Es war ein prächtiges Exemplar eines Kolkrabens, das sich mit zierlichen Sprüngen dem Kopf des Toten näherte. Sein schwarzes Gefieder glänzte metallisch im ersten Licht des Tages. Erst vor wenigen Jahren waren die großen Rabenvögel in den Wäldern des Kyffhäusergebirges wieder heimisch geworden. Besonders die Abfälle der vielen Touristen sorgten für ein ausreichendes Nahrungsangebot.
An diesem Morgen bot sich den gefiederten Aasfressern ein besonderer Leckerbissen. Der Altvogel hatte den toten Mann als erster entdeckt. Mit seinem ausgezeichneten Geruchssinn hatte er die Witterung geronnen Blutes wahrgenommen. Von einem sicheren Ast aus hatte er den bäuchlings auf den Waldboden geworfenen Körper zunächst beäugt, um festzustellen, ob er sich rührte.
Nach einer gebührenden Weile wagte das Tier den nächsten Schritt. Es landete eine gute Armlänge von der Leiche entfernt auf dem Boden, sprang dann mit einem Satz auf sie zu, hackte mit voller Wucht in die Wunde am Hinterkopf und zog sich umgehend zurück. Warten. Nichts rührte sich. Ein erneuter Versuch kam zu dem gleichen Ergebnis.
Mit lautem Krächzen benachrichtigte der Rabe seine Artgenossen. Das Festmahl konnte beginnen.
„Simon, pass doch mal ein bisschen auf!“
Ein Gemisch von Milch mit Cornflakes ergoss sich auf den Küchentisch, der zum Glück mit einem Wachstuch bedeckt war. Simon hatte seine Müslischale umgeworfen, als er mit einem heftigen Stoss seine Schwester Josephine in die Seite knuffen wollte, weil sie sich mit Fratzen über ihn lustig machte.
„Und du hör auf, ihn zu provozieren, Josi“, ermahnte Anne ihre Tochter. „Musst du nicht gleich los?“
Als Mutter von drei Kindern hatte Anne schnell gelernt, dass räumliche Trennung eines der effektivsten Mittel war, um Streitereien zu schlichten. Bis die beiden sich am Nachmittag wieder sahen, war die kleine Kabbelei vergessen. Platz genug hatten sie auch. Das Häuschen, das sie knapp zwei Jahre nach der Wende von einer in Auflösung befindlichen LPG hatten kaufen können, passte perfekt für ihre Familie.
Fünf Jahre lebten sie nun schon hier. Anne kam es vor, als sei es höchsten fünf Wochen her, dass Michael und sie am Umzugstag das Sofa im Wohnzimmer eingeweiht hätten, weil Josi, sich oben im Ehebett breit gemacht hatte. Sie hatten die Kinderwagentasche mit dem selig schlafenden Baby Simon einfach vor den großen Esstisch gestellt und….
„Was hast du mir denn drauf gemacht?“ Die Frage ihrer Ältesten holte Anne schlagartig in die Wirklichkeit zurück. Josi wollte immer ganz genau wissen, was drauf war, bevor sie ihr Schulbrot in den Ranzen steckte. Wahrscheinlich um zu tauschen, vermutete Anne.
Sie setzte die dreijährige Paula von ihrem Schoß auf die Eckbank, wo sie ihre Brötchenhälfte allein weiterkauen konnte. Bisher hatte sie sehr viel Glück gehabt: Drei Kinder, Michael, mit dem sie auch nach zehnjähriger Ehe noch reden und lachen konnte. Er hatte sich aus dem Nichts im Nachbarort eine Praxis als Landarzt aufgebaut. Sie verdiente als freiberufliche Journalistin gut dazu. Alle waren gesund. Natürlich gab es Konflikte und Streitigkeiten, aber nach jedem Krach hatten sie sich immer wieder vertragen.
Im Flur schrillte das Telefon. Erneut wurde Anne unsanft aus ihren Gedanken gerissen. Sie hing den feuchten Lappen, den sie nach dem Abwischen des Tisches gerade ausgespült hatte, an den Haken. Auf dem Display erkannte sie die Telefonnummer des Funkhauses – vielleicht ein Auftrag? Erfreut nahm sie das Mobilteil von der Station.
