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Malou

 

 

Von Josefine Kraus

 

 

Copyright © Josefine Kraus

 

 

 

 

„Ein Platzregen, auch das noch!“, fluchte ich leise vor mich hin. Als ob es nicht gereicht hätte, dass ich im Bus eingeschlafen und am völlig falschen Ende der Stadt wieder aufgewacht war. Nein, jetzt musste es auch noch wie aus Kübeln auf mich niederprasseln. Ich klammerte meine Tasche enger an mich, zog mir meinen neuen Blazer über den Kopf und suchte nach einem sicheren Unterstand. Die Häuser in diesem Viertel von Zürich sahen allesamt heruntergekommen, ja beinahe verfallen aus. Nur einer von vielen Gründen, warum ich diese Ecke der Stadt so gut wie möglich mied. Zum Glück war es erst kurz nach Feierabend, die wirklich düsteren Gestalten würden wohl erst in ein paar Stunden aus ihren Löchern hervorkriechen. Unsicher näherte ich mich einem Hauseingang, der im Halbdunkeln lag und stieg mit meinen schwarzen Pumps den kleinen Treppenabsatz hinauf. In der Nische stank es nach Urin und zu beiden Seiten war der Eingang mit farbigen Graffiti besprüht. Ich versuchte, den Gestank so gut wie möglich zu ignorieren und nichts zu berühren. Hoffentlich war der Regenschauer bald vorbei. Um mir die Zeit zu vertreiben, betrachtete ich das verrostete Klingelbrett. Was für Leute hier wohl lebten? Nur knapp die Hälfte der Klingeln war mit einem normalen Namensschild versehen. Bei vielen war ein von Hand beschriebenes Zettelchen notdürftig darüber geklebt oder es war gar kein Name vorhanden. Ich seufzte und sah wieder hinaus in den Regen. Anscheinend hatten sich alle schnell irgendwo in Sicherheit gebracht. Der Gehweg vor mir war menschenleer, bis auf eine mit braunen Einkaufstüten beladene junge Frau, welche gerade um die Ecke bog. Neugierig beobachtete ich sie. Ihr Gesicht konnte ich nicht erkennen, da es hinter den Tüten verborgen war, aus welchen ein paar Frühlingszwiebeln herausragten und bei jedem ihrer Schritte im Takt wippten. Die junge Frau hatte einen lockeren und doch eleganten Gang, als ob sie über das Trottoir tänzeln würde. Ihre weiten, dünnen Stoffhosen mit Barokmuster flatterten dabei. Der Regen schien sie nicht im Geringsten zu stören. Gemächlich näherte sie sich und trat dann tatsächlich auf genau den Hauseingang zu, welchen ich zu meinem vorübergehenden Unterschlupf auserkoren hatte.

„Achtung!“, rief ich kurz vor einem Beinahe-Zusammenstoß und hüpfte ein Stück zur Seite, immer darauf bedacht, nichts zu berühren.

„Oh!“, erwiderte das Mädchen erschrocken und dabei rutschte einer der Papiersäcke aus seinem Arm. Reflexartig griff ich danach und konnte gerade noch verhindern, dass die Tüte zu Boden fiel.

„Jesses! Das ging ja grad noch mal gut!“ Sie lächelte mich fröhlich an, wobei ihr Regentropfen übers Gesicht liefen und nahm mir die Tüte wieder ab. „Wären meine Einkäufe auf diesem verpissten Boden gelandet, hätte ich sie wohl kaum mehr essen können!“

Ich wollte etwas erwidern, doch ihr Anblick machte mich sprachlos. Vor mir stand die wohl schönste Frau, die ich in meinem ganzen Leben je gesehen hatte. Ihr schlankes Gesicht war geprägt von zwei riesigen mandelförmigen Augen mit unglaublich dichten und langen Wimpern. Darüber lagen hochgeschwungene schwarze Augenbrauen. Ihre hohen Wangenknochen schimmerten zartrosa wie von natürlichem Rouge bedeckt und führten hinab zu einem atemberaubenden Schmollmund. Ihre braunen Locken trug sie lose hochgesteckt und über der Stirn hatte sie sich einen dünnen lila Schal, der mit Regenwasser vollgesogen war, einmal um den Kopf gewickelt. Sie war wohl ungefähr in meinem Alter, vielleicht auch ein wenig älter. Ich schätzte sie auf 21. Fasziniert starrte ich sie einfach nur an und brachte kein Wort heraus. Sie hingegen nickte mit dem Kopf in Richtung Regen und sagte: „Sieht nicht so aus, als ob das so schnell wieder aufhört. Magst du kurz mit reinkommen, bis sich das Wetter etwas beruhigt hat? In dieser muffigen Ecke hier würde ich echt nicht länger als nötig rumstehen wollen.“

Wieder lachte sie und ich stimmte, endlich aus meiner Starre erwacht, mit ein.

„Das wäre super, echt nett von dir!“, nahm ich ihre spontane Einladung dankend an. Ich trat für einen Moment hinaus in den Regen, um ihr Platz zum Öffnen der Eingangstüre zu machen. Es regnete immer noch so stark, dass ich nach wenigen Sekunden nass bis auf die Knochen war. Als sich die Türe nach einigen Fußtritten gegen das morsche Holz endlich öffnen ließ, rief die unbekannte Schöne: „Na los, rein in die gute Stube, aber dalli!“

Ich folgte ihr ins Innere des Gebäudes und betrat ein stickiges Treppenhaus. An der Decke baumelte eine nackte Glühbirne, deren schwaches Licht unaufhörlich flackerte. Die junge Frau folgte meinem Blick und erklärte: „Das ist Emma, die Unermüdliche. Ich nenne sie so, weil sie schon seit meinem Einzug vor über einem Jahr so aussieht, als würde sie jeden Moment den Geist aufgeben. Tut sie aber nicht, die Gute.“

Sie stellte die Einkauftüten auf den dunklen Fliesenboden und steckte den Schlüssel ins Schloss einer Türe zu ihrer Linken. Dann drehte sie sich noch einmal nach mir um und sagte, während sie mir die Hand entgegenstreckte: „Und ich bin Malou. Geht ja gar nicht, dass ich dir die alberne Birne noch vor mir vorstelle.“ Sie grinste breit.

Zurückhaltend schüttelte ich ihre Hand, die angenehm warm war. „Freut mich sehr dich kennenzulernen Malou“, sagte ich und meinte es auch so. Malou hielt meine Hand noch immer fest und sah mich erwartungsvoll an. „Oh natürlich“, fuhr ich fort, „ich bin Sarah.“ Der lange Körperkontakt mit einer fremden Person schien mich leicht nervös zu machen.

„Freut mich ebenfalls, Sarah.“

Sie ließ meine Hand los und wandte sich wieder der Tür zu. Ich atmete erleichtert aus und fragte mich gleichzeitig, was mit mir los war. Noch nie hatte mich der Anblick eines anderen Menschen so gefesselt wie der von Malou. Nicht einmal die erste Begegnung mit Manuel, den ich damals für meinen Traummann gehalten hatte, hatte mich so durcheinandergebracht.

„Sooo“, riss Malou mich aus meinen Gedanken, „willkommen in meiner kleinen bescheidenen Wohnung. Ist nichts Beeindruckendes, aber wärmer und trockener als der Hauseingang ist’s allemal.“

Ich trat vorsichtig durch die Türe und bedankte mich noch einmal bei Malou. „Echt lieb von dir, dass ich kurz reinkommen kann.“

„Na so, wie du aussiehst, hättest du dir da draußen noch den Tod geholt! Oder zumindest eine Lungenentzündung“, meinte sie, während sie mich von oben bis unten musterte und kurz auf Brusthöhe verweilte. Ich sah ebenfalls an mir herab und bemerkte mit Schrecken, dass meine dünne weiße Bluse unter dem Blazer an mir klebte und einen Großteil meines Busens zur Schau stellte. Schamesröte stieg mir ins Gesicht, doch Malou lachte bloß erneut.

„Hey, kein Grund rot zu werden, das ist uns doch allen schon passiert.“

Sie griff nach einem Päckchen Zigaretten, das auf einem hölzernen Beistelltisch lag, und angelte sich eine heraus. „Außerdem“, fuhr sie fort, während sie die Zigarette mit einem bunten Feuerzeug anzündete, „hast du echt wunderschöne Brüste. Also wenn ich solche hätte, die würde ich nicht so verstecken wie du.“

„Äh, danke“, sagte ich verlegen, weil ich nicht wusste, was ich sonst auf dieses Kompliment entgegnen sollte und fing unweigerlich an, auch Malous Körper zu mustern. Obwohl sie einen wolligen Poncho und die bereits erwähnten Flatterhosen trug, welche beide ihre Figur verhüllten, konnte man sehen, dass Malou sehr schlank war. Auch ihre Kleider waren klitschnass und tropften den Fußboden voll, doch das störte Malou nicht weiter. Sie tat einen tiefen Lungenzug an ