Mit seinen 12 Jahren verfügte der Sohn eines Schmieds über einen robusten Körper und am Amboss trainierte Muskeln. Aber stundenlang durch den Wald zu laufen, gehörte nicht zu seinen Stärken. Der Dauerregen, die durchnässte Kleidung und der rutschige Boden erschwerten die Reise zusätzlich.
Er wusste, dass Klagen nicht half. Sein Onkel würde es überhören und ihn vorwärtstreiben. Aus diesem Grund versuchte er jeden Tonfall zu unterdrücken, der an eine Beschwerde oder Schwäche erinnerte.
„Ohm, wann werden wir rasten?“
„Noch zwei Meilen bis zum Turm. Hinter dieser Anhöhe wartet er auf uns.“
„Und ein Lagerfeuer und Abendessen?“
„Beides, Sagar. Es liegt genug Holz in der alten Festung. Unser Essen trägst du in deinem Rucksack.“
Mittlerweile hatten sie den Gipfel des Anstiegs erreicht. Die Kraft der Sonne ließ merkbar nach und der Himmel im Osten verdunkelte sich. Ihnen blieb nicht viel Zeit, wenn sie rechtzeitig ihr Ziel erreichen wollten und der Abstieg bei dem Dauerregen und dem abschüssigen Untergrund war gefährlich.
Aber die Neugierde des Jungen war noch nicht gestillt.
„Sehen wir Waldelfen?“
„Erst am Loh-Hügel. Und es kann passieren, dass sie gar nicht kommen.“
Sagar war einen Moment unkonzentriert. Der lange Marsch und der matschige Boden forderten ihren Preis. Ein falscher Tritt ließ ihn ausrutschen. Ohne die Hilfe seines Onkels, der ihn im letzten Augenblick festhielt, wäre er gestürzt.
Doch seine Neugierde blieb ungebrochen:
„Hast du sie schon mal dort gesehen?“
„Unter dem Erdhügel liegen Elfen und Menschen gemeinsam begraben. Alle 25 Jahre treffen sich beide Völker, um ihrer Toten zu gedenken. Sie starben zusammen in der Schlacht um Gevelheim.“
„Werde ich auch Sheen sehen.“
„Beim letzten Mal fehlte er. Er kämpfte in den Feuerbergen. Aber davor traf ich ihn bei der Feier!“
„Wie sieht er aus? Ist er wirklich so stark? Hat er ...“
„Junge, wenn du weiter so plapperst, kommen wir nie an. Ich freue mich auf ein wärmendes Feuer und einen gefüllten Bauch.“
Beide Wanderer atmeten heftig, der Marsch kostete eine Menge Kraft und sie brauchten Ruhe. Es dauerte nicht mehr lange, bis sie ihr Tagesziel erreichten. Zu ihrer Überraschung brannte in der Turmruine, die für die Nacht als Unterkunft dienen sollte, ein prasselndes Lagerfeuer. Ein alter Mann hockte daneben und rührte in einem Topf. Es roch köstlich nach Wildbret und Saubohnen.
Der Fremde schaute auf. An diesem einsamen Ort Reisende zu treffen, schien ihn nicht zu erstaunen: „Gut, dass ich noch ein paar Bohnen mehr mitnahm. Ein Freund mag dieses Gemüse. Als wir uns beim letzten Mal trafen, bat er mich, ihm einen kleinen Vorrat mitzubringen. Nun reicht der Eintopf auch für drei.“
Sagars Onkel war froh, an diesem düsteren Ort nicht alleine zu sein.
„Ein freundliches Angebot, das wir gerne annehmen. Aber erlaubt, dass wir einen Beitrag leisten. In unseren Beuteln sind Zwiebel und Möhren. Stecken wir sie mit in den Topf. Dann bleibt für ihren Freund mehr übrig.“
Bald saßen die Wanderer zusammen am Feuer und teilten sich den Eintopf.