„Anne Sievert.“ Während sie sich meldete, setzte sie sich auf den Stuhl, von dem aus sie Paula im Auge behalten konnte.
„Guten Morgen, Anne. Ich hoffe, ich habe dich nicht geweckt“, antwortete Klaus Stark, der als amtierender Chef vom Dienst am heutigen Morgen für die Inhalte der aktuellen Sendungen verantwortlich war. Er hatte einen angenehmen, tiefen Bass und Anne schätzte seine ruhige Art.
„Das schaffst du nicht. Dafür habe ich die Kinder“, antwortete sie lächelnd. „Was ist los?“
„Es gibt eine Leiche in deinem Revier.“ Die freiberuflichen Reporter im Weimarer Funkhaus, zu denen Anne seit einem Jahr zählte, hatten das Bundesland Thüringen unter sich aufgeteilt. So kamen sie sich nicht in die Quere. Anne war für die drei nördlichen Landkreise zuständig.
„Auf dem Gelände des Kyffhäuserdenkmals hat eine Angestellte heute Morgen einen Toten gefunden, als sie in’s Büro wollte, einen etwa 35jährigen Mann“, fuhr Klaus fort. „Mehr wissen wir noch nicht. Kannst du dich darum kümmern?“
„Ja, natürlich.“ Anne war es gewohnt, auch ganz kurzfristige Aufträge anzunehmen. Den Wocheneinkauf, den sie heute Vormittag eigentlich erledigen wollte, konnte sie heute Abend machen, die Kinder waren in Schule, Hort und Kindergarten den ganzen Tag über versorgt.
„Super!“ Klaus Stark mochte Anne und ihre Arbeit. „Die Pressemitteilung der Polizei faxe ich dir gleich durch. Isabel hat daraus bereits für die nächste Nachrichtensendung etwas zusammengeschustert. Aber wir brauchen natürlich mehr. Wie schnell kannst du am Kyffhäuser sein?“
Zum Glück war Anne selbst schon geduscht und angezogen. Klein und außergewöhnlich zierlich, wie sie war, brauchte sie nicht viel, um gut auszusehen. Mit den Jeans und einem dunklen Pullover, die sie heute Morgen trug, konnte sie sich überall sehen lassen. Die kurz geschnittenen blonden Haare brachte sie während des Telefonats mit einem paar Handgriffen vor dem Garderobenspiegel in Ordnung. Lediglich die beiden Kleinen mussten noch fertig gemacht werden. Der Weg zum etwa 20 Kilometer entfernten Denkmal führte ohnehin am Kindergarten vorbei.
„In spätestens einer Stunde bin ich vor Ort und melde mich bei dir.“
Klaus Stark war zufrieden: „Ok. Ich schicke dir Stefan mit dem Ü-Wagen. Wir brauchen so schnell wie möglich einen neuen Text für die Nachrichten und einen Beitrag für die Mittagssendung. Ich melde es auch für die ARD an. Wenn zwischendurch eine neue Meldung von der Polizei kommt, rufe ich dich an.“
Annes Blut war inzwischen in Wallung gekommen. Es versprach ein arbeitsamer und lukrativer Tag zu werden. Vor allem aber liebte Anne das Unvorhersehbare an ihrem Beruf, die Überraschungen und unterschiedlichsten Menschen, auf die sie während einer Recherche immer wieder stieß. Und sie konnte im Stress richtig gut arbeiten, unter Zeitdruck blühte sie geradezu auf. Zeit zu verschenken hatte sie in diesem Moment allerdings nicht.
„Alles klar, bis nachher“, antwortete sie daher knapp und drückte die Trenntaste des Mobilteils. Während sie in die Küche ging, wählte sie die Nummer ihrer Freundin und Nachbarin. Die kleine Paula ließ sich bereitwillig auf den Arm nehmen und lachte, als sie die Klingeltöne und dann Dagmars Stimme aus dem Hörer neben ihrem Ohr hörte.
