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Treue Leser wissen, dass Sheens Geschichte bisher nur in einzelnen Episoden erzählt wurden. Diese Tradition wird hier fortgeführt.

Der junge Kriegermönch hat seine Ausbildung noch nicht beendet. Bisher konnte er sich nach der Ermordung seines Lehrers und seiner Mitbrüder in einem befreundeten Kloster verstecken. Doch jetzt schickt ihn sein neuer Abt weg.

***




"Fantastisch!"

Sheen bewunderte die Kraft, die von dem Wisent an der Steinwand ausging. Der Junge, der die glattpolierte Scheibe hielt, zitterte. Das reflektierte Licht bewegte sich und in diesem Augenblick schien das Tier zu laufen. Mit ihm die ganze Herde, die Wölfe, die sie umkreisten, selbst die Menschen, die die Jagd beobachteten.

Allein in Kohlhasels Buch "Die Ruthis der einsamen Berge" befand sich ein Hinweis auf diese Höhle. Der einzige Reisebericht, der dieses Volk am Rande der Welt beschrieb. Ohne Wissen über die Bearbeitung von Metall nutzte das Bergvolk steinerne Werkzeuge oder Waffen. Doch der Autor warnte, dass Kannibalismus ebenfalls zu ihren Ritualen zählte. Aber diesen wunderbaren Ort kannte auch der Verfasser nur vom Hörensagen. Noch kein Fremder hatte ihn jemals gesehen.

Dieses riesige Wandgemälde in der Tiefe der Grotte raubte dem Kriegermönch den Atem. So etwas Einzigartiges konnte unmöglich das Werk von Kannibalen sein.

Er verstand jetzt ihre Vorliebe für die spiegelnden Metallplatten. Ruß und Rauch von Fackeln würden die Farben beschädigen. Stattdessen lenkten die Schamanen mit Spiegeln Sonnenlicht hinein. Sie kombinierten dabei mehrere Platten so geschickt, dass das reflektierte Licht selbst die hintersten Winkel ausleuchtete.

Es war bitterkalt in der Höhle. Aber der Kriegermönch vergaß die Kälte, so sehr faszinierte ihn dieses Gemälde eines Volkes, das seine Mitmenschen primitiv nannten. Die Ruhe, die davon ausging, tat ihm gut.

Heute feierte man Winteranfang, die längste Nacht des Jahres. Draußen brannte bereits seit Stunden ein riesiges Lagerfeuer, man schien sich auf ein Festmahl vorzubereiten. Er hoffte, dass die Gerüchte, die seinen Gastgebern Kannibalismus unterstellten, nicht der Wahrheit entsprachen.

***

Seine Reise hierhin hatte vor einigen Wochen begonnen.

"Ihr werdet das Kloster verlassen müssen! Für einen Novizen wie euch ist hier kein Platz."

Sheen war überrascht. Abt Takhos Miene wirkte versteinert. Jeder Spur von Mitgefühl fehlte. Die Kühle in seiner Stimme verwirrte den jungen Mönch. Bisher hatte der Abt ihn nach seiner Flucht vor den Häschern des Grafen Sagenbredt beschützt. Unter seiner Anleitung trainierte er intensiv, um seine magischen Fähigkeiten zu vervollkommnen.

Vor kurzem entwickelte er dabei eigene Methoden. Er wollte Feuer nicht nur an einer Stelle erzeugen, sondern eine größere Aura erschaffen. Bedauerlicherweise verursachte er einige kleine Unfälle, bei denen jedoch niemand zu Schaden kam.

Sheen versuchte, seinen Lehrer umzustimmen. "Bitte lasst mich bleiben. Diese kleinen Zwischenfälle bedaure ich. Doch niemand wurde verletzt. Den entstandenen Schaden werde ich ersetzen."

