die Hocke gegangen. „Wo ist dein Vater?“, fragte er. Daddy. War alles, was ich denken konnte, während ich meinen Urgroßvater ausdruckslos anstarrte. „Luna“, wiederholte er sanft meinen Namen. „Er wollte nach dir suchen. Hat er dich gefunden? Hast du mit ihm gesprochen?“Langsam, ganz langsam drehte ich meinen Kopf wieder in Richtung der Überreste der Schuhfabrik.Er hat versprochen, mir zu folgen. Er hat versprochen, mich zu beschützen. Warum also war er nicht da? Warum war er nicht da? Warum?„Ach du scheiße!“, knurrte Jake, der bis dato neben Edward gestanden hatte und raste in Richtung des fast gänzlich zerstörten Gebäudes. „Jacob nicht!“, brüllte Edward und rannte ihm nach, dicht gefolgt von Bella. Er packte Jake und zog ihn zurück, als dieser versuchte, das Gebäude zu betreten. Genau auf die Stelle, auf der er zuvor noch gestanden hatte, knallte Augenblicke später ein weiterer Teil des Daches. Obwohl er ihn gerade davor bewahrt hatte, zerquetscht zu werden oder zumindest starke Verletzungen zu bekommen, warf Jake einen wütenden Blick auf Edward.„Du kannst ihm nicht helfen, wenn du selbst erschlagen wirst“, sprach dieser dennoch ruhig zu ihm.Jacob schnaubte kurz. Edward nickte, woraufhin sie beide vorsichtig eintraten und in der Finsternis verschwanden, die weder von den einzelnen Feuern, noch vom Resttageslicht beschienen wurde.Ich war mir sicher, dass die Zeit auch für Renesmee, Mum und Bella stehen geblieben war, während wir draußen saßen und darauf warteten, dass sie wiederkamen. Nach quälend langen Minuten, sah ich dann drei Silhouetten aus dem Gebäude kommen. Mum nahm mein Handgelenk und wollte wohl, dass ich ruhig sitzen blieb, doch ich schob mehr oder weniger sanft ihre Finger von mir und stolperte los.Edward und Jacob, die ihn beide gestützt hatten, ließen meinen Vater los, woraufhin er zu Boden ging und ich mich vor ihn kniete. Er nahm mein Gesicht in seine Hände und sah mich müde an.„Hey“, begrüßte er mich leise. Voller Sorge sah ich zu ihm hinauf. Seine helle Haut war an manchen Stellen von schwarzen Rußflecken gezeichnet und an seiner Schläfe lief ein kleines Rinnsal aus Blut hinab, dessen Ursprung allerdings glücklicherweise bereits verheilt schien. Dann nahm er mich plötzlich in den Arm und drückte mich ungewohnt fest an sich. Es tat schon fast weh. „Es geht dir gut, es geht dir gut, es geht dir gut“, wiederholte er schnell hintereinander, flüsternd und mehr zu sich selbst, als zu mir. Und wieder war da die Angst. Irgendwas stimmte nicht.„Ja, es geht mir gut, Dad. Es geht mir gut“, versicherte ich ihm und schloss die Augen. Sein Herz raste. Ich konnte es praktisch durch unser beider Kleider hindurch klopfen spüren. „Es geht mir gut“, sagte ich dann noch ein weiteres Mal, in der Hoffnung ihn dadurch ein bisschen beruhigen zu können.Plötzlich wurde seine Umarmung schwächer. „Dad?“, fragte ich unsicher, jedoch zu verängstigt, um mich zu bewegen. Nein, irgendetwas stimmte hier ganz und gar nicht. „Dad?!“, versuchte ich es noch einmal etwas lauter. Keine Reaktion. Edward schob seine Hand zwischen meinen Vater und mich, gleichzeitig legte meine Mutter ihre Finger um meinen Oberarm und zog mich zurück. Sie streichelte durch mein, inzwischen wahrscheinlich zerzaustes und verrußtes, Haar, in dem Versuch mich zu beruhigen, doch alles was ich konnte, war Edward dabei zu beobachten, wie er seine Hand an Dads Hinterkopf legte und ihn vorsichtig zu Boden gleiten ließ, bis er der Länge nach auf der Wiese lag.

Er klatschte ihm vorsichtig einmal links und einmal rechts gegen die Wangen. „Anthony?“, fragte er dabei.

Was ich sah, verursachte bei mir ein für mich ungewohntes Gefühl, das man wohl noch am ehesten als Bauchkrämpfe bezeichnen konnte. Als ich mir jedoch die Hand an den Bauch legte, spürte ich dort etwas warmes, feuchtes, woraufhin ich die Innenseite meiner Hände betrachtete. Sie waren blutverschmiert. Entsetzt starrte ich an mir herab und stellte fest, dass mein kompletter Bauch und Teile meines noch immer aufgeknöpften Shirts, voller Blut waren – aber es war nicht meines. Ich wollte erneut aufstehen, um zu meinem Vater zu kommen, doch hielt mich meine Mutter davon ab. Alles war mir blieb, war mit anzusehen, wie Edward, der nun ebenfalls die blutende Wunde an Dads Bauch bemerkt hatte, dessen Oberteil an einer kleinen Stelle anriss, um es dann komplett aufzureißen. Für Knöpfe war keine Zeit, denn was er da freigelegt hatte, schien viel größer zu sein, als der Schnitt, den Chris ihm mit seinem Messer zugefügt hatte.

„Bella“, sagte Edward, ohne seinen Blick von Dad abzuwenden. „Ja?“, fragte sie und trat näher an die beiden heran.Nun sah Edward zu ihr empor. „Ich brauche den Verbandskasten aus dem Wagen“, sagte er.Bella nickte und machte sich auf zum Auto. Edwards bernsteinfarbene Augen richteten sich dagegen wieder auf meinen Vater.„Anthony“, sprach er ihn noch einmal an, dann rüttelte er ihn vorsichtig. „ANI!“Schrecklich langsam kam Dad daraufhin wieder ein bisschen zu sich. Seine Lider flackerten und es fiel ihm sichtlich schwer, sie offen zu halten, aber immerhin reagierte er. „Was ist passiert, Anthony?“, fragte Edward.Mein Vater schluckte, sagte jedoch nichts.„Ich will es nicht in deinen Gedanken lesen. Ich will, dass du es mir erzählst“, stellte mein Urgroßvater daraufhin klar. Natürlich, er wollte, dass Dad wach blieb und das ging am besten, indem er mit ihm sprach. Gleichzeitig würde es ihn bestimmt auch schwächen, aber das war wohl ein Risiko, das Edward bereit war, einzugehen.Mein Vater öffnete den Mund, doch schloss er ihn kurz darauf wieder, ohne etwas zu sagen. Er drohte gerade wieder, in die Bewusstlosigkeit abzudriften, da legte Edward abermals seine kalte Hand an Anthonys Wange. „Was ist passiert?“Dad öffnete seine Lider erneut etwas. „I-ich...“, begann er zögerlich. „Er hat bemerkt, dass... ich mich heilen... k-kann.“ Er hustete mehrere Male und war kaum in der Lage weiter zu sprechen. Blut begann aus seinen Mundwinkeln zu laufen. Innere Verletzungen, soviel medizinisches Verständnis hatte ich zumindest.„Sie hat.... mir so was... schon erzählt... dass er... gern Dinge... in die Luft... jagt.“Ich hatte keine Ahnung, was er damit meinte und auch mein Urgroßvater schien verwundert, doch ließen wir ihn ohne Unterbrechung weiter reden. „Ich... hab Luna nach draußen geschickt... und sie mir dann... wieder... raus gezogen... i-ich wollte sie wegwerfen... aber es... hat... nicht mehr... nicht mehr...“Seine Lider schlossen sich wieder, während er die Worte wiederholte.„Ani?“, fragte Edward sichtlich nervös, doch es half nichts. Er reagierte nicht mehr auf seine Stimme und glitt davon.

Renesmee setzte sich vor meinen Vater, nahm seinen Kopf auf ihren Schoß und strich ihm ein paar der verklebten, schwarzen Haare von der Stirn. Dann schloss sie die Augen und murmelte irgendetwas leise vor sich hin. Es sah fast so aus, als würde sie sein Herztöne zählen.

„Was hat er gemeint?“ Jacob sah verwirrt drein. „Edward!“, sagte er dann, als von diesem nichts kam. Dieser seufzte. „Erinnerst du dich an das, was Aro damals auf dem Schlachtfeld sagte? Dass die Menschen und ihre Technologien uns zunehmend gefährlicher werden? Dieser Junge scheint ein Faible für Sprengstoff zu haben. Eine der wenigen Möglichkeiten, die ein Mensch hat, um einen Vampir in Stücke zu reißen.“Jacob klappte der Mund leicht auf. „Willst du damit sagen, dieser Bastard hat versucht meinen Sohn und meine Enkelin weg zu bomben?“

Edward nickte, ohne Jake anzusehen. Sein Blick blieb auf Dads blutender Wunde geheftet. „Und er hat es nahezu geschafft. Es ist ein Wunder, dass er noch lebt. Er ist ja nicht mal ein halber Vampir.“

Bella kam zurück und legte Edward gleich fünf Verbandskästen hin. Ihr Mann blinzelte verwundert zu ihr empor. Sie zuckte mit den Schultern. „Ich dachte ein paar mehr können nicht schaden.“Seine Mundwinkel hoben sich leicht, ehe er damit begann, eine der kleinen Boxen zu öffnen. Er nahm eine Banderole heraus, ließ sie jedoch Augenblicke später fallen, so dass sie im Gras landete. Im selben Moment schlug Renesmee die Augen auf. „Oh, nein, nein, nein, nein“, sagte Edward leise und beugte sich über meinen Vater.„Was ist los?!“, fragte ich, während ich ein weiteres Mal versuchte, zu ihm zu kommen, doch Mum ließ es nicht zu.„Bleib hier, Schatz“, kam es sanft von ihr. „Edward tut was er kann.“

Doch je ruhiger sie blieb, desto haltloser wurde ich. Wie konnte sie nur so seelenruhig da sitzen, während Dad ein paar Meter vor uns um sein Leben kämpfte?

Und dann, als ich sah, wie Edward seine Lippen auf Dads legte, wurde mir klar, dass er diesen Kampf bereits verloren zu haben schien – und fand schließlich die Kraft, mich loszureißen. Ich stürmte nach vorn, doch kurz bevor ich ihn berühren konnte, wurde ich erneut fortgezogen. „NEIN!“, brüllte ich aus Leibeskräften. Ich schüttelte fassungslos den Kopf, weinte, schrie und wand mich. „Er hat versprochen, immer für mich da zu sein. Er hat versprochen, mir zu folgen! Er hat versprochen, dass er überleben wird! Er wollte mich doch beschützen! Er kann das doch nicht einfach vergessen haben! Er kann seine Versprechen nicht einfach so brechen! Er hat seine Versprechen bisher immer gehalten!“

 

Wie in einer Art Trance, beobachtete ich durch Augen, die wie Feuer brannten, den verzweifelten Versuch meines Urgroßvaters, meinen Vater zurück ins Leben zu holen. Mum drückte mich an sich, legte ihre Stirn an meine Schläfe und schloss die Augen. „Seine Versprechen nicht zu halten, war bestimmt das Letzte, was dein Vater wollte, mein Schatz, aber manchmal passieren Dinge, über die man keine Macht hat.“Ich sah sie nicht an, starrte mit offenem Mund und leerem Blick geradeaus. Mir kamen wieder seine Worte in den Sinn, damals im Wald... Ich kann dir nichts versprechen, worüber ich keine Macht habe. Ich altere nicht, aber ich bin nicht unsterblich, mein Engel. Doch was ich dir versprechen kann, ist, dass du immer einen Platz in meinem Herzen haben wirst, den dir niemals irgendjemand wird wegnehmen können. So wie es für die Erde nur einen Mond gibt, gibt es nur dich für mich.

Es war als hätten wir beide damals eine böse Vorahnung gehabt. Und doch, das Versprechen, das er in jedem Fall hatte halten wollen, hatte er ebenfalls nicht gehalten, oder? Hatte ich den Platz in seinem Herzen noch immer Inne gehabt? War ich noch immer sein Mond gewesen? Ich hatte ihm eine Frage gestellt und war zu ungeduldig und zu feige gewesen, auf die Antwort zu warten. Ich war einfach davon gelaufen. Mitten in unser Verderben. Es war alles meine Schuld. Meine allein. Wäre ich nicht davon gelaufen, wäre er noch am Leben. Er wäre mit einer anderen Frau, als meiner Mutter zusammen, aber er wäre am Leben. Und nun, da ich ihn da liegen sah, ohne Herzschlag, ohne einen Funken Leben, hatte ich meine Antwort. Er war mir ohne zu zögern gefolgt. Er hatte gespürt, dass etwas nicht stimmte. Er hatte sogar gewusst, wo er mich fand. Die Prägung hatte keine Auswirkungen auf unsere Liebe füreinander gehabt. Aber wie spät kam diese Erkenntnis für mich, für uns? Zu spät?

 

Erschöpft ließ ich mich zu Boden sinken und vergrub meine Hände im verschmutzen Gras. Daraufhin lockerte sich Mums Griff, bis ich ihre Finger nicht mehr spürte.

Vor meinem inneren Auge sah ich Billy in der Halle der Volturi stehen, direkt neben ihrem Vater. Blutverschmiert und leblos. Und sie stand daneben und konnte nichts tun, weil es nur eine Erinnerung war. Nun wusste ich genau, wie sie sich gefühlt haben musste. Aber es gab einen entscheidenden Unterschied: dies hier war keine bloße Erinnerung. Es war real und geschah genau in diesem Augenblick. Aber es würde bald zu einer Erinnerung werden. Eine die ich bereuen würde, wenn ich jetzt nichts tat. Mit neuer Entschlossenheit hob ich den Kopf und ballte gleichzeitig die Hände im Gras zu Fäusten, so dass sich etwas Ruß unter meine Fingernägel schob. Im Augenwinkel sah ich, dass meine Mutter nun ebenfalls zu weinen begonnen hatte. Ein Vorhang aus langem, braunem Haar fiel über ihr Gesicht, nun da sie den Kopf gesenkt hatte und sich eine Hand vors Gesicht hob, während die Andere in ihrem Schoß lag.

Mit zittrigen Beinen erhob ich mich. Diesmal hielt mich niemand auf, als ich die Distanz zwischen mir und meinem Vater überwand. Edward saß mit gequältem Blick vor ihm und rührte sich nicht. Renesmee saß an seinem Kopfende und wurde von Jacob im Arm gehalten. Ich sah ihr Gesicht nicht, hörte sie jedoch schluchzen.Ich ließ mich wieder auf die Knie fallen. Viel länger hätte ich ohnehin nicht stehen können.

Ich legte meine Hand an Dads Wange. Normalerweise hatten wir dieselbe Temperatur und dieselbe Hautfarbe. Jetzt war er eiskalt und so weiß, wie ein Blatt Papier. „Du kannst doch jetzt nicht gehen“, flüsterte ich. Daraufhin sah Edward mich an und auch Renesmee lugte zwischen ihren Haaren und Jakes Brust hervor. Ich schloss die Augen, in dem Versuch, in Dads Kopf zu kommen, doch ich sah nichts. Absolut gar nichts. Als hätte ich meine Hand an eine Hauswand gelegt. Unter meinen geschlossenen Lidern sammelten sich Tränen und kaum, das ich sie wieder aufschlug, liefen sie über meine Wangen.„Edward“, sagte ich dann leise, ohne meinen Blick vom leblosen Körper meines Vaters zu nehmen. „Mhm?“, murmelte er zur Antwort. „Bitte versuch es nochmal.“„Luna-“, setzte er an, doch ich unterbrach ihn. „Bitte“, wiederholte ich sanft, jedoch bestimmt.Er seufzte. „Okay.“Er hatte mehrere Medizinstudien hinter sich. Natürlich wusste er, wann eine Reanimation gescheitert war. Dennoch öffnete er einen weiteren Verbandskasten, zog eine Banderole heraus und begann damit, diese fest um die klaffende Wunde zu binden. Dann nahm er eine weitere und wiederholte den Vorgang. Alles mit einer Geschwindigkeit, von der menschliche Ärzte nur träumen konnten. Ein Teil von mir, war sich bewusst, dass es hier draußen, ohne jegliches Equipment und vor allem ohne Blutkonserven, schier unmöglich war, seinen Kreislauf wieder in Gang zu bringen. Doch der andere Teil wollte glauben, dass er genau zu diesem Wunder in der Lage war, wenn er nur ein wenig mehr Hilfe bekam.

Ich rückte ein paar Zentimeter zurück und legte die Hände in den Schoß, in dem Versuch ihr zittern ein wenig einzudämmen. Mum hatte recht. Ich musste Edward Raum geben, auch wenn es mir schwer fiel. Mir blieb also nichts anderes übrig, als hier zu sitzen, ihm zuzusehen, zu warten, und mich an dieses kleine Gefühl zu klammern, das ich tief in meinem Inneren spürte und das mir sagte, dass mein Vater noch nicht verloren war.

„Komm schon Junge, komm schon“, murmelte Edward, während er auf Dads Brustkorb drückte. Sekunden später blies er ihm erneut Luft in den Rachen und begann dann weiter zu pressen. „Dein Töchterchen glaubt so sehr an dich. Du kannst sie doch jetzt nicht im Stich lassen.“

Seiner Worte wegen wurde mir warm ums Herz und sie ließen mich hoffen, dass auch Dad aus ihnen Kraft schöpfte, wo auch immer er gerade war, und diese nutzte, um zu mir zurückzukommen.

Bei Edwards nächstem Beatmungsversuch durchfuhr seinen Körper dann plötzlich ein seltsamer Ruck, der mich kurz zusammenzucken ließ. Dann schlug er die Augen auf und starrte in den Himmel. Noch nie zuvor, war ich derart froh, dieses Grün zu sehen.„Daddy!“, rief ich aus, doch Edward hob direkt die flache Hand in meine Richtung, damit ich nicht näher kam. Dann widmete er sich wieder Dad, der inzwischen hustete und nach Luft schnappte. „Hey, hey“, sagte Edward sanft und stützte dabei seinen Hinterkopf mit einer Hand, als er versuchte, diesen zu heben, es aber nicht so richtig schaffte. „Man hast du uns einen Schrecken eingejagt.“„Sorry“, bekam er zur Antwort gerade noch so heraus, was uns allen ein Lächeln auf die Lippen zauberte. Als er dann jedoch allen ernstes Anstalten machte, den Oberkörper zu heben, drückte ihn Edward sanft wieder zurück auf den Boden.„Ah ah, schön liegen bleiben“, befahl er, dann suchten Edwards Augen nach meiner Mutter.„Sangreal, wo ist sein Handy?“Mum sah ihn überrascht an. „Linke Seitentasche.“Ohne Dads Hinterkopf loszulassen, griff er mit einer schnellen fließenden Bewegung seiner freien Hand in Dads Jacke und zog dessen Smartphone heraus. Es sah ein bisschen mitgenommen aus. Unter anderem war das Display gesprungen und ein Stück des Akku-Deckels fehlte. „Komm schon, komm schon“, murmelte Edward erneut, während er darauf herumdrückte. Offensichtlich wollte das Gerät nicht ganz so funktionieren, wie er es sich wünschte. „Was hast du vor, willst du ’nen Krankenwagen rufen?“, fragte Jacob perplex.Edward sah ihn an, als habe er eben gefragt, ob er den Weihnachtsmann anrufen wolle. „In etwa. Ich rufe Cat an. Werwölfe sind besser darin, sich selbst zu heilen, als Menschen, aber Kantoren sind eben nochmal eine ganze Ecke schneller.“Er legte sich das kaputte Smartphone ans Ohr. „Tony?“, hörte ich die Stimme einer Frau durch die knirschenden Lautsprecher.Edward kam direkt zur Sache und stellte sich nicht weiter vor. „Cat. Ich schicke dir eine Route und unser GPS Signal, kannst du die bitte entlangfahren. Wir fahren dir entgegen. Er braucht deine Hilfe und zwar verdammt schnell.“„Okay“, antwortete sie, dann legte sie auch schon auf. Der ernste Tonfall allein, schien ihr schon alles gesagt zu haben.Edward tippte noch ein paar mal schnell herum, dann schob er sich das Gerät in die eigene Tasche und wand den Kopf zu Bella. „Liebste, da du so geschickt darin warst, einen halben Medizinschrank aufzutreiben. Könntest du uns jetzt bitte einen fahrbaren Untersatz besorgen, in dem er sich ausgestreckt hinlegen kann?“Bella nickte, ehe sie davon eilte.Edward legte seine Hand auf Dads Stirn, der inzwischen wieder die Augen geschlossen hatte, dessen Brust sich jedoch deutlich hob und senkte. „Was jetzt?“, fragte Jacob.„Wie ich es Cat schon sagte. Wir fahren ihr jetzt entgegen. Sie wird ihn heilen und alles wird wieder gut.“„Wieder gut?“, kam es von Jake. „Was ist mit dem Arschloch, das ihm das angetan hat?!“ Dann schüttelte er plötzlich den Kopf. „Moment mal.“ Nun richtete er seine Worte an mich. „War das nun tatsächlich der Kerl, mit dem du gegangen bist?“Ich zögerte einen Moment, dann nickte ich beschämt. Jake hob eine Augenbraue. „Dir ist schon klar, dass du so schnell keinen Freund mehr haben wirst, dem dein Vater nicht pauschal den Kopf abreißt?“„Jake, das ist nicht der richtige Moment für sarkastische Kommentare.“ Bella stand plötzlich wieder da und ließ uns perplex drein blicken. Dann wedelte sie mit einem Autoschlüssel. „Gefunden.“

 

***

 

Ein paar Minuten später war die Wiese dann voll mit den Utensilien der Handwerkerfirma, deren schneeweißen Transporter Bella geklaut hatte. „Das könnte ein bisschen weh tun“, warnte Edward meinen Vater vorsichtig vor, ehe er ihn hochhob. Er stöhnte kurz und kniff die Augen zusammen, entspannte sich dann jedoch sofort wieder, als er im hinteren Bereich des Transporters auf dem Boden lag. „Sangreal, Luna, ihr bleibt bei ihm“, sagte er, während er sich die Jacke auszog und sie unter Dads Kopf schob, dann drückte er Jake die Schlüssel in die Hand. „Du fährst. Bella und ich fahren voraus.“„Alles klar“, antwortete Jake und stieg dann zusammen mit Renesmee in den abgetrennten Fahrerbereich. Im hinteren Bereich war es kurz darauf dann ganz still. Abgesehen vom Brummen des Motors hörte ich nur einen einzigen Herzschlag. Würde ich mich ganz genau darauf konzentrieren, würde ich sicher meine Großeltern miteinander reden oder meine Mutter atmen hören, aber das interessierte mich jetzt nicht. Alles, worüber ich nun Gewissheit haben wollte, war, dass Dads Herz nicht aufhörte zu schlagen, ehe wir die Frau erreichten, die Edward angerufen hatte. Ich erinnerte mich dunkel daran, dass wir sie vor einer Weile auf dem Schulparkplatz kurz nach meiner Aufführung getroffen hatten, aber ich wusste nicht mehr, wie sie ausgesehen hatte. Ich war zu sehr mit mir selbst beschäftigt gewesen.

„Luna?“, sagte Mum dann leise. „Mhm?“, antwortete ich, ohne sie anzusehen. „Es tut mir Leid.“Überrascht drehte ich meinen Kopf in ihre Richtung. „Was?“„Dass ich dich zurückgehalten habe. Ich wollte dir nicht wehtun.“„Ich weiß“, antwortete ich leise. Mum schien erleichtert und änderte ihre Sitzposition.

Ich begann währenddessen damit, durch Dads schwarzes Haar zu streicheln. „Du hattest ihn schon aufgegeben, nicht wahr?“„Was?!“, fragte Mum fassungslos.Ich wand meinen Kopf erneut ihr zu. „Hättest du ihn auch so schnell aufgegeben, wenn er sich nicht auf dieses Mädchen geprägt hätte?“„Was redest du denn da?“ Plötzlich griff sie nach meiner Hand und nahm sie in ihre. „Prägung oder nicht, ich würde nie wollen, dass du ohne deinen Vater leben musst.“„Aber das werde ich doch so oder so“, antwortete ich und meine Augen wurden wieder feucht.Mum sah mich verzweifelt an. „Luna...“„Du wirst gehen und ich werde wählen müssen. Ist doch so, oder?“„Schatz“, sagte sie dann und nahm mich in den Arm. „Ich liebe deinen Vater. Er war meine erste Liebe und ich wollte, er könnte meine Letzte sein. Aber ich weiß nicht, ob ich die Ewigkeit mit jemandem verbringen kann, der nicht fähig ist, mich zu lieben. Egal, wie viel Mühe er sich gibt, er wird immer darunter leiden. Und ich kann ihn nicht noch mehr leiden lassen, als er es schon getan hat.“Sie nahm mein Gesicht in ihre Hände. Die Tränen in ihren silbergrauen Augen funkelten im hereinfallenden Mondlicht, während sie mit mir sprach. „Aber seine Liebe für dich wird bleiben. Zumindest diese Liebe ist für die Ewigkeit.“Obwohl mein Herz so schwer war, zwang ich meine Lippen zu einem leichten Lächeln. Im nächsten Moment, stoppte der Wagen dann plötzlich mit einer Vollbremsung, die uns alle Richtung Fahrerkabine rutschen ließ. Instinktiv rutschte Mum sofort an Dads Kopfende, wodurch sie mit dem Rücken gegen die Wand knallte, ihn aber dafür davor bewahren konnte, mit dem Kopf dagegen zu stoßen. Ich hingegen hatte mich schützend über ihn gebeugt und wollte ihn festhalten, rutschte aber stattdessen einfach mit. Als wir zum Stillstand gekommen waren, sahen wir einander ängstlich an. „Was war das?“, flüsterte ich. Meine Mutter zuckte mit den Achseln. Gleichzeitig sahen wir nach unten zu Dad, der seelenruhig zu schlafen schien und seufzten erleichtert, dann stand sie auf und ging nach hinten zu den zwei kleinen Fenstern, die sich in den Türen des Wagens befanden. „Also Zuhause sind wir definitiv nicht“, ließ sie mich wissen.„War diese Cat wirklich so nah?“, mutmaßte ich. Es war die einzige Erklärung, die ich hatte. Aber warum dann das gefährliche Bremsmanöver? Jake wusste doch, dass Dad verletzt war?

„Ich geh raus und sehe nach, du wartest hier.“ Sie öffnete die Schiebetür direkt vor mir und trat nach draußen. Kaum war sie mit beiden Beinen auf dem Asphalt und aus meinem Blickwinkel verschwunden, spürte ich, wie mein Herz zu rasen begann. „LUNA!“ Die panische Stimme meiner Mutter schreckte mich auf. Hektisch stieg ich über Dad hinweg und aus dem Wagen. Nein, Cat hatte uns nicht erreicht. Dafür jedoch Chris.