„Guten Morgen. Hier ist Anne. Wie geht es dir?“
„Gut. Ich will heute Gardinen waschen und hab schon die erste Maschine im Gang. Was liegt an?“
Anne grinste. Dagmar war natürlich klar, dass sie sie brauchte, wenn sie so früh am Morgen bei ihr anrief. Sie war drei Jahre älter als Anne und wohnte mit Mann und ihrem vierzehnjährigen Sohn schräg gegenüber. Die beiden Frauen hatten sich schnell angefreundet, nachdem Anne, Michael und die beiden älteren Kinder in das kleine Dorf an der Unstrut gezogen waren. Früher hatte Dagmar im 15 Kilometer entfernten Sömmerda bei Robotron gearbeitet. Als das Werk wie die meisten Industriebetriebe der ehemaligen DDR geschlossen wurde, hielt sie sich, wie viele Frauen im Dorf, einige Jahre mit Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen über Wasser. Seit diese nicht mehr zu bekommen waren, war Dagmar arbeitslos und froh, wenn sie Anne bei der Kinderbetreuung unterstützen konnte, sobald Not am Mann beziehungsweise an der Frau war. Zum Glück war sie ein sehr unkomplizierter Mensch und immer bereit, auch spontan einzuspringen.
Anne setzte Dagmar kurz ins Bild: „Ein Notfall. Das Funkhaus hat gerade angerufen. Am Kyffhäuserdenkmal wurde eine Leiche gefunden. Ich muss hin und habe keine Ahnung, wie lange es dauert. Kannst du die Kinder heute Nachmittag übernehmen, dann sage ich Michael Bescheid.“
„Wow, eine Leiche! Das klingt ja spannend! Klar nehme ich die Kinder. Bis dahin hab’ ich meine Gardinen fertig.“ Neben dem kleinen Dazuverdienst, den ihr die Arbeit für Anne bescherte, schätzte Dagmar an dem Arrangement zweifellos, dass sie über die Neuigkeiten, die Anne recherchierte, stets aus erster Hand informiert wurde.
„Weiß man schon, wer es ist“, fragte sie. Nachher musste sie zum Bäcker, einer der letzten noch verbliebenen Nachrichtenbörsen im Dorf.
„Keine Ahnung“, erwiderte Anne. „Ich muss mich beeilen. Vielen Dank und bis später.“
Eine gute halbe Stunde später hatte Anne die Kinder auf dem Rücksitz ihres Wagens verstaut und fuhr los. Sie hatte Michael kurz Bescheid gesagt, dass sie weg musste, und ihn gebeten, die Kinder am Nachmittag abzuholen und zu Dagmar zu bringen. Zum Glück hatte er eine ausgedehnte Mittagspause. Wie immer hatte er ihre Erläuterungen kommentarlos zur Kenntnis genommen und nur sehr einsilbige Antworten gegeben. Wahrscheinlich war er gerade dabei, einem Patienten den Puls zu fühlen oder eine Spritze zu verabreichen. Aber Anne wusste, dass sie sich hundertprozentig auf ihn verlassen konnte, ebenso wie auf Dagmar, und sie war dankbar dafür.
Nachdem sie die Kinder im Kindergarten in Oldisleben abgeliefert hatte, setzte sie ihren Weg auf der B85 in Richtung Bad Frankenhausen fort. Dieses Stück des Weges liebte Anne ganz besonders. Rechts von ihr lag die Diamantene Aue, die Flussniederung der Unstrut, die im Nordwesten vom Kyffhäuser begrenzt wurde. Das Karstgebirge prangte wie ein großer bewaldeter Stein in der Landschaft. An seiner Nordostflanke war vor gut einhundert Jahren auf den Fundamenten der mittelalterlichen Burg Kyffhausen ein 81 Meter hohes Denkmal zur Verherrlichung des Kaiserreichs errichtet worden, das jetzt dunkel aus dem morgendlichen Dunst hervorragte.
Anne fuhr durch Bad Frankenhausen. Auf dem kurvenreichen Anstieg durch einen Mischwald kamen ihr zwei Radfahrer entgegen, die sich mit ihren Mountainbikes die Straße herunter rollen ließen und einen ganz schönen Zacken drauf hatten. Ihre Gesichter wirkten angespannt, als sie auf sie zu rasten.
Radsport am Kyffhäuser wurde immer beliebter. Das „kleinste Mittelgebirge Europas“, wie es stolz im Werbeprospekt hieß, bot mit seinen kurvenreichen Steigungen durch einen wunderschönen Wald Leistungssportlern eine angemessene Herausforderung, während die sanften Hügel und Flußauen rund um den Gebirgszug ideal für Familienausflüge waren. Anne bewunderte die Sportler sehr, die sich mit ihren Rädern die etwa 200 Höhenmeter die Gebirgsstraßen hoch quälten. Aber ungefährlich war das Radeln auf der unübersichtlichen Strecke mit etlichen Haarnadelkurven nicht. Insbesondere bei der Abfahrt schossen immer wieder einige Radsportler buchstäblich über das Ziel hinaus.
Die Radler fuhren mit unverminderter Geschwindigkeit dicht an Annes Wagen vorbei. Im Rückspiegel konnte sie sehen, dass sie erst kurz vor der nächsten Kurve abbremsten. Die beiden sahen aus, als kämpften sie um den Sieg der Bergetappe bei der Tour de France. Wie falsch sie damit lag, die Anspannung der Radfahrer auf ihr sportliches Tun zurückzuführen, konnte die Journalistin zu diesem Zeitpunkt nicht ahnen.
Inzwischen war Anne an der Abzweigung angelangt, die zur Zufahrtsstraße zum Denkmal führte. An ihrem Ende erwartete sie ein ungewohnter Anblick: Rot-weißes Plastikband quer über der Einfahrt. Sie musste ihren Wagen auf der schmalen Strasse hinter einem großen Bus mit Hannoveraner Kennzeichen parken. Das gesamte Gelände des Denkmals war offensichtlich von der Polizei gesperrt.
„Der Kyffhäuser – das ist nicht nur irgendein Berg. Das ist das Symbol dafür, dass die Ariogermanen die welsche Brut besiegt haben, die mit ihren sozialistischen Ideen den Nährboden für die Tschandala-Rasse bildet. Sie haben Deutschland ins Unglück gestürzt, nicht nur nach dem Ersten Weltkrieg. Sie sind die Raben, die immer noch um den Berg fliegen. Deshalb war es ganz wichtig, dass einer von uns auf dem Kyffhäuser das Sagen hatte.
Als das Unglück geschehen war, mussten wir ihn dem Berg zurückgeben. Es sollte so aussehen, als sei er im Dienst der Sache gestorben, im Kampf mit dem Feind. Dann hätte sein Tod noch einen Sinn gehabt.“
„Verdammte Klingelei!“ Kriminalkommissar Holger Knocharski gehörte nicht zu den Menschen, die ständige Erreichbarkeit durch mobile Telefone als Bereicherung empfanden. Zuweilen erinnerte er sich wehmütig an die Zeiten, da man das Büro einfach verlassen hatte und für die Dauer der Abwesenheit in Ruhe seiner Arbeit oder sonstigen Beschäftigungen nachgegangen war. Zu den sonstigen Beschäftigungen hatten auch gelegentliche Damenbesuche gehört. In jeder Ecke der Stadt eine Anlaufstelle – so hatte es schon Hermann gehalten, sein Seniorpartner aus Wiesbaden. Er hatte ihm bei seinen ersten Einsätzen in der Praxis den richtigen Schliff verpasst. Holger verdankte ihm viel.
Doch diese Zeiten waren endgültig vorbei. Hermann war längst in Rente und er selbst dabei, in den Neuen Bundesländern Karriere zu machen. Heute musste man wesentlich vorsichtiger sein und die Liebesdienste auf die Freizeit beschränken. So wie gestern Abend, als er sich mit einer neuen Sekretärin aus dem Landratsamt zum Essen verabredet hatte. Jetzt klingelte sein Handy auf einem Tisch neben ihrem Bett. Von seiner neuesten Eroberung keine Spur. Helene hieß sie – die Erinnerung holte ihn allmählich wieder ein.