"Es geht nicht um das, was du anrichtest. Wichtig ist, wie du es machst. "Seitdem du hier im Kloster lebst, ist unser Friede gestört. Wir Mönche leben, lernen und studieren. Dazu brauchen wir eine Umgebung, die Ruhe und Gelassenheit vermittelt. In deinem Herzen brennt eine große Flamme. Sie steht für deinen Wunsch nach Rache, dein Verlangen, diejenigen, die dir Böses getan haben, tot zu sehen."

Sheen senkte beschämt den Kopf. Doch der Abt war noch nicht fertig.

"Feuermagier beschäftigen sich mit dem Wesen des Feuers. Sie versuchen seine Natur zu erkunden, sie zu verstehen. Dazu gehört mit seiner Macht zu leben, ihre Grenzen anzuerkennen. Du willst sie besiegen, sie gefangen nehmen, ja sie wie einen Sklaven beherrschen. Eines Tages wird die Magie dich zerstören. Und mit dir wird dieses Kloster zerstört werden."

Er legte ein Buch auf den Tisch.

"Kohlhasels Buch "Die Ruthis der einsamen Berge". Seit Jahren hat niemand seine Angaben überprüft oder vervollständigt. Eine lange Reise in eine verlassene Gegend. Genau das, was du jetzt brauchst. Nimm es. Komm wieder, wenn du die Aufgabe erfüllt hast. Ob es Monate dauert oder Jahre. Erst dann will ich dich wiedersehen."

***

Viele Wochen voller Abenteuer lagen hinter ihm. Neue Notizen für sein Lebensbuch, neue Narben und neue Freundschaften. Dieses Dorf lag an der Grenze der bekannten Welt. Dahinter lebten die Ruthlis, noch weiter nördlich herrschte ewiges Eis.

"Ihr wollt zu den Menschenfressern? Seid ihr lebensmüde." Der Vorsteher zeigte wenig Verständnis für seinen Plan. "Das sind Kannibalen. Ihre Sprache ein Geschnattere. Als ob es Tiere wären. Und stehlen tun sie. Alles, was sie kriegen können. Ich kann euch solch eine Kreatur gerne mal zeigen"

Er führte Sheen hinter sein Haus. Dort stocherte er mit einem Stock in einen Käfig herum. Aus einem kleinen Kasten, ähnlich einer Hundehütte kroch ein dürrer Junge. Er knurrte und entblößte dabei spitz zugefeilte Zähne.

"Den habe ich beim Stehlen erwischt und eingesperrt. Aber er ist zu nichts zu gebrauchen. Ein Hund besitzt mehr Nutzen für mich. Obwohl er mindestens so behaart ist wie mein Wolfshund."

"Warum lasst ihr ihn dann nicht laufen?"

"Damit er wiederkommt und weiter stiehlt. Da wäre ich ja schön blöd."

"Er hatte vermutlich Hunger. Das verändert jeden Menschen."

"Der kam nicht aus Hunger. Ich zeige euch, was er mitnehmen wollte."

Der Dorfvorsteher holte ein paar billige Spiegel. Eigentlich nicht mehr als polierte Metallplatten. "Könnt ihr euch vorstellen, was er damit vorhat?"

"Nein." Sheen hatte Mitleid mit dem Gefangenen. In ihm reifte ein Plan. "Ich hab nicht viel Geld dabei. Aber ich würde ihn kaufen. Und die Spiegel dazu. Ihr müsstet auch nicht mehr für seine Verpflegung aufkommen."

Für eine kleine Geldsumme erhielt er die Erlaubnis, den jungen Ruthli mitzunehmen. Zusätzlich erwarb er neben ausreichend Proviant eine Handvoll der Metallspiegel. Dann zogen die beiden ungleichen Gefährten in die Berge.

Nach fünf Tagen gemeinsamen Wanderns verstanden sich die beiden Fremden immer besser. Sie lernten mit Zeigen und Nachsprechen einfache Begriffe in der Sprache des Anderen. Die neuen Worte notierte der Mönch sorgfältig in sein Buch, selbst wenn die Zisch- und Schnalzlaute nur schwierig in Schriftform zu übersetzen waren. Der Junge bediente sich problemlos aus ihrem Proviantsack. Er schien keinen Appetit auf Menschenfleisch zu verspüren. Der Kriegermönch hütete sich jedoch, dem Ruthli seine Fähigkeiten als Feuermagier vorzuführen. Er fürchtete, die aufkeimende Freundschaft könnte durch zu hohen Respekt für seine magischen Kräfte beeinträchtigt werden.

Am fünften Morgen erwachte Sheen alleine in der Wildnis. Er vermisste die Metallspiegel, ihren Proviant hatte sein Begleiter nicht mitgenommen. Daher wanderte er weiter in Richtung Norden in der Hoffnung, den Bergstamm in der Einsamkeit der Berge zu finden. Nach drei Tagen in dichtem Schneegestöber erreichte er die Baumgrenze, wo er sich plötzlich von einer Gruppe wilder Gestalten umzingelt sah. Sie drohten mit einfachen Speeren, schüttelten ihre Steinkeulen, aber der Kriegermönch versuchte, gelassen zu erscheinen. Die Situation entspannte sich sofort, als schließlich der junge Ruthi auftauchte. Wenige Stunden vor Sonnenuntergang führte ihn der Schamane des Stammes in diese Grotte, in der sich die Malereien seines Volkes verbargen. Zweifellos eine hohe Ehre, für die Sheen dem heiligen Mann herzlich dankte.

Doch der Abend brachte weitere Überraschungen. Als er die Höhle verließ, war das riesige Lagerfeuer niedergebrannt. Seine neuen Freunde räumten die glimmende Glut weg. Dann entfernten alle zusammen die dampfende Erde, bis sie eine Abdeckung aus verkohlten Kiefernadeln freilegten. Unter verbrannten Zweigen häuften sich große Portionen von Fleisch und Gemüse, die in diesem Erdofen gegart hatten. Der junge Mönch überzeugte sich kurz, ob sich keine Teile eines Menschen darunter befanden. Ganz konnte er sein Misstrauen nicht unterdrücken. Aber es handelte sich ohne Zweifel um Wildbret, das da verlockend duftend auf ihn wartete. Daher beteiligte er sich an ihrem Festschmaus und griff tüchtig zu.

Nach dem Essen trat zunächst Stille ein. Nach einer Weile stimmten die Ruthi ein Lied an. Der Häuptling gab die Melodie vor, nach und nach stiegen die Bergbewohner ein. Am Schluss erfüllten sie die Berge mit einem mächtigen Gesang, der den Fremden seltsam rührte.

Schließlich ging der Schamane von einem zum anderen, nacheinander legte er jedem die Hand auf die Brust. Dazu sprach er ein paar Sätze, die der Angesprochene schweigend entgegen nahm. Als die Reihe an Sheen kam, berührte ihn der Priester nur ganz kurz, dann zog er die Finger zurück, als ob er sich verbrennen würde. Er schaute ihm in die Augen, dabei rief er das Ruthli-Wort für Feuer. Der Mönch senkte seinen Blick. Einen Moment lang fürchtete er, dass seine Begabung als Feuermagier erkannt geworden war. Aber der Medizinmann wandte sich an den nächsten im Kreis und brachte die Zeremonie zu Ende.

Danach schickte der Häuptling die Kinder und Frauen weg. Nicht weit von der Feuerstelle gruben die Männer in der Erde und holten eine Handvoll dicker Kröten heraus. Die Hitze des Erdofens hatte ihre Winterstarre beendet, unwirsch über die Störung sonderten die Tiere eine weißliche Flüssigkeit ab.

Der Schamane reichte einigen Mitgliedern seines Stammes die Erdkröten an, die an dem Sekret leckten und nach einer Weile in Trance fielen. Nicht lange, dann bot der Priester auch Sheen eine Kröte an. Er wagte es nicht, die Aufforderung zurückzuweisen. Vorsichtig probierte er mit seiner Zunge. Einen Moment schien sein Geist eine Klarheit zu besitzen, die Antworten für alle seine Fragen versprach. Im nächsten Wimpernschlag raubte ihm eine schwarze Wand voller Dunkelheit das Bewusstsein.

Als er aufwachte, war er allein, die Ruthli schon aufgebrochen. Ein grässlicher Sturm tobte, die Welt bestand nur aus weißen Eiskristallen, die der Wind durch die Luft peitschte. Der Blizzard hatte die Temperaturen so weit gesenkt, dass er fürchtete, zu erfrieren. Doch auf ein wärmendes Lagerfeuer brauchte unter diesen Umständen nicht zu hoffen. Falls Sheen nicht etwas einfiele, würde er die folgende Stunde nicht überleben.

Er wiederholte ein Experiment. Mit seinen magischen Fähigkeiten bildete er eine dünne Feueraura um sich, die überraschenderweise vor dem Unwetter und der Kälte schützte. Orientierungslos suchte er nach einem Unterschlupf. Die Höhle, in der er die heiligen Malereien gesehen hatte, sollte in der Nähe sein. Selbstverständlich wollte er dort kein Feuer anzünden, er kannte die Bedeutung dieses Orts für die Ruthli. Aber die Grotte versprach wenigstens Schutz.

Nach bangen Minuten musste er sich eingestehen, dass er sich in dieser Hölle aus Eiswind und Schnee verirrt hatte. Er stolperte ziellos herum, seine ursprüngliche Hoffnung, Spuren des abziehenden Stammes zu finden, hatte er längst aufgegeben.

Mehr zufällig bemerkte er einen dunklen Haufen Haare, der sich anscheinend bewegte. Mühsam kämpfte er gegen den Wind und fand nach wenigen Metern einen seltsamen Wagen. Er hatte nie gesehen oder gelesen, dass es Hirsche gab, die ein solches Gefährt ziehen. Gleich sechs der Tiere waren eingespannt, doch eine Weiterfahrt in diesem Sturm unmöglich. Sheen angelte sich an der Zugleine entlang und stieß an seinem Ende auf einen umgekippten Schlitten. Eine Plane schützte Dutzende von Kisten und Paketen. Dort lag unter dicken Fellen der Eigentümer dieses außergewöhnlichen Gespanns.

Bei seinem Eintreffen erhob sich der Mann in einem Mantel, der seine Leibesfülle nicht verbergen konnte. "Ein Mensch, ein lebendes Wesen in dieser Einöde. Dich schicken die Götter." In der Stimme des Schlittenführers erkannte der Kriegermönch, echte Freude, aber auch Verzweiflung.

"Du musst mir helfen. Der Wagen ist umgestürzt. Keine Chance unter diesen Umständen vorwärts zu kommen. Sage im Dorf Bescheid. Bitte hilf!"

"So ein Zufall, dass ich euch in diesem Eissturm gefunden habe. Mein Name ist Sheen. Wie kommt ihr in diese Eiswüste?"

"Wir bringen diese Pakete und Kisten. Es handelt sich um Medikamente. Nicht weit von hier wohnen Menschen, die seit langen Tagen darauf warten. Jedoch bei diesem Wetter ...."

"Was kann ich tun?"

"Es wird ein harter Marsch. Aber gehe zu ihnen und sage den Leuten, dass der Rote Klaus kommen wird. Sobald der Sturm nachlässt."

"Ist das alles?" Sheen hatte mehr erwartet.

"Geh nur."

"Wo liegt dieses Dorf?"

"Auch das ist kein Problem. Halt Dich gegen den Wind. Er kommt genau aus der Richtung ihrer Siedlung. So kannst du es nicht verfehlen. Sie müssen wissen, dass ich komme."

Sheen stolperte los. Sein Feuerzauber schützte leidlich vor der Kälte, aber die Wut des Blizzards wuchs mit jedem Schritt. Er freute sich, dass er in Windrichtung gehen konnte. Hätte er diesen Wind im Rücken gehabt, wäre er früher oder später gestürzt und fortgeweht worden.

Der Marsch führte ihn bis an das Ende seiner Kräfte. Am Schluss humpelte er blind durch den Schnee, seine einzige Orientierungshilfe bot die Richtung, aus der der Sturm tobte.