Es dauerte nicht lange und Sagars Neugier siegte endlich über seinen Hunger: „Ihr wollt auch zu den Loh-Hügeln?“
„Ja, so wie ihr!“
„Wir werden Waldelfen sehen. Und Sheen soll da sein!“
„Dann habt ihr ja viel vor. Ihr müsst zu der Feier gehen, da werden die Elfen teilnehmen.“
„Ohm sagt, sie kommen vielleicht nicht.“
„Sie werden da sein. Wenn sie nicht wollen, dass du sie siehst, wirst du sie nicht bemerken.“
„Was muss ich tun, dass sie es wollen?“
„Es reicht!“, unterbrach der Onkel Sagars nicht enden wollende Fragen. „Der Herr möchte in Ruhe essen.“
„Kommt auch Sheen, habt ihr ihn mal gesehen?“ Der Junge war nicht bereit, eine gute Quelle ungenutzt zu lassen.
Der alte Mann lachte: „Lasst ihn. Wer ist Sheen?“
„Er hat mit den Elfen gekämpft. Sie mögen ihn. Er darf sie immer besuchen.“
„Ah, so heißt er bei euch. Wir nennen ihn „Elfenfreund“ oder den „grauen Wächter“.
„Er soll viele Kämpfe ausgefochten haben. Und viele getötet. Er ist ein großer Krieger.“
„Erzählt man das. Weil er viele getötet hat?“
„Ja. Orks und Untote. Dämonen und böse Menschen.“
„Weißt du, dass er einen seiner größten Kämpfe hier hatte? Hier in dieser Ruine, in der wir essen und übernachten werden.“
„Kannte er da Elfen.“
„Nein, es war lange vor der Zeit. Sheen war etwa so alt wie du, Sagar.“
Der Junge prüfte den alten Turm mit misstrauischen Blicken. Das baufällige Gemäuer schien ihm nicht der passende Ort für eine große Schlacht oder ein Gefecht zu sein.
„Hier wurde gekämpft? Wie viele hat er getötet?“
„Niemanden.“
„Sheen war feige ...?“
„Kommt mit, ich will euch was zeigen“
Der alte Mann führte sie zu einem Friedhof direkt neben dem Turm. Sagar zählte zwölf Tafeln, die man um einen kleinen Fels gruppiert hatte. Auf dem Stein lagen Opfergaben. Er erkannte vertrocknete Blumen und geweihte Gegenstände, wie sie auch der Priester zuhause verkaufte.
„Hier ruhen die Soldaten, die bis zuletzt den Weg gegen die Orks verteidigten. Es war einige Jahre vor der großen Schlacht in den Loh-Hügeln. Dort besiegten Menschen und Waldelfen sie gemeinsam und drängten sie hinter die Grenze. Vor dieser Zeit stand dieser Turm als einziges Hindernis zwischen einem Trupp der Grünhäute und dem Dorf, in dem ihr letzte Nacht geschlafen habt.“
„Und Sheen ...? „, Sagar ließ nicht locker.
Der Unbekannte führte sie zurück ans Lagerfeuer.
„Verzeiht, aber meine alten Knochen brauchen die Wärme. Er war hier, mein junger Freund. Doch jetzt muss ich mich hinsetzen.“
***
Ihr Gestank warnte ihn rechtzeitig. Eine Horde Orks konnte sich nicht verstecken. Sheen kannte den Geruch bis zu diesem Zeitpunkt nicht, aber diese Mischung musste zu einem Lager der Grünhäute gehören.
Eigentlich war er auf der Suche nach Elfen.
Seine größte Sorge war, nicht aus Versehen in ihr Territorium zu geraten. Ihr Hass auf die Menschen, die sie gerne „Waldschlächter“ nannten, war grenzenlos. An der Grenze stellten sie zur Warnung mannsgroße Pfähle auf. Die geschnitzte Vorderseite schmückten sie mit Federn und Zweigen. Ihre andere Seite bemalten sie der Legende nach mit dem Blut derjenigen, die sich in ihren Teil des Waldes gewagt hatten.
Sheen kannte aber niemanden, der je eine solche Rückseite gesehen hatte.
Er fürchtete, die warnenden Zeichen könnten so mit der Umgebung verschmolzen sein, dass er sie übersehen hatte. In diesem Fall würde ein unsichtbar abgeschossener Pfeil oder eine zischende Würgeleine ihn töten.