Holger griff zum Telefon: „Hallo!“ Zu mehr reichte es nicht.
„Guten Morgen Holger, bist du schon ansprechbar?“ Sabine Lauer wusste aus eigener Erfahrung, dass der Kollege Knocharski nicht zu den Morgenmenschen gehörte und dafür lieber die Nacht zum Tage machte.
„Wenn’s sein muss. Was gibt’s denn?“ Er gab sich keinerlei Mühe vor der Sekretärin seiner Abteilung zu verbergen, wie verschlafen er um 7.15 Uhr noch sein konnte.
„Eine Leiche am Kyffhäuserdenkmal. Eine Mitarbeiterin hat sie heute Morgen gefunden, als sie das Büro aufschließen wollte. Der Notruf ging kurz vor sieben Uhr ein. Die uniformierten Kollegen sind schon unterwegs.“
„Wer, zum Teufel, schließt denn um kurz vor sieben schon sein Büro auf?“ Knocharski wurde langsam munter, jedoch nicht besser gelaunt.
Sabine Lauer blieb gelassen. „Keine Ahnung, vielleicht eine Putzfrau. Soll ich Adrian noch Bescheid sagen?“
Adrian Wessling war seit drei Monaten Holgers Partner. Der junge Kollege war nach einem Einserexamen auf der Polizeischule in ihre Abteilung gekommen. Holger mochte ihn, auch wenn er seinen Ehrgeiz gelegentlich etwas bremsen musste.
„Ok. Ich kann ihn in einer Viertelstunde abholen. Falls du ihn nicht erreichst, melde dich bitte noch mal, dann fahre ich direkt zum Kyffhäuser. Bis später.“ Damit beendete er das Gespräch.
„Was ist denn los?“ Helene kam mit zwei dampfenden Kaffeetassen aus der kleinen Küche und reichte ihm eine.
„Ich muss gleich weg.“ Mit einem dankbaren Lächeln nahm er einen Schluck Kaffee. „Mehr kann ich dir leider nicht sagen. Dienstgeheimnis.“
In Nullkommanichts hatte er sich angezogen – auf die Dusche musste er heute verzichten. Die schütteren Haare, deren Geheimratsecken sich zu seinem Leidwesen immer weiter ausbreiteten, waren so kurz, dass kein Kamm nötig war. Mit einem lachenden Hinweis auf das Kratzen seiner Bartstoppeln entzog sich Helene seiner Umarmung. Der Abschiedskuss fiel deshalb eher flüchtig aus. In weniger als zehn Minuten nach dem Anruf saß der Kriminalkommissar in seinem Wagen.
Adrian stand schon unten vor der Tür und rauchte. Im Gegensatz zu Holger, dessen eher kleine kompakte Figur den früheren Boxchampion verriet, war Adrian lang, schlaksig und wirkte unsportlich. Er wohnte in einer Plattenbausiedlung, die durch Farbe, neue Fenster und Balkone in den Jahren nach der Wende aufgehübscht worden war. Auch innen hatte die Wohnungsbaugesellschaft einiges investiert. Die Wohnungen waren nicht besonders schön, aber zweckmäßig und die Mieten annehmbar. Was schon zu DDR-Zeiten viele Mieter begeistert hatte, war der Ausblick. Aus den oberen Etagen konnte man auf der einen Seite bis zum Kyffhäuser, an der anderen bis zum Harz schauen. In der Landschaft verstreut lagen einige der riesigen Abraumhalden diverser Kali-Bergwerke, die mittlerweile alle still gelegt worden waren. Die Halden wirkten wie riesige rötlich schimmernde Meteoriten und die Einheimischen konnten sie sich aus dem Landschaftsbild gar nicht mehr wegdenken. Das Panorama der alten Handelsstadt Nordhausen konnte sich immer noch sehen lassen, auch wenn der mittelalterliche Stadtkern noch im April 1945 durch einen großen Bombenangriff zerstört worden war.