Schließlich erreichte er die Kante einer bodenlosen Klippe. An ihrem gegenüberliegenden Ufer konnte er die Lichter eines Dorfes eher erahnen, als wirklich sehen. Sheen irrte am Rand der Kluft entlang, traf jedoch auf keinen Weg hinüber. Er rief, winkte, doch erfolglos. Niemand schien seine Ankunft bemerkt zu haben.

Dann zauberte er Feuerbälle in die Luft, die er über den Abgrund schleuderte, aber sie blieben ohne jede Reaktion. Nicht auszuschließen, dass der seltsame Kerl zu spät kam und die Bewohner bereits gestorben waren.

Der Mönch torkelte weiter, bis er endlich einen Übergang fand. Der Sturm fällte vor vielen Jahren einen riesigen Baum. Sein Stamm bildete jetzt eine Brücke zwischen beiden Ufern. Dieser Steg existierte vermutlich schon lange, denn die Kälte hatte seine Enden am Boden fest angefroren.

"Bei allen Göttern. Ich würde gern wissen, wie es ein Schlitten darüber schaffen soll", fluchte Sheen. "Zweifelhaft, ob es mir gelingt."

Der Kriegermönch kletterte auf den Baumstamm. Der Wind stürmte so stark, dass er entschied, nach drüben zu kriechen. Die Wut des Blizzards würde ihn sonst sofort in die Tiefe reißen. Aber auch so blieb es ein lebensgefährlicher Weg. Mehr als einmal drückte der Sturm so heftig, dass er den Mönch beinahe herunterwehte.

Er schaffte einen Zentimeter nach dem anderen. Später konnte er nicht sagen, wie lange er über den gefrorenen Stamm kroch, doch irgendwann hatte er es geschafft. Mühsam löste er sich von der improvisierten Brücke und betrat das Dorf.

Hunde schlugen an, bald zeigte sich, dass noch jemand in der Siedlung lebte. Nach kurzer Zeit umstellte eine fröhliche Gruppe den halberfrorenen Neuankömmling. Zusammen führten sie Sheen in ein großes Zelt.

Hier gab es zunächst einen Topf mit einem heißen Essen. Die ersten Löffel musste ihn eine Frau füttern, so sehr zitterte der Kriegermönch.

"Esst und wärmt euch auf. Wir warten schon eine Weile." Der Sprecher schien der Anführer der Gemeinschaft zu sein. "Eure Ankunft macht uns glücklich. Endlich können die Leiden einiger Mitglieder dieser Gemeinde gelindert werden. Wo ist euer Gepäck?"

"Ich habe nichts dabei", stammelte Sheen. "Es liegt noch im Schlitten. Ein recht dicker Mann wartet damit am anderen Rande des Abgrunds. Ein seltsames Gefährt. Es wird von Hirschen gezogen."

"Wann kommt er. Hat er was gesagt?" Die Augen der übrigen Bewohner hingen an seinen Lippen.

"Es ist der Sturm. Zu stark zum Weiterfahren." Er konnte die Enttäuschung in ihren Gesichtern lesen. "Aber sobald er nachlässt, fährt er los."

Eine Frau sprach ihn an: "Ihr seid erschöpft. Ruht euch aus!"

"Ich bin nicht müde", widersprach der Kriegermönch. Dann schlief er ein.

Sheen erwachte unter dicken Fellen. Neben ihm lag ein kleines Mädchen. Hohlwangig und bleich. Seine Stimme klang nur noch schwach: "Bist du der, der kommen soll?"

Der Mönch verstand sie kaum. "Was meinst du. Wer soll kommen?"

Ein junger Mann streichelte das Gesicht des Kindes. "Meine Tochter hat Fieber. Wie viele hier. Wir brauchen die Heilmittel. Sonst sterben wir alle."

„Was ist das für eine Krankheit?“ Sheen wollte mehr über das Dorf und den seltsamen Schlittenführer erfahren.

