Mirgha brüllte zwei Worte, die sie von ihrem Bruder kannte. Die ihr, wenn ihre Mutter davon erfuhr, mindestens drei Tage und Nächte Verbannung im Zirkel der tiefsten Höhle einbrachten. Dort warteten reinigende Bäder und stundenlange Gebete im Kreis der alten Frauen auf junge Mädchen, die Schimpfworte benutzten. Das konnte auch ihr neuer Status als Hohepriesterin nicht verhindern. Die Reinheit der Gedanken besaß einen hohen Stellenwert in der Gemeinschaft der »Steinmesser«, wie ihr Clan sich nannte.
Männern war es erlaubt, solche Worte auszusprechen. Wer jagte, tötete und seine Hände in Blut tauchte, um den Stamm zu schützen und zu nähren, dem gehörte das Recht »Verdammte Scheiße« zu sagen. Eine Priesterin, die als höchstes Ziel die Klarheit des Geistes anstrebte, durfte sowas nicht mal denken. Mirgha allerdings beschloss, wem auf der Flucht vor todbringenden Häschern in der »Durstigen Wüste« inmitten eines Meeres aus scharfkörnigem Sand, der Riemen einer Sandale zerriss, erhielt gleichzeitig die Befugnis, straflos zu fluchen.
Möglich, dass die Schimpfworte ihre Ernennung als oberste Priesterin verzögerten. Aber so, wie Mirgha das Wesen der Götter verstand, besaßen sie durchaus Verständnis für die ein oder andere Reaktion eines Menschen im Angesicht einer todbringenden Gefahr. Der Kraftausdruck half ihr, ihre Wut zu sammeln und neue Energie für den Lauf durch die Einöde zu gewinnen.
Seit Stunden irrte sie durch die Berge und Täler aus Sand. Mit einem Pferd wäre sie vermutlich längst an ihrem Ziel angekommen. Aber ihrem Schimmel steckte sie am Rand des Sandmeers schwere Steine in die Satteltaschen und schickte das Tier mit einem Gedankenbefehl zur Dadierquelle. Mit etwas Glück sorgte die zusätzliche Last dafür, dass die Tritte des Reittieres so tief in den Boden drückten, dass ihre Verfolger glaubten, sie säße noch darauf. Falls sie ihre List nicht durchschauten, ritten sie jetzt auf einer falschen Fährte, während sie ungehindert die «Durstige Wüste « durchquerte. Doch irgendetwas war schiefgelaufen.
Die alten Wegmarken fehlten fast alle. Einige zeigten, wie sie an den Runen erkannte, in die verkehrte Richtung. Jeder, der ihn folgte, landete am Ende in einem der tückischen Sandlöcher, die einen unvorsichtigen Wanderer verschlangen und nie wieder hergaben.
Mirgha verdrängte ihren Missmut, sie brauchte ihre kompletten Sinne, um in dieser menschenverachtenden Umgebung zu überleben. Ein Fluch verschaffte Erleichterung, aber er löste nicht ihre Probleme.
Ihre Wasservorräte gingen zur Neige. Der Wassersack fühlte sich verdächtig leicht an. Ohne Wasser brachte sie die allgegenwärtige Hitze bald um. Sie reiste mit wenig Gepäck, denn Priesterinnen der Xoch durften kaum etwas besitzen, und ihre Füße huschten wie dürres Laub im Wind über den heißen Sand. Doch es wurde höchste Zeit, die Oase zu finden. Mirgha bemerkte, wie die Kräfte nachließen.
Verzweifelt musterte das junge Mädchen ihre Umgebung. Besonders eine Stelle am Horizont, an der sie das Ziel vermutete, weckte ihre Aufmerksamkeit. Dort erkannte sie im Himmelsblau einen dunklen Streifen. Spiegelte sich da nicht das Grün der Palmen und Pflanzen, die an dem einzigen Ort im Sandmeer wuchsen, der regelmäßig über Trinkwasser verfügte.
Da wartete ihr Reiseziel. Sie brauchte das Wasser, um zu überleben. Und die Hilfe der Wesen, die diesen Schatz bewachten, um ihrem Stamm eine Zukunft zu schenken. Doch dazwischen lag ein langer Weg. Mirgha würde jeden Funken Energie brauchen, um dorthin zu gelangen. Sie trank die Wasserflasche aus und warf den nutzlosen Gegenstand weg. Sie hob den Fuß für den ersten Schritt, da wuchs eine schwarze Wand aus Sand zwischen ihr und dem Ziel. Die Sandkörner verwandelten sich in die Gestalten bewaffneter Krieger, größer als die Männer in ihrem Clan. Sie trugen die gehörnten Helme, die die junge Frau in den letzten Wochen fürchten lernte. Die Wesen bildeten eine Linie und versperrten den Weg zur Oase.
Mirgha schaute zurück, mit etwas Glück gab es eine Möglichkeit zu entkommen. An Schnelligkeit konnte ihr im Stamm niemand das Wasser reichen. Aber es war zu spät. Der Sand in ihrem Rücken formte weitere Bewaffnete, raubten ihr jede Chance auf eine Flucht. Sie war umzingelt.
Dennoch beschloss sie, das Unmögliche zu versuchen. Vielleicht gelang es, im Zickzack zwischen die Reihen der Angreifer zu sprinten, so dass sie sich gegenseitig behinderten. In den Ballspielen eine bewährte Taktik.
Im nächsten Moment verformte eine unbekannte Macht den Sand zu ihren Füßen in Arme und Klauen. Sie packten ihre Fußgelenke und rissen das junge Mädchen zu Boden. Bevor sie tiefer in den Sandboden sank und sie das Dunkel erfasste, schoss ihr ein Gedanke durch den Kopf: »Mein Stamm ist verloren!«
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Tag der Veröffentlichung: 09.07.2017
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