In diesem Abschnitt des Großen Walds stießen die Gebiete der Menschen und der Waldelfen zusammen. Ein kleiner Pfad führte von hier aus hinter das Gebirge, dem Teil der Welt, der von den Wilden, bewohnt wurde. Dazu zählten auch die Orks, die den schmalen Weg regelmäßig als Einfallstor nutzten. Aus dem Grund stand an ihrem Ende ein Wachturm, der vagabundierende Trupps der Grünhäute aufspüren und melden sollte. Die Leute im Dorf hatten ihm erzählt, dass ein solcher Überfall zuletzt vor mehr als 100 Jahren geschehen sei. Aber dieser Gestank bedeutete, dass sie wieder eingedrungen waren.
Dabei wollte er nur endlich einmal Elfen sehen.
Er versteckte seinen Rucksack mit seinem Studienbuch und den Vorräten und schlich zwischen den alten Bäumen weiter in den Wald. Lautes Gebrüll und grobe Stimmen führten ihn zu einer Lichtung. Hier, hinter den Baumstämmen verborgen, sah er zum ersten Mal Orks.
Ein Haufen der Ungeheuer scharte sich um ein riesiges Exemplar. Es überragte den größten Mann, den er je gesehen hatte. Arme und Beine dicker, als die Stämme, die er als Deckung nutzte. Und mit Händen und Klauen, die er niemals in dieser Größe für möglich gehalten hatte. Um ihn herum, drängte sich eine Gruppe von etwa dreißig Grünhäuten, die seiner Rede, einer Mischung aus Gebrüll und Wortfetzen lauschten. Seine Rüstung bestand aus scheinbar willkürlich zusammen genieteten Stücken aus menschlichen und elfischen Panzerungen. Sein einziges Auge fixierte die Orks, in der linken leeren Augenhöhle steckte ein blasser Kristall. Seine Ansprache unterbrach er nur, um mit einer Hand in den Kadaver eines toten Pferds zu greifen. Jedes Mal riß er große Fetzen rohen Fleischs heraus und verschlang sie. Dann brüllte er seinen Kriegern, die nicht viel kleiner waren als er, Befehle zu, und ein Teil der Grünhäute lief hastig in den Wald.
Zeit zu verschwinden, beschloss Sheen, als er einen Schlag erhielt und die Welt um ihn herum schwarz wurde.
Als er erwachte, lag er in einem roh zusammengezimmerten Käfig aus dicken Ästen und groben Stricken. Mühsam richtete er sich auf. Er tastete vorsichtig seinen Kopf, bis er eine mit blutverkrustete Wunde fand. Er erfühlte einen Fetzen aus einem Hemd oder einem Tuch, der die Verletzung vor dem Schmutz und dem Dreck in seinem Gefängnis schützte. Sein Messer fehlte und ihn plagten fürchterliche Kopfschmerzen.
Er war nicht allein.
Ihm gegenüber saß ein junger Offizier der lokalen Garde. Nach einem Kampf erheblich ramponiert und mit einigen leichten Blessuren.
„Ich nehme an, euch habe ich den Verband zu verdanken. Finger von Grünhäuten sollten nicht so geschickt mit Leinen sein. Schönen Dank dafür.“
„Eine Selbstverständlichkeit. Sie machen es ihren Gästen nicht gerade gemütlich. Ich denke, im ganzen Gebiet der Orks gibt es kein einziges Gasthaus.“
„Ich bin überrascht, in so einer Situation noch einen Mann mit Humor zu finden. Mein Name ist Sheen, vom Kloster aus Hellwork.“
„Galgenhumor. Würde ich sagen.“
Sein Blick fiel auf drei tote Soldaten, die neben ihrem Gefängnis auf dem Boden lagen. Die Orks hatten sie grausam verstümmelt, und alle Rüstungsteile und Waffen fehlten.
„Ich war ihr Anführer,“ sagte der Offizier. „Wir waren auf Patrouille. Scheinbar sinnlos, wie so oft. Und dann dies. Aber verzeiht, mein Name ist Locdam, Leutnant der Garde.“
„Wo kommt ihr her, Leutnant.“
„Wir lagern in dem Wachturm am Ende des Pfads. Seit hunderten von Jahren der Platz, der das Land vor einfallenden Orks warnt und beschützt. Und ausgerechnet ich habe versagt. Die kleine Garnison gilt eher als Abschiebeort. Noch nie ist etwas passiert.“
„Warum wurden sie verschont?“
„Sie wissen, dass ich Offizier bin. Ich soll gegen ihren Anführer kämpfen. Meine Niederlage wird sein Ansehen steigern und mehr Orks aus dem Wilden Land zu ihm führen. Auf diese Weise sammeln sie ihre Anhänger, bis sie genug sind, um größere Feldzüge zu unternehmen. Danach werden sie dich töten. Du bist eindeutig ein Magier. Wer sonst läuft in dieser Wildnis nur mit einem kleinen Messer herum.“
„Ich bin froh, dass sie meinen Rucksack nicht gefunden haben. Ihr wisst viel über Orks.“
„Mein Freund in diesem einsamen Wachturm gibt es nur wenig Unterhaltung und nur zwei Bücher: „Fols Kräuterkunde“ und „Tohms Wahrheit und Lügen über die Orks“.
„Ihr habt Fols Buch über Kräuter. Ich kenne nur eine unvollständige Abschrift. Bitte sagt, dass sie komplett ist.“
„Diese Frage ist rein theoretisch. Ich bezweifle, dass wir beide sie jemals lesen werden.“
„Unterschätzt mich nicht, ich bin ein Magier des Feuers.“
„Ich glaube dir. Du schaffst vielleicht drei oder vier dieser Ungeheuer. Dann sind die anderen über dir. Verwechsle sie nicht mit uns Menschen. Für sie gibt es nur Kampf und Sieg. Der Tod von ein paar Orks hält sie nicht auf.“
„Die übrigen Soldaten aus der Garnison? Sie werden euch suchen.“
„Sie besteht nur noch aus elf Mann. Nicht genug, um diese Horde aufzuhalten. Mit der Festung im Rücken können wir sie im besten Fall etwas aufhalten. Viel wichtiger ist es, das Dorf zu warnen und die Menschen dort weg zu führen. Jemand muss ihnen Bescheid geben.“
Plötzlich kam Bewegung in die Grünhäute. Eine kleine Gruppe Neuankömmlinge zog einen grob gezimmerten Karren aus dem Wald. Sie wurden mit lautem Gebrüll begrüßt. Auf dem Wagen stand das seltsamste Götzenbild, das Sheen je gesehen hatte.
Der Leutnant schien es zu kennen: „Thoms beschreibt so etwas in seinem Buch. Sie nennen es ein G’mod.“
„Was ist ein G’mod?“
„Eine rohe Figur, die ihren Gott ehrt. Sie besteht aus Schlamm, allem möglichen Unrat und Beutestücken von ihren Feinden. Dieses Sammelsurium ist um ein Gerüst aus Knochen und Stroh gedrückt. Sie ziehen es hinter der Horde her und soll sie beschützen und anfeuern.“
Sheen rümpfte die Nase: „Dieses Ding stinkt ja noch mehr als diese Meute. Was haben sie vor?“
„Sie möchten, dass es bei unserem Tod zusieht. Bald werden sie mich holen.“
Und dann sah der Kriegermönch zum ersten Mal einen Elfen.
***
Ihr Lagerfeuer war beinahe ausgebrannt und der Ohm schickte den Jungen los, neues Holz zu besorgen. In erstaunlich kurzer Zeit kehrte Sagar zurück, warf Äste in die Flammen und drängte.
„Einen Elf. Wie sah er aus?“
„Tot.“
„Bitte erzählt weiter.“
***
Einer der Orks zog an den Füßen einen Leichnam zu seinem Anführer. Der hob ihn hoch und zeigte ihn der Meute mit lautem Gebrüll.
Es musste sich um einen toten Waldelf handeln. Er wirkte sehr schlank, ja feingliedrig und von hohem Wuchs. Sein Gesicht eher länglich, mit langem Haar, und er trug ein Gewand aus Grün und Grau, das zu verschwimmen schien.