Gerade als ich ihn erblickte, ging meine Mutter vor ihm zu Boden. Und sie war nicht die Einzige. Vor dem weißen Transporter parkte Edwards Wagen, die Lichter an, die Türen geöffnet. Neben ihm lagen Bella und Edward, beide bewusstlos. Ich hatte sie noch nie so gesehen, Vampire schliefen schließlich nicht. Kaum einen Meter von ihnen entfernt, sah ich Jake und Renesmee, ebenfalls ohne Bewusstsein. „Weißt du, warum es nicht so sehr ins Gewicht fällt, dass es nur noch so wenige von uns gibt?“, fragte er mich spöttisch, nun da er triumphierend vor den leblosen Körpern meiner Familie stand. „Weil einer ausreicht um ganze Clans von euch Ungeziefern auszulöschen!“ Ich schüttelte den Kopf. Das war alles so unwirklich, so furchtbar!„Was hast du mit ihnen gemacht?!“, schrie ich ihn an. „Oh, keine Sorge. Sie leben. Noch.“„Nein“, flüsterte ich. „Nein, nein, nein!“ Dann machte ich auf dem Absatz kehrt und wollte in den Wagen stürmen, doch der schlagartig eintretende Schmerz ließ mich wegknicken, so dass ich mir dem Kopf am Rand des Autobodens stieß.

Es tat weh, ja, die Dunkelheit kam trotzdem nur langsam und ich wusste nicht, ob ich sie herbeisehnen sollte, um allem hier zu entfliehen oder ob ich dagegen ankämpfen sollte, um meine Familie zu retten. Letztlich verlor ich jedoch den Kampf gegen sie und wurde erneut verschlungen. Nur dieses Mal, würde Dad mich nicht retten können...

[Anthony] Jenseits des Diesseits

 

In dem Augenblick, in dem meine Tochter mich ansah, ehe sie aus dem Raum stürmte, spürte ich förmlich, wie etwas tief in mir zerbrach. Es war dieser Moment und die Angst, die ich verspürt hatte, als Billy wenig später vor mir stand, um mir zu sagen, dass Luna verschwunden war, die mir eines klar machte: die Prägung hatte keine Auswirkungen auf die Liebe, die ich für mein Kind spürte. Und für diese Erkenntnis war ich dankbar. Gleichzeitig verteufelte ich sie jedoch auch, denn nun war meine Tochter fort und ich wusste nicht, was als nächstes passieren würde.Alles, was ich als Anhaltspunkt hatte, war Billys Bauchgefühl – und mein eigenes. Und das war gar nicht gut. Schon als Bella auf meine Frage nach dem Geruch des Jungen zögerte, wusste ich es. Es gab für mich gar keinen Zweifel mehr. Und ich zweifelte auch zu keiner Sekunde an seinen Absichten. Er hatte bereits mehrere Vampire zu einem Haufen Asche zerbröselt, ehe er nach Forks gekommen war. Warum sollte er Luna verschonen wollen? Aus Liebe? Nein, ich musste mein Kind finden, bevor der Tod es finden konnte. Und niemand, nicht Edward, nicht mein Vater und erst recht kein Glasfenster, würde mich davon abhalten können. Und so stieß ich sie alle von mir und ignorierte die blutigen Streifen, die die Scherben mir in die Haut schnitten. Sie waren ohnehin so schnell fort, wie sie gekommen waren. Meine Schuhe hatten eben erst das Gras vor unserem Anwesen berührt, da waren sie bereits verheilt.Ich hatte keine Zeit gehabt, meine Nichte nach einem Anhaltspunkt zu fragen. Ich wusste im Grunde gar nicht, wo ich suchen sollte, also ging ich zum letzten Ort, an dem ich die beiden miteinander gesehen hatte: die Forks Middle School.Keine fünf Minuten später, war ich schon fündig geworden. Lunas und Billys Gerüche, noch ganz frisch. Einige Meter waren ihre Wege identisch, dann gingen sie in verschiedene Richtungen.Ich folgte dem süßlichen Geruch meiner Tochter bis zum alten Industriegebiet der Stadt. Fabrik an Fabrik reihte sich hier aneinander, alle längst verlassen und verstaubt. Der perfekte Ort für einen Mord. Mir rann ein kalter Schauer über den Rücken. Plötzlich hörte ich ein Geräusch. Ich machte mich unsichtbar und eilte in die Richtung, aus der es gekommen war. Ich sah gerade noch wie der Kerl, den ich mit meiner Tochter hatte knutschen sehen, eines der baufälligen Gebäude verließ. Noch bevor die Tür hinter ihm ins Schloss gefallen war, huschte ich hindurch. Erst als ich in der alten Schuhfabrik stand, ging sie hinter mir zu. Nun da ich ihr so nah war, brauchte ich meine Nase gar nicht mehr. Instinktiv lief ich weiter – und als meine Augen sie erblickten, fühlte es sich an, als vergaß mein Herz einen Moment zu schlagen. Sie lag unter einem Tisch, reglos und ohne Bewusstsein. Ich machte mich wieder sichtbar und kniete mich neben sie. Vorsichtig, ganz vorsichtig, streichelte ich über ihre Wange und beugte mich über sie.„Luna?“, flüsterte ich, doch sie reagierte nicht auf mich. „Luna! Luna! Luna!“, versuchte ich es noch einmal lauter. Wieder nichts. „Luna! Bitte, wach auf. Bitte!“ Ich legte meine Hände an ihr Gesicht und drehte ihren Kopf in meine Richtung.

Das leise, schmerzerfüllte Stöhnen, das sie dann von sich gab, warf mich direkt vierzehn Jahre in meinen Erinnerungen zurück. Damals hatte ich sie auch im Arm gehalten. Sie war eben erst geboren worden und doch war das Band, das dieses kleine Mädchen, dieses Baby, mit mir verband unfassbar fest gewesen. Ich hatte in ihre Augen gesehen und gewusst, dass sie das Wertvollste war, was ich jemals besitzen würde. Wertvoller noch, als mein eigenes Leben. „Hey, mein kleiner Mond“, hatte ich ihr zugeflüstert und sie hatte ihre kleinen Augen auf mich gerichtet und leise Geräusche von sich gegeben. „Ich werde immer für dich da sein. Immer. Du wirst niemals allein sein, oder Angst haben müssen, oder traurig sein. Solange ich lebe, werde ich dich beschützen.“ Und dieses Versprechen war ich gewillt zu halten. „Daddy...“, hatte ich sie plötzlich sagen hören. Erst jetzt realisierte ich, dass sie ihre Hand gehoben und sie an meine Wange gelegt hatte. Ich nahm sie in meine Hand und sprach leise zu ihr. „Ich bin hier.“ Sie hustete und ich war nicht sicher, ob sie mich verstanden hatte, also wiederholte ich es. „Ich bin hier.“ Dann küsste ich ihre Stirn, woraufhin sie ihre Augen ein wenig öffnete. „W-wo bin ich?“, fragte sie und wollte aufstehen, war jedoch zu schwach, so dass ich ihren Hinterkopf stützte, um sie vorm Fallen zu bewahren. „Ich weiß es nicht, aber das spielt keine Rolle, weil wir diesen Ort gleich verlassen werden“, sagte ich.

„Ach, wirklich?“

Unbewusst entfuhr mir ein Knurren, als ich zum ersten Mal die Stimme des Jungen, der nun hinter uns stand, hörte. Ich drehte mich um. Er hatte blondes Haar, blaue Augen und wirkte kaum älter als zwanzig. Sein wirkliches Alter dürfte jedoch viel höher sein, wenn er so geschickt darin war, Vampire zu zerlegen.

„So... das ist also 'Daddy'“, sagte er dann und näherte sich uns.

„Was immer du meiner Tochter angetan hast, du wirst dafür bezahlen!“, drohte ich, noch ehe er uns erreicht hatte.

„Ich gebe dir gern meine Adresse. Du kannst mir dann meinen Schuldschein aus der Hölle zukommen lassen, Monster!“, antwortete er.

Dann stand ich auf und obgleich ich ihn überragte, verschwand sein triumphierendes Lächeln nicht aus seiner Visage.

„Sayonara!“, brüllte er dann plötzlich und streckte den Arm aus. Meine Tochter schrie hinter mir. Sie wusste genau, was er vorhatte. Ich wusste es auch. Ich hatte diesen Schmerz schon vor Jahren kennengelernt. Jetzt war ich derjenige, der triumphierend lächelte und in seinem Gesicht spiegelten sich Zorn und Ratlosigkeit wieder.

„Nicht mehr ganz so vorlaut, mh?“„Verdammtes Monstrum!“, antwortete er und attackierte mich dann plötzlich. Wäre ich ausgewichen, hätte er Luna hinter mir erwischt, also blockte ich stattdessen seine Fäuste mit den Handflächen und schob ihn anschließend von meiner Tochter weg.

Inzwischen hatte ich nicht den geringsten Zweifel daran, dass mein Bauchgefühl richtig gewesen war. Er war tatsächlich ein Kantor. Er war derjenige, den Cat durch die vereinigten Staaten verfolgte. Und er war derjenige, der Billys erste Verwandlung ausgelöst hatte.

Bei Cat hatte ich gewusst, dass sie schneller war, als ein Mensch. Ihren Vater hatte ich nie wirklich in Aktion gesehen. Dieser hier aber, war derart schnell, dass er mich fast ins Schwitzen brachte. Einen Moment passte ich nicht auf, da schlug er mir die Nase blutig und ich ging vor Lunas Augen zu Boden. „Dad!“, hörte ich sie rufen, da packte mich mein Gegner, zog mich hoch und stieß mich dann hart gegen eine Wand.

„Was bist du?!“, brüllte er und schlug meinen Kopf dann ein weiteres Mal gegen den Beton. „Was bist du?!“

„Lass ihn in Ruhe!“, schrie Luna von hinten, doch mein Gegenüber ließ mich nicht aus den Augen. Sie wurden Größer, als er sah, wie meine gebrochene Nase heilte.„Ah“, sagte er. „Selbstheilungskräfte. Na dann wollen wir doch mal sehen, ob die dir nicht vielleicht zum Verhängnis werden, Superman.“

Dann stieg plötzlich Rauch um uns herum auf, so dass ich binnen weniger Sekunden kaum noch etwas sah.

Ich spürte erneut die Hände des Kantors an meinen Schultern, verpasste ihm dann jedoch einen kräftigen Tritt, woraufhin er zu Boden ging. Ich ließ ihm keine Zeit, sich aufzurappeln, ging direkt auf ihn los. Die meisten meiner Schläge trafen ihn nicht, manche blockte er, manchen wich er aus. Schließlich gelang es ihm, sich zu befreien. Ich wollte mich gerade umdrehen, da legte er seinen Arm um mich und drückte mir dabei die Luft ab.

„Daddy, pass auf!“, schrie Luna. Meine Augen suchten in den Rauchschwaden nach meiner Tochter. Das Messer, mit dem er mir dann die Haut aufschlitzte, registrierte ich zunächst gar nicht. Auch das Blut, das den Stoff meines Shirts durchnässte oder den Schmerz am Hinterkopf, als er mich erneut gegen die Wand presste, entging mir.

„Daaad! Dad, bitte, Daaad!“

Die Stimme meines Kindes klang nun seltsam fern, doch auch die des Kantors, der mir genau gegenüber stand, nahm ich nicht so recht wahr.„Weißt du was?“, flüsterte er mir ins Ohr, während er mit einer Hand meine Hände an meinem Rücken fixiert hatte. „Es wird mir eine Freude sein, euch dabei zuzusehen, wie ihr gleich gemeinsam in die Luft fliegt.“Dann trat er aus meinem verschwommenen Sichtfeld heraus. Und erst zusammen mit dem Blutschwall, der mir beim nächsten Husten aus dem Mund lief, kam mir die Erinnerung an Cats Worte: Er scheint eine Vorliebe dafür zu haben, es ordentlich krachen zu lassen.

Ich stolperte von der Wand weg und sah mich benommen um. Ich konnte keine Bombe sehen. Dann sah ich an mir herab. Die Wunde war gerade dabei, sich zu verschließen. Natürlich sah ich keine Bombe. Ich war die Bombe.

Ich hatte keine Ahnung, wie viel Zeit er mir gelassen hatte, also ging ich zurück zu Luna und befreite eilig ihr Handgelenk. Sie fiel mir dabei um den Hals. Ich schob sie sanft von mir.

„Hör mir zu, hör mir jetzt bitte genau zu“, bat ich. „Du drehst dich jetzt um, verlässt diesen Ort und dann rennst du. Du rennst so weit und so schnell du nur kannst und schaust nicht zurück, ja?“„Nein, ich geh nicht ohne dich!“, antwortete sie weinend. Ich wusch eine Träne mit dem Daumen weg. „Ich habe versprochen, dich immer zu beschützen.“„Solange du lebst“, sagte sie.- „Ja. Und das werde ich. Ich lass dich nicht allein, versprochen.“Ich küsste sie erneut auf die Stirn. „Und jetzt geh. Schnell. Bitte.“Nun nickte sie, dann stand sie auf und rannte nach draußen.Ich sah ihr nach. „Lauf, Prinzessin, bitte lauf und bleib ja nicht stehen“, flüsterte ich.

Ich wusste nicht, ob ich beim Versuch den Sprengstoff zu entfernen den Zünder aktivieren würde, also wartete ich, bis ich mir sicher war, dass sie das Gebäude verlassen hatte, dann machte ich ein paar Schritte zurück. Die Wunde war bereits fast gänzlich verheilt.

Okay, das würde wehtun, verdammt wehtun. Ich hatte mich noch nie selbst verletzt, aber es gab für alles ein erstes Mal und es war die einzige Chance, die ich noch sah. Ich biss die Zähne zusammen und kniff die Augen zu, als ich mit den Fingern zwischen mein eigenes Fleisch fuhr. Es war nicht besonders tief, trotzdem bereitete es höllische Schmerzen. Inzwischen meinte ich, sie gewohnt zu sein, doch dem war nicht so. Es war eine Sache, wenn sie einem jemand anderes zufügte, es war jedoch eine ganz andere, wenn man selbst der Verursacher war. Ich musste mich förmlich zwingen weiterzumachen, bis meine Finger schließlich das kleine Kügelchen berührten. Dann zog ich sie langsam heraus. Blutverschmiert und kaum größer als eine Weintraube, lag sie schließlich auf meiner flachen Hand.

Dann verschwamm plötzlich meine Sicht und ich ging auf die Knie. Im selben Moment, in dem ich mit einer Hand in eine Lache meines eigenen tiefroten Blutes aufkam, warf ich das Ding mit der anderen Hand weg. Die Wucht der Detonation schleuderte mich quer durch das Gebäude und gegen die nächste Wand, dann sah ich nur noch, wie etwas auf mich zugeflogen kam...***

Als ich wieder zu mir kam, brauchte ich mehrere Sekunden, ehe mir klar wurde, dass ich aufgewacht war, weil jemand meinen Namen gerufen hatte.„Anthony!“, brüllten zwei verschiedene, tiefe Stimmen immer wieder. Ich wollte antworten, doch als ich Luft einsog, um meine Lunge damit zu füllen, fühlte es sich an, als sei sie bereits derart voll mit Rauch, Ruß und Blut, dass dafür kaum noch Platz war. Alles was mir daher entfuhr, war ein Husten, doch das reichte aus, um die beiden, die nach mir suchten, auf mich aufmerksam zu machen. Meinen Vater erkannte ich als Ersten, dann erblickte ich auch Edward. Gemeinsam befreiten sie mich vom Schutt, der auf mir lag, und halfen mir auf die Beine. „Schnell raus hier“, hörte ich Ersteren sagen, dann zogen sie mich mehr oder weniger nach draußen.

Es war so dunkel und verstaubt im Inneren der Fabrik gewesen, dass mich das Mondlicht förmlich blendete, als Edward und Jacob vorsichtig meine Arme aus ihren Nacken gleiten ließen, bis ich mit den Knien auf dem Boden ankam. Dann kniete meine Tochter plötzlich vor mir. Ein bisschen dreckig in ihrem hübschen Gesicht, aber ansonsten kerngesund. Das stellte ich fest, nun da ich ihr Gesicht in meine Hände genommen hatte.„Hey“, hauchte ich ihr entgegen und versuchte zu lächeln. „Es geht dir gut, es geht dir gut, es geht dir gut“, sagte ich immer wieder, als ich sie umarmte.

„Ja, es geht mir gut, Dad. Es geht mir gut“, antwortete sie.

Das Gefühl sie in Sicherheit und unversehrt zu wissen, ließ mich all den Schmerz auf der Stelle vergessen. Doch die Sorge um sie war es gewesen, die mich hatte bis hier her kommen lassen. Nun da sie verflogen war, fühlte ich mich ausgelaugt. Die Schwäche brach über mich herein, ließ meine Lider zu fallen und meinen Körper schlaff werden.

 

„ANI!“

Als ich meine Augen wieder einen Spalt öffnete, sah ich, wie Edward sich über mich beugte. Ich musste wohl auf dem Boden liegen.

„Was ist passiert, Anthony?“, fragte er.

Ich schluckte etwas Blut herunter, das im Begriff war, aus meinem Mund zu quillen, nun da ich mich daran erinnerte, was der Kantor getan hatte.

„Ich will es nicht in deinen Gedanken lesen. Ich will, dass du es mir erzählst“, zwang Edward mich dazu, doch den Mund aufzumachen.

Ich wollte antworten, schmeckte dann jedoch abermals das Blut und schloss den Mund wieder. Zusammen mit ihm, fielen jedoch auch meine Augen wieder zu, bis ich Edwards kühle Porzellanhaut in meinem Gesicht spürte. „Was ist passiert?“, fragte er erneut.Müde suchte ich nach Worten und bekam sie nur mit Mühe über die Lippen.„I-ich... er hat bemerkt, dass... ich mich heilen... k-kann.“

Ich musste husten, woraufhin das Blut aus meinem Mund quoll, das ich versucht hatte zurückzuhalten.

„Sie hat... mir so was... schon erzählt... dass er... gern Dinge... in die Luft... jagt. Ich... hab Luna nach draußen geschickt... und sie mir dann... wieder... raus gezogen... i-ich wollte sie wegwerfen... aber es... hat...“ Seit wann war sprechen nur so unglaublich anstrengend?

„Nicht mehr...“, bekam ich gerade noch so heraus und dann noch einmal „Nicht mehr...“.Den Rest des Satzes bekam ich nicht mehr zusammen. Plötzlich war da gar nichts mehr. Kein Schmerz, kein Blut, kein Edward. Die Wiese war verschwunden, Luna war verschwunden. Alles war einfach fort. Es war als befände ich mich in einem pechschwarzen, leeren Raum.

„Hallo?“, rief ich unsicher, doch meine Stimme war so leise, dass ich mich klein und unbedeutend fühlte. Wie eine Maus, die auf einem leeren Fußballfeld fiepte. Niemand antwortete. Dann brach plötzlich der Boden unter meinen Füßen weg und ich fiel. Ich fiel in absoluter Dunkelheit und während ich fiel, wurde es um mich herum heller. Ich machte mich schon auf den Schmerz des Aufpralls gefasst und kniff die Lider zusammen, doch als ich dann aufkam, war dieser absolut sanft und schmerzfrei, als hätte ich gelernt, wie eine Feder zu fallen. Ich bewegte meine Finger und stellte fest, dass ich auf einer Wiese gelandet war. Das Gras roch perfekt und so schlug ich die Augen auf, um nachzusehen, ob die Halme auch so perfekt aussahen, wie sie rochen – und das taten sie. Gedankenverloren streichelte ich das Grün. War das etwa ein Traum?

„Hey, Kleiner.“Seine Stimme ließ mich versteinern. Nein, das konnte nicht wahr sein. Es war nicht möglich, dass mein Bruder gerade hinter mir stand. „Ist der Boden etwa so bequem?“Ich kniff die Lider erneut zusammen, dann drehte ich mich, in einer einzigen schnellen Bewegung, vom Bauch auf den Rücken und starrte ihn an. Da stand er. Das karierte Hemd bis zu den Ellbogen hochgeschlagen, die smaragdgrünen Augen auf mich gerichtet und mit einem sanften Lächeln im Gesicht, reichte er mir seine Hand. Zögerlich griff ich danach, sie war noch immer etwas dunkler, als meine, dann zog er mich auf die Beine.

„Schon besser, oder?“, fragte er freundlich, nun da wir einander gegenüber standen. Wahrscheinlich hatte er keine Antwort erwartet, er bekam auch keine von mir, stattdessen fiel ich ihm um den Hals. Er strich mir über den Rücken und drückte mich ebenfalls.

„Es ist so lange her, Will... so lange...“, murmelte ich in sein Flanellhemd. „Das letzte Mal-“ Ich brach ab und löste mich erschrocken von ihm. Mir dürften wohl sämtliche Züge aus dem Gesicht gewichen sein, doch sein Lächeln blieb an Ort und Stelle. „Nein“, hauchte ich.

Nun hob er fragend eine Augenbraue. Ich schüttelte den Kopf. „Nein.“„Ani?“, fragte er. Ich machte einen Schritt zurück. „Ich bin verletzt! Ich bin in dieser verrückten Zwischenwelt, oder? Gleich löst du dich in Sand auf und ich wache auf, nicht wahr?“Will sah mich einen Moment seltsam an, dann schüttelte er den Kopf. „Nein.“„Was 'Nein'?“, fragte ich perplex. „Was soll das heißen 'Nein'?“

Ich machte noch ein paar Schritte zurück. „Will, es ist nicht so, dass ich mich nicht freue dich zu sehen, aber ich will jetzt wirklich wissen, was mit mir los ist.“Er sah mich stumm an. Meine Nervosität stieg ins Unermessliche. Dann seufzte mein Bruder, griff nach meinem Handgelenk und zog mich hinter sich her. „Komm.“Meter um Meter liefen wir über die perfekte Wiese. Um uns herum war weit und breit nichts zu sehen, abgesehen von weißem, dickem Nebel. Wenn ich nicht so beschäftigt damit gewesen wäre, nervös zu sein und nicht zu wissen, was los war, hätte ich es vermutlich sogar schön gefunden.

 

Und dann sah ich eine Silhouette im Nebel auftauchen. Zitternd und zusammengekauert saß sie da auf der leeren Wiese. „Luna!“, rief ich und rannte zu ihr. Ich setzte mich direkt vor sie. Sie hatte ihre Arme um sich selbst geschlungen und ihre Augen starrten nach vorn.

„Was ist los?!“, fragte sie besorgt. Sie sah einfach durch mich hindurch. Ihre Frage war auch nicht an mich gerichtet gewesen. Sie wollte aufstehen, setzte sich dann jedoch wieder hin. „Luna?“, versuchte ich ein weiteres Mal, sie anzusprechen.

„NEIN!“, schrie sie dann plötzlich und stand auf. Ich wich erschrocken zur Seite und sah ihr nach.

Was war hier nur los?

„Er hat versprochen, immer für mich da zu sein. Er hat versprochen, mir zu folgen! Er hat versprochen, dass er überleben wird! Er wollte mich doch beschützen! Er kann das doch nicht einfach vergessen haben! Er kann seine Versprechen nicht einfach so brechen! Er hat seine Versprechen bisher immer gehalten!“, brüllte meine Tochter, während sie kraftlos einige Meter weiter vorn wieder auf die Knie sank. Es tat weh sie so zu sehen. Hier zu stehen und zu wissen, dass sie litt, ihr jedoch nicht helfen zu können.Dann spürte ich Wills Hand auf meiner Schulter. „Was hat sie denn?“, fragte ich, ohne meine Augen von meinem Kind zu lösen, das nun bitterlich weinte, und stand auf. „Wen meint sie denn?“Er zögerte, dann sagte er: „Dich.“Nun tauchte eine weitere Silhouette auf – meine Eigene. Der Nebel um sie herum lichtete sich, bis ich mich ganz klar und deutlich da liegen sah. Kurz darauf erschien Edward direkt daneben. Fassungslos stand ich da und beobachtete, wie er mit beiden Händen auf meine Brust drückte, immer wieder und wieder. Und dann wurde mir klar...

Ich war nicht verletzt.

Ich hatte aufgehört zu atmen.

Ich war tot.

Meine Knie wurden weich, dann sackte ich abermals zu Boden.

„Tut mir Leid, Kleiner“, sagte Will und legte mir erneut seine Hand auf die Schulter. Ich konnte nichts weiter tun, als da zu sitzen und meiner Tochter beim Weinen zuzuschauen. Ich war ihr so nah. Ich müsste nur meinen Arm heben, dann würde ich ihr Gesicht berühren können, doch ich fürchtete mich davor, festzustellen, dass sie mich nicht spüren konnte. Ich fürchtete mich vor der Gewissheit, dass ich richtig lag. Dass ich sie nie wieder würde berühren könne. Dass mein kleines Mädchen ohne mich würde weiterleben müssen, so wie Billy ohne Will leben musste.

Kraftlos sank ich in mir zusammen. Will blieb bei mir, ohne etwas zu sagen.

 

„Seine Versprechen nicht zu halten, war bestimmt das Letzte, was dein Vater wollte, mein Schatz, aber manchmal passieren Dinge, über die man keine Macht hat.“

Sangreals Stimme veranlasste mich dazu, den Kopf zu heben. Ich hatte sie bis dato hinter Luna gar nicht wahrgenommen, nun sah ich sie jedoch so deutlich, wie ich auch Luna und Edward sah. Sie zog unser Kind zu sich und drückte sie an sich. Ihre Worte hätten genauso auch meine sein können. Ich musterte sie, sah ihre tränennassen, grauen Augen und ihr langes, seidiges, braunes Haar. Es war als hätte ich sie seit Ewigkeiten nicht mehr gesehen, als wäre mir in den letzten Wochen entgangen, wie unglaublich hübsch sie war. Moment. Wie in Trance stand ich auf, ging die wenigen Schritte zu ihr herüber und kniete mich neben sie. Plötzlich überkam mich das dringende Verlangen, sie zu küssen, sie in den Arm zu nehmen und sie zu trösten, ihre Tränen wegzuwischen und ihr Herz zu spüren, das in ihrer wunderhübschen Brust schlug.

Ich konnte meine Augen nicht von ihr nehmen, spürte aber, dass Will mir gefolgt war und nun wieder hinter mir stand. „Wie ist das möglich?“, fragte ich verwundert ohne ihn anzusehen. Ihm war sofort klar, wovon ich sprach.

„Die Prägung ist an das Werwolfsgen gebunden. Sie ist am Anfang eine rein körperliche Erfahrung. Wenn man sie jedoch akzeptiert hat, geht sie nach ein paar Wochen tiefer. Dann und nur dann, wird sie zu echter Liebe. Du bist jetzt kein Werwolf mehr, kein Vampir. Du bist nur noch du.“Ich musste unweigerlich lächeln und wollte durch ihr Haar streicheln. Trotz der Tatsache, dass ich gerade die traurige Gewissheit bekommen hatte, gestorben zu sein, fühlte es sich unglaublich gut an, wieder frei zu sein.Dann sah ich, wie Sangis Augen sich mit Tränen füllten. Sie ließ den Kopf sinken und ihre Haare rutschten über ihre Schultern und verdeckten ihr Gesicht. „Nein.“ Hilfesuchend drehte ich mich zu meinem Bruder um. „Bitte, Will, ich kann nicht einfach... ich kann nicht einfach tot sein. Gibt es keinen Weg zurück?“William schüttelte den Kopf, dann sah er traurig auf meinen leblosen Körper hinab. Edward hatte inzwischen aufgegeben und saß stumm neben mir – oder dem, was von mir noch übrig war. „Du hast diesen Kampf verloren, Kleiner.“„Aber ich kann sie nicht allein lassen!“, versuchte ich ihm klar zu machen.Er schüttelte erneut den Kopf. „Will! Bitte!“, flehte ich und legte meine Hände an seine Schultern, schüttelte ihn leicht. „Irgendeinen Weg, bitte!“Er schob mich sanft von sich. „Meinst du nicht, ich hätte nicht selbst danach gesucht? Ich war genau am selben Punkt, Ani. Ich hatte auch eine Familie, die ich zurücklassen musste. Sogar ein ungeborenes Kind!“ Er sah verletzt und traurig aus. Ich seufzte. „Ich... ich weiß. Es tut mir Leid, Will.“Wieder ein Kopfschütteln. „Du musst dich nicht entschuldigen.“Ich sah noch einmal zur Seite, begutachtete müde meine sterblichen Überreste. Es war komisch sich selbst da liegen zu sehen. Mein Blick wanderte auf die blutverschmierte Stelle, unter der ich die Wunde vermutete, die ich mir notgedrungen selbst zugefügt hatte. „Aber...“, kam es mir dann. Wills Augen folgten mir skeptisch, als ich langsam zu meinem Körper ging und mich daneben kniete. „Du wurdest vergiftet, Will. Das Vampirgift hat deine Selbstheilungskräfte lahm gelegt. Das hier ist aber nur eine Wunde. Ich sollte nicht an einer bloßen Wunde sterben, Will.“Will ging auf mich zu und kniete sich auf die mir gegenüberliegende Seite. „Du kannst dir nicht aussuchen wie du stirbst, Ani.“„Nein“, erwiderte ich und hob eine Hand. „Du verstehst nicht. Was ich sagen will ist.“ Ich schluckte. „Ich brauche nur mehr Zeit. Und mehr Hilfe.“Will sog scharf die Luft ein. „Anthony-“, setzte er an, wurde dann jedoch von einer sanften, jungen Stimme unterbrochen.

„Du kannst doch jetzt nicht gehen.“ Es war Lunas Flüstern, doch es kam nicht aus ihrem Mund. Ihre Stimme lag über allem, als spräche sie durch ein Mikrophon. Diese Worte hörte ich nicht, wie all die anderen in meiner jetzigen Daseinsform. Sie drangen direkt zu mir hindurch. Die Verbindung zum Diesseits war noch nicht gänzlich gerissen. Und auch mein Bruder sah nach oben in den nie endenden weißen Nebelschleier.„Was war das?“, fragte ich.„Nun, deine Tochter scheint auch der Meinung zu sein, dass du noch eine Chance hast.“„Was?“, fragte ich und hob eine Augenbraue. Plötzlich rührte sich Edward wieder, woraufhin Will und ich erschrocken aufstanden und etwas Platz machten.

Er nahm das Verbandszeug und umwickelte die Wunde mehrfach damit. Dann startete er einen weiteren Reanimationsversuch. „Komm schon Junge, komm schon“, hörte ich ihn flüstern. Ich sah, wie er mir Luft verschaffen wollte, doch nichts davon, schien bei mir anzukommen. Ich stand im wahrsten Sinne neben mir und wusste nicht, was ich noch tun sollte. „Dein Töchterchen glaubt so sehr an dich. Du kannst sie doch jetzt nicht im Stich lassen“, hallten nun auch Edwards Worte über uns. Verzweifelt ging ich abermals neben meinem leblosen Körper auf die Knie. Will tat es mir gleich.

„Warum funktioniert es nicht, Will?“, fragte ich und spürte, wie mir Tränen der Verzweiflung in die Augen schossen. „Warum kann ich nicht zurück?“„Nun“, begann er. „Erinnerst du dich an das, was du gesehen hast, als du hier ankamst?“„Dich“, sagte ich. Er lächelte. „Ja, natürlich. Aber was noch?“Ich überlegte. „Luna... Sangi... Edward... mich?“- „Ja und jetzt erinnere dich an die richtige Reihenfolge.“Ich schüttelte den Kopf. „Ich verstehe nicht.“„Du hast Sangreal als Letzte bemerkt und du hast realisiert, dass du nicht mehr unter dem Einfluss der Prägung standest, nachdem dir vollkommen klar war, dass du tot bist. Du hast losgelassen. Du hast dich losgelassen. Du hängst vielleicht noch an deinem Leben und möchtest zurück, aber dir ist dennoch klar, dass du nicht mehr eins mit dir selbst bist. Jetzt ist es an dir, das hier alles loszulassen, Ani.“„Dann ist das hier also jetzt ein Abschied?“Will nickte. „Ja“, sagte er und lächelte dabei. „Und hoffentlich für sehr lange Zeit, kleiner Bruder.“Ein letztes Mal umarmten wir uns noch. Ich schloss die Augen und drückte ihn an mich. „Du bist immer da, nicht wahr? Auch wenn wir dich nicht sehen können.“„Ja“, sagte er, ohne mich loszulassen. „Ich bin da. Ich bin in der Luft um euch herum. Ich bin im Licht, das auf euch scheint.“

Wir ließen einander los. Als ich die Augen öffnete, war er nicht mehr da. Ich sah mich um. Edward, Sangreal und Luna waren ebenfalls verschwunden. Die Wiese war nun leer.

Okay. Jetzt oder nie, dachte ich.

Ich schloss noch einmal die Augen. Dann atmete ich tief ein, sog den kühlen Nebel durch meine Atemwege.Als ich die Augen wieder aufriss, sah ich einen dunklen Sternenhimmel. Der helle Nebel war fort. „Daddy!“, hörte ich Luna in der Ferne rufen. Ihre Stimme hörte sich jetzt anders an, als noch wenige Minuten zuvor. Doch spätestens das Gefühl des dumpfen Schmerzes auf Bauchnabelhöhe ließ mich wissen, dass ich es geschafft hatte. Ich war wieder unter den Lebenden. Als ich den Kopf hob, stützte Edward mich. „Hey, hey. Man, hast du uns einen Schrecken eingejagt.“„Sorry“, presste ich hervor. Dann wollte ich die Wunde beäugen, doch Edward hielt mich zurück.

„Ah ah, schön liegen bleiben“, mahnte er und drückte mich zurück auf den Boden. Ich hatte absolut keine Kraft, mich gegen ihn zu wehren und ließ den Oberkörper wieder sinken.

Kurze Zeit später ergriff die Müdigkeit wieder von mir Besitz. Ich sehnte mich mit einem Mal nach einem weichen Bett, einem Glas frischen Wassers und viel, viel Ruhe. Ich war mir sicher, dass das reichen würde, damit ich wieder auf die Beine kam. Edward schien jedoch anderer Meinung zu sein und hob mich plötzlich hoch, was mir erneut Schmerzen bereitete. Wenig später war der Schmerz aber wieder weniger geworden. Er war zwar konstant da, aber er war ertragbar. Ich realisierte gerade noch so, dass ich in einem fahrenden Auto sein musste, dann wog mich das Schaukeln des Wagens in einen traumlosen Schlaf.***

 

Ich wünschte, ich wäre in meinem schönen, weichen Bett aufgewacht, geweckt von warmen Sonnenstrahlen. Hätte mich langsam aufgesetzt und festgestellt, dass ich wieder Zuhause war. Ein Glas Wasser oder Orangensaft auf dem Nachttisch und vielleicht meine Tochter, mit dem Kopf auf meiner Matratze eingeschlafen, auf einem Hocker daneben.

Doch was mich aufgeweckt hatte, waren nicht die Strahlen der Sonne, sondern Schmerzen. Höllische Schmerzen. Von meinem Bauch ausgehend pulsierten sie durch meinen kompletten Körper. Als Nächstes nahm ich den kalten Stahl in meinem Gesicht und unter meinen Handflächen wahr. Mir wurde nur langsam klar, dass ich mich in Bauchlage auf einer Edelstahlplatte, wahrscheinlich einem Tisch, befand. Der Schmerz klang nicht ab und mir entfuhr ein Stöhnen. Mein eigenes Körpergewicht drückte auf meine Wunde. Instinktiv wollte ich mich umdrehen, doch kaum hatte ich es geschafft, mich mühsam abzudrücken, sackte ich wieder nach unten und wurde mit einem kurzen, stechenden Schmerz bestraft. Zunächst dachte ich, es läge daran, dass ich einfach zu schwach war, als ich es aber wieder versuchte und erneut scheiterte, realisierte ich, dass mich jemand am Tisch festgebunden hatte.Müde zwang ich meine Lider, sich zu öffnen. Im ersten Moment war alles furchtbar verschwommen. „Ah, endlich aufgewacht?“, hörte ich dann plötzlich eine Stimme, bei der sich meine Nackenhaare aufstellten.

Ich ballte meine Hände zu Fäusten und spürte, wie mein Herz schneller zu schlagen begann. Der Kantor. Er war nicht fort. Er war hier. Und er hatte mich in seiner Gewalt. Aber wenn er mich hatte, was war dann mit den Anderen? Was war mit Luna? Mit Sangi? Meine Mutter, mein Vater? Edward und Bella? „Wo bin ich?“, wollte ich hinaus brüllen, doch was aus meinem Mund kam, klang dann doch eher müde und kraftlos. Ich wollte wissen, wo er stand, konnte meinen Kopf aber kaum bewegen. Er nahm mir das Problem ab, indem er in mein Sichtfeld trat. „Weißt du, was mir gar nicht gefällt?“, fragte er, rückte dabei ganz nah an mich heran und beugte sich leicht herab. „Blutsauger.“

Er machte eine kurze Pause.

„Und weißt du, was mir noch weniger gefällt?“Wieder eine Pause. „Blutsauger, die meinen, sie könnten mir entkommen.“

Seine Stimme wurde mit jedem Wort etwas lauter.

„Und weißt du, was mir noch viel, viel weniger gefällt? Blutsauger, die meinen Sprengstoff verschwenden!“Mit diesen Worten riss er auseinander, was immer mich festgehalten hatte und drehte mich ruckartig und ziemlich grob auf den Rücken, so dass ich kurz vor Schmerzen aufschrie, dann packte er plötzlich meinen Kiefer, so dass ich schlagartig verstummte. „Schau“, sagte er nun ruhig, jedoch mit einem gespielt, jammernden Unterton. „Ich hatte dir die Chance gegeben, gemeinsam mit deiner Tochter in einem leuchtenden Spektakel unterzugehen. Schnell und schmerzlos. Aber du hast dich dagegen entschieden.“Dann spürte ich, wie sich seine für mich kalten Finger zwischen den blutdurchtränkten Stoff schoben, der von Edwards provisorischem Verband noch übrig war. Ich wollte mich dagegen wehren, aber die leiseste Reaktion von mir reichte aus, da festigte er den Griff um meinen Kieferknochen, bis ich ihn schon knacken hörte.

„Jetzt werde ich dich langsam zerlegen. Und ich werde jede einzelne Sekunde davon genießen.“Seine Finger gruben sich tiefer. Der Schmerz war dem ähnlich, den ich mir Stunden zuvor selbst hatte zufügen müssen. Seinetwegen. Als ich aufschrie, lachte er leise. „Das Beste weißt du ja noch gar nicht“, lies er mich dann wissen und zog sich endlich zurück. Die Qualen ebbten daraufhin leicht ab, doch das schmerzhafte immerwährende Pochen in meinem Bauch blieb. Es kostete mich einiges an Kraft, meine Augen wieder zu öffnen und den Kopf leicht zu drehen, um ihn anzusehen. Mein Blick war wieder verschwommen und alles schien leicht zu schwanken. Doch ich sah, dass er lächelte und nun ein paar Schritte zurückging. „Wenn ich mit dir fertig bin“, sagte er und breitete dann die Arme aus. „Mache ich mit ihnen weiter.“

Nun hob ich leicht den Kopf und versuchte, das, was hinter ihm war, scharf zu bekommen. Als es mir endlich gelang, wünschte ich mir die Ohnmacht zurück...

[Luna] Gefangen

 Ein kleiner Käfer ging den, für seine vielen kurzen Beinchen, langen Weg über den Asphalt des Gehwegs. Als er die angrenzende Wiese erreicht hatte, verschwand er zwischen den Grashalmen.Ich seufzte. „Luna“, hörte ich die Stimme meiner Mutter und drehte mich zu ihr um. „Ja?“, fragte ich.

„Dein Kragen sitzt nicht richtig, Schatz“, mahnte sie, dann kniete sie leicht, so dass wir auf Augenhöhe waren und zupfte den Kragen meiner Bluse zurecht.

Die Haut in ihrem Gesicht war rötlich, als hätte sie lange und viel geweint. Auch waren ihre Augen feucht, doch sie schien wasserfestes Make-up zu tragen, denn es war nichts verschmiert. Das war ungewöhnlich. Mom nutzte kaum Make-up und wenn, dann kümmerte es sie nicht, ob es wasserfest war. Die langen Haare hatte sie zurückgesteckt. Auf der linken Seite hatte sie zur Zierde eine kleine Klammer mit schwarzen Federn. Rabenfedern. Wie die, die Dad manchmal verlor, wenn er sich in die Lüfte hob. Der Rest ihres Kostüms war ebenfalls schwarz und gediegen. „So, jetzt siehst du wieder wunderschön aus“, sagte Mum und lächelte ein schwaches Lächeln, eines, das ihr sichtlich schwer fiel. Ich sah stirnrunzelnd an mir herab. Auch ich trug reines Schwarz. „Können wir dann?“ Ich drehte mich um. Im Türrahmen unseres Zimmers standen Mariella und Seth, beide ebenfalls in Schwarz gehüllt. Mum nahm meine Hand, so wie sie es früher immer getan hatte, und ging mit mir nach unten und dann nach draußen zum Auto.

Wir fuhren nicht sehr lang. Bereits nach einer Viertelstunde stiegen wir wieder aus. Vor uns lag der Friedhof von La Push. Schon kurz nachdem ich mit meiner Familie die Anlage betreten hatte, sah ich in der Ferne Menschen stehen. Die meisten hatten den Kopf gesenkt und die Hände vor sich ausgestreckt überkreuzt. Unter ihnen befanden sich unter anderem auch Madeleine, Harry, Leah und Billy. Letztere umarmte mich, als wir bei ihnen ankamen, sagte jedoch sonst nichts weiter. Sie schien mit den Tränen zu kämpfen. Wahrscheinlich hatte sie Angst loszuweinen, wenn sie den Mund aufmachte. Ich sah über ihre Schulter hinweg und erblickte Wills Grab. War das hier eine Gedenkfeier ihm zu Ehren? Aber das hatten wir doch noch nie gemacht? „Mein Beileid“, sagte ich zu Billy, als sie unsere Umarmung löste. Sie sah kurz etwas verwirrt aus, wurde dann aber von Leah sanft weggezogen. Ich stellte mich wieder neben meine Mutter und sah mich weiter um. Abgesehen von ein paar Quileuten waren hier kaum unbekannte Gesichter. Trotzdem wusste ich noch immer nicht, was wir hier eigentlich taten. Edward kam zu uns herüber und sah Mum traurig an. „Es sind jetzt alle da“, sagte er. Mum nahm seine Worte mit einem Nicken zur Kenntnis. Aber das stimmte doch gar nicht?Edward ging herüber zu Bella und Renesmee. Ich sah verwirrt zu meiner Mutter. „Mum? Wo ist Dad?“Sie sah mich nicht an, blickte stur geradeaus, ihre Unterlippe begann zu zittern, dann sagte sie: „Luna!“ Es war ein etwas empörtes Flüstern. Ich verstand nicht warum.

„A-aber Mum?“, versuchte ich es noch einmal, da setzte sie sich in Bewegung und ließ mich stehen. „Mum?“, fragte ich verwirrt. Dann spürte ich, wie jemand mich in den Arm nahm. An die Stelle, an der sie zuvor gestanden hatte, war nun Nayeli getreten. „Eli, was ist hier los?“, fragte ich und musste nun selbst mit den Tränen kämpfen.„Sh, sh“, versuchte sie mich zu beruhigen, beantwortete meine Frage jedoch nicht.Als ich dann wieder zu Mum sah, stockte mir der Atem. Neben ihr stand ein Sarg aus dunklem Holz. Wie konnte mir denn bisher ein kompletter Sarg entgehen? Und warum trat Mum als Erste vor? Das würde ja bedeuten... Nein. Ich schlug weinend die Hände vor dem Mund zusammen und spürte die heißen, brennenden Tränen, die aus meinen Augen hervortraten und über meine Haut liefen. Nayeli legte die Arme fester um mich. „Schon gut, Luna. Es ist okay“, flüsterte sie. „Es ist okay.“Ich wollte irgendetwas antworten, doch dann ergriff Mum vorn das Wort.

„I-ich...“, begann sie. Ihre Hände zitterten. „Ich weiß, ich war nicht seine Frau. Ich war nur das Mädchen, dass er dazu auserkoren hatte, sein Leben mit ihm zu teilen. Und ich weiß, dass das eine große Ehre war, nachdem er solange allein war, dass er nicht mehr daran glaubte, seinen Deckel zu finden.Hätten wir nur mehr Zeit gehabt. Vielleicht hätte er mir irgendwann einen Antrag gemacht. Es wäre schön gewesen, hätten wir alle uns heute unweit von hier versammelt, irgendwo in La Push, um eine Hochzeit zu feiern. Aber das Reservat als letzte Ruhestätte, war gewiss auch in seinem Sinn. Anthony war ein... ein Freigeist. Er ist viel gereist, hat sich nicht gebunden, er war... wie ein Blatt im Wind. Aber sein Zuhause war immer dort, wo seine Familie war. Und hier in La Push, bei seinem Bruder, wird nun sein Zuhause sein...“Ich schüttelte ungläubig den Kopf. Nein, das konnte nicht wahr sein. Das hier war nicht richtig, nicht echt. Das hier war falsch, so falsch. „Nein“, flüsterte ich immer wieder. „Nein.“„Sh, sh“, wollte meine Schwester mich beruhigen, doch ich hatte genug. Ich schob sie von mir und rannte los. „Luna!“, rief sie mir nach. Und auch aus anderen Mündern hörte ich meinen Namen, aber ich ignorierte sie alle, lief einfach weiter. Die Letzte, die ich fassungslos stehen ließ, war meine Mutter. „Nein!“, schrie ich unter Tränen, als ich beim Sarg neben ihr angekommen war.„Luna!“, rief sie. „Was soll das, was tust du?!“

Als meine Finger das lackierte Holz berührten, als sie sich unter den Deckel schoben, bemerkte ich schon, dass er noch nicht zugenagelt war. Jetzt gab es kein Zurück mehr. Nur noch ein wenig mehr Kraftaufwand, dann hob ich ihn hoch und stieß ihn weg, so dass er vom Rand rutschte und mit einem dumpfen Schlag im Gras aufkam. Das war das letzte Geräusch, das ich hörte. Die letzte Bewegung, die ich sah. Sekunden später war die Zeit plötzlich stehen geblieben. Alles um mich herum, hatte angehalten. Vor mir, gekleidet in einem schwarzen, noblen Anzug, gebettet auf rotem Samt, die schneeweißen Hände über der Brust gefaltet, lag mein Vater. Ich streckte meinen Arm aus und legte die Hand auf die Stelle, unter der üblicherweise sein Herz gepocht hatte. Jetzt war da gar nichts mehr. Absolute Stille. Reglosigkeit. Tod. „Nein, bitte“, wimmerte ich. „Nein, bitte, bitte...“„Bitte...“***

 

„Luna“, hörte ich in der Ferne wieder meine Mutter meinen Namen rufen. „Luna? Luna...“Ich riss die Augen auf. Mein Puls raste. Mein Kopf brummte. Über mir sah ich das Gesicht meiner Mutter, ungeschminkt, aber dennoch so makellos schön wie immer. Auch waren ihre Haare nicht zusammengebunden, sondern offen. Sie hingen links und rechts herab und berührten meine Bluse. „Mum?“, fragte ich, während ich versuchte, mich aufzusetzen. Sie half mir auf. „Alles in Ordnung, mein Schatz?“, fragte sie besorgt. Ich antwortete ihr nicht, sah stattdessen an mir herab. Ich trug wieder die Bluse, die mir Chris halb aufgeknöpft hatte. Teile von Blut befanden sich noch immer daran. Moment. Dieses Blut... „Wo ist Dad?“, wollte ich sogleich wissen. Mum zögerte kurz, dann deutete sie mit einem Nicken in meine Richtung. Ich sollte mich umdrehen. Nun war ich es, die zögerte. Ich nahm meine Hände vom Boden und sah auf meine verschmutzten Handflächen. Alles hier war verstaubt und heruntergekommen. Ähnlich wie die Schuhfabrik. Aber die war in die Luft geflogen, erinnerte ich mich. Das hier war also nicht derselbe Ort.

Langsam, ganz langsam drehte ich mich nun doch um. Das Erste, was mir auffiel, waren die Gitterstäbe vor uns. Wir waren eingepfercht worden. Dann fokussierte ich, was hinter den Gittern war. Oh mein Gott!, dachte ich und sprang auf, meine Arme passten durch die Gitter, der Rest von mir stieß dagegen. Etwa fünf Meter vor mir, und damit komplett außerhalb der Reichweite meiner Arme, lag mein Vater, offensichtlich ohne Bewusstsein, auf einem Edelstahltisch, ähnlich dem, auf den Chris mich gesetzt hatte. Er war mit dem Bauch nach unten festgebunden worden. Unter dem von Edward zerrissenen Hemd, blitzten Teile des Verbands hervor, den dieser ihm umgelegt hatte. Er war längst nicht mehr weiß, sondern blutrot. „Dad!“, rief ich, doch er reagierte nicht. Mum kam von hinten, zog mich vom Gitter weg und legte dabei die Hand auf meinen Mund. „Ruhig, Luna, er ist noch hier“, flüsterte sie mir ins Ohr.Gemeinsam mit mir, setzte sie sich in die Mitte unserer Zelle. Nachdem sie mich wieder losgelassen hatte, sah ich mich zum ersten Mal richtig um. Hinter der halbhohen Wand links von uns, deren oberer Bereich ebenfalls vergittert war, sah ich in unserer Nachbarzelle Renesmee und Jacob. Beide kamen scheinbar gerade erst zu sich und stöhnten leise vor Schmerz. Hinter ihnen lagen Edward und Bella in ihrem eigenen kleinen Gefängnis. Sie schienen noch immer komplett ausgeknockt zu sein. „War er das?“, fragte ich fassungslos. „War das Chris?“

Bevor meine Mum antworten konnte, hörte ich eine piepsige Stimme, die mich nachäffte: „War das Chris?“Ich drehte mich suchend nach ihm um. Er stand vor unserer Zelle und lächelte bedrohlich.Von Zorn und Hass erfüllt, stand ich auf und ging auf ihn zu. „Luna!“, rief meine Mutter besorgt, doch ich ignorierte sie. „Warum tust du das?!“, schrie ich ihn an, als ich vor ihm stand, nur die Gitterstäbe trennten uns noch voneinander. „Warum trinkst du Blut?“, stellte er die Gegenfrage.

Ich sah ihn stumm an.Er fuhr fort: „Ihr tötet Menschen. Ich töte euch. Das ist der Lauf der Dinge.“„Wir bringen keine Menschen um!“, klärte ich ihn auf.Er zuckte mit den Achseln, als kümmere es ihn nicht. „Und jetzt? Ihr vielleicht nicht, aber wer sagt mir, dass ihr nicht noch mehr von euch erschafft, die es dann tun? Wer sagt mir, dass ihr in ein paar Jahrzehnten nicht eure Meinung ändert? Wer sagt mir, dass ihr nicht vielleicht doch noch jemanden aussaugt? Aus einer Laune heraus vielleicht?“„Mein Urururgroßvater hat noch nie jemanden getötet. Im Gegenteil, er rettete als Arzt Menschenleben und das jeden Tag!“„So, es gibt also noch mehr von eurer Sippschaft, ja?“, fragte er entzückt. Faszination lag in seinem Blick, ja gar Vorfreude, als er seine Hand durch das Gitter streckte und über mein Gesicht streichelte. Ich stieß ihn nicht weg.

„Bitte lass ihn gehen...“, flüsterte ich. Er ließ von mir ab und zog seinen Arm langsam wieder zurück. „Ihn?“Ich rührte mich nicht und musterte ihn, erneut den Tränen nah.„Ach“, erkannte er dann und wand kurz den Kopf in Dads Richtung. „Daddy?“Wieder huschte ein Lächeln über sein Gesicht. „Du liebst deinen Daddy sehr, nicht wahr?“ Wenn ich es nicht besser wüsste, hätte ich gesagt, es klänge verständnisvoll, aber mir war klar, dass es nur eine Fassade war. Wie alles, was ich von ihm gewusst zu haben geglaubt hatte.„Das ist erstaunlich“, sagte er dann. „Bist du zu so etwas fähig, weil ein Teil von dir menschlich ist?“ Nun stand Mum hinter mir auf und ging zu mir. Sie legte ihre Hände unterstützend auf meine Schultern und sah Chris fest an. „Was ihr über uns denkt, ist falsch. Jeder von uns ist zu Liebe fähig, egal ob halber Vampir oder Ganzer.“„Ihr?“, fragte er. „Willst du damit sagen, du weißt, was ich bin?“„Ja“, antwortete sie. „Und er wusste es ebenso.“„Hat ihm nicht sonderlich viel gebracht, hm?“Seinem Spott folgte ein leichtes, prustendes Lachen.

„Dir wird dein Lachen schon noch vergehen!“ Jake war zu sich gekommen und rappelte sich etwas wacklig vom Boden seiner Zelle auf. „Warum? Kommen eure übrigen Monsterfreunde, um mich zur Strecke zu bringen?“, fragte er und ging zur Nachbarzelle. „Hoffentlich. Dann spare ich eine ganze Menge Zeit und Sprengstoff.“„Bastard!“, brüllte Jake und rüttelte an den Gittern.„Ah, ah!“, mahnte Chris und hob die Hand, woraufhin Jake unter Schmerzen auf die Knie ging. Renesmee kam zu ihm geeilt um ihn zu stützen. „Jake!“Dann ging Chris ein paar Schritte zurück, ohne sie aus den Augen zu lassen und rieb sich die Hände. „Bleibt für euch nur noch zu hoffen, dass sie bald hier aufkreuzen, denn in der Zwischenzeit, werde ich mich mit euch beschäftigen. Und ich weiß auch schon, mit wem ich anfange.“„Dreckskerl“, presste Jacob hervor und biss die Zähne zusammen. Im nächsten Augenblick hörten wir ein leises Stöhnen hinter Chris, woraufhin dieser sich umdrehte. „Nein“, flüsterte ich flehend und sah hilflos, wie mein Ex-Freund, oder was immer er auch gewesen sein mochte, auf meinen Vater zu ging, der langsam zu sich kam und dann mehrfach versuchte, sich zu erheben, jedoch immer wieder zusammenbrach.„Ah, endlich aufgewacht?“, fragte Chris, während er sich näherte. „Wo bin ich?“, erwiderte Dad ausgelaugt.

Als er schließlich direkt vor dem Tisch stand, ging Chris leicht in die Knie, um auf Augenhöhe mit meinem Vater zu sein. „Weißt du, was mir gar nicht gefällt?“, fragte er. „Blutsauger. Und weißt du, was mir noch weniger gefällt? Blutsauger, die meinen, sie könnten mir entkommen. Und weißt du, was mir noch viel, viel weniger gefällt? Blutsauger, die meinen Sprengstoff verschwenden!“Die letzten Worte schrie er ihm förmlich entgegen. Währenddessen zerstörte er die Bänder, die über Dads Rücken gespannt gewesen waren, packte ihn und drehte ihn vom Bauch auf den Rücken. Als ein Schmerzensschrei aus seinem Mund drang, unterband er diesen, indem er nach seinem Kiefer griff und ihn festhielt.„Schau“, flüsterte er ihm dann zu „Ich hatte dir die Chance gegeben, gemeinsam mit deiner Tochter in einem leuchtenden Spektakel unterzugehen. Schnell und schmerzlos. Aber du hast dich dagegen entschieden.“

Ich schüttelte fassungslos den Kopf, als ich sah, wie seine andere Hand sich Dads blutender Wunde näherte und sich dann unter den Verband schob. Dad begann zu zucken, da hörten wir ein leises Knacken, woraufhin er erstarrte. Hatte er ihm den Kiefer angeknackst?