"Sie kommt und geht. Manche überleben es nicht. Der Rote Klaus bringt Medikamente, die heilen oder aber lindern. Der Gedanke, dass er bald kommen wird, lässt uns in dieser Kälte aushalten."

Sheen warf die Decken beiseite. "Ich muss wieder los. Länger kann ich nicht bleiben. Jemand muss den Schlitten für euch holen."

Wortlos brachten ihn die Dorfbewohner zu dem gefrorenen Baumstamm. Der Kriegermönch kletterte auf die provisorische Brücke. Nach wie vor tobte ein heftiger Eissturm.

Zentimeter um Zentimeter schob er sich über das Eis gewordene Holz. Mehr als einmal wollte er aufgeben. Aber der Gedanke an das kleine Mädchen trieb den Verzweifelten an. Schließlich erreichte er die andere Seite des Abgrunds.

Mit letzter Kraft wälzte er sich auf festen Grund. Die Welt bestand wieder aus Eiskristallen, die der Wind vor sich hertrieb und alles erstarrender Kälte. Wie sollte er unter diesen Umständen diesen Schlitten wiederfinden?

Sheen versuchte, die Richtung zu erahnen, in der sich das Gefährt befinden könnte. Doch der starke Sturm nahm ihm die Entscheidung ab. Ohne jede Möglichkeit der Gegenwehr trieb der Orkan den jungen Kriegermönch über die Schneefläche. Bei seinen Versuchen stehen zu bleiben, ließ seine Konzentration nach. Seine magische Feueraura erlosch. Damit büßte er seinen Schutz gegen das beißende Eis ein, er war dem lähmenden Frost hilflos ausgeliefert. Bald spielte der Blizzard sein eigenes Spiel. Der Mönch stolperte, fiel, stand wieder auf und schleppte sich weiter.

Nach einer Weile fühlte er, dass ihn seine Kräfte verließen. Sollte er nicht in absehbarer Zeit Hilfe vor der Eiseskälte finden, würde er erfrieren. Wie er es als Feuermagier gelernt hatte, sammelte er seine Gedanken. Er konzentrierte sich, versuchte die dünne Wand aus Flammen neu zu erschaffen, doch er versagte. So wie der Sturm seine Glieder lähmte, schwächte er auch seinen Geist. Nach mehreren vergeblichen Versuchen gab er auf.

Sheen wusste, dass er nicht einschlafen durfte. Er beschloss, tief in seiner Seele nach starken Emotionen zu suchen. Gefühle, mit einer solchen Macht, die ihm helfen könnte, die letzten Kraftreserven abzurufen. In seinem Innern brannte noch immer das Feuer der Rache. Wenn er sich vorstellte, die Mörder seiner Freunde, seines Lehrers endlich zu stellen und zu töten, sollte dies mächtig genug sein, um ihn zu retten. Sein Wunsch nach Vergeltung trieb den Kriegermönch jeden Tag an, die harten Übungen durchzuhalten, um ein ausgebildeter Feuermagier zu werden.

Er erinnerte sich an die entstellten Leichen seiner Mitbrüder. Ihre Köpfe, die die Soldaten auf der Klostermauer Krähen zum Fraß aufstellten. Die Versuche Vonhagens, ihn zu ermorden. Welches Leid der Sergeant während seiner Jagd nach dem einzigen Zeugen seiner Verbrechen verübt hatte.

Er rief sich die Gesichter der Mörder in allen Einzelheiten in Erinnerung. Dazu die Genugtuung, wenn er endlich Vergeltung übte. Er stellte sich ihren qualvollen Tod vor, falls er die Täter zu fassen bekäme. Und zündete das Feuer.

Aber die Flamme der Rache brachte keine Wärme. Sie verbrannte wie ein Strohfeuer, loderte in die Höhe, wärmte jedoch nicht. Verzweifelt schloss er die Augen. Er musste erkennen, dass dieser Sturm ihn tötete.

Seine Bewegungen erlahmten, bald lag er ausgestreckt auf dem Schnee, atmete flach. Sheen war klar, dass er hier sterben würde. Noch einmal erinnerte er sich an das Dorf, das vergeblich wartete. Er rief sich das Gesicht des kranken Mädchens in seine Erinnerung zurück. Hörte ihre schwache Stimme: "Bist du der, der kommen soll."

Er weinte. Mit diesem Mitgefühl entzündete sich eine neue Flamme. Viel kleiner als das Feuer der Rache. Aber sie wärmte. Und gab ihm wieder Kraft. Er hob seinen Kopf, um sich zu orientieren. Der Wind, der bis jetzt getobt hatte, legte sich ein wenig. Die Sicht verbesserte sich und sein Blick fand einen schmalen Hügel haarigen Fells nicht weit entfernt. Dort lagen unter einer Schneedecke die Hirsche, die vor den seltsamen Schlitten gespannt waren.

Dank der gewonnenen Energie kroch Sheen darauf zu. Von lockerem Schnee begraben wartete der dicke Mann neben seinem ungewöhnlichen Gefährt.

"Warst du im Dorf? Hast du ihnen gesagt, dass ich komme?" Der Unbekannte schien vom Sturm unberührt. Aber seine Neugier kannte kein Ende. Der junge Mönch berichtete ihm ausführlich über die Not in der kleinen Siedlung. Wie dringend die Hilfe benötigt wurde.

"Sie wissen, dass ich kommen werde. Irgendwann wird sich der Eissturm legen. Dann können die Bewohner ihre Medikamente bekommen."

Sheen senkte enttäuscht den Kopf. "Meine Mission war erfolglos. Die Dorfbewohner erwarteten, dass ich die versprochenen Heilmittel dabei hätte. Jedoch vergeblich." Er kauerte sich traurig hin. All die Strapazen, die furchtbare Kälte, der lebensgefährliche Ritt auf dem Eisstamm. Zwecklos. Ohne Sinn.

Der seltsame Mann lachte: "Du täuschst dich, mein Freund. Du brachtest keine Heilung, aber etwas, das mindestens genauso wichtig für die Menschen ist. Nämlich Hoffnung! Ohne Hoffnung ist jeder verloren. Der Blizzard wird nachlassen, meine Hirsche diesen Abgrund überwinden, dann wird Hilfe das Dorf erreichen. Du hast ihnen Mut gebracht, neuen Glauben. Jetzt wissen sie, dass jemand kommt, und werden durchhalten. Das solltest du nie vergessen."

Sein Lachen übertönte bald den Sturm, im nächsten Wimpernschlag raubte Sheen eine schwarze Wand voller Dunkelheit das Bewusstsein.

***

Er wachte unter freiem klarem Himmel auf. Die Sterne zeigten ihm, dass er zwei Tage hier gelegen hatte. Solange hatte sein Schlaf gedauert. Offenbar befand sich im Sekret der Kröten eine Droge, die ihn in diese fremde Welt geträumt hatte.

Er wollte sich bewegen, aber irgendetwas hielt seine Arme und Beine fest. Besorgt schaute er sich um. Die Ruthli waren wieder in ihre einsamen Berge aufgebrochen. Doch bevor der Stamm weiterzog, bedeckten sie seinen Körper bis zum Hals mit der immer noch warmen Erde über dem Erdofen. Spuren bewiesen, dass ein Stammesmitglied an seiner Seite gewacht hatte. Es konnte der Junge gewesen sein, den er befreit hatte, und ihn anschließend zu seinen Leuten führte.

Sheen schüttelte das lockere Erdreich ab. Er fühlte sich kräftig. Ausgeruht. Er fand seinen Beutel und machte sich auf seinen Weg zurück in bewohntere Welten.

Nach einer Weile stellte er fest, dass außer der Rache zwei weitere Feuer in ihm brannten. Klein, aber spürbar. Mitleid und Hoffnung.

***


Impressum

Texte: Peter Hilger
Bildmaterialien: Peter Hilger
Tag der Veröffentlichung: 28.12.2012

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