Das „Morgen, Chef“, seines Partners quittierte Holger mit einem kurzen Kopfnicken, obwohl er inzwischen schon recht munter war. Sie tauschten ihre Informationen über den Fall aus, doch mehr als Holger wusste Adrian auch noch nicht. Zügig setzten sie ihre Fahrt bis zur B80 fort, folgten ihr bis Berga und bogen dann auf die B85 in Richtung Kelbra ab. Hinter dem kleinen Ort, dem ein großer Stausee das Flair eines Seebades verlieh, erhob sich der Kyffhäuser. Doch natürlich senkte sich auch heute die Bahnschranke, begleitet von nostalgischem Gebimmel.
Fluchend stellte Holger den Motor ab. Hier musste man immer besonders lange auf die Durchfahrt des Zuges warten. Die knapp fünf Minuten kamen den beiden Kripo-Beamten wie eine Ewigkeit vor. Als sich die Schranke endlich wieder hob, gab Holger seinem Golf GTI ordentlich die Sporen. Doch in weniger als einer Viertelstunde waren die 36 Kurven und knapp 200 Höhenmeter nicht zu überwinden.
Oben am Denkmal hatten die uniformierten Kollegen aus Bad Frankenhausen den Parkplatz bereits abgesperrt. Zwei Polizeiwagen standen dort und ein einziges Auto, ein kleiner grüner Polo mit dem heimischen Kennzeihen „KYF“. Ein kleines rotes Backsteingebäude flankierte den Eingang zum Denkmal. Dort war neben der Kasse ein Büroraum untergebracht. Holger parkte hinter einem Krankenwagen, von dessen Besatzung nichts zu sehen war.
Die Leiche befand sich nicht auf dem Parkplatz, sondern etwa 50 Meter davon entfernt im Wald. Adrian und Susanne Schmitz, die Kollegin, die den Einsatz der uniformierten Polizisten leitete, blieben auf dem befestigten Parkplatz, um nicht noch mehr mögliche Spuren in dem feuchten Waldboden zu zertrampeln. Ganz ließ sich das bei keinem Einsatz vermeiden.
Heftig an einer Zigarette saugend wandte sich ein älterer Kollege an Holger: „Machen Sie sich auf was gefasst!“
Der nahm die Warnung dankend zur Kenntnis, zog Plastik-Überzieher über seine Sportschuhe und streifte die Einweg-Handschuhe über, von denen er immer ein Paar in der Tasche hatte. Sorgfältig Schritt für Schritt abwägend näherte er sich dem Toten, um ihn in Augenschein zu nehmen.
Der Mann lag auf dem Bauch, den Kopf auf der Seite. Er war kräftig gebaut, aber nicht dick, und mindestens einsneunzig groß. Einer der Arme war merkwürdig verrenkt, ein Bein angewinkelt. Die Kleidung wirkte gediegen: Markenjeans, ein dunkler Pullover und braune Slipper aus Leder.
Was von seinem Schädel noch übrig war, ließ erkennen, dass die Glatze von einem Kranz sehr kurz geschnittener dunkelblonder Haare umgeben war. Doch nicht die klaffende Wunde am Hinterkopf fesselte Holgers Aufmerksamkeit. Er konnte seinen Blick kaum von der ihm zugewandten Gesichtshälfte des Toten abwenden. Aus den Augenhöhlen starrte ihm eine blutige Masse entgegen. Der Kripobeamte unterdrückte den Brechreiz und zwang sich zu professioneller Routine.
Holger fiel auf, dass der Waldboden um den Kopf herum kaum Blutspuren aufwies, nur ein paar helle Spritzer – Teile der Gehirnmasse des Toten. Kein Blut - war er am Ende gar nicht hier ermordet worden? Widerwillig ging der Kriminalkommissar in die Hocke und hob den zertrümmerten Schädel leicht an. Das Gesicht war glatt rasiert. Der Mund stand offen. Der Tote mochte 30 bis 40 Jahre alt gewesen sein.