„Jetzt werde ich dich langsam zerlegen. Und ich werde jede einzelne Sekunde davon genießen“, drohte Chris leise. Jedes weitere Wort wäre von Dads Schreien übertönt worden, nun da Chris' Hand unter dem Verband verschwunden war. Ihm schien es zu gefallen. Erst lachte er gehässig, dann ließ er von ihm ab und entfernte sich. „Das Beste weißt du ja noch gar nicht. Wenn ich mit dir fertig bin“, sagte er und breitete dann die Arme aus. „Mache ich mit ihnen weiter.“

Dad hob zitternd den Kopf und sah verwirrt und müde in unsere Richtung. Er sagte nichts, aber ich sah ihm an, dass er verstanden hatte, und dass ihm diese Erkenntnis nahezu physische Schmerzen zu bereiten schien. Danach ließ er den Kopf wieder auf den Stahl sinken und atmete schwer.„Was denn?“, fragte Chris daraufhin mit einer Spur von Enttäuschung in seiner Stimme, ging abermals auf meinen Vater zu und sah auf ihn herab. „War's das schon?“Dad sah zu ihm hinauf. Nun war er es der leicht lächelte. „Nur zu. Zerleg' mich. Genieß' die Sekunden.“„Ah“, sagte Chris dann. „Du möchtest Zeit schinden.“„Ich werde dir standhalten, so lange ich kann. Wenn es bedeutet, dass du meine Familie in Frieden lässt, meinetwegen auch tagelang.“Chris lachte auf. „Das ist überaus, überaus putzig. Das Töchterlein will ihren Papi beschützen, Papi sein Töchterlein und am Ende seht ihr einander doch beim Verrecken zu.“„Dir wird dein Lachen schon noch vergehen“, keuchte mein Vater.„Ach“, seufzte sein Gegenüber gespielt. „Das hat der im Zwinger auch schon von sich gegeben. Muss wohl in der Verwandtschaft liegen. Diese eintönigen Drohungen.“

Dads Augen suchten nach Jake, der sich inzwischen müde gegen die Gitter lehnte und von Renesmee gestützt wurde.

„Weißt du“, sagte er dann, so dass Anthony wieder ihn ansah, dessen Atem schneller ging, kaum dass Chris sich umdrehte und sich Mums und meinem Käfig näherte. „Du kannst von Glück reden, dass ihr mich so anwidert.“Ich stand noch immer am Rand unseres Gefängnisses, die Stäbe derart fest umfassend, dass meine Fingerknöchel bereits weißlich schimmerten. Er streckte ein weiteres Mal seine Hand durch die Gitter und streichelte mir über die Wange. „Andernfalls hätte ich die Kleine bestimmt schon mal probiert.“Daraufhin ließ ich die Gitter los und wich zurück. Mum nahm mich schützend in den Arm. Im selben Moment rappelte sich Dad hinter Chris auf. „Das wagst du nicht!“, schrie er ihn an und wollte aufstehen, knickte dann jedoch ein und landete der Länge nach auf dem harten Betonboden.

Neben uns stieß Renesmee einen spitzen Schrei aus. Kurzzeitig schien der Schmerz Dad zu paralysieren, denn er rührte sich nicht mehr.Chris schien das zu langweilig zu sein. Er verpasste meinem Vater einen derart heftigen Tritt in den Bauchraum, dass er sich umdrehte und Blut spuckte.„Du feiges Schwein!“, brüllte Jake. „Auf jemanden einzutreten, der schon am Boden liegt! Vor einem Zweikampf ohne deinen Hokuspokus hast du wohl zu viel Schiss!“ „Hokuspokus“, spottete Chris. „Gutes Stichwort.“ Jakes Augen wurden größer. Und ich wusste auch warum. Niemand von uns wusste, was Chris damit meinte und was er als nächstes mit Dad tun würde. Welchen Stein hatte Jake mit seinen Worten ins Rollen gebracht? Was kam nun?

Der blonde Junge, den ich einst für hübsch befunden und in mein Leben gelassen hatte, beugte sich abermals über meinen Vater. „Du hast mir noch immer nicht gesagt, was du bist.“Dads Brust hob und senkte sich rasch unter ihm, doch er machte keine Anstalten zu antworten. Dann zückte Chris wieder sein Messer. Seine scharfe Klinge glänzte im künstlichen Licht. Er schien es zwischenzeitlich gesäubert zu haben. Ich streckte die Hände durch die Gitter, obwohl ich wusste, dass ich ihn nie erreichen würde. „Nein, nein, Chris, bitte!“, wimmerte ich, doch er hörte mir nicht zu. Er setzte sich neben meinen Vater, der daraufhin langsam den Kopf in seine Richtung drehte. Chris legte sein Messer an Dads Wange und lies es über seine helle Haut gleiten. Dann beobachtete er, wie der dünne, rote Strich langsam wieder verschwand. „Kleine Verletzungen heilen sofort. Also auf jeden Fall, zumindest teilweise, ein Formwandler“, schlussfolgerte er. „Aber da ist mehr...“ Plötzlich packte er zum zweiten Mal seinen Unterkiefer. Zuerst fürchtete ich, er würde ihn abreißen, derart grob zwang er meinen Vater dazu, den Mund zu öffnen und fuhr dann mit den Fingern dazwischen. Dad wehrte sich mit aller Kraft gegen ihn, bis er ihn schließlich tatsächlich von sich stieß. Chris schien das wenig zu beeindrucken. Er taumelte kurz, dann stand er wieder fest und musterte das flüssige Sekret zwischen seinem Zeige- und Mittelfinger, fast so flüssig wie Wasser, jedoch durch den Lichteinfall schimmernd in allen Farben des Regenbogens. „Vampirgift.“Während Chris seine eigene Hand anstarrte, stand Dad schwankend auf. Nachdem er wieder auf beiden Beinen stand, spuckte er eine Mischung aus Blut und Gift auf den Beton, dann kam ein tiefes, bedrohliches Knurren aus seiner Kehle.„Ooooh“, spottete Chris und wusch sich die Hände an seinem Hemd ab. „Soll mir das etwa Angst machen?“„Du hättest gehen sollen, als du die Chance dazu noch hattest“, sagte mein Vater.„Du hättest sterben sollen, als sich dir ein schmerzloser, schneller Abgang bot“, antwortete Chris. Dann gingen sie aufeinander los. Die Tatsache, dass Chris ein Messer in der Hand hatte, wohingegen Dad unbewaffnet war, schien Letzteren nicht weiter zu kümmern. Wahrscheinlich war ihm inzwischen alles egal, solange er nur die leiseste Möglichkeit sah, seinen Gegner irgendwie auszuschalten.

Links von uns begannen sowohl Jacob, als auch der inzwischen wieder zu sich gekommene Edward an den Stäben zu rütteln. In mir keimte Hoffnung auf, dass sie sich befreien und Anthony helfen würden, doch diese wurde jäh zerschlagen, als Chris meinem Vater einen heftigen Schlag verpasste, der ihn auf die Knie gehen ließ, und dann hinüber zu den Zwingern schritt, um meinen Großvater und meinen Urgroßvater mit ausgestreckter Hand zum Rückzug zu zwingen. Seine Kräfte waren derart flächendeckend, dass nicht nur die beiden, sondern auch Bella und Renesmee einknickten. Meine Mutter und mich verschonte er zwar, doch was dann geschah, war für mich schlimmer, als jeder Schmerz, den er mir hätte zufügen können. Nahezu im Zeitraffer sah ich mit an, wie Chris sein Messer, ohne hinzusehen, hinter sich warf, woraufhin es Dad traf, der gerade erst wieder aufgestanden war. „DAD!“, schrie ich weinend. Mein Vater stand dagegen einfach nur da, das Messer im Bauch und Chris anstarrend. Chris drehte sich um und lächelte dabei. Dann fiel Dad auf die Knie, zog die Klinge heraus, ließ sie fallen und krümmte sich vor Schmerzen auf dem Boden.„Ding, Ding, Ding, Ding“, wiederholte Chris schnell. „Hundert Punkte für mich!“ Dad gab keinen Ton von sich, war aber noch immer bei Bewusstsein und hielt sich den Bauch. „Heißt das, ich darf mir jetzt die Nächste aussuchen?“Von Dad kam keine weitere Reaktion. Entweder hatte er ihn nicht verstanden oder aber, was wahrscheinlicher war, er war schlicht nicht mehr in der Lage, sich zu rühren.Meine Hände rutschten an den runden Gitterstäben entlang, als ich weinend auf die Knie sank. Es war, als wäre ich aus einem Albtraum erwacht, nur um im Nächsten zu landen. Ich wusste gar nicht, was schlimmer war. Meinen Vater in einem Sarg zu sehen, tot, jedoch augenscheinlich friedlich oder lebend, sich jedoch vor Schmerzen auf dem Boden windend. Bitte, bitte, er soll damit aufhören, flehte ich in Gedanken und kniff die tränenden Augen zusammen. „Hey!“, hörte ich dann eine Stimme sagen, die ich wohl kannte, jedoch nicht zuzuordnen vermochte. In einigen Metern Entfernung stand eine Frau mit blonden Haaren. Sie trug eine gewöhnliche Jeans, ein dunkelblaues Shirt und darüber eine silberfarbene Weste mit Daunen. Ihre Hände hatte sie in die Hüften gestemmt. Ihre Ausstrahlung war enorm, so wie sie da stand, ohne jede Furcht und mit einem zarten Lächeln auf den Lippen. Auf ihrer Haut sah ich nun auch leichte Sommersprossen. Chris verzog kurz die Augenbrauen, dann ging er mit leicht geöffnetem Mund auf die Dame zu.„Ich fass es nicht...“, sagte er dann. „Du...“Sie nickte. „Ja.“Etwa einen Meter vor ihr, blieb er stehen. „Das ist unglaublich. Ich hab noch nie einen anderen gesehen... und dann auch noch eine sie. Heute muss wirklich mein Glückstag sein.“„Meiner auch“, erwiderte sie und reichte ihm die Hand zur Begrüßung, die er ohne zu zögern nahm und schüttelte. „Mein Name ist Catriona. Ich suche schon seit sehr langer Zeit nach dir. Bombenleger.“ Nun klingelte es bei mir: Catriona! Cat! „Ja“, gab er zu und kratzte sich dabei doch tatsächlich etwas verlegen am Hinterkopf. „Das ist eine kleine Leidenschaft von mir.“

„Und dass du so immer wieder in den Nachricht landest, ist dir dabei egal?“, fragte sie. „Solange sie den wahren Grund nicht kennen, spielt es doch keine Rolle. Hauptsache sie finden keine Spuren. Übernatürliches wird ohnehin das Letzte sein, worauf sie schließen werden und es ist uns zu verdanken, wenn es so bleibt, oder?“„Ja“, antwortete sie und sah ihn dabei durchdringend an.„Ach, ich bin übrigens Christian“, stellte nun auch er sich namentlich vor. Es war das erste Mal, dass ich seinen vollständigen Namen hörte. Ich hatte, um ehrlich zu sein, nie danach gefragt, ob Chris vielleicht nur eine Abkürzung war. Langsam kam ich zu dem Entschluss, dass ich es verdient hatte, hier zu sein, so dumm, wie ich gewesen war. Aber meine Familie hatte es nicht verdient. Traurig musterte ich meine Mutter. Sie sah besorgt zu Cat. Hatte sie etwa Zweifel daran, dass sie hier war, um uns zu helfen? Ich sah herüber zu den beiden, die noch immer Smalltalk betrieben, als läge mein Vater nicht fünf Meter von ihnen entfernt und verblutete gerade. Das und der Blick meiner Mutter, ließen auch Zweifel in mir aufkeimen. Was wenn sie ihre Meinung geändert hatte, nun da sie einen Artgenossen gefunden hatte? Was wenn sie, statt uns zu retten, nun gegen uns kämpfte?

„Und?“, hörte ich Chris sie fragen. „Bist du eine Heilerin oder eine Kämpferin?“„Kampf“, antwortete sie sofort. Eigentlich hätte ich wissen müssen, dass sie log, schließlich hatte Edward sie angerufen, damit sie Dad heilte, aber die Stresssituation, schien meinen Verstand zu benebeln, so dass ich weiter an der Wahl ihrer Seite zweifelte. „Sehr gut“, sagte Chris dagegen entzückt. „Dann kannst du die Biester ja erst mal in Schach halten, während ich eben etwas hole.“Cat nickte. „Sicher.“

Er hob beide Daumen nach oben und verließ dann den Raum durch eine große Stahltür am Ende des Ganges. Cat wartete, auch nachdem sie wieder ins Schloss gefallen war, noch eine gefühlte Ewigkeit, bevor sie anfing, durch den Raum zu schlendern. Als sie Edwards und Bellas Zelle passierte, schwiegen beide. Jacob konnte sich allerdings weniger beherrschen, kaum dass sie vor ihm und Renesmee stand. „Um Himmelswillen, was tust du da?! Er verblutet!“, zischte er. „Ruhig“, flüsterte sie und hob die Hand. Woraufhin Jake das Gesicht verzog und zurückwich. Es waren wohl nur leichte Schmerzen, aber es zeigte mir, dass sie durchaus in der Lage war, uns genauso zu zerschmettern, wie Chris – wenn sie das denn wollte.

Sie sah noch einmal Richtung Tür und horchte. Niemand von uns machte einen Mucks. Dann rannte sie plötzlich zu Dad und ließ sich neben ihm auf die Knie fallen. Ganz vorsichtig, drehte sie ihn auf den Rücken, woraufhin er vor Schmerzen stöhnte. „Sh...“, versuchte sie ihn zu beruhigen und legte eine Hand an seinen Mund, damit er verstummte. Langsam, ganz langsam, öffnete er daraufhin die Lider ein wenig und sah sie mit seinen smaragdgrünen Augen an. Als ihre Blicke sich trafen, verschwand seine Anspannung. Sein Körper wurde schlaff und er schloss wieder die Augen. Cat nahm daraufhin ihre Hand von seinen Lippen und machte sich daran, Dads Verband zu entfernen, dann legte sie ihre Hände vorsichtig auf die Wunde, woraufhin mein Vater scharf die Luft einsog.Cat atmete ihrerseits stattdessen einmal deutlich aus – und im nächsten Moment traute ich meinen Augen kaum, nun da sie leicht zu schimmern begann. Es war das erste Mal, dass ich Zeuge dessen wurde, was der Rest der Anwesenden wohl schon einmal gesehen hatte. Die leuchtende Sphäre Catrionas ging auf meinen Vater über und ließ langsam, jedoch stetig, das Blut verschwinden, das seine Haut benetzte. Obwohl meine Familie das schon einmal beobachtet hatte, starrten wir alle gebannt auf das Schauspiel, das sich uns hier bot.Plötzlich hörten wir Chris hinter der Stahltür näher kommen und sie anschließend mit der Schulter aufstoßen „Ich hoffe du magst Champagner zur Feier des Tages. Eigentlich wollte ich mir den genehmigen, während ich dem Gebäude, samt Monsterbrut beim abfa-“, er verstummte, zwei Gläser und eine Flasche in den Händen, nun da er sah, wie sie neben Dad kniete. Sie hielt inne und drehte sich erschrocken um. An ihren nun zitternden Händen war noch immer Blut. Er hatte sie unterbrochen. „Was machst du da?“, fragte er und funkelte sie an. Cat starrte ihn an. Seine Augen wanderten, von ihr ausgehend, über den Boden und blieben am blutigen Verband kleben. Dann zerschellte die Champagnerflasche und die Gläser in tausend Scherben. Ich fragte mich in Gedanken, ob das nun unseres oder doch eher sein Unglück bedeutete. Als hätte er plötzlich Edwards Gabe, erhob sich mein Vater zur Antwort und stellte sich neben Catriona. Der Blick, den sie ihm daraufhin zuwarf, sprach Bände. „Aber natürlich“, flüsterte Chris daraufhin. „Ihr kennt euch! Du hast ihn schon einmal geheilt! Deswegen ist er immun gegen meine Kräfte und deswegen wissen diese Bestien von unserer Existenz!“„Ich sehe nur eine Bestie in diesem Raum“, stellte Cat klar. Ihr Artgenosse starrte sie atemlos an. „Du stellst dich auf ihre Seite? Auf die Seite derer, die du jagen solltest?“„Ich stelle mich auf die Seite derer, die es verdient haben, zu leben.“„Du bist ein Kantor!“, schrie er sie daraufhin an. „Du hast sie auszulöschen!“

„Ich bin ich“, antwortete sie kühl. „Ich treffe meine eigenen Entscheidungen.“Chris sah fassungslos von meinem Vater zu ihr. „Und du hast dich dazu entschieden gegen deine eigene Rasse zu rebellieren?“

„Hättest du meine Freunde nicht angegriffen, wäre es nie so weit gekommen“, erklärte Cat. „Freunde?“, er sprach das Wort ziemlich angewidert aus, dann begann er plötzlich gehässig zu grinsen. „Du stehst auf ihn, nicht wahr? Hast dich wie ein pubertäres Menschenmädchen von Äußerlichkeiten blenden lassen, hm?“ „Sagt der, der ein pubertäres Mädchen mit seinen eigenen Äußerlichkeiten geblendet hat, um ihre Familie auszulöschen“, konterte sie. „Immerhin arbeite ich nicht für den Feind“, presste er unter zusammengebissenen Zähnen hervor. „Aber schön, wie du willst. Du hast dich entschieden. Dann musst du jetzt eben mit deiner Entscheidung sterben!“ Mit diesen Worten wich er zurück und zog zwei kleine Kügelchen aus seiner Tasche. Cat sah verwirrt aus, doch Dad schien zu wissen, um was es sich dabei handelte und attackierte Chris sofort.„Tony!“, brüllte die Kantorin, doch Chris und mein Vater waren bereits in ihren Kampf vertieft. Der Fakt, dass sie seine Wunde nicht ganz hatte heilen können, wurde bereits nach kurzer Zeit sichtbar. Chris gewann mehr und mehr die Oberhand, bis er ihm letztlich einen Schlag in den Bauch verpasste, der Dad zu Boden warf. Als Chris sich ihm dann wieder zu nähern versuchte, stellte Catriona sich vor meinen Vater und hob ihre flache Hand in seine Richtung. „Zurück!“, warnte sie. Chris blieb wie angewurzelt stehen und lächelte. „Ihn zu heilen hat dich geschwächt“, erinnerte er sie. Cats Hand begann leicht zu zittern, trotzdem wich sie keinen Zentimeter, während Dad sich hinter ihr langsam wieder zusammenriss. „Um dich zu töten reicht es allemal“, sagte sie dann. „Cat“, sagte Dad hinter ihr leise.„Geh zu deiner Familie“, antwortete sie, ohne dabei Chris aus den Augen zu lassen.„Cat“, wiederholte er. Nun drehte sie ihren Kopf doch etwas in seine Richtung. „Nun mach schon! Ich kümmere mich um ihn!“Mein Vater sah sie noch einen Moment lang an, dann entfernte er sich zögerlich von ihr. Zunächst ging er rückwärts, in jenem Moment, in dem die Kantoren einander angriffen, drehte er sich schließlich um und rannte in meine Richtung. So dankbar ich Cat für ihren Einsatz auch war und so sehr ich Chris verlieren sehen wollte, ich hatte nun nur noch Augen für Dad. Als er bei uns angekommen war, umfasste er die Gitter unserer Zelle und riss die Tür aus den Angeln, dann stürmte er auf mich zu, ging vor mir auf die Knie und nahm mich in den Arm. „Daddy“, sagte ich erleichtert.„Keine Sorge, Prinzessin“, erwiderte er. „Das hier wird bald vorbei sein.“

Arm in Arm standen wir gemeinsam auf. Während er einen Arm dann um mich gelegt ließ, reichte er den Anderen meiner Mutter. Sie sahen einander kurz an, dann nahm Mum seine Hand und wir verließen unser Gefängnis. In den Nachbarzellen war Jake derweil damit beschäftigt, seine Gitter soweit auseinander zu biegen, bis Renesmee sich hindurchzwängen konnte und auch Edward und Bella fanden langsam wieder die Kraft, sich zu befreien. „Verschwindet!“, brüllte Cat uns an, ehe sie Chris zu Boden schlug.

„Los“, kam es von Edward, der Bella und Renesmee sanft anschob. Jacob folgte ihnen. Mein Vater jedoch war stehen geblieben und sah zurück zu Cat. „Ani“, mahnte Edward ihn. Widerwillig ging er daraufhin mit uns ins Freie.

Ein paar Meter hatten wir zwischen uns und das Gebäude gebracht, da blieb er jedoch erneut stehen, sodass wir es ihm gleich taten und uns zu ihm umdrehten. „Wir müssen ihr helfen“, sagte Dad an Edward gewandt. „Es gibt nichts was wir tun können. Er muss nur einmal die Hand heben und schon liegen wir am Boden. Anthony, manchmal hilft man jemandem, in dem man ihm Raum gibt. Sie weiß, was sie tut.“„Ich bin immun gegen ihn“, erinnerte er Edward.„Und verletzt“, gab der Vampir zurück.Anthony seufzte, drehte sich dann jedoch dennoch um und wollte wohl gerade zurück ins Gebäude laufen, da öffnete sich plötzlich die Tür. Das Erste was herausquoll war eine dicke, schwarze Staubwolke.

Aus dieser trat Sekunden später Chris. Wir erstarrten allesamt. Er blieb reglos vor der qualmenden Tür stehen und grinste. Was hatte er getan? Hatte er Cat besiegt? Hatte er sie umgebracht? Würde das Gebäude gleich explodieren? Und was würde als nächstes passieren?

Edward hatte Recht, wir hatten kaum etwas gegen ihn in der Hand. Die Antwort folgte auf dem Fuße. Wir alle wurden Zeuge davon, wie der Kantor plötzlich die Augen und den Mund aufriss und dann kerzengerade nach vorn umkippte. Auf seinem Rücken war ein großer Blutfleck zu sehen. Hinter ihm kam Cat zum Vorschein, in ihrer Hand das Messer, mit dem er Dad verletzt hatte. Die Klinge leuchtete blutrot.Ich spürte förmlich, wie die Erleichterung uns alle erfasste. Auch Dad strahlte mit einem Lächeln zu Cat. Doch sein Lächeln verschwand jäh als auch sie zu taumeln anfing.„Oh, nein“, hörte ich Dad flüstern, dann rannte er zu ihr und fing sie auf, bevor sie den Boden berührte. „Cat? Cat!“, rüttelte er sie, woraufhin ihre Lider flackerten.„Tony“, antwortete sie zufrieden. Es war keine Frage. „Was hast du?“, wollte er sogleich wissen.„Es ist okay“, sagte sie. Doch Dad ließ sich nicht beruhigen und schob ihre silberne Weste ein wenig zur Seite. Seine Augen weiteten sich vor Entsetzen. Sie hatte eine große Fleischwunde etwas oberhalb ihrer Hüfte, die stark blutete.„K-kannst du dich nicht heilen?“, fragte Dad aufgeregt. Sie schüttelte den Kopf und lächelte. „Ich kann nur andere heilen.“„D-dann... was soll ich dann tun?“ Die Verzweiflung in seiner Stimme brach mir fast das Herz.„Mir ein Versprechen geben“, sagte sie und sah zu ihm hinauf.„Alles“, kam es sofort von ihm.

Cat lächelte ihn an. Sie hob ihren Arm und legte ihre Hand an seine Wange. „Versprich mir, dass du leben wirst, bis wir uns wiedersehen.“

„Versprochen“, antwortete er.„Es könnte ein paar Jahrzehnte dauern.“„Ich habe nicht vor zu sterben“, versicherte er.Sie lachte leise. „Gut... noch etwas...“„Ja?“, fragte er traurig. Ich sah, wie seine grünen Augen glasig wurden.„Bitte verstreu meine Asche im Meer von La Push. Ich weiß, das ist ein ungewöhnlicher Ort für einen Kantor, aber... ich bin nicht mehr wie die Anderen.“„Ich verspreche es.“„Danke“, flüsterte Cat. „Ich danke dir“, gab er zurück. „Dafür, dass du mein Leben gerettet hast und das meiner Familie.“„Schon in Ordnung. Sei einfach nur nicht so dumm, dir die Schuld für irgendetwas zu geben, denn...“, sie machte eine kurze Pause. „Ich würde jederzeit alle meine Leben geben, um dich zu retten... Anthony.“Dann schlossen sich ihre Lider und ihr Körper wurde schlaff.Dads Unterlippe begann leicht zu zittern.Aus dem Gebäude hinter uns stieg weiter Rauch empor und in den Himmel hinauf, der langsam begann, wieder heller zu werden. „Anthony, wir müssen weg, bevor jemand hier auftaucht“, sagte Edward.Mein Vater sah traurig auf Cats toten Körper hinab.„Anthony“, sagte Edward noch einmal.Dad stand auf, hob Cat hoch und ging mit ihr auf dem Arm an uns vorbei. Sein Blick war starr, doch ich wusste, dass er innerlich schrie und weinte...

[Sangreal] Spiel mit dem Feuer

 

Wäre das Hin- und Her der Wellen am Strand von La Push nicht gewesen, ich hätte geglaubt, die Welt stünde still. Seit Stunden schon saß ich hier auf einem der zahlreichen großen Steine und starrte auf das Meer hinaus. Neben mir: meine Tochter. Beide waren wir in Schweigen gehüllt.

Unsere stille Aufmerksamkeit galt allerdings nicht allein dem Wasser, sondern Anthony. Es war schon eine ganze Weile her, dass er Catrionas Asche im Meer verstreut hatte. Seit dem hatte er kein Wort gesprochen und sich auch nicht von der Stelle bewegt. Es waren Momente wie diese, in denen er mich mehr an ein Tier erinnerte, als an ein menschliches Wesen.

 

»Wer war sie?«, fragte unsere Tochter leise.

»Hm?«, kam es von mir.

»Sie muss ihm sehr wichtig gewesen sein. Warum hat er sie nie erwähnt?«, fragte Luna schließlich in flüsterndem Ton.

»Wahrscheinlich aus Rücksicht«, antwortete ich.

»Rücksicht?«, fragte sie überrascht. »Rücksicht auf wen?«

»Auf mich.« Ich drehte meinen Kopf leicht in ihre Richtung und musterte sie. Sie sah fragend zu mir hinauf.»In seinen Erinnerungen... da war doch dieses Mädchen, das er geküsst hat«, erinnerte ich sie.

Luna nickte.

Mir war klar, dass er ihr ungehinderten Zugang auf all seine Gedanken gegeben hatte. Wahrscheinlich neigte sie dazu, diese Teile gern zu überspringen. Entweder aus Desinteresse oder seiner Privatsphäre wegen. »Nun«, fuhr ich fort. »Dieses Mädchen war Cat. Sie war in ihn verliebt.«

»Aber er liebte dich«, sagte sie mit fester Stimme.

»Ja«, stimmte ich ihr zu. »Er hat mich gewählt. Und obwohl er mich wollte und nicht sie, hat sie ihm das Leben gerettet. Und das mehr als einmal. Sie war so unglaublich stark. Manchmal glaube ich, sie wäre die bessere Wahl für ihn gewesen.«

»Mum«, sagte sie mit besorgtem Unterton.

Ich streichelte über ihren Rücken.»Schon gut, mein Schatz. Letzten Endes spielt es keine Rolle mehr. Diese Entscheidung hat man ihm ja nun abgenommen.«

Mit diesen Worten stand ich auf und ging nach Hause. Meine Beine fühlten sich dabei an, als hätte man sie mit Blei gefüllt. So sehr es mir auch leid tat, Luna so in der Luft hängen zu lassen - ich hatte keine Kraft mehr, mich weiter über das ‚Was wäre wenn?‘ zu unterhalten. Es war vorbei. Es würde nie mehr so sein, wie es früher einmal war.

Und so legte ich mich müde auf das gemachte Bett und starrte an die Decke.

 

***

 

Dass ich eingeschlafen war, realisierte ich erst, nachdem ich wieder aufwachte. Draußen war es inzwischen dunkel geworden, aber ich hörte, wie der Regen leise gegen das Dach und die Fenster prasselte. Für einige Minuten lauschten meine Ohren dem Geräusch der aufkommenden Tropfen, bis ich ein Klopfen an der Tür vernahm.

Ich erwartete eigentlich Nayeli, Seth oder irgendjemand sonst, der mich zum Abendessen holen wollte. Möglicherweise auch meine Tochter, der ich es nicht verdenken würde, wenn sie noch großen Redebedarf hatte.

Doch den, der schließlich vor der Tür stand, hatte ich von allen am wenigsten erwartet.

Anthony.

Zunächst stand ich daher nur vor ihm und starrte ihn an. Ich sah keinen Tropfen Wasser auf seiner Haut, seiner Kleidung oder seinen Haaren, woraus ich schloss, dass er schon vor einer Weile nach Hause zurückgekehrt sein musste.

»Ani?«, fragte ich entsprechend verwundert, nachdem ich meine Sprachlosigkeit einigermaßen überwunden hatte. »Was machst du hier?«

Seit er uns allen von seiner Prägung erzählt hatte, hatte er nicht mehr mit mir gemeinsam in einem Bett geschlafen und diesen Raum so weit es ging vermieden.

»Nun, das hier ist mein Schlafzimmer und du bist meine Freundin. Ist es so verwunderlich, dass ich da mal rein möchte?«

Ich weiß nicht, ob meine bleiche Haut nun noch bleicher geworden oder mir doch etwas Röte ins Gesicht geschossen war. Und das nicht etwa, weil er mich als seine Freundin bezeichnet hatte, sondern weil ich meinte, eine Zweideutigkeit aus seinem Satz herausgehört zu haben, die mich gleichzeitig schwitzen und frösteln lies.

Ich musterte ihn mit Misstrauen. Er sah irgendwie anders aus, als noch vor wenigen Stunden. Ja sogar anders, als in den letzten Wochen, wenn nicht sogar Jahren. Seine Ausstrahlung und seine Haltung erinnerten mich an unsere erste gemeinsame Zeit. Er hatte damals etwas kühles, Unnahbares an sich gehabt. Obwohl ich gewusst hatte, dass er interessiert an mir war, sich vielleicht sogar zu mir hingezogen fühlte, hatte er eine gewisse Distanz ausgestrahlt. War er in meiner Nähe, hatte sich das wundervoll angefühlt, doch fürchtete ich dauernd, dass er beim nächsten Augenaufschlag wieder verschwunden war. Das hatte einen ganz besonderen Reiz gehabt. Von seiner Attraktivität hatte er natürlich auch später nichts verloren, doch dieses Gefühl kam nicht mehr auf. Von dem Moment an, an dem wir beide gewusst hatten, dass wir gemeinsam ein Leben erschaffen hatten und ich dieses in mir trug, hatte ich nie wieder gefürchtet, ihn zu verlieren – bis zu jenem Tag, an dem diese Helena aufgetaucht war.

»Sangi«, seine Stimme riss mich aus meinen Gedanken und ich machte aufgeschreckt einen schnellen Schritt nach hinten, woraufhin er einen nach vorn machte. Wie jemand, der vor kurzem die Asche einer sehr guten Freundin im Meer verstreut hatte, sah er definitiv nicht aus, so wie er da vor mir stand und mich anlächelte. Aber gerade dieses Lächeln war es, das meine Knie zum Schmelzen brachte und meine Gedanken derart durcheinander wirbelte, dass ich binnen weniger Atemzüge nur noch an eines denken konnte.

Er musterte mich prüfend. Als er sich offensichtlich sicher war, dass ich ihn nicht zurückweisen würde, näherte er sich mir langsam und beugte sich zu mir herab, um mich zu küssen. Ich schloss die Lider und erwiderte seinen Kuss. Das Geräusch der sich schließenden Tür vernahm ich nur noch wage.

Ganz wie von selbst trugen meine Beine mich dann rückwärts, bis ich den Bettrand an meinen Kniekehlen spürte. Und er folgte mir. Zu keiner Sekunde lösten wir unsere Lippen voneinander.

Nachdem ich stehen geblieben war, begann er mir die Bluse von der Schulter zu streifen und die nackte Haut darunter mit kleinen Küssen zu bedecken. Jeder einzelne davon, bescherte mir ein leises Kribbeln im Bauch.

Schließlich zog er mir die Bluse über den Kopf. Wohin es sie kurz darauf verschlug, vermochte ich nicht zu sagen, hatte ich doch nur noch Augen für ihn, dessen hübsches Gesicht noch immer ein erwartungsvolles Lächeln zierte. Dann küsste er mich erneut auf den Mund, legte gleichzeitig seine warme Hand an meinen Rücken und ließ mich langsam zurück auf unser Bett gleiten, ohne dabei unseren Kuss zu unterbrechen.

Als ich unter ihm lag, machte ich mich ganz automatisch daran sein Hemd aufzuknöpfen, während er sich mit seinen Händen abstützte, um mich nicht mit seinem Gewicht zu belasten. Nach vierzehn Jahren hatte ich keinerlei Schwierigkeiten damit alle Knöpfe im Nu zu lösen. Dennoch hielt ich beim allerletzten, kurz über seinem Hosenbund, plötzlich inne.

Er nahm seine Lippen von meinen und sah fragend auf mich herab.

»Bist du dir sicher, dass du das willst?«, fragte ich unsicher.

Er sah mich stumm an. Meine Augen huschten hin und her, in dem Versuch seinen Blick zu durchschauen, doch es gelang mir nicht.

»Seh‘ ich so aus, als würde ich das nicht wollen?«, unterbrach er die Stille.

Ich ließ noch einen Moment verstreichen, ehe ich meine Worte fand. »Nein, aber die P-«

»Nein«, ließ er mich nicht zu Ende aussprechen und gab mir einen derart gefühlvollen Kuss, dass er mich nahezu vergessen ließ, was ich soeben hatte sagen wollen. »Das einzige Wort mit P, das in diesen vier Wänden deine Lippen verlassen wird, ist ‚perfekt‘, wenn ich mit dir fertig bin.«

Die Art und Weise, wie seine Augen funkelten, während er sprach, hätten es eigentlich wie eine Drohung wirken lassen können. Alles was sie jedoch in mir auslösten, war eine unglaubliche Hitzewelle, die meinen gesamten Körper erfasste.

 

Was darauf folgte, fühlte sich so atemberaubend schön an, dass ich nicht mal den kleinsten Gedanken an die letzten Wochen verschwendete...

 

»Ich habe das vermisst«, hauchte er später in jener Nacht.

»Was?«, wollte ich wissen.

»Dieses Gefühl...«, antwortetet er. »Eins mit dir zu sein.«

Seine Worte zauberten mir ein Lächeln auf die Lippen und ließen meine Augen leuchten. »Ich auch.«

Er erwiderte mein Lächeln und schloss dann die Lider.

Ich sah ihn einen langen Moment an, dann strich ich mit der Hand über meine Schulter. Die Stelle, an der er mich gebissen hatte, war kaum zu spüren. Es war also nicht tief. Ich wollte ihn gerade darauf ansprechen, was er sich dabei gedacht hatte, da hörte ich seinen gleichmäßigen Atem. Er war bereits eingeschlafen.

Ich hatte Angst, dass er gehen würde, wenn ich ihn weckte, also ließ ich ihn schlafen und kuschelte mich stattdessen ganz nah an ihn. Ich lauschte seinem Atem und seinem Herzschlag, bis auch ich ins Land der Träume sank...

 

 

 

Die Sonne war noch nicht aufgegangen, da wurde ich wieder wach. Ich wusste zunächst nicht, was mich geweckt hatte, denn ich hatte schon seit langem nicht mehr so angenehm geschlafen. Am liebsten hätte ich die Augen wieder geschlossen und mir gewünscht, diese Nacht würde nie enden, doch der gleichmäßige Atem, der mich Stunden zuvor in den Schlaf begleitet hatte, war nun angestrengtem Schnaufen gewichen.

»Ani?«, fragte ich besorgt und rüttelte ihn sanft, doch reagierte er nicht darauf. »Anthony!«, versuchte ich es daher nun lauter. Nachdem auch das nichts brachte, legte ich zwei Finger an seinen Hals. Sein Herz raste, als hätte er eben einen Marathon hinter sich gebracht und seine Haut war feucht und heiß. »Anthony, bitte wach auf«, flehte ich und spürte, wie sich meine Augen mit Tränen füllten, die meine Sicht verschwimmen ließen. »Edward!«, rief ich nun da ich mir nicht anders zu helfen wusste.

Zwei Sekunden später flog auch schon die Tür auf und Edward und Bella betraten den Raum. Erst jetzt zog ich meine Bettdecke etwas hinauf, um meine Blöße zu bedecken. Ohne etwas zu sagen ging er sofort um das Bett herum und tastete ebenfalls nach Anthonys Puls.

»Hat er irgendetwas komisches gesagt oder getan, bevor er einschlief?«, fragte er.

»Du meinst abgesehen davon, dass er überhaupt mit mir geschlafen hat?«

Ich erinnerte mich sofort an das Gefühl seiner Zähne, den kurzen Schmerz, den ich verspürt hatte und die Hitze, die meinen Körper erfasst hatte und wurde rot.

»Er hat dich gebissen?!« Edwards Stimme klang so erschrocken, wie ich mich im ersten Augenblick gefühlt hatte.

Bella setzte sich neben mich auf den Bettrand. »Darf ich?«, fragte sie. Ich nickte verhalten. Sie strich mir meine langen, braunen Haare von einer Schulter auf die andere und begutachtete die Wunde, die wahrscheinlich nicht einmal eine war. »Sieht sauber aus«, sagte sie und Edwards Blick verriet, dass er eine Vermutung gehabt hatte, die sich durch Bellas Feststellung bestätigte.

Plötzlich packte er seinen Enkel an beiden Schultern und rüttelte ihn derart heftig, dass ich kurz zusammen zuckte. »Anthony, wach auf!«, rief Edward noch dazu unsanft. Kaum dass er die ersten Reaktionen zeigte, ließ Edward ihn dann jedoch wieder in die Kissen sinken. »Wo ist das Gegengift?«, fragte er nun deutlich sanfter.

Ich verstand noch immer nur Bahnhof.

Anthony blinzelte und stöhnte dann angestrengt.

»Das Gegengift«, wiederholte Edward.

»Hose«, murmelte Ani.

Edward verschwand kurz unter dem Bett und kam dann mit mehreren kleinen Spritzen wieder hervor. Ohne lange zu zögern, stach er drei davon fachmännisch durch Anthonys Haut.

Wenig später wurde Anis Atem dann wieder flacher und Bella strich mir beruhigend über den Rücken.

Edward jedoch schüttelte den Kopf, dann legte er die Hände in die Hüften. »Das geht so nicht weiter...«, sagte er müde. Er kniff die Augen zu und legte sich den Daumen und den Zeigefinger an den Nasenrücken. »Ich rufe jetzt Carlisle an«, ließ er uns wissen, als er den Raum verließ. Bella sah mich noch einmal freundlich an, dann folgte sie ihm und schloss die Tür hinter sich.

Ich starrte eine Weile auf das Holz, dann hörte ich, wie Anthony sich neben mir bewegte und sah ihn an. Er erhob sich so schwerfällig, als hätte er einen Kater. Ich wollte gerade etwas näher an ihn heranrücken und ihn berühren, da trafen sich unsere Blicke und ich sah in seinen Augen wieder die Kälte, die ich die letzten Wochen über darin gesehen hatte. Das Funkeln, die Liebe, war verschwunden.

»Ani«, hauchte ich nur.

Er schüttelte den Kopf, stand auf, zog sich eilig seine Hose an, nahm dann die restlichen Kleidungsstücke unter den Arm und stürmte aus dem Zimmer.

Ich musterte die Stelle an der er eben noch gesessen hatte. Als ich mit der Hand darüber fuhr, spürte ich die Wärme, die er zurückgelassen hatte – und wurde mir des Loches in meinem Herzen umso mehr bewusst.Ich legte mich auf seine Seite des Bettes und ließ dann den Tränen freien Lauf, die mich an seiner statt in den Schlaf wogen...

 

***

 

Die nächsten Tage waren für mich schwieriger, als all die einsamen Wochen zuvor. Ich hatte eben erst begonnen gehabt, mich damit abzufinden, dass ich ihn verloren hatte. Nun aber, hatte ich ihn für einen kurzen Augenblick wieder gehabt. Es war, als hätte er eine alte Wunde aufgerissen, die wahrscheinlich niemals würde heilen können.

Sein Biss in meine Schulter dagegen war schnell verschwunden gewesen. Wie es dazu gekommen war, erfuhr ich schließlich einige Tage nach dieser Nacht, als wir uns alle, mit Ausnahme von Ani, im Wohnzimmer versammelten. Zum ersten Mal seit langem waren auch Carlisle und Esme anwesend. Auf Edwards Anruf hin, hatten sie so schnell wie möglich die nächste Maschine von Italien nach Forks bestiegen und waren erst vor wenigen Stunden angekommen.

Mit einer Mischung aus Wut, Trauer und Enttäuschung im Blick, zog Edward vier leere Spritzen aus der Tasche und legte sie vor Carlisle auf den Tisch. Carlisle musterte sie argwöhnisch und sah dann fragend zu seinem Adoptivsohn. »Drei davon waren mit seinem Gift befüllt, eine mit meinem«, erläuterte er.

Carlisle verstand sofort. »Er hat eine der Spritzen, die ich zu Testzwecken aufbewahrt hatte benutzt, um sich selbst zu vergiften?«

Edward nickte, fasste sich dann wieder an den Hinterkopf und lief fassungslos und dabei kurz an die Decke starrend durch den Raum.

»Aber warum?«, fragte Jacob. »Warum macht er sowas?«

»Wollte er sich umbringen?«, kam es besorgt von Nessie.

 

»Nein.« Die Antwort kam nicht von Edward oder von Carlisle, sondern von Anthony selbst, der nun plötzlich im Türrahmen stand und alle Blicke auf sich zog. Langsam schritt er anschließend durch den großen Raum, nahm jene Spritze, in der Edwards Gift gewesen war, musterte sie und drehte sie langsam in den Fingern, während er sprach. »Als ich...«, er zögerte kurz, »... tot war... wurde mir klar, dass die Prägung nicht an mich selbst gebunden ist, sondern an den Werwolf in mir. Für einen kurzen Augenblick war ich wieder ich selbst, doch kaum, dass mein Herz wieder schlug, war da wieder diese Schwerkraft.« Er legte die Spritze zu den anderen auf den Tisch, ohne jedoch den Kopf zu heben. »Ich dachte, einen Versuch ist es wert.« Dann sah er für einige Sekunden zu mir und lächelte kurz. »Und es hat funktioniert.«

»Das hätte aber auch gewaltig schief laufen können«, sagte Jacob mit einem Anflug von Wut in der Stimme.

»Ich war vorbereitet«, versicherte Ani.

Nun war es Edward der kurz zu mir sah, ehe er seine nächsten Worte an Anthony richtete. »Du hast dein gesamtes Gift gesammelt, bevor du damit angefangen hast. Ich nehme an, du hattest also vor, das längerfristig durchzuziehen?«

Anthonys Augen verengten sich kurz zu schlitzen, wohl wissend, dass er damit nun nicht mehr durchkommen würde.

»Nein!«, fuhr Jacob dann auch direkt dazwischen und nahm seinen Sohn bei den Schultern. »Das machst du nicht. Das grenzt doch an Suizid!«

Nun erhob sich auch Carlisle. »Es tut mir Leid, Anthony, aber ich kann dieses Vorhaben nicht unterstützen.«

Anthony funkelte ihn finster an. »Denkst du wirklich es kümmert mich, was du dazu zu sagen hast? Du warst Monate weg und jetzt stehst du auf einmal hier und willst mir deinen ärztlichen Rat geben?«

»Ich sage das nicht als dein Arzt, sondern als dein Urgroßvater«, stellte Carlisle klar, seine Stimme sanft wie eh und je.

Noch ehe Ani antworten konnte, griff Jake erneut Anis Schultern. »Wenn ich für ein paar Wochen verhindern kann, dass du das nochmal machst, zerstöre ich notfalls alle Spritzen in diesem Haus!«

»Und wenn schon. Ob ich ein Gegengift parat habe oder nicht, ich würde es trotzdem tun«, sagte Ani daraufhin. »Dann habe ich meinen Tod wenigstens selbst gewählt, anstatt langsam einzugehen, weil ich mich nicht irgendwelchen Genen beugen möchte.«

Daraufhin rutschte Jake plötzlich die Hand aus. Die Ohrfeige kam für ihn so plötzlich, wie für uns alle. Anthony fasste sich erschrocken an die Wange und sah seinen Vater verständnislos an. Eine einzelne Träne glitzerte im Augenwinkel des Auges auf dessen Seite Jake ihn erwischt hatte.

»Sag so etwas NIE. WIEDER!«, mahnte Jake mit erhobenem Zeigefinger.

Anthony ging einen Schritt zurück, machte dann auf dem Absatz kehrt und verließ den Raum. Noch bevor er ganz durch den Türrahmen getreten war, war er bereits unsichtbar.

Jake starrte daraufhin nur noch auf die Stelle, an der er eben gestanden hatte und dann auf seine Handfläche. Renesmee kam zu ihm, nahm seine Hand in ihre und gab ihm einen sanften Kuss.

»Es ist okay«, versuchte sie ihm gut zuzureden. »Es ist okay.«

»Nein«, antwortete er. »Es ist nicht okay, es ist nicht okay...« Müde ließ er sich auf der Couch nieder, vergrub das Gesicht in seinen Händen und krallte dabei seine Finger in sein schwarzes Haar. Renesmee ließ sich neben ihm nieder und strich ihm über den Rücken.

»Ja«, sagte Edward so, als antwortete er auf Jakes Gedanken und beendete die aufgekommene Stille. Alle sahen ihn fragend an. »Es wirkt wie ein böses Déjà-vu.«

Jacob hob wieder den Kopf. Sein Gesicht war rötlich und seine Augen funkelten. »Ich verliere ihn wieder«, sagte er verzweifelt. »Warum? Warum muss das sein? Es war so schön die letzten Jahre. Alles war Gut. Und jetzt das?«

»Das weiß niemand«, sagte Esme. »Nicht einmal Alice könnte dir das sagen.«

 

 

 

Über das ‚Warum?‘ dachte ich noch sehr lange nach. Nicht nur an diesem Tag, sondern auch an denen, die darauf folgten.

 

Es dämmerte bereits und die Sonne tauchte den Himmel in feuerrotes Licht, als ich auf einer kleinen Wiese in der Nähe unseres Hauses auf einem Stein saß und mit geschlossenen Lidern dem Wind lauschte, der durch die Gräser zog.

Erst als ich spürte, dass ich nicht mehr länger allein war, öffnete ich langsam die Augen. Seinen Geruch würde ich unter Millionen erkennen.

»Du hast es schon wieder gemacht.« Es war keine Frage, sondern eine Feststellung. Er saß neben mir. Im Augenwinkel sah ich, dass er nickte, ohne mich dabei anzusehen.»Ich will das nicht«, sagte ich und starrte dabei ebenfalls geradeaus.

»Was?«, fragte er und drehte seinen Kopf nun doch in meine Richtung.

»Du musst das nicht für mich tun, Anthony«, sagte ich.

»Aber ich will«, er betonte das letzte Wort so deutlich, dass auch ich mich zu ihm drehte. Ich sah ihm in die Augen und erblickte wieder dieses Feuer. Ich musste an den Kamin in Volterra denken, an unsere erste gemeinsame Nacht und spürte, wie mein Herz schneller zu schlagen begann.

Dann nahm er plötzlich meine beiden Hände in seine und sah mich eindringlich an. Wie konnte ich ihm widerstehen, wenn er mich so ansah? »Ich will lieber drei Stunden mit dir verbringen und dann in deinen Armen sterben, als mein Leben mit jemandem zu verbringen, den mir die Natur aufzwingt.«

»Aber Ani-«, setzte ich an.

Er drückte seine Lippen auf meine und unterband damit jedes weitere Wort. Zuerst wehrte ich mich noch dagegen, doch mein Widerstand schwand schnell. Wenige Sekunden später war er dem Feuer gewichen und wir beide gemeinsam im Wald verschwunden, wo wir uns, gut verborgen vor der Welt, liebten als blieben uns tatsächlich nur noch drei Stunden.

 

Es war finstere Nacht und die Sterne blitzten hier und da durch die dichte Baumkrone über uns, die wir noch immer nackt im Moos lagen. Er stütze seinen Kopf mit einem Arm ab, während er mit der freien Hand in kleinen Kreise über meine helle Haut fuhr.

»Warum erkennt man die kostbarsten Dinge erst dann, wenn man im Begriff ist, sie zu verlieren?«, flüsterte er mit einem Hauch von Schmerz und Trauer in der Stimme.

Ich wusste nicht, was ich dazu sagen sollte, daher schwieg ich und sah hinauf ins Blätterdach. Erst als er seine Berührung einstellte und ich im Augenwinkel sah, wie er sich langsam aufsetzte, erhob auch ich meinen Oberkörper. Er zog eine der kleinen Spritzen aus dem Kleiderberg der neben uns lag, doch ehe er sie ansetzte, sah er zu mir.

»Was?«, fragte ich leise.

»Ich will das nicht. Es fühlt sich nicht richtig an«, sagte er. »Es ist als würde ich einen Schalter umlegen, der meine Gefühle für dich ausschaltet.«

»Solange es nur deine Gefühle sind und nicht dein Leben, komme ich damit klar«, antwortete ich.

Er zögerte noch einen letzten Moment, dann injizierte er sich das im Mondlicht leicht funkelnde Vampirgift.

Kurz darauf war er dann nur noch damit beschäftigt, sich wieder anzuziehen und verschwand schließlich im Unterholz. Ich blieb abermals allein zurück. Und mit der Einsamkeit kamen die Bedenken. Was war hier wirklich richtig und was war falsch? Ich wusste es nicht. Alles was ich wusste war, dass die letzten paar Stunden wunderschön gewesen waren – und mir wurde klar, dass ich ihm bereits auf diesen Pfad gefolgt war und es für uns nun kein Zurück mehr gab.

 

In den kommenden Wochen lebte ich praktisch nur noch von einer seiner Spritzen zur Nächsten. Ich wartete tagelang und sehnte den Moment herbei, an dem wir uns irgendwo fern von allen anderen in der Abgeschiedenheit trafen. Uns war natürlich klar, dass die Anderen dennoch davon wussten. Ich war nicht in der Lage meine Erinnerungen an diese wundervollen Stunden wegzusperren, wenn ich später ins Haus zurückkehrte und an Edward vorbei lief. Er wusste es und wer keine Gedanken lesen konnte, sah es gewiss in meinen Augen. Doch eine Zeit lang versuchte niemand uns ins Gewissen zu reden. Wahrscheinlich war ihnen bewusst, dass es aussichtslos war.

Es waren bereits einige Tage vergangen, als ich im Halbdunkel die Treppe in unser Stockwerk hinauf lief und im Flur schemenhaft jemanden stehen sah.

»Du weißt, was er gewählt hat.« Es war Jacob.

Ich blieb abrupt stehen. Er schritt aus dem Schatten, so dass ich ihm im Licht des einfallenden Mondes sehen konnte. »Er hat mich gewählt«, sagte ich bestimmt.

»Er hat den Tod gewählt«, erwiderte Jacob und stach mir damit Mitten ins Herz.

Ich antwortete nichts.

Er schüttelte ungläubig ganz leicht den Kopf hin und her.

»Wie kannst du ihn dabei unterstützen, wenn du ihn doch liebst?«

»Wenn du an seiner Stelle wärst und etwas dich zwingen würde, Renesmee aufzugeben, würdest du das genauso wenig zulassen, oder etwa nicht?«, konterte ich.

»Renesmee ist für mich bestimmt. Das wird niemals passieren«, sagte er.

»Und ich bin nicht für ihn bestimmt, das willst du doch damit sagen, nicht wahr?«

Er schwieg, doch sein Schweigen sagte alles.

Ich machte ein paar Schritte in Richtung der Treppe. »Deine Worte sind grausam, Jacob, aber ich weiß, du sagst sie nur, weil du ihn liebst. Wenn Luna an Anthonys Stelle wäre, würde ich wahrscheinlich dasselbe sagen.«

Mit diesen Worten ging ich nach oben und knallte wütend die Tür hinter mir zu, ehe ich an ihr hinab rutschte und das Gesicht in den angewinkelten Knien verbarg.

»Mom?« Lunas sanfte Stimme ließ mich aufhorchen. Sie kam auf mich zu und kniete sich neben mich. »Was ist passiert?«, wollte sie wissen.

Ich zog die Nase hoch und schüttelte den Kopf. »Nichts, Liebes. Alles okay«, log ich und streichelte ihr seidiges Haar. Genau wie die meisten anderen, nahm unsere Tochter die Situation stillschweigend hin. Wahrscheinlich war es ihr lieber, wir blieben auf diese Art mehr oder weniger ein Paar, statt getrennte Wege zu gehen. Und ich verstand sie. Ich verstand sie so sehr, dass es förmlich weh tat in ihre verweinten, grünen Augen zu sehen. Mir war es auch lieber so, als ihn ganz zu verlieren und das obwohl ich wusste, dass wir mit dem Feuer spielten...

 

***

 

»Wie viele Spritzen hast du noch?«, fragte ich, kurz nachdem er den Motor ausgestellt hatte. Wir waren gerade in einem Waldstück dreißig Minuten hinter La Push zum stehen gekommen. Die Fahrt stahl uns kostbare Zeit, aber unsere Ruhe war uns das wert.

»Nur die eine«, sagte er und verstaute sie am seitlichen Fach seiner Fahrertür. Es war die mit Edwards Gift. Die Einzige, die er vor ihm noch hatte verstecken können. »Ich brauche nicht sehr viel davon, wenn ich zu viel nehme, haut es mich zu schnell um.« Er lächelte leicht. Ich fand es aber gar nicht witzig und sah ihn besorgt an.

»Komm schon«, bat er. »Ich weiß was ich tue.«

»Das hoffe ich«, sagte ich.

Einige Herzschläge lang sahen wir einander stumm an, dann nahm er mein Gesicht in seine Hände und zog mich über den Schaltknauf hinweg an sich...

 

Als er mir danach eine Haarsträhne aus meinem etwas verschwitzten Gesicht strich und ich die Befriedigung förmlich in seinen Augen sehen konnte, verschwanden all meine Sorgen und Ängste, als wären sie nie da gewesen.

»Ich liebe dich«, flüsterte ich.

»Ich liebe dich«, erwiderte er, legte seinen Kopf auf meine Brust und schloss die Lider.

Ich strich ihm durch sein schwarzes, nun etwas feuchtes Haar und genoss diesen Moment, in dem ich nichts weiter hörte, als unsere beiden Herzen, die füreinander schlugen.

 

Irgendwann riss ich die Augen dann wieder auf. War ich etwa eingeschlafen? Wie viel Zeit war vergangen? Ich sah mich verwirrt um. Anis Kopf lag noch immer auf meiner Brust. Draußen war es bereits dunkel.

Ich schüttelte ihn vorsichtig und zu meiner Erleichterung reagierte er sofort und blinzelte müde.

»Ani«, flüsterte ich.

»Hm?«, murmelte er verschlafen.

»Wir sind wohl eingeschlafen«, sagte ich.

Nun hob auch er den Kopf und rieb sich die Augen.

»Wie geht es dir?«, fragte ich besorgt.

»Ganz gut«, antwortete er und zog sich dann mangels Platz etwas unbeholfen an.

»Du solltest jetzt das Gegengift nehmen«, sagte ich und reichte ihm seine Jacke.

Er griff danach, hielt dann aber in seiner Bewegung inne. »Ähm... jaaa...«, kam es dann langgezogen.

»Was?«, fragte ich nervös und zog mir ebenfalls rasch etwas an.

Er griff in seine Jackentasche. »Verdammt«, zischte er dann.

Mir schwante böses. »Sag nicht, die Spritze war da drin.«

»Doch«, antwortete er und zog nur noch einzelne Splitter aus seiner Tasche. Das Gift war in den dunklen Stoff gesickert und kaum noch sichtbar. Die filigrane Spritze hatte unser Techtelmechtel nicht überlebt.

Ani stöhnte entnervt und strich sich dann über die Stirn.

»Okay«, sagte ich. »Kein Problem. Wir fahren jetzt erstmal nach Hause.« Er nickte und wollte gerade ans Steuer, da schob ich meinen Arm zwischen ihn und das Lenkrad. »Ich fahre.«

Er zögerte, ließ mich dann aber gewähren und nahm auf dem Beifahrersitz platz.

 

Die nächsten dreißig Minuten fühlten sich für mich an, als wären es drei Tage. Ich sah abwechselnd von der Frontscheibe zum Rückspiegel und dann zu ihm. Die erste Viertelstunde verlief glücklicherweise reibungslos, erst dann begann er allmählich an Körperspannung zu verlieren, ja förmlich einzuschlafen und ich wusste, dass diese Müdigkeit nur die Vorstufe zu den Schmerzen waren.

»Ani?«, fragte ich besorgt.

»Ist okay«, sagte er leise, ohne die Augen dabei zu öffnen. »Fahr einfach weiter.«

Ich gab mein Bestes seinem Wunsch nach zu kommen, doch fiel es mir schwer, mich auf die Straße zu konzentrieren. Dementsprechend froh war ich, als ich in einigen Metern Entfernung die Villa erblickte und schließlich in den Hof fuhr. Ich schaltete nicht mal den Motor, geschweige denn das Licht aus, sondern riss einfach nur meine Tür auf, um es mit seiner gleich zu tun.

Noch ehe ich ihn berührte, stand auch schon Edward neben mir und half mir, ihn vom Beifahrersitz zu ziehen. »Warte«, sagte er, hob ihn hoch und trug ihn ins Haus.

 

An alles was danach geschah, konnte ich mich später kaum noch erinnern. Irgendwer hatte mir ein Wasserglas gereicht und dann saß ich auch schon gemeinsam mit den anderen im Wohnzimmer und wartete ungeduldig auf Edward, der mit Renesmee und Jacob in Carlisles Arbeitszimmer verschwunden war.

Als er nach einer gefühlten Ewigkeit ins Wohnzimmer kam, sahen wir alle besorgt auf. Er zog sich einen kleinen Stöpsel aus dem Ohr, ehe er sprach. Wahrscheinlich hatte er damit mit Carlisle geredet, der längst wieder mit Esme nach Volterra zurückgekehrt war.

»Ich konnte das Gift neutralisieren. Es geht ihm den Umständen entsprechend gut«, ließ er uns wissen. Die Anspannung im Raum fiel sogleich ab, nur um kurz darauf wieder anzusteigen. »Aber...«, begann er und hielt kurz inne. »Ich bezweifle, dass er so schnell wieder auf die Beine kommen wird.«

»Was?«, fragte Mariella. »Warum?«

Er zögerte, dann trat er näher an mich heran. »Es ist vorbei, Sangreal.«

Ich warf einen verwirrten Blick zu Jake und dann wieder zu Edward. »Sein Körper ist am Ende seiner Kräfte. Er wehrt sich noch immer gegen die Prägung, aber sie zehrt sehr an ihm. Wenn er das in seinem Zustand noch einmal macht, kann ich für nichts garantieren.«

Ich verharrte einen Augenblick, dann nickte ich ihm geistesabwesend zu.

»Es tut mir leid«, fügte er hinzu und legte mir mitfühlend eine Hand auf die Schulter, ehe er zusammen mit den meisten anderen den Raum verließ.

Zu meiner Überraschung war es ausgerechnet Mariella, die zurückblieb. Sie wirkte so, als wollte sie etwas ganz dringend loswerden und ich sah sie erwartungsvoll an.

»Sangi...«, begann sie dann etwas zögerlich. »Du weißt, wir hatten nicht den besten Start, aber ich möchte, dass du weißt, dass ich mir das für dich nie gewünscht habe. Ich weiß, dass er dich geliebt hat... als... na ja...«

»Als er es noch konnte...«, beendete ich ihren Satz traurig für sie.

 

 

***

 

Am darauffolgenden Morgen wachte ich, mit dem Kopf auf Anis Bett, in Carlisles Arbeitszimmer auf. Er war noch immer ohne Bewusstsein und seine Haut fast so hell, wie die weiße Bettwäsche in der er lag.

Eine Weile sah ich ihm stumm beim Atmen zu. Beobachtete, wie seine Brust sich langsam hob und senkte. Dann rückte ich etwas näher an ihn heran und streichelte ihm durch sein schwarzes Haar. Ich wollte sie zurückhalten, doch nach und nach bahnten sich einige heiße Tränen ihren Weg aus meinen Augen und über meine Wangen.

»Weißt du«, begann ich dann, ungeachtet dessen, ob er mich würde hören können oder nicht, leise zu ihm zu sprechen. »Von dem Moment an, an dem ich dich das erste Mal sah, in diesem großen, weiten Saal, wusste ich, dass da etwas Besonderes zwischen uns war. Ich war mir immer sicher, dass du der Richtige für mich bist. Jetzt frage ich mich, lag ich all die Jahre falsch? Warst du immer für jemand anderen bestimmt?

Vor dir, war ich nur eine leere Hülle, gelenkt von denen, die mich nur benutzt haben, denen ich blind vertraute und von denen ich dachte, dass sie mich liebten. Du hast mir nicht nur das Leben gerettet, du hast mein Leben erst lebenswert gemacht. Und auch wenn du jetzt fortgehst, dieses Leben wird immer dir gehören, denn ich werde dich immer lieben.«

Kurz nach meinen letzten Worten, gab ich ihm einen Kuss auf die Stirn, ehe es an der Tür klopfte. Ich wischte mir ein paar Mal über die Augen, in dem Versuch, meine Tränen wegzuwischen, da öffnete sich bereits die Tür und unsere Tochter trat langsam und sehr leise ein.

»Mom«, begann sie und faltete die Hände vor sich. »Ich...«, sie zögerte. »Ich werde jetzt gehen und sie herholen.«

Meine Tochter musterte mich stumm, nachdem sie ihren Satz beendet hatte. Sie sprach den Namen nicht aus, doch ich wusste, von wem sie sprach. Es war keine Frage gewesen und doch kam es mir so vor, als wartete sie auf meine Erlaubnis, nun da sie mich so ansah. Und ich wusste, dies war keine Entscheidung, zwischen Helena und mir, die ich nun zu treffen hatte. Dies war eine Entscheidung zwischen dem Leben und dem Tod...

[Luna] Tagundnachtgleiche

 

„Mom?“, fragte ich zögerlich, nachdem ich sie eine Zeit lang angesehen hatte. Sie stand da und rührte sich nicht, wirkte tief in Gedanken versunken. Niemals hätte ich einfach so gehen können, ohne ihren Segen, wenn man es denn überhaupt so nennen konnte. Ihn zu verlieren war bestimmt das Letzte, wofür sie ihren Segen geben wollte, aber genau wie der Rest von uns, wusste meine Mutter, dass es die einzig richtige Entscheidung war.Langsam, ganz langsam, hob sie den Kopf, nachdem sie minutenlang ins Leere gestarrt hatte, dann nickte sie. Ein stummes Nicken, mehr war es nicht und mehr brauchte ich auch nicht.Ohne ein weiteres Wort drehte ich mich um und ging. Ich sah nicht mehr zurück, denn ich wusste, wenn ich mich jetzt umdrehte und meine Eltern so zusammen sehen würde, würde ich mich wahrscheinlich nicht mehr dazu durchringen können, zu gehen und das zu tun, wovor ich mich seit einer gefühlten Ewigkeit fürchtete. Aber ich wusste, ich hatte keine Wahl. Ich hatte sie nie gehabt und mein Vater genauso wenig... Ich ging gerade die letzten Stufen ins Erdgeschoss hinab, da sah ich Edward neben der Treppe auf mich warten. „Bist du dir sicher, dass du das tun willst?“, fragte er. Ich will es nicht, antwortete ich ihm in Gedanken. Aber ich muss. Dann verließ ich endgültig das Haus.

Niemand folgte mir.Noch im Hof, griff ich in meine Tasche und zog mein weißes Smartphone heraus, um auf Billy-Sues Namen zu tippen und ihr eine Nachricht zu schicken: Bist du Zuhause? Ich brauche deine Hilfe. Sie antwortete unverzüglich und kurz und bündig: natürlich. Also ging ich zu meinem nächstgelegenen Kleiderdepot. Als Wolf war ich schneller als zu Fuß oder mit öffentlichen Verkehrsmitteln. Daran, irgendjemanden aus meiner Familie zu bitten, mich zu fahren, hatte ich gar nicht gedacht. Es war für mich so selbstverständlich, mich auf diese Weise fortzubewegen, wenn ich es ganz besonders eilig hatte.Die Viertelstunde, die ich normalerweise bis nach La Push brauchte, hatte ich durch meine Abkürzungen über Stock und Stein in gut der Hälfte der Zeit zurückgelegt und mich sofort nach meinem Ankommen umgezogen. Ich versuchte nicht weiter über die Konsequenzen dessen nachzudenken, was ich da gerade tat, als ich zu Billys Haus ging. Bereits in der Ferne sah ich sie auf der kleinen Holzveranda vor ihrer Haustür stehen. Sie wirkte nervös, aber das war auch kein Wunder, schließlich hatte ich ihr nicht erzählt warum und bei was ich ihre Hilfe brauchte. „Was ist los?“, war dementsprechend auch direkt die erste Frage, die sie mir stellte. Ich sah sie traurig an. „Dad geht es schlechter. Ich kann das nicht mehr länger mit ansehen. Ist deine Schwester da?“ Billy schüttelte den Kopf. „Nein, tut mir leid.“ „Mist“, zischte ich. Billy sah traurig auf die Holzdielen der Veranda. „Hast du dann vielleicht irgendwo Helenas Nummer?“, fragte ich dann. Wieder ein Kopfschütteln, dieses Mal sah ihr Blick noch verzweifelter aus. „Die hat Madeleine bestimmt in ihrem Handy und das hat sie während ihrer Schulstunden immer aus, ich kann ihr also auch keine Nachricht schicken.“ Ich kniff die Augen zusammen. „Verdammt... was mach ich denn jetzt?“Billy sah aus als würde sie angestrengt nachdenken. „Mhm... Mom hat ihr doch damals, als wir sie zum ersten Mal gesehen haben, Unterlagen gegeben. Das, was sie daraus herausgearbeitet hat, hat sie uns vor ein paar Tagen wieder gebracht. Vielleicht steht da ja eine Nummer drauf oder wenigstens ihre Adresse?“ Mein Herz machte einen Hüpfer. Wie seltsam es sich anfühlte, dass ich mich über so etwas freute, aber fürs Erste zählte für mich nur, dass es Dad bald besser ging. Zusammen mit Billy ging ich nach oben in Leahs Büro. Es wirkte durch das viele Holz an den Wänden, den Möbeln und dem Boden ziemlich trist und dunkel. Als ich den Schreibstuhl vor dem Fenster sah, fragte ich mich einen Moment, ob mein Onkel hier auch mal gesessen hatte. Billy ging um den Schreibtisch herum und verdeckte dabei einen Teil des Fensters, wodurch der Raum noch mehr an Helligkeit einbüßte. Sie zog eine Schublade auf, kramte kurz darin herum und zog dann eine grünliche Arbeitsmappe hervor. „Das muss es sein“, murmelte sie mehr zu sich, als zu mir. „Zeig mal“, sagte ich dann, woraufhin sie mir die Mappe überreichte. Im Augenwinkel sah ich noch, wie ein paar zusammengetackerte Papiere herausrutschten, nach denen Billy sich sogleich bückte. Ich kümmerte mich nicht darum. Helenas komische Hausarbeit über die Quileute, oder was immer sie da auch fabriziert hatte, interessierte mich nicht im Geringsten, alles, was ich wollte, war eine Kontaktmöglichkeit. Doch der kleine Bereich, in dem man normalerweise Name und Adresse notieren konnte, war nicht ausgefüllt und auch sonst fand ich nichts, was mir weiterhalf. Ich spürte schon wieder die Verzweiflung in mir aufkeimen, als ich Billy-Sues Stimme vernahm.„Moment mal...“, murmelte diese.„Was?“, fragte ich mehr oder weniger beiläufig, ohne dabei den Blick von der blöden Mappe zu nehmen, die wider Erwarten keine Telefonnummer für mich enthielt.„Sieh dir das mal an, das könnte interessant sein“, sagte sie. Jetzt machte sie mich aber neugierig. Ich ging um den Schreibtisch herum und starrte auf das Blatt in ihrer Hand. Dabei stach mir direkt eine Stelle ins Auge, auf der ein kleiner Kaffeefleck war. Ganz so, als wolle das Schicksal darauf aufmerksam machen.„... anders als viele andere indianische Stämme, hat Magie eine eher unbedeutendere Stellung im Leben der Quileute. Abgesehen der im Kapitel 3 erwähnten 'Geisterwölfe', finden sich nur noch diverse kleinere Zauber und Mixturen, die zumeist in Zusammenhang mit eben jenen geisterhaften Raubtieren stehen. So wird in den Aufzeichnungen unter anderem ein Trunk erwähnt, der die Wandlung in ein Tier verhindern soll und so ein normales Leben ermöglicht.“ Wir musterten gemeinsam stumm das Papier und ich hätte schwören können, dass auch Billy die Zeilen noch einmal las, um sich zu vergewissern, dass das, was sie glaubte gelesen zu haben, auch wirklich da stand. „Hast... hast du davon schon mal etwas gehört?“, fragte ich dann unsicher. Ich wollte mich nicht trügerischen Hoffnungen hingeben, trotzdem spürte ich bereits, wie sie in mir aufkeimte. „Nein, noch nie. Weder von meiner Mum, noch von sonst jemandem.“„Aber Leah hat ihr die Unterlagen doch gegeben?“, stocherte ich weiter. Billy kratzte sich nachdenklich am Unterarm. „Ich weiß, aber vielleicht.... na ja, weiß sie, dass es nicht stimmt... vielleicht ist es nur eine Legende, verstehst du?“Und da war sie, die Nadel, die meine Träume zum Platzen brachte. Doch so einfach gab ich mich nicht geschlagen. „Du meinst so wie Vampire und Werwölfe?“ „Na jaaa...“, murmelte sie langgezogen, während ich die Unterlagen zurück in die Mappe schob. Ich packte sie am Handgelenk. „Egal. Komm, wir gehen“, kam es von mir im Befehlston, dann zog ich sie die Treppe runter und zur Tür hinaus.„Wohin gehen wir?“, fragte sie unsicher und warf einen Blick auf die grüne Mappe in meiner Hand.„Zur Reservatsschule. Deine Mutter zur Rede stellen.“Keine fünf Minuten später standen wir vor dem kleinen Schulgebäude. Die nächste volle Stunde war noch weit entfernt und die Schüler damit mitten im Unterricht. Meine Geduld war in diesen Tagen aber recht knapp bemessen und so begann ich langsam auf und ab zu gehen. Billy dagegen, blieb weitestgehend an einer Stelle stehen. „Du denkst doch nicht wirklich, dass Mum das mit Absicht verheimlicht hat, um ihm eins auszuwischen?“Ich blieb abrupt stehen. „Was?“

Natürlich, ein kleines bisschen war ich schon verwundert darüber, dass wir eine solche Information einer Schularbeit verdankten und nicht der offensichtlichen Quelle selbst, doch soweit, ihr Boshaftigkeit zu unterstellen, war ich gar nicht gegangen. Billy schien sich aber sehr gut an unsere Anfänge zu erinnern... „Na ja“, erklärte sie traurig. „Ich hab doch seine Erinnerungen gesehen. Mum hat ihn für Dads Tod verantwortlich gemacht.“

Ich legte Billy eine Hand auf die Schulter und schüttelte den Kopf. „Das war mal. Ich glaube nicht, dass Leah Dad ins offene Messer laufen lassen würde.“

„Hab ich da etwa meinen Namen fallen hören?“ Leahs Stimme ließ uns beide aufhorchen und gleichzeitig den Kopf in ihre Richtung drehen. Sie stand plötzlich mit ihrer kleinen Aktentasche unterm Arm in etwa zwei Metern Entfernung zu uns und hatte einen Arm in die Hüfte gestemmt und ihr Gewicht verlagert.

„Mum“, rief Billy aus. Leah ging auf ihre Tochter zu und strich ihr mit der freien Hand durchs Haar. „Hey“, begrüßte sie sie. „Ich hab’ gerade eine Hohlstunde und im Klassenraum ein paar Aufsätze korrigiert. Jetzt aber raus mit der Sprache, was ist denn los?“Sie sah von Billy zu mir, doch ich zögerte, als ihr Blick auf mir ruhte. Was, wenn Billy recht hatte? Wenn Leah es wirklich für Mumpitz hielt?Da mein Mund geschlossen blieb, übernahm Billy das Reden. „Luna hat vorhin nach Helena gefragt, weil es Anthony schlechter geht.“ Leahs Augen wurden bei dieser Information größer, dennoch unterbrach sie ihre Tochter nicht. „Bei der Suche nach Kontaktdaten, sind wir auf etwas Komisches gestoßen.“„Etwas Komisches?“, fragte sie mit einer Spur von Neugierde in der Stimme.Ich schlug Helenas Unterlagen auf, hob sie ihr unter die Nase und zeigte dabei auf den betreffenden Absatz. „.... unter anderem ein Trunk erwähnt, der …. und so ein normales Leben ermöglicht ….“, murmelte Leah, während sie las. „Was hat es damit auf sich?“, fragte Billy, doch Leahs verwundertes Gesicht sprach Bände. Für sie schien das genauso neu zu sein, wie für uns. „Keine Ahnung, tut mir leid...“Ich konnte förmlich spüren, wie etwas in mir schwand. Dieses kleine Fünkchen. Dieses Fünkchen Hoffnung, das bis eben noch glimmte, war mit einem Mal erloschen. Von einem kleinen Windhauch ausgeblasen, wie eine Kerze, auf einer überzuckerten Geburtstagstorte... „Aber ich weiß da jemanden, der uns vielleicht weiterhelfen kann“, sagte Leah dann und ich hob überrascht meinen Kopf und starrte sie an. Sie lächelte ein sanftes Lächeln. „Die Unterlagen hat Rain zusammengestellt. Sie wird uns bestimmt sagen können, woher diese Information stammt.“ Rain, das war die Tochter meiner Großtante Rachel, Opa Jacobs ältere Schwester, die mit einem Werwolf, Paul, verheiratet war. Sie lebte zusammen mit ihrer Schwester Raniah unweit von Billys Zuhause entfernt und pflegte eine enge Verbindung zu Leah, so erzählte diese auf dem kurzen Weg dorthin. Ich hatte indes kaum Kontakt zu meinen Verwandten in La Push gehabt. Für mich waren es nur Namen, die nur dann ein Gesicht bekamen, wenn ich die Personen in den Erinnerungen meiner Familienmitglieder gesehen hatte, aber nicht mal mein Vater schien je viel mit ihnen zu tun gehabt zu haben. Sie lebten ihr Leben und wir unseres. So einfach war das. Nach kurzem Klingeln öffnete vor dem Haus der Lahotes eine Frau mit langem, schwarzem, seidig glattem Haar und rostrotem Teint die Tür. „Hallo“, begrüßte sie uns mit Blick auf Leah und Billy und schien dabei wenig erstaunt über ihren Besuch. Erst als sie mich sah und ihre Augen kurz größer wurden, schien sie zu ahnen, dass wir nicht zum Kaffeetrinken oder Plaudern hier waren. „Lu-luna?“, stotterte sie leicht. Ich nickte. Obwohl wir uns kaum kannten, wusste sie sofort, wer ich war. Ich tippte einfach mal darauf, dass sie anhand meiner grünen Augen und meiner hellen Haut eins und eins zusammengezählt hatte. Diese Augen hatte es in La Push, vor Billys Geburt zumindest, wohl nur einmal gegeben und zwar im Gesicht meines Onkels, der gleichzeitig ihr Stammesoberhaupt und Neffe gewesen war. „Wir bräuchten mal eben deine Hilfe, hast du gerade Zeit?“, fragte Leah. Rain oder Raniah, ich wusste nicht, welche der beiden Töchter Rachels es war, öffnete die Tür noch etwas mehr und bat uns herein. Wir nahmen daraufhin in einer kleinen grünen Küche Platz, wo sie jedem von uns ein Glas auf den Tisch stellte. „Was ist los? Ist etwas passiert?“, fragte sie währenddessen etwas nervös. „Wir hatten doch mal eine Informationsmappe über die Quileute zusammengestellt, um sie Touristen und anderen Interessierten näher zu bringen, erinnerst du dich?“Ihr Gegenüber nickte. „Ja“, antwortete sie und schenkte derweil jedem etwas Limo ein. „Was ist damit?“„Nun, es gibt da eine Zeile, die uns stutzig gemacht hat“, erklärte Leah, blätterte abermals die betreffende Seite auf und deutete auf den Satz. „Hier.“ Jakes Nichte las die Buchstaben mit Sorgfalt, sagte jedoch nichts dazu. „Kommt dir das bekannt vor? Was hat es damit auf sich?“, wollte Leah wissen.Doch auch sie zuckte mit den Achseln. In meinem Magen machte sich ein ungutes Gefühl breit. Achselzucken konnte ich schon jetzt nicht mehr sehen. Warum wusste niemand etwas über diese Zeile, wo hier doch praktisch jeder jeden kannte und sich Gerüchte gewiss wie ein Laubfeuer verbreiteten? Die Verzweiflung in mir schlug so langsam in Fassungslosigkeit und Wut um. Es war nicht so, dass ich mich gleich verwandeln würde und den Tisch umriss, aber still sitzen konnte ich trotzdem nicht mehr. Wütend schlug ich plötzlich auf den Tisch, sodass all unsere Gläser wackelten und ein paar überschwappten. „Verdammt noch mal, du hast doch diese Mappe gemacht, hast du dir die Informationen aus den Fingern gesaugt, oder was?“„Luna“, mahnte Leah etwas angesäuert und zog mich wieder auf den Stuhl zurück. „Bitte beruhig dich. Es hilft hier niemandem, wenn du Rains Einrichtung demolierst. Anthony am allerwenigsten.“„Schon okay“, murmelte ich und verschränkte die Arme vor der Brust. „Anthony? Was ist mit ihm?“, fragte Rain mit einem besorgten Ausdruck auf dem Gesicht. „Er ist vor einer Weile geprägt worden, wehrt sich aber dagegen. Wenn wir nichts unternehmen, stirbt er vielleicht“, erklärte Leah ruhig und sachlich. Mir war unbegreiflich, wie ihr diese Worte einfach so über die Lippen kamen. Ich wollte sie nicht mal ansatzweise denken. Ich wollte nichts von dem Wissen, was passieren könnte, wenn ich keinen Weg fand. Ich spürte, wie meine Augen langsam glasig wurden und abermals Tränen in ihnen aufstiegen.„Ich verstehe“, war Rains knappe Antwort.„Gar nichts verstehst du“, rutschte es mir über die leicht zitternden Lippen, ohne dass ich weiter darüber nachgedacht hatte. Beim nächsten Mal blinzeln flossen salzige Tränen über meine Wangen. „Du bist doch glücklich mit der Prägung deiner Eltern.“Rain legte die Hände gefaltet auf den Tisch. „Das stimmt“, antwortete sie mit fester Stimme und lächelte dabei sogar leicht. „Ohne sie, gäbe es mich wohl nicht. Aber hätte Anthony sich früher geprägt, gäbe es wiederum dich nicht. Wir haben alle unseren Lebensweg. Jeder für sich. Und was für den einen Freude bedeutet, ist für den anderen Leid.“ Sie machte eine kurze Pause, sah dabei zur Decke. Dann wanderte ihr Blick wieder zu mir zurück. „Weißt du... ich war da, damals, an diesem Lagerfeuer, an dem Renesmee am selben Abend erfuhr, dass sie schwanger ist. Natürlich haben wir das erst etwas später erfahren. Ich erinnere mich daran, dass es zuerst für Aufruhr gesorgt hatte, dass ausgerechnet in Jakes Nachkommen, den Erben von Ephraim Black, vampirisches Blut fließen würde. Doch spätestens als wir die Drei dann sahen, verflogen diese Gedanken. Sie waren ein Teil von uns und letzten Endes trug Anthony Ephraims Namen in seinem Eigenen und Will dessen Rolle als Häuptling. Die Welt besteht nun mal nicht nur aus schwarz und weiß.“Sie lächelte noch immer und als sie geendet hatte, zwang ich meine Mundwinkel etwas nach oben, doch so richtig gelang es mir nicht. „Trotzdem sehe ich gerade ziemlich schwarz... tut mir leid“, flüsterte ich. Sie legte eine ihrer, für mich kalten, Hände auf meine. „Verständlich, aber vielleicht hab ich da jemanden, der etwas Farbe reinbringen kann“, redete sie mir gut zu und zwinkerte dann. Verwundert hob ich den Blick und beobachtete dann, wie sie ihr Handy aus der Tasche zog und schnell eine Nachricht tippte. Dann legte sie es wieder weg. „Will jemand Tee oder Kaffee?“, fragte sie kurz darauf, als hätte es das tiefsinnige Gespräch, das wir vor wenigen Minuten geführt hatten, nie gegeben. Ich starrte sie mit offenem Mund an und drehte mich dann eben so irritiert zu Leah um, die mich – erneut achselzuckend – ansah. Zehn Minuten später hörten wir, wie die Haustür sich öffnete und wieder ins Schloss fiel, dann betrat eine ältere Dame mit langem grauen Haar die Küche. „So, entschuldigt, dass es nicht eher ging“, sagte sie und stellte eine Einkaufstasche auf der Küchenzeile ab, ehe sie zu Rain hinüber ging und die beiden Wangenküsschen austauschten. Danach wiederholte sie die Prozedur mit Billy und Leah. Mir gab sie dagegen nur die Hand. „Hallo, Luna“, begrüßte sie mich. Ich sah sie etwas mürrisch an. Ihre gute Laune behagte mir gar nicht. Was war nur los mit diesen Leuten? „Oh, du bist warm“, merkte sie an. „Hybrid“, nuschelte ich nur, verschränkte die Arme wieder und sank etwas tiefer in den Stuhl. „Mutter, hast du mitgebracht, worum ich dich bat?“, fragte Rain. Rachel, wie mir nun klar wurde, griff zur Antwort in ihre Tasche und zog ein etwas mitgenommenes Buch mit einem Umschlag aus Leinen heraus. „Nun schau mich nicht so an, Liebes“, sagte Rachel sanft lächelnd, als sie sich hinter mich stellte, das Buch vor mich legte und an einer Stelle aufschlug, die sie mit einem roten Satin-Band als Lesezeichen markiert hatte. Verdutzt starrte ich nun auf die etwas in die Jahre gekommenen Seiten, auf die mit fein säuberlicher Tinte ein kleiner Text und etwas, das so aussah wie ein Rezept, geschrieben worden waren. „D-das ist“, stotterte ich. „Das Tagebuch meines Vaters“, beendete sie für mich. „In welchem er niedergeschrieben hat, wie er sich selbst davor schützte, zum Werwolf zu werden, weil er Angst hatte, dass seine Beine ihn auch dann nicht tragen und er nur einen wertvollen Platz im Rudel verschwenden würde.“„Ich verstehe nicht...“, sagte Leah nach einem kurzen Moment der Stille. „Ich dachte immer Billy hätte sich sehnlichst gewünscht, ein Werwolf zu sein und war traurig, dass er keiner wurde?“„Das ist richtig“, antwortete sie. „Viele, viele Jahre lang hat er gehofft, die kalten Wesen würden kommen und das Werwolfgen in ihm erwachen. Doch dann starb unsere Mutter. Er war für uns allein verantwortlich und sein Diabetes schränkte ihn mehr und mehr ein, bis es ihn an den Rollstuhl fesselte. Es gab die Eventualität, dass das Gen seine Krankheit heilen würde, aber er hatte seinen Entschluss gefasst. Ich vermute bis heute, dass er es auch unseretwegen tat. Um für uns da zu sein, anstatt auf vier Pfoten durch den Wald zu rennen. Leider hat er darüber kein Wort in seinem Nachlass geschrieben.“„Warum hast du mir nie davon erzählt? Warum.. warum hast du uns allen nie davon erzählt?“Leahs brüchige Stimme lies meinen Blick zu ihr schweifen. Weinte sie etwa fast? „All die Jahre... und ich... wir hatten keine Ahnung? Es gibt die Möglichkeit uns von alle dem zu befreien?“„Ich weiß, du hast dir auch gewünscht, davon befreit zu werden“, bestätigte Rachel. Leah nickte langsam und schloss dabei die Augen. „Ja... bevor ich Will traf. Aber mein Werwolfgen zu unterdrücken, würde das Band zu ihm aufknüpfen und das kann ich nicht tun. Ich will mit dem Schmerz leben und nicht so tun, als hätte es ihn nie gegeben... letztlich, denke ich sowieso nicht, dass es mir jetzt noch helfen würde. Die Prägung war ja nur der Anfang. Inzwischen ist es weit mehr als irgendwelche Gene. Sie zu unterbinden würde nichts bringen, außer dass ich wieder altern würde...“„... und du aussehen würdest wie ich“, lachte Rachel. Leah lächelte ebenfalls leicht. „Ja, das auch.“