„Eindeutig ein „Waldhüter“, sagte der Leutnant. „Siehst du die Halskette mit dem grünen Kristall? Diesen Stein überlassen die Elfen ihren Grenzwächtern. Es ist eine besondere Ehre, und nur ihre besten und angesehensten Krieger bekommen solch ein Abzeichen. Ich würde gern wissen, wie ihn die Orks besiegt haben.“
Sheens Gedanken rasten. Es musste einen Ausweg geben. Gleich ging die Sonne unter, und es war bekannt, das die Grümhäute in der Dunkelheit Probleme bekamen. Da sich Locdam in der Gegend auskannte, erreichten sie mit etwas Glück den Wachturm. Dort waren sie zunächst mal in Sicherheit.
Lautes Gebrüll lenkte ihn ab.
Der Anführer hatte den Edelstein des Elfen abgerissen, dann holte er den blassen Stein aus der leeren Augenhöhle und steckte dafür den Kristall hinein. Unter dem Jubel seiner Anhänger drückte er anschließend den toten Körper des Elf in den Schlamm und Unrat der Götzenfigur.
Sheen hatte einen Plan.
„Ihr kennt den Weg in euren Turm. Wie lange dauert es, bis wir dort sind?“
„In dieser Dämmerung etwa zwei Stunden. Die Dunkelheit kann uns gegen die Orks helfen. Mit etwas Glück werden wir vor ihnen da sein. Aber erst einmal müssen wir hier heraus, und wir brauchen einen Vorsprung.“
„Den verschaff ich uns, und dieser Käfig hält uns nicht auf. Wir müssen nur unbedingt zusammenbleiben.“
„Was immer ihr vorhabt, macht es. Ich bin dabei.“
Sheen betrachtete die groben Stricke, die ihr Gefängnis zusammenhielten und dann fiel sein Blick auf die Statue aus Knochen, Stroh und Unrat.
Knochen und Stroh sollten brennen.
Er wirkte einen kräftigen Feuerzauber, und plötzlich stand die Figur auf dem Karren in Flammen. Es folgte sekundenlange Stille, bis die Orks wie aus einem Mund in lautes Schreien und Brüllen einfielen. Ihr Götze brannte.
Ein weiterer kleiner Zauber und die Schnüre und Stricke ihres Käfigs verglimmten. Sie waren frei.
Noch lenkte der Anblick ihres brennenden Abgotts ihre Wächter ab und mit ein paar Sprüngen verschwanden die Gefährten in der Dunkelheit. Sie mussten genügend Vorsprung gewinnen, wenn ihnen die Flucht gelingen sollte. Sheen hielt sich im schwindenden Licht an Locdam, der sich im Wald besser auskannte. Gerade, als er sich Hoffnung machte, dass sie entkommen könnten, stolperte er und stürzte. Und verlor zum zweiten Mal an diesem Tag das Bewusstsein.
Leichte Ohrfeigen weckten ihn. Zu seiner Freude erkannte er den Leutnant.
„Leise, die Orks sind nicht mehr weit. Ihr seid über euren eigenen Beutel gestolpert.“
Er hielt Sheens Rucksack hoch. Der Magier hatte ihn in der Nähe versteckt, bevor er sich angeschlichen hatte. Im Moment schwankte er zwischen der Angst, dass dieser Zwischenfall ihre Flucht verhindern könnte und der Freude, dass er sein Eigentum wieder gefunden hatte.
„Los, kommt. Sie sind nicht weit weg!“ Locdam trieb ihn an.
Die immer stärker einsetzende Dämmerung behinderte ihre Verfolger. Bald wurden die Geräusche hinter ihnen leiser, und schließlich legten sie eine kurze Rast ein.
„Um ein Haar wäre unsere Flucht zu Ende gewesen. Allerdings euer Auftritt als Magier hat mir gefallen. Dieses widerliche Götzenbild wird noch eine Weile brennen. Was habt ihr in diesem verfluchten Rucksack?“
„Mein Studienbuch. Und Proviant.“
„Proviant? Sag schnell, was genau.“
„Gemüse für einen Eintopf.“
„Euch schickt der Himmel. Aber jetzt weiter. Wir haben nicht viel Zeit.“
Vor den beiden Gefährten lagen noch mehrere Meilen durch dichtes Unterholz und Dickicht. Es war nicht leicht, in der Nacht, den Weg zu finden, doch gleichzeitig behinderte sie ihre Verfolger. Am Ende erreichten sie Dank Locdams Ortskenntnis vor dem Tageseinbruch ihr Ziel.