Das musste fürs erste genügen. Holger wollte der Spurensicherung und dem Gerichtsmediziner nicht ins Handwerk pfuschen. Er richtete sich wieder auf und ging zum Parkplatz zurück.
„Wissen wir schon, wer er ist?“ Fragend schaute er in das sehr blasse aber gefasste Gesicht von Susanne Schmitz. Sie leitete die kleine Polizeistation in Bad Frankenhausen und war mit zwei weiteren Kollegen als erste Beamtin am Tatort gewesen.
„Die Kassiererin, die ihn gefunden hat, sagt, es sei ihr Chef, Sebastian Herbold.“
„Angehörige?“
„Nein, gemeldet sind keine“, fuhr Schmitz fort. „Soweit ich weiß, hat er drüben in Bendeleben einen alten Bauernhof gekauft, den er sich ausbaut. Er lebt dort allein.“
Holger nickte zufrieden. Tote, deren Identität man erst mühsam klären musste, konnten einem Ermittler das Leben ganz schön schwer machen. Und zu den schlimmsten Aufgaben eines Kripo-Beamten gehörte es, Angehörigen die Todesnachricht zu überbringen.
„Passen Sie bitte auf, dass niemand hier herumtrampelt, bis die Spurensicherung und der Doktor da sind“, sagte er. Ein Blick in Susanne Schmitz’s Gesicht zeigte ihm deutlich, dass sie diese Bemerkung für absolut überflüssig hielt.
„Sie müssen jeden Moment kommen“, antwortete sie knapp.
„Wo ist die Kassiererin?“ fragte Holger.
„Im Büro“, antwortete Adrian, der sich inzwischen umgesehen hatte. „Sie steht unter Schock und wird gerade verarztet. Ich weiß nicht, ob wir sie heute noch befragen können.“
„Ist das ihr Auto?“ Holger wies fragend auf den grünen Polo.
„Ja. Das haben wir schon überprüft.“ Susanne Schmitz Antwort brachte ihr ein anerkennendes Lächeln von Holger ein, das sie mit der überflüssigen Bemerkung von vorhin fast schon wieder versöhnte.
Inzwischen war der Gerichtsmediziner, Dr. Markus Löwenstein, eingetroffen, gefolgt von den Kollegen der Spurensicherung. Susanne wies ihnen den Weg.
Holger sah sich um und wandte sich dann fragend an Adrian: „Eines ist doch komisch. Wenn die Frau aus ihrem Auto gestiegen ist, um in’s Bürohäuschen zu gehen, wie hat sie dann die so weit weg liegende Leiche entdeckt?“
„Dafür gibt es eine Erklärung“, sagte Adrian. „ Sie hat ihren Hund dabei und der hat ihn wohl gefunden.“
„Oh, ein vierbeiniger Zeuge. Schade, dass ich seine Sprache nicht verstehe.“ Holger mochte Hunde. „Hast du die Personalien der Kassiererin?“
„Sie heißt Manuela Reichenbach und wohnt in Bad Frankenhausen“, antwortete Adrian. „Ich hak’ mal nach, wann wir mit ihr reden können.“
Frau Reichenbach, eine attraktive Mittvierzigerin mit rotbraun gefärbten Haaren, war noch nicht vernehmungsfähig. Der Arzt bestand darauf sie zur Beobachtung in’s Krankenhaus bringen zulassen.
Von Dr. Löwenstein erfuhr Holger, dass Sebastian Herbold seit mindestens sechs Stunden tot war. Die Todesursache war nach dem ersten Augenschein vermutlich die Zertrümmerung des hinteren
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Heike Kasten-Nkongolo
Bildmaterialien: Heiko Kolbe
Lektorat: Andreas Reinhardt
Tag der Veröffentlichung: 28.07.2015
ISBN: 978-3-7396-0738-2
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Mein Dank gilt meiner Familie, allen voran meinem Mann Titus, Andreas Reinhardt für die wertvollen Anregungen nach der ersten Lektüre und Heiko Kolbe vom Kyffhäuserdenkmal für die Bereitstellung des Fotos auf dem Deckblatt.