Währenddessen musterte ich die Zutatenliste vor mir und spürte bei der Fülle an nichtssagenden Namen Frustration in mir aufsteigen. „Samen einer Douglasie“ und „Blaue Salal“ standen da beispielsweise. Wenigstens mit „Zwei Tropfen frisch gepresster roter Holunder“ und „eine Pracht-Himbeere“ konnte ich etwas anfangen, aber kurz danach kam dann wieder „Rippenfarn“. Und was meinte er mit „Rot der Erle“? Ich seufzte. „Gibt es dazu auch eine Gebrauchsanweisung?“Billy beugte sich neugierig zu mir herüber, um einen Blick auf das Tagebuch zu werfen. Rachel schüttelte, wie ich bereits böse erahnt hatte, den Kopf.„Mein Vater hat, wie ich den Tagebucheinträgen entnehmen konnte, Monate gebraucht, um alles zusammen zu suchen, da die Pflanzen quer über die Staaten verstreut sind und nicht alle zur selben Zeit wachsen.“„Aber wir haben keine Monate“, sagte Billy mit deutlicher Verzweiflung in der Stimme. „Ich weiß“, gab Rachel traurig zu. „Aber das ist alles, was ich diesbezüglich habe. Er hat keine Zutaten und schon gar kein Fläschchen mit diesem Mittel zurückgelassen. Nur das Rezept.“„Ich denke... das muss reichen“, sagte Leah dann. „Es wird“, korrigierte ich sie, nahm entschlossenen Blickes das Tagebuch, stand auf und setzte mich in Bewegung. „Luna, was wird das?“, hörte ich Leah hinter mir fragen. „Je früher wir anfangen, desto besser. Also fange ich sofort an.“„Warte, ich komme mit“, rief Billy. Als nächstes hörte ich, wie ihr Stuhl zurückgeschoben wurde und dann ihre mir eilig folgenden Schritte. ***Bis in die finstere Nacht hinein, durchkämmten Billy und ich anschließend die umliegenden Wiesen und Wälder nach den von unserem Urgroßvater notierten Pflanzen, doch abgesehen von einem Douglasien-Zapfen, den wir mithilfe unserer Smartphones als solchen identifizierten, gingen wir leer aus. „Nun mach dir doch nicht so einen Kopf“, versuchte Billy mich aufzuheitern und legte ihre rostrote Hand auf meine bleiche Schulter. „Lass uns doch erstmal den anderen davon erzählen. Wenn sie uns beim Suchen helfen, finden wir bestimmt alles, was wir brauchen.“Ich setzte mich auf den leicht feuchten Waldboden und drehte den Zapfen in der Hand. „Das ist es nicht.“Billy ließ sich neben mir nieder. „Was ist es dann?“„Was ist, wenn Dad das gar nicht möchte?“- „Was?“„Was, wenn er sein Werwolfgen nicht aufgeben möchte?“Billys Augen wurden größer. Ich fuhr fort und blickte dabei hinauf zum Himmel: „Es war für mich immer so selbstverständlich, zu sehen wie er sich zur Entspannung in die Lüfte hob oder durch die Wälder streunte. Ich habe nie daran gedacht, dass er das eines Tages nicht mehr würde tun können. Was ist, wenn er den Kompromiss nicht eingeht?“„Ich denke, das wissen wir erst mit Sicherheit, wenn wir ihn fragen, meinst du nicht?“Ich sah zu ihr und nickte zaghaft.

Was ich fühlte, als wir wenig später unsere Auffahrt entlang liefen, ließ sich nur sehr schwer in Worte fassen. Vielleicht war es Angst, dass er tatsächlich ablehnen würde. Vielleicht auch ein bisschen Angst davor, dass er es für töricht halten würde, dass ich es überhaupt wagte, so etwas in Erwägung zu ziehen. So lang ich denken konnte, war mein Dad immer mehr Gestaltwandler als Vampir für mich gewesen. Ich hatte ihn nie Blut trinken und selten jagen sehen. Seine Tiergestalten waren mir aber sehr vertraut. Ich wusste, wie sich seine schwarzen Federn anfühlten, die er immer verloren hatte, wenn er als Rabe oder Adler davon geflogen war. Oder wie weich sein Fell war, wenn er mich als Kind aufzuheitern versuchte, indem er sich als Kaninchen auf meinen Schoß setzte. Manchmal, wenn ich wieder in einem Buch versunken war, hatte es sich ein ziemlich großer, schwarzer Kater auf meiner Lehne bequem gemacht und sanft geschnurrt, wann immer ich zwischen den Zeilen Zeit dafür fand, ihn zu streicheln. Nun wünschte ich, ich hätte mir die Zeit öfter genommen... „Luna.“Ich blinzelte. Wir standen vor der Haustür. Renesmee hatte sie bereits aufgemacht und Billy war eingetreten. Nun sahen mich beide verwundert an, wie ich da vor der Tür stand und mich nicht rührte. „Entschuldigung“, sagte ich und trat ein. „Schon okay“, sagte Renesmee, während sie die Tür hinter mir schloss. - „Wo ist Dad?“ Renesmee nickte zur Antwort Richtung Wohnzimmer. Ich runzelte kurz die Stirn. Hatte Edward nicht gesagt, er würde so schnell nicht mehr aufstehen?

Als ich dem Raum näher kam, wurde ich mir des Streitgesprächs darin erst bewusst und lief etwas langsamer.„Ich versteh' dich nicht“, hörte ich Edwards sonst so ruhige Stimme nun etwas lauter als üblich erklingen – in ihr schwang eine gehörige Portion Unverständnis und auch ein bisschen Wut. „Was gibt es da bitte nicht zu verstehen?“ Dads Stimme ließ mich aufhorchen und kurz stehen bleiben. Er war um ein vielfaches leiser als Edward, sodass selbst meine feinen Ohren genau hinhören mussten.Billy trat hinter mich und legte mir eine Hand an den Rücken, woraufhin ich die letzten paar Schritte ging und das Zimmer betrat.Als sie mich sahen, sagte niemand etwas – nicht Dad, nicht Edward und auch nicht all die anderen, die sich ebenfalls hier befanden: Nayeli, Mariella, Jacob, Seth und meine Mutter. Dann sah ich auch, was für den Zwist gesorgt haben mochte: in Edwards Hand befand sich ein undurchsichtiger weißer Becher aus dem ich ganz deutlich menschliches Blut riechen konnte. Ich hatte es noch nie gekostet, aber ich kannte seinen Geruch durchaus. Nichts roch so delikat für uns. Trotzdem, ich war mir Dads Abneigung dessen gegenüber mehr als bewusst. Sie ging so weit, dass er lieber verhungerte, anstatt es zu trinken. Edward wusste das sicherlich ebenso, aber wahrscheinlich war auch er bereit, nach dem letzten Strohhalm zu greifen, den er noch sah. Und Dad lehnte ihn eiskalt ab. Was wenn er mich auch ablehnte?Billy schien meine Zweifel zu spüren, denn just in diesem Moment, gab sie mir einen kleinen Schubser. „Nun mach schon. Trau dich“, murmelte sie leise. Doch egal, wie leise sie auch sein mochte, den guten Ohren meiner Familie entging nichts. Dad, der auf dem Sofa lag und seinen Oberkörper mit den Ellbogen abstützte, sah mich müde an, lächelte jedoch trotzdem. „Luna?“ war alles, was er dann fragte, woraufhin ich langsam näher trat. Noch bevor ich bei ihm war, fiel sein Blick auf das Buch in meiner Hand. Ich schlug es an der Stelle mit dem roten Lesezeichen auf und schob es zu ihm aufs Sofa, ehe ich mich vor ihm auf den Boden kniete. „Das ist Billy Blacks Tagebuch“, sagte ich, was ein Raunen im Raum zur Folge hatte.„Was?“, fragte Jacob als Einziger richtig laut. Ich zog es vor, ihn erst mal zu ignorieren, auch wenn das nicht besonders höflich war, aber damit hatte ich es ja noch nie so.„Er hat darin etwas notiert, das es möglich macht, das Werwolfsgen einzufrieren...“, ich zögerte einen Moment, bevor ich mit ein wichtiges Detail hinzufügte. „Für... immer...“Dieses Mal gab es kein Gemurmel. Nur Stille. Erst nach einer gefühlten Ewigkeit trat Jacob einen Schritt vor. „Na ja... wenn das wirklich stimmt, muss man das natürlich erst mal genau überdenken-“, begann er, wurde jedoch unterbrochen.„Ich mach's“, kam es von Dad, was zur Folge hatte, dass nicht nur ich mich mit großen Augen und leicht geöffnetem Mund zu ihm umdrehte. Jacobs Kinnlade fiel jedoch am Tiefsten. „W-was?“Dad seufzte, sah Jake dann jedoch unverwandt an. „Ich werde es tun“, wiederholte er ruhig und bestimmt. „Das kann doch nicht dein Ernst sein? Der Werwolf in dir ist ein Teil von dir“, sagte Jake ungläubig. „Ich weiß, aber was bringt mir dieser Teil, wenn es bald gar nichts mehr von mir gibt?“, konterte Anthony.„Du weißt, dass es noch einen anderen Weg gibt“, erinnerte Jake ihn.„Nachgeben? Niemals“, knurrte Dad zur Antwort fast.Jake fasste sich an die Stirn. „Das... das ist doch absoluter Wahnsinn!“ Er drehte sich hilfesuchend zu Seth um, doch dieser zuckte nur mit den Achseln.„Hast du etwa keine Meinung dazu?“, stichelte Jake.Seth legte demonstrativ seinen Arm um Mariellas Hüfte und zog sie an sich. „Müsste ich wählen zwischen Mariella und dem Werwolf, würde ich sie wählen. Glücklicherweise muss ich diese Entscheidung in meinem Leben nicht treffen.“Dad schüttelte den Kopf und drehte sich zu Renesmee um. „Und du?“„Werwolf, Vampir, Mensch, Kantor... was ist das schon? Was uns ausmacht, sind unsere Taten, unsere Entscheidungen. Nicht unsere Gene, nicht unsere Rasse, Jake. Ich würde dich auch lieben, wärst du ein Mensch, oder ein Vampir, oder was auch immer.“ Sie ging an Jake und mir vorbei und setzte sich an Anis Kopfende aufs Sofa. „Egal welche Entscheidung du triffst“, sagte sie an Dad gerichtet. „Du wirst immer mein Kind sein.“ Dann warf sie einen festen Blick auf Jake. „Unser Kind.“Jacob ließ die verschränkten Arme sinken. „Ja“, sagte er dann. „Gott, ja natürlich bist du das. Das wollte ich auch nie damit sagen. Ich-“Wieder unterbrach Ani ihn. „Ich weiß“, sagte er leise und lächelte dabei kurz.Jake erwiderte sein Lächeln. „Gut, Luna, was hat mein alter Herr denn alles notiert?“Zur Antwort reichte ich ihm das Buch. „Okay, scheint ja ein ganzer Haufen Grünzeug zu sein“, merkte er an, nachdem er kurz seine Nase hinein gesteckt hatte. „Ja, nur viel Zeit haben wir dafür nicht“, erinnerte uns Edward. Jake sah hinüber zu Anthony, der kurz die Stirn runzelte. „Ich schaff das schon“, versicherte er. Edward schüttelte den Kopf. „Das ist es nicht, was ich meine“, er zeigte mit dem Finger auf eine Zeile ganz unten, „hier steht der Zeitpunkt der Einnahme muss eine Tagundnachtgleiche sein.“„Eine was?“, hakte Billy nach.

„Tagundnachtgleiche“, wiederholte Mariella und fügte dann hinzu: „Auch Äquinoktium genannt. Das ist der Tag, an dem der Tag und die Nacht genau gleich, also exakt 12 Stunden, dauern. Davon gibt es nur zwei im Jahr.“„Und der Nächste ist nicht mehr lange hin“, vervollständigte sie Edward. „Dann müssen wir uns eben beeilen“, sagte Bella zuversichtlich. ***Was darauf folgte, war das Losziehen der gesamten Familie in kleineren Suchtrupps aus mindestens zwei Personen. Tag für Tag, bis in die dunkle Nacht, suchten wir nach allem, was wir benötigten. Was wir in freier Natur nicht fanden, versuchten wir über Apotheken, Feinkost- und Blumenhändler zu beziehen. Selten war es dabei so einfach, wie mit dem roten Holundersaft. Viele andere Dinge brauchten Tage, die eine oder andere Pflanze sogar bis zu drei Wochen, bis wir sie schließlich fanden. Im Kalender sah ich dabei den Tag, den Billy für uns notiert hatte, näher und näher rücken. Es fühlte sich nicht an, als würde uns die Zeit davonlaufen, eher, als verfolgte sie uns. Mit jedem Punkt auf der Liste, der auf einen eben Abgehakten folgte, wurde der Aufwand größer. Mariellas und Seths Ausflug in die Olympic Mountains, um ein paar Nadeln der Purpur-Tanne zu besorgen, war das kleinste Übel. Das Größte stellte ein Strauch mit unaussprechlichem Namen dar, den Schamanen seit Urzeiten zu Heilzwecken nutzten und der sogar ewiges Leben versprach, welcher allerdings nur unter ganz bestimmten Bedingungen wuchs, was ihn zur seltensten Pflanze der Welt machte. Geld war dabei weniger das Problem. Viel eher mangelte es uns zunächst an Kontakten. Über Marcus' altes Wissen über Tausende Vampire, die er in seiner langen Amtszeit als Volturioberhaupt getroffen hatte, gelang es uns schließlich afrikanische Vampire aufzusuchen, die uns, für eine horrende Summe Geld, ein paar Samen dieser kostbaren Pflanze besorgen konnten, doch alles botanische Wissen, das es in Büchern und im Internet nachzulesen gab, half nichts. Die Stelle, an der wir sie eingepflanzt hatten, blieb leer.

Die Ellbogen auf dem Tisch, starrte ich auf die Zutaten, die wir hatten besorgen können. Vom Rippenfarn über das blaue Salal, hatten wir alles aufgereiht, nur dieses komische Kraut fehlte, weil es sich trotz aller Sorgfalt, speziellem Sand und Klima weigerte zu wachsen.

„Das darf doch nicht wahr sein“, knurrte ich, wütend und heulend zugleich und krallte meine Finger in mein Haar. Edward seufzte. Er stand etwa zwei Meter von mir entfernt und starrte nach draußen. „Der Mond ist wunderschön heute Nacht“, sagte er dann leise. Seine Anmerkung wirkte deplatziert in diesem Moment.

„Was?“, flüsterte ich perplex, woraufhin er sich zögernd zu mir umdrehte und mich sanft anlächelte. „Vielleicht solltest du zu ihm gehen.“Ich starrte ihn an, er sah zurück. Ich verstand. Es war vorbei. Wir hatten verloren. Wir alle. Ich löste meinen Blick von ihm und nickte.

Müde und kraftlos stand ich auf und ging, ohne ein weiteres Wort. Ich spürte Edwards Blick und auch die einiger anderer auf mir, als ich die Stufen hinauf ging.

In unserem Wohnzimmer lag meine Mutter schlafend auf dem großen Sofa. Sie war wunderschön, mit dem langen offenen Haar, auf das das hereinfallende Mondlicht fiel. Sie sah friedlich aus und atmete gleichmäßig. Wenn sie wach war, sah sie in den letzten Monaten immer traurig oder besorgt aus.

Die Aussichtslosigkeit, mit der wir uns konfrontiert sahen, zerrte an uns allen, doch an ihr am aller meisten. Wenn Dad sich dafür entschied zu sterben, würden wir ihn alle verlieren. Entschied er sich dagegen für ein Leben mit Helena, bliebe er uns anderen in gewisser Weise erhalten, Mum jedoch, würde ihn so oder so verlieren....Ich wand mein Gesicht Richtung Fenster. Gedankenversunken starrte ich auf die große, helle Scheibe im Nachthimmel. Ich hatte mich schon immer gewundert, warum er mich nach dem Mond benannt hatte. Dass mein Fell weiß sein würde, konnte er ja damals noch nicht wissen, warum also Luna? Langsam, ganz langsam und möglichst leise, öffnete ich wenige Minuten später die Tür zum Schlafzimmer. Auch hier war der Mond, der durch die heruntergelassenen Jalousien hinein schien, die einzige Lichtquelle, doch mir genügte sie. Ganz deutlich sah ich meinen Vater auf der Seite liegend schlafen. In dem großen Doppelbett wirkte er seltsam klein, dafür, dass er sonst fast alle überragte. Als ich näher trat, schlug er plötzlich die Augen auf und ich blieb wie angewurzelt stehen. „Hi... Daddy“, flüsterte ich, da er nichts sagte. „Ich konnte nicht schlafen... ich meine... ich“, suchte ich etwas verlegen nach den richtigen Worten. Nun kam ich mir vor, als wäre ich wieder sieben Jahre alt und hätte einen schlechten Traum gehabt. Und genau wie damals, hob Dad stumm seine Decke, so dass ich mich drunter kuscheln konnte. Im Gegensatz zu damals, war sein Körper jedoch dieses Mal nicht mollig warm, sondern recht kühl und sein Herzschlag war auch nicht so beruhigend wie sonst. Statt des sanften Klopfens, hörte es sich nun an, als hätte er eben frisch einen Marathon hinter sich. Ich fragte mich, ob er vielleicht Schmerzen hatte, tröstete mich dann jedoch notgedrungen damit, dass Edward ihm bestimmt etwas dagegen gegeben hatte und verlor kein weiteres Wort über seinen Zustand. Dass es ihm schlecht ging und ich mir dessen bewusst war, war ihm ohnehin nicht neu. Müde schloss ich stattdessen meine Lider und genoss die Nähe zu ihm. Unabhängig von allem anderen, hatte sie nämlich noch immer eine unglaublich wohltuende Wirkung auf mich. Ich fühlte mich sofort sicher und geborgen, wenn er bei mir war und daran änderte auch diese Prägung nichts. Beim Gedanken, dass ich dieses Gefühl vielleicht bald nie mehr würde spüren können, wurde mir mit einem Mal schrecklich kalt und schwer ums Herz. So sehr, dass mein Körper, ohne dass ich es kontrollieren konnte, von einem Schüttelfrost erfasst wurde und salzige Tränen aus meinen geschlossenen Lidern quollen. „Hey....“, hörte ich Dad sanft flüstern. Er strich die Tränen mit den Fingern weg, zog mich dann näher an sich und legte sein Kinn auf meinen Kopf. Ich drückte mein Gesicht an seine Brust und begann in sein Shirt zu schluchzen, bis ich in einen traumlosen Schlaf hinab glitt. Am darauffolgenden Morgen hatte die Sonne den Platz des Mondes eingenommen und einer ihrer Strahlen fiel direkt in mein Gesicht, als ich den Kopf leicht drehte. Ich schirmte das Licht mit der Hand ab, hob meinen Oberkörper und sah mich im Raum um. Nach und nach dämmerte mir, wo ich mich befand und ich erinnerte mich an die letzte Nacht. Wie schön wäre es jetzt gewesen, wieder klein zu sein? Damals waren die bösen Träume, die mich zu meinen Eltern ins Bett flüchten ließen, am nächsten Morgen immer fort gewesen. Doch dieser Albtraum war ganz real. Ich drehte meinen Kopf in Dads Richtung und sah auf ihn hinab. Er sah aus, als würde er tief und fest schlafen. Dann fing mein Herz plötzlich an in meiner Brust zu hämmern. Was wenn er gar nicht schlief? Mit zittrigen Händen legte ich meine Hand vorsichtig auf seine Schulter. „Dad?“, fragte ich unsicher. Keine Reaktion.„Dad?“, fragte ich daraufhin etwas lauter. Wieder nichts. Von meiner Nervosität nun vollkommen eingenommen, rüttelte ich ihn dann unsanft. „DAD!“In der nächsten Sekunde schnellte er dann plötzlich nach oben, so dass ich beinahe aus dem Bett gefallen wäre. „Warum schreist du so?“, fragte er dann müde. Ich sah ihn mit großen Augen an und er sah zurück, dann kam er selbst drauf. „Nein, keine Angst, ich habe nur ziemlich tief geschlafen, Prinzessin.“Trotz allem musste ich daraufhin lächeln. „Das hab’ ich gemerkt.“Ich wollte gerade noch etwas sagen, da flog die Zimmertür mit einem mal auf. „Ani!“, brüllte Mum atemlos, als sie hinein stürmen wollte, dann jedoch im Türrahmen stehen blieb. „Oh“, sagte sie dann nur kleinlaut. Okay, ich hatte wirklich laut gebrüllt und dabei wohl sehr verzweifelt geklungen. „Ähm... jemand einen Kaffee?“, sagte sie dann und schob sich eine Haarsträhne verlegen hinters Ohr.