Dort verlor der Leutnant keine Zeit, instruierte seine Männer und organisierte die Abwehr der Eindringlinge. Sheen war nach der langen Wanderung auf der Suche nach Elfen und der anstrengenden Flucht erschöpft. Er zog sich in eine abgelegene Kammer für eine kurze Ruhepause zurück. Doch als ihn sein Gefährte wecken wollte, fand er den Mönch beim Zeichnen.
„Schon auf und wach.“ Er warf einen kurzen Blick auf das Blatt. „Was ich dich schon früher fragen sollte. Wie lautet eigentlich der Name deines Ordens?“
„Mein Orden hat keinen Namen. Wir sammeln Bücher und Wissen.“
Locdams Gesichtszüge versteiften sich.
„Wir Soldaten haben einen anderen Namen für Wissen. Wir nennen es Informationen. Ich habe von diesem Orden gehört. Manche behaupten, ihr wärt auch als Spione unterwegs.“
Sheen war bestürzt. „Wie kommst du darauf.“
„Du zeichnest. Du hältst dich in einer Festung auf. Welche Erklärung kannst du mir geben?“
„Beschreibungen des Turms findet man in vier verschiedenen Bänden. Seitdem ist er mehr und mehr verfallen und vernachlässigt. Dies sollte allerdings in den Geschichtsbüchern vermerkt werden.“
Der Offizier ließ nicht locker.
„Und was zeichnest du dann. Was gibt es in der Kammer wichtiges, das du es auf Pergament festhalten musst?“
Wortlos übergab ihm Sheen das Blatt.
Der Mönch hatte mit wenigen Strichen ein perfektes Portrait des Leutnants gezeichnet. Locdam war bestürzt.
„Entschuldige. Die Niederlage gegen die Orks. Dann die Gefangenschaft und die Flucht. Dazu die Vorbereitungen hier. Ich bin zu müde und habe mich getäuscht. Wir sind Freunde geworden. Das hätte ich nicht von dir denken dürfen.“
Wortlos standen sich beide gegenüber, schließlich hielt Sheen ihm die Hand hin.
„Ich besitze nicht viele Freunde. Es wäre dumm, auf einen zu verzichten. Hier meine Hand. Die Zeichnung ist für dich.“
In diesem Moment klopfte es an der Tür. Ein Soldat trat ein und übergab dem Offizier eine dampfende Schüssel.
„Ich sollte es bringen, wenn es fertig ist. Es ist heiß, also passt auf.“
Locdam stellte sie auf einen Tisch. Es roch köstlich.
„Was ist das?“ Sheen bemerkte sofort seinen Hunger und griff zu.
„Was denkst du? Frühstück. Keiner stirbt gern mit leerem Magen. Ich habe mich aus deinem Proviant bedient. Wir sind im Moment etwas knapp an Lebensmitteln. Ich hätte da noch eine Bitte.“
Sheen stellte das Essen ab.
„Nur zu.“
„Gibst du mir was von deinem Gemüseeintopf. Hier gab es in den letzten Wochen nur Wildbret. Ich kann den Geschmack von Fleisch nicht mehr ertragen.“
Beide mussten lachen. „Bedien dich, Soldat. Wie willst du die Orks aufhalten?“
„Ich habe, so gut das in der Nacht ging, Bäume fällen lassen, um den Zugang zum Pfad noch enger zu machen. Wir werden den Weg mit unseren Lanzen blockieren. Nach meiner Schätzung können wir zwei oder drei Angriffe abwehren. Dann müssen wir uns in den Wachturm zurückziehen.“
„Und dann?“
„Bleiben uns noch etwa zwei Stunden. Die Orks sind stark, die Mauern geschwächt. Dann geht es Mann gegen Mann.“
„Ich kann euch mit den Feuerzaubern helfen.“
„Du wirst nicht hier sein, wenn sie kommen.“
Sheen lies beinahe sein Essen fallen. „Wo denkst du, dass ich sein werde. Ich werde euch nicht im Stich lassen.“
„Andere haben uns im Stich gelassen. Zu wenig Soldaten und Ausrüstung. Jemand muss die Leute im Dorf warnen. Das Einzige, was wir erreichen können, ist dir einen ausreichenden Vorsprung zu verschaffen.“