Eine Viertelstunde später saß ich in unserer Küche und sah der Kaffeetasse mit gelbem Smiley vor mir gerade beim Dampfen zu, als mein Fokus auf die Topfpflanze neben der Tür fiel. Den grünen Papyrus hatte uns ein Freund der Familie, Benjamin, mal geschenkt. Er war ein außergewöhnlicher Vampir, gehörte er doch zu den wenigen, dessen Gaben nicht nur auf mentaler Ebene funktionierte, so wie Dads, meine oder Edwards. Er war tatsächlich in der Lage, die Elemente zu lenken. Erde, Wasser, Feuer und Luft und über die Jahrhunderte, hatte er sein Talent mehr und mehr perfektioniert. Als mir bewusst wurde, dass ich damit möglicherweise eine Lösung gefunden hatte, stand ich ruckartig auf und stieß dabei unsanft meine Tasse um, deren voller Inhalt quer über die Theke floss und auf der anderen Seite wieder runter kam. „Ich hab’s!“, rief ich aus, was mir aber nur verstörte Blicke seitens meiner Familie einbrachte. Während Nayeli und Mariella sich des Kaffeerinnsals annahmen, trat Edward eilig neben mich und legte mir eine seiner Hände auf die Schulter. „Das ist genial, das könnte funktionieren.“Wenig später saß Benjamin zusammen mit seiner Freundin auch schon im nächsten Flugzeug nach Forks. Wir warteten alle ungeduldig auf sein Eintreffen und waren heilfroh, als wir den Wagen in der Ferne hörten. „Benjamin“, begrüßte Edward ihn als erster und umarmte ihn, dann wand er sich an Tia und umarmte diese ebenfalls. „Danke, dass ihr so schnell gekommen seid“, sagte Renesmee. „Aber das ist doch selbstverständlich“, stellte Tia klar. „Wenn wir helfen können, helfen wir“, fügte Benjamin hinzu. Alles, was wir dann noch tun konnten, war, ihm dabei zuzusehen, wie er sich vor die kleine sandige Stelle setzte, in der wir den Samen vergraben hatten. Es vergingen wahrscheinlich nur ein paar Sekunden, für mich fühlte es sich aber wie eine Ewigkeit an, bis die ersten kleinen grünen Blätter zum Vorschein kamen. Das Pflänzchen wuchs dann nach und nach zu einem Strauch heran – und sah, obwohl es Millionen wert war, ziemlich unscheinbar aus. Benjamin wollte nach getaner Arbeit gerade wieder aufstehen, da fiel ihm Nessie schon um den Hals. „Danke, danke, danke“, sagte sie freudestrahlend. „Keine Ursache“, gab er zurück und strich ihr über den Rücken.„Ich wusste nicht, dass du auch Pflanzen lenken kannst“, sagte Bella.„Ich lenke nicht die Pflanze. Genauso wenig lenke ich die Tiere, wenn ich sie auf der 'Jagd' auf mich zulaufen oder stehen bleiben lasse. Ich lenke nur das Wasser in ihrem Blut. Wasser ist Leben, lenkst du das Wasser, lenkst du das Leben. Genauso ist es hier. Mit dem einzigen Unterschied, dass ich bei dieser besonderen Pflanze auch noch die Wärme und Erde beeinflussen musste. Ihr habt euch da wirklich eine Herausforderung gesucht.“„Tja, wenn mein Dad etwas macht, dann macht er es schon ordentlich“, scherzte Jake. „Haben wir dann jetzt alles?“, brachte sich meine Schwester Nayeli ins Gespräch ein.„Nicht ganz“, antwortete Edward. Die allerletzte Zutat war nicht schwer zu finden. Tatsächlich, war sie schon immer da gewesen. Dennoch bekam ich beim Gedanken daran einen Kloß im Hals. Es handelte sich um einen Tropfen Blut des betroffenen Werwolfs. Es wäre natürlich ein Leichtes gewesen, Dad einfach kurz etwas Blut abzunehmen, doch wünschte er sich, dabei in seiner Wolfsgestalt zu sein – zum wahrscheinlich letzten Mal. Seth, Billy und ich standen bereits auf vier Pfoten auf der Wiese hinter unserem Haus, als sich Leah, Paul und die anderen Quileute-Werwölfe zu uns gesellten. Es war ein seltsames Gefühl, sie alle hier zu haben, vergleichbar mit einem Kribbeln im Bauch, wenn man ein schönes Lied hörte, das Erinnerungen weckte.So geht es uns allen, lies Embry mich in Gedanken wissen. „Bist du dir sicher, dass du das packst?“, hörte ich dann Jake fragen und sah wieder Richtung Veranda. Dads Antwort auf Jakes Frage war nur ein Nicken, woraufhin auch Jacob nickte. „Okay“, sagte er und zog sich das Shirt über den Kopf. Bis zum bitteren Ende hatte er sich gegen Dads Entscheidung gesträubt, aber es schien so, als hätte er sie endlich akzeptiert. Er verwandelte sich fast aus dem Stand heraus in die rostrote Wolfsform, die Billy-Sues so unglaublich ähnlich sah, was umso deutlicher wurde, als er sich direkt neben sie stellte. Sie sah ein bisschen aus, wie eine kleinere Ausgabe von ihm, nur mit helleren Pfoten. Mein Vater hatte sich inzwischen seinen Shirts entledigt und bereitete sich auf die Verwandlung vor, indem er die Augen schloss und tief durchatmete. Für gewöhnlich war er so talentiert wie Jake, wenn es darum ging, sich zu verwandeln, doch sah man ihm an, dass er müde war und das Ganze eine ordentliche Anstrengung für ihn darstellte. Schließlich gelang es ihm aber doch, sich zu verwandeln – zuerst kurz in einen schwarzen Vogel, der auf dem Verandageländer saß, dann ließ er sich auf den Boden hinunter gleiten und wechselte, noch ehe er den ihn berührte, in die Wolfsgestalt. Hat doch super funktioniert, lobte Paul. Hat irgendwer daran gezweifelt?, neckte Billy, was zu einigen beteuernden, gedanklichen 'Neins' führte. Ganz ehrlich, Ani, ich muss sagen, ich werde dieses schöne schwarze Fell vermissen, sagte Seth dann, halb scherzend, halb ernst, woraufhin Dad leise lachte, was sich in einem sanften Schnauben äußerte. Dann sah er Jake einen langen Moment an und dieser sah zurück. Ich hätte nie gedacht, dass ich das mal sage, begann Dad in Gedanken, aber ich werde euch in meinem Kopf vermissen. Edward kam mit einer kleinen Spritze zu uns und lächelte dabei verschmitzt. „Wenn du mich lässt, kann ich den Job gern übernehmen und in deinen Gedanken rumwühlen“, scherzte er. Nein, danke. Dad verzog nicht eine Miene, als Edward die Spritze ansetzte. Darauf verzichte ich dann doch lieber.Verständlich, ich kann das bis heute nicht leiden, wetterte Jake sogleich gegen Edward.Ani schnaubte nochmal, wurde dann jedoch direkt wieder ernst. Dad?, sagte er. Ja?, fragte dieser. Es tut mir leid, dass ich dir nicht der Erbe sein kann, den du dir wünschst...Was?!, fragte Jake etwas erschrocken. Was redest du da? Du bist unglaublich talentiert, attraktiv, hast eine wundervolle Tochter und liebst deine Familie so sehr, dass du bereit wärst, für sie zu sterben. Das zeigt mir, dass aus dem kleinen Baby, das Carlisle an diesem 21. November aus dem Wasser gehoben hat, trotz meiner dummen Fehler in der Vergangenheit, eine wunderbare Persönlichkeit geworden ist. Was mehr könnte ich mir wünschen? Dads spitze Ohren hingen auf dieses Geständnis hin, genau wie die aller anwesenden Wölfe, nach unten. Danke, sagte er sichtlich berührt und auch wir anderen waren froh, dass Wölfe keine Tränen hatten, sonst würden wir genauso schluchzend da stehen, wie die Mädels auf der Veranda. Eine davon, meine Mutter, trat daraufhin vor und blieb kurz vor meinem Vater stehen. Sie sahen einander nur an, doch auch wenn sie Worte hätten benutzen können, hätten sie sie wohl nicht gebraucht. Dann wechselte Dad seine Form fließend in einen schwarzen Panther, noch um einiges größer, als der Wolf, dennoch erschrak Mum nicht. „Ich wusste schon damals, dass du verrückt bist“, war alles, was sie dann sagte und sah etwas verlegen nach unten. Die meisten der Anwesenden verstanden nicht, was der Panther für die beiden bedeutete, ich schon, denn ich kannte seine Erinnerungen... ***Nur zwei Tage später saßen wir in kleinen Booten, die uns hinaus aufs Meer zu einem der großen, mit Bäumen bewachsenen Berge brachten, die etwas abseits des Strandes aus dem Wasser ragten. Hintergrund dieses Ausflugs war die letzte Zeile in Billys Tagebuch, in welcher er notiert hatte, dass zum Gelingen des Ganzen ein besonderer Ort von Nöten war. Spezifiziert hatte er nichts genaueres, Jacob jedoch erinnerte sich daran, dass sein Vater eben jenen Platz erwähnt hatte, zu dem er uns führte. Hier nämlich, hatte Ephraim Black, Billy Blacks Großvater, sich zum ersten Mal verwandelt.„Bist du dir sicher, dass du das tun willst?“, fragte Edward noch ein letztes Mal nach. Ohne auch nur eine Sekunde zu zögern, bejahte mein Vater, mit einem Blick auf meine Mutter und einem zuversichtlichen Nicken. Erst dann reichte er ihm das kleine Fläschchen, in das Seth, Nayeli, er und Leah die Flüssigkeit gefüllt hatten, die sie nach Billy Blacks Anweisungen zubereitet hatten. Es war so glasklar wie Wasser und schien ebenso flüssig zu sein. Gespannt beobachteten wir, wie er den Korken abzog und zum Schluck ansetzte. „Warte!“, unterbrach Mum ihn plötzlich. Er stoppte und nahm die Flasche widerwillig wieder runter.Sie sahen einander einen langen Moment an, doch schien sie keine Worte zu finden, woraufhin er den Inhalt der Flasche rasch schluckte. Mum wirkte ziemlich nervös, schwieg jedoch eisern, obwohl es ihr schwer fiel. Nachdem er geschluckt hatte, passierte erst mal gar nichts, so dass bei uns allen der Gedanke aufkam, dass wir möglicherweise einem Geist nachgejagt hatten. „Und?“, fragte Jake dann zögerlich. Dad zuckte mit den Achseln. „Keine Ahnung.“Ich wusste nicht, was ich denken oder fühlen sollte. Einerseits war ich erleichtert, schließlich hätte es genauso gut gefährlich, ja sogar tödlich sein können, andererseits war ich auch enttäuscht, hatte ich doch all meine Hoffnung auf eine Zukunft mit meiner Familie, so wie ich sie kannte, gesetzt.

Ich seufzte, dann fiel mir im Augenwinkel das bunte Licht auf, das am Himmel erschienen war. Es wirbelte über dem Meer und leuchtete alles in seine grünen und violetten Töne. „Wow“, sagte ich leise. Billy tat es mir gleich. Ich hatte so etwas noch nie zuvor gesehen. Sie wohl auch nicht. „Sieht aus wie ein Polarlicht“, klärte Edward uns auf. Ob es nun Zufall war, dass es gerade jetzt leuchtete oder ob es mit unserem Versuch zu tun hatte, würden wir wohl nie erfahren. Für mich war dem aber so, denn gerade als unsere Aufmerksamkeit dem Farbenspiel galt, hörte ich, wie Renesmee sich nochmal nach Dads Zustand erkundigte. „Alles okay?“, fragte sie sorgenvoll.

Als keine Antwort kam, drehte auch ich mich um. Edward legte seine Finger an Dads Handgelenk, wahrscheinlich um dessen Puls genauer messen zu können, als er es mit dem Gehör konnte. „Du bist ja eiskalt“, stellte er dann fest. „Also eigentlich ist mir gerade eher ziemlich heiß“, gab Dad das Gegenteil zurück.Noch bevor Edward etwas erwidern konnte, klappte er dann plötzlich zusammen, woraufhin die Meisten, allen voran Renesmee, Mariella und Sangreal erschrocken aufschrieen und die Hände vor den Mund schlugen. „Edward?“, fragte Jake mit Blick auf Dads laschen Körper. Edward ging mit Ani vorsichtig auf die Knie. „Ist nur bewusstlos, keine Sorge“, sagte er.

Keine Minute später blinzelte Dad auch schon wieder. „Guten Morgen“, begrüßte Edward ihn. Dad ignorierte seine Worte und wollte stattdessen sofort aufstehen, wurde jedoch aufgehalten. „Sachte, sachte“, sagte Edward und half ihm langsam auf. „Wie fühlst du dich?“, fragte Renesmee noch einmal. Dad antwortete wieder nicht und sah stattdessen zuerst an sich herab, dann suchten seine grünen Augen nach meiner Mutter. Ohne ein weiteres Wort, zog er sie im nächsten Augenblick zu sich und presste seine Lippen auf ihre. Zu Beginn noch etwas erschrocken und steif, lockerte sich ihr Körper kurz darauf und sie begann sich auf den Kuss einzulassen. Für Renesmee erübrigte sich damit weiteres nachfragen. Sie sah einfach nur glücklich aus und umschlang zufrieden Jakes Arm. Als sich meine Eltern wieder voneinander lösten, glitzerten ein paar Tränen auf Mums Gesicht, die Dad mit den Daumen wegwischte, als er ihr Gesicht in seine Hände nahm. „Warum weinst du denn?“, fragte er sie. „Ich weiß nicht...“, gab sie zu. „Einerseits bin ich so glücklich, andererseits fühle ich mich schrecklich, weil ich dir etwas so wichtiges genommen habe.“„Genommen?“, antwortete Dad, während er ihr Gesicht noch immer festhielt und ihr tief in die Augen sah. Mum nickte. Dad schüttelte den Kopf. „Hör mir zu...“, begann er. „Ich dachte immer, dass Freiheit bedeutete, meine Flügel auszubreiten und hinfliegen zu können, wo immer ich wollte. Ich kannte keine Grenzen, keine Verantwortung, keine Zeit, nur mich und die unendliche Weite. Jetzt weiß ich, dass man auch ohne Flügel frei sein kann. Dass frei zu sein, bedeutet, seine eigenen Entscheidungen fällen zu können, entscheiden zu können, wie man Leben möchte und vor allem mit wem man dieses Leben verbringen möchte.“Er machte eine kurze Pause, in der sich Mums Mundwinkel leicht hoben. Dad lächelte ebenfalls sanft. „Du hast mir gar nichts genommen, Sangreal, ich habe dir diesen Teil meines Lebens geschenkt.“ Noch eine Pause. „Und jetzt wo du das schon hast, kannst du auch mein Ganzes haben.“Mums Augen wurden größer. „Was?“, hauchte sie verwundert. Dann ging Dad auf die Knie und mein Herz schlug mit einem mal derart schnell, dass ich fürchtete, es würde mir gleich aus der Brust springen. Passierte das gerade wirklich oder träumte ich?

„Sangi, tut mir Leid, dass ich nicht damit gerechnet habe, dass das hier klappt und ich dir diese Frage stellen kann, sonst hätte ich mich entsprechend vorbereitet, aber...“, er nahm ihre Hand in seine beiden. „Möchtest du mich heiraten?“Nun quollen aus ihren Augen noch dickere Tränen, so dass sie mit leicht zitternden Lippen nickte und lachte. „Ja, ja, ja ich will, ich will, ich will!“Dad strahlte, stand auf und wirbelte sie herum, ehe er sie erneut küsste.Genau wie die beiden, konnte auch ich mein Glück kaum fassen. Alles, was ich mir gewünscht hatte, als wir hier her gekommen waren, war eine gemeinsame Zukunft mit meinen Eltern. Nun hatte ich noch viel mehr als das bekommen. Eine Familie waren wir schon zuvor gewesen, doch nun fühlte es sich vollkommen an. Es wäre perfekt gewesen, wäre da nicht das Wissen gewesen, dass mein Vater dafür ein großes Opfer hatte bringen müssen. Mein einziger Trost war, dass es ihm das wohl mehr als wert gewesen war, denn als Mum nach ihrem wohl fünften oder sechsten stürmischen Kuss eine schwarze Feder aus der Tasche zog, sah Dad nicht melancholisch aus. „Die hast du vorgestern verloren“, sagte sie. Dad fuhr mit den Fingern zuerst über die Feder, dann weiter hinunter über ihre Hand. „Behalte sie“, sagte er. „Ich habe jetzt andere Flügel...“

Epilog

 

Als ich an diesem Morgen aufwachte, hatte ich nur zwei, höchstens drei Stunden geschlafen, fühlte mich aber dennoch fit wie ein Turnschuh. Eigentlich hatte ich die ganze Nacht wach gelegen und mich von einer Seite zur anderen gedreht. Es war das erste Mal, dass ich wirklich glauben konnte, dass sich der Mensch einer Studie zu Folge fünfzig Mal in einer Nacht umdreht.

Ich stürmte, noch ungekämmt und mit Schlafshirt und Shorts bekleidet, die Treppe hinab in unsere Küche, in der meine Mutter sich bereits in aller Ruhe einen Tee aufbrühte und eine Zeitung las. „Morgen Schatz“, begrüßte sie mich und sah dazu kurz von ihrer Lektüre auf. „Hi Mom“, grüßte ich zurück und machte mich daran, mir einen schnellen Kakao anzurühren.„Gut geschlafen?“, fragte sie, diesmal ohne mich dabei anzusehen.„So gut wie gar nicht, eigentlich“, gab ich zu.Mom lächelte nur. Hochzeiten waren für sie nichts Neues. Für mich dagegen schon. Nicht nur war es die erste Hochzeitsfeier, der ich in meinem Leben beiwohnte, nein, ich hatte sogar eine Aufgabe bekommen: ich war eine der Brautjungfern. Dies war einer der wenigen Anlässe, die mich freiwillig ein Kleid anziehen ließen.

 

Kurz nach meinem Kakao und einer schnellen Dusche verließ ich daher das Haus und machte mich auf dem Weg zum Cullen-Anwesen.

Hier waren die Vorbereitungen längst in vollem Gange und während Alice emsig hin und her huschte, wurde ich kurz nach meinem Eintreten von Nayeli unter die Fittiche genommen. „Komm, ich muss dich jemandem vorstellen“, sagte sie, als sie sich bei mir einhakte und mich die Treppe hinauf begleitete. „Meinem Kleid?“, fragte ich in vollem Ernst, was ihr ein Lachen entlockte. „Nein“, sagte sie kichernd. „Jemand gesprächigerem.“ Tatsächlich bugsierte sie mich in eines der sonst unbewohnten Zimmer, wo ich in die bernsteinfarbenen Augen einer blonden Schönheit blickte. Ich hatte keine Zweifel daran, dass vor mir Rosalie stand. Sie lächelte mich warm an. „Hallo Billy, schön dich endlich kennenzulernen“, sagte sie, während sie mir einen Kuss auf die Wange hauchte. „Hallo“, sagte ich etwas eingeschüchtert. „Hey“, kam es dann von weiter hinten, kurz bevor ein großer, stämmiger Vampir hinter der Schrankwand hervor trat, die den Raum teilte. Ganz klar: Emmett. Die Eindrücke passten mit dem zusammen, was man mir zuvor von ihnen erzählt hatte. Sie wunderschön, freundlich und elegant, er lustig und scheinbar immer gut drauf.

Doch allzu viel Zeit zum Kennenlernen blieb uns nicht. Nach nicht mal einer Viertelstunde ging ich mit Nayeli mein Kleid anziehen. Luna war bereits dort. Obwohl sie es zu verstecken versuchte, spürte ich ihre Aufregung deutlich. „Na- Nayeli, hilfst du bitte kurz?“, hatte sie etwas nervös gebeten, kaum dass sie sich ihr Kleid über den Kopf gezogen hatte.

Wir hatten uns als Brautjungfern für weinrote Kleider entschieden, da diese Farbe für Anthony und Sangreal eine besondere Bedeutung hatte. In einem roten Kleid war Letztere nämlich in die Oper gegangen, kurz nachdem die beiden sich kennengelernt hatten.„Du siehst toll aus“, lobte Luna, nachdem wir alle drei angezogen waren.„Danke“, sagte ich noch etwas unsicher, doch dann betrachtete ich mich im nächsten Spiegel und musste wider Erwarten zugeben, dass sie nicht unrecht hatte. Das Rot passte wunderbar zu meinem schwarzen Haar und dem dezenten Make-Up, das mir Nayeli verpasst hatte.

Nachdem ich mich lange genug angesehen hatte, konnte ich nicht mehr länger warten. „Wo ist deine Mutter?“, fragte ich Luna neugierig, woraufhin diese verschmitzt lächelte. Gemeinsam gingen wir in die oberste Etage. Zu meiner Überraschung war hier oben von dem Trubel weiter unten nichts zu merken. Abgesehen von Bella, Esme und Renesmee war neben Sangreal niemand hier. Obwohl diese mir nur den Rücken zugedreht hatte, ließ allein dieser Anblick mich kurz im Türrahmen stehen und nach Luft schnappen. Ihr Kleid erinnerte mich auf subtile Weise an das von Bella, das ich auf Bildern gesehen hatte. Es war am Rücken transparent, wobei sich eine dünne Ziernaht über ihre Wirbelsäule zog, oben eng anliegend und mit dezenter Spitze versehen, im Gegensatz zu Bellas Hochzeitskleid jedoch ohne Ärmel. An der Hüfte ging es dann in einen ausschweifenden Rock über, dessen oberste Lage aus Tüll bestand und mit kleinen Stickereien und Glitzersteinchen bestickt war. Ihr Haar war größtenteils offen. Zwei Strähnen waren an ihrem Hinterkopf zu einer verbunden und mit einem blauen Haarkamm befestigt worden, der Rest fiel ihr in leichten Locken über die Schultern und den Rücken. Als sie sich umdrehte, funkelten mich zwei graue Augen unter langen, dichten Wimpern an und rötliche Lippen formten sich zu einem zarten Lächeln. „Guten Morgen, Billy“, sagte sie leise. Sie war ganz bestimmt nervöser als ich, war jedoch im Gegensatz zu ihrer Tochter und mir recht gut darin, dies zu verbergen. „Ähm... hi“, brachte ich gerade noch so heraus.Nachdem ich eine Weile dabei zugesehen hatte, wie die letzten Feinheiten an Sangreals Make-Up vorgenommen wurden, ging ich wieder die Treppe hinunter. Ursprünglich hatte ich vorgehabt, einen Blick in die Küche zu werfen, um mir die Hochzeitstorte anzusehen, hörte dann jedoch auf halbem Weg, wie jemand meinen Namen rief. Ich kannte seine Stimme inzwischen so gut, wie ich sonst nur die meiner Geschwister und meiner Mutter kannte. Die Braut hatte ich schon gesehen, warum also nicht auch den Bräutigam anschauen?, dachte ich mir und lugte neugierig durch die leicht geöffnete Tür, aus der ich ihn hatte rufen hören.„Ja?“, fragte ich dabei und sah, wie Anthony mich musterte.„Du solltest öfter mal ein Kleid tragen“, sagte er.Es war nicht das erste Kompliment an diesem Tag, trotzdem schoss mir bei seinen Worten das Blut ins Gesicht und ließ meinen rostroten Teint wahrscheinlich noch mehr erröten.„Und du solltest öfter Anzüge tragen“, konterte ich, was ihn zum Lachen brachte.Tatsächlich sah er in seinem Smoking mindestens so atemberaubend aus, wie Sangreal in ihrem Brautkleid. Der Anzug passte derart gut, dass sie ihn hinein geschneidert haben mussten.

Neben Anthony stand seine Schwester und zupfte, auf Zehenspitzen stehend, den Hemdkragen ihres Bruders zurecht. Sie trug noch einen violetten Bademantel, ihre Haare waren jedoch bereits hochgesteckt. Ein seltener Anblick, trug sie ihr Haar doch meistens offen. „Billy scheint mein Outfit zu gefallen, warum findest du dann immer was zum rumzupfen, Schwesterherz?“, neckte Ani seine ältere Schwester. „Weil ich es kann“, antwortete sie knapp. Ani seufzte. „Kannst du mir vielleicht noch einmal erklären, warum ich ausgerechnet dich zu meiner Trauzeugin gemacht habe?“„Nun, erstens, weil ich deine Schwester bin.“ Mariella sah nicht vom Stoff seines Blazers auf, an dem sie sich nun zu schaffen machte, während sie antwortete. „Zweitens, weil du niemanden als Best Man auswählen wolltest... uuuuund noch aus einem anderen Grund.“Er schnaubte lächelnd, senkte den Blick und ließ das Gezupfe einfach über sich ergehen. Kurz darauf verließ Mariella das Zimmer und mein Onkel und ich blieben zunächst wortlos zurück. Nach ein paar Minuten brach ich dann die Stille mit einer notorischen Frage. „Schon nervös?“- „Na ja, ist immerhin meine erste Hochzeit.“„Und hoffentlich die Einzige“, sagte ich.

„Ganz bestimmt“, versicherte er mir zwinkernd, ohne lange zu überlegen.

Plötzlich öffnete sich die Tür und Edward streckte seinen Kopf herein. „Ah, hier bist du Billy!“, rief er aus. „Die anderen haben dich schon gesucht. Ani, bereit?“, fügte er dann hinzu.Anthony nickte.

Die Hochzeit fand, wie zuvor Jacobs und Renesmees und die meiner Eltern, in La Push am Strand statt. Ich wusste nicht, warum sie diesen Platz ausgesucht hatten. Vielleicht war es einfach eine Art Tradition, dass die Black-Cullens einander hier das Ja-Wort gaben? Vielleicht hatte es aber auch praktischere Gründe: der Quileute-Teil der Familie, der einen nicht unwesentlichen Anteil ausmachte, hatte es nicht weit.Nachdem ich aus dem Wagen gestiegen war, ließ ich meinen Blick schweifen. Alles, von den Servietten bis zur Tischdeko, war in rot und weiß gehalten und ein samtiger Teppich auf einer Unterlage aus dünnem Holz ebnete den Weg zum Traualtar, damit Sangreal in ihren hohen Schuhen nicht Gefahr lief, über einen der zahlreichen Steine am First Beach zu stolpern. Der Traualtar selbst war mit einem Bogen aus Blüten geschmückt und befand sich auf einem breiten Steg der ins Meer ragte.

 

Ich hatte wahrscheinlich noch nie so viele Leute gleichzeitig bewundernd seufzen hören, wie in jenem Moment, in dem sie die Braut erblickten. Da mit Nahuel die Person verstorben war, die für sie einem Vater am Nächsten gekommen war, ging sie die Schritte zum Altar allein und mit ständigem Blickkontakt zu Anthony, der ihr schließlich seine Hand reichte und ihre, nachdem sie sie hinein gelegt hatte, sanft umschloss. Nun da sie beide dem Pfarrer gegenüber standen, nahm ich an, dass es wohl gleich losgehen würde. Doch schienen alle noch auf irgendetwas zu warten. Mich fragend, was die Zeremonie wohl aufhielt, musterte ich Seth, der neben Sangreal stand und die Manschette seines Anzugs zurecht zupfte – und dann wurde mir bewusst, wer hier noch fehlte. Als wäre es ihr Stichwort, hörte ich eine weitere Limousine hinter uns anfahren. Nun waren alle Augen auf Mariella gerichtet, die sich von Jake aus dem schneeweißen Auto helfen ließ. Mariellas Kleid war nicht weniger schön als Sangreals, hatte aber einen auffallenderen Rock, dessen mehrere Lagen sich übereinander kräuselten und mich an das Federkleid eines Schwans erinnerten. Ihre Hochsteckfrisur war zudem mit einem Kopfschmuck aus weißem Federflaum verziert. Sie sah aus, als hätte man sie direkt aus einem Märchenbuch heraus gelesen, wie sie da von Jacob zu Seth geführt wurde. Und obwohl die beiden seit Jahrzehnten zusammen waren, war jener Moment, in dem Jacob ihre Hand in Seths Hand legte, wunderschön und ließ die ersten Gäste bereits die Taschentücher zucken.

 

Beim Aufsagen der Hochzeitsschwüre, konnte ich dann förmlich spüren, wie Luna neben mir vor Freude innerlich Purzelbäume schlug. Monatelang hatte sie um ihr Familienglück gebangt. Statt einander aufzugeben, steckten sie sich nun gegenseitig die Ringe an die Finger. Während Mariellas und Seths Schwur mit Renesmees und Jacobs 'Bis in alle Ewigkeit' endete, verwendeten Sangreal und Anthony Bellas und Edwards 'solange wir beide Leben'. Das sonst bekannte 'bis das der Tod uns scheidet' fand in Hochzeiten übernatürlicher Paare offensichtlich keinen Gebrauch.

Den von allen Anwesenden heiß ersehnten Kuss, gab es bei diesem Doppel dann gleichzeitig, was mit tosendem Beifall untermalt wurde. Die Brautpaare interessierte es wenig. Seth hatte nur Augen für Mariella, Mariella nur für Seth, Anthony nur für Sangreal und Sangreal nur für Anthony. ***Die Feierlichkeiten gingen bis in den frühen Morgen. Die beiden Bräute hatten ihre Schuhe längst ausgezogen, lachten und alberten mit Seth und ein paar anderen auf der Tanzfläche herum. Viele Gäste waren bereits gegangen.Ich nahm mir eine Kleinigkeit vom Büfett und setzte mich zu Luna auf einen der großen Steine am Wasser. „Es fühlt sich noch so unwirklich an“, sagte sie leise, das Gesicht auf die Knie gebettet und die Hände um die Beine geschlungen, ohne mich dabei anzusehen. „Was?“, fragte ich. Halbgare Informationen zu so früher Stunde kamen bei mir nie so richtig an. „Alles“, antwortete Luna. „Ich hab nie daran gezweifelt, dass meine Eltern für immer zusammen bleiben würden. Keiner hat das. Dann kam alles anders. Und jetzt bin ich wieder an dem Punkt, an dem ich keine Zweifel habe. Nur dieses Mal ist es nicht so… trügerisch. Die Wahrscheinlichkeit, dass er geprägt werden könnte, war eigentlich immer da. Sie hing wie ein Damoklesschwert über uns. Aber jetzt ist sie fort und sie wird nie wieder zurück kommen.“„Ja“, stimmte ich zu. „Aber er hat einen hohen Preis dafür bezahlt.„Ja“, stimmte sie wiederum mir zu. „Alles gleicht sich aus.“

Dann schwiegen wir einander an.

 

Eine Weile sah ich nur die Silhouette des schneeweißen Mondes, die sich im Wasser spiegelte, kurz darauf folgte ich Lunas verträumten Blick, den sie auf Renesmee und Anthony gerichtet hatte, die zum Rand des Stegs gingen, auf dem das Ja-Wort gegeben wurde. Sie hatte sich bei ihm eingehakt und löste sich vom Arm ihres Sohnes, als sie am Ende angekommen waren und vor ihnen nur noch das Meer lag. Keiner von beiden sagte etwas, bis Renesmee nach einer Weile sanft zu sprechen begann. „Erinnerst du dich noch, was ich dir hier gesagt habe, vor so vielen Jahren?“Anthony nickte. „Ja, und du hattest Recht. Ich habe meinen Deckel gefunden.“

 

Impressum

Texte: Geschrieben auf Basis von Stephenie Meyers "Twilight-Saga". Ich erhebe keinen rechtlichen Anspruch auf die von ihr entliehenen Charaktere und Ideen.
Tag der Veröffentlichung: 07.01.2014

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