„Schick einen Soldaten.“
„Ich brauche jeden ausgebildeten Soldaten in der Phalanx, wenn ich überhaupt eine Chance haben will. Du bist schnell, beweglich. Es reicht aus, dass du dem Pfad folgst. Er führt dich sicher zum Dorf. Die Bewohner wissen, was zu tun ist. Sie werden ihre Häuser nicht retten können. Aber wenigstens ihr Leben. Aber nur, wenn du sie warnst.“
„Ich kann dich nicht im Stich lassen.“
„Du lässt mich im Stich, wenn du bleibst. Meine Aufgabe ist es, das Dorf zu schützen. Ich schütze es, wenn ich die Orks hier so lange wie möglich aufhalte und das Dorf warne. Dazu brauche ich dich.“
„Ich kann nicht … Ich will nicht …“
„Ich weiß. Irgendwann wirst du mächtig genug sein, ganz allein eine solche Horde Grünhäute zu besiegen. Heute vernichtest du zwei, vielleicht drei, bestenfalls vier Gegner. Dann werden dich deine Kräfte verlassen. Eine gut ausgebildete Doppellinie mit Lanzenträgern ist an diesem Morgen die bessere Alternative.“
Locdam nahm seine Hand: „Ich bitte dich als mein Freund. Der einzige Sieg, den ich hier erringen kann, ist es, das Dorf zu warnen. Und dieser Triumph kann mir nur mit deiner Hilfe gelingen.“
Sheen weinte. „Werden wir uns wiedersehen?“
„Vermutlich in einer anderen Welt. Aber ich freue mich schon jetzt darauf.“
Der Mönch rang nach Worten.
„Unsere Freundschaft habe ich mir länger vorgestellt.“
„Du irrst. Unsere Freundschaft bleibt. Für immer!“
Locdam griff sich den Teller mit dem Gemüse.
„Aah. Bohnen. Ich liebe Bohnen. Wenn du jetzt sofort aufbrichst, hat das zwei Vorteile.“
„Mein Freund …?“
„Du erhältst mehr Vorsprung, denn es wird gleich hell genug sein für die Orks aufzubrechen“ Locdam nahm eine große Portion vom Gemüse. “Und es bleibt mehr von dem Eintopf für mich.“
***
„Hat Sheen später Elfen gesehen? Und konnte er das Dorf warnen?“
Das Lagerfeuer war beinahe erloschen und die Nacht schon fortgeschritten. Aber die Neugier ließ Sagar nicht los.
Der alte Mann nickte. „Bei uns heißt er nicht umsonst „Elfenfreund“. Er schloss Freundschaft mit einigen, andere wurden seine Feinde. Aber er sah viele Elfen und war in ihren Städten. Und er erreichte rechtzeitig das Dorf. Wie Locdam vorausgesehen hatte, brannten die Orks es nieder. Doch ihre Einwohner konnten vorher fliehen.“
„Sah er Locdam noch einmal?“
„Er kehrte mit einer großen Anzahl von Kriegern zurück. Der Wachturm war niedergebrannt und zerstört. Er wurde nie wieder aufgebaut. Sheen begrub seinen Freund und die Soldaten hier. Ich habe euch vorher ihre Grabstätte gezeigt. Ab und an bringen die Leute aus dem Dorf ein paar Opfergaben zu ihrem Andenken. Aber nur die, die sich an diesen Kampf noch erinnern können.“
„Erzählst du mir mehr?“
„Vielleicht morgen auf dem Weg.“
„Sehen wir Elfen …?“
„Wenn sie es wollen …“
***
Der Junge war erschöpft von der anstrengenden Wanderung, schließlich siegte seine Müdigkeit über die Neugier. Er und sein Ohm schliefen sofort ein. Der Fremde beobachtete sie eine Weile, nahm seinen Rucksack und ging leise zu der Grabstätte zurück. Sanft legte er ein paar Bohnen auf den Stein.
„Für dich, mein Freund.“
Dann trat er in den Schatten und bewachte den Schlaf seiner Gefährten.
Texte: Peter Brendt
Bildmaterialien: © Digital-Clipart - Fotolia.com/bearbeitet von p.brendt
Tag der Veröffentlichung: 24.10.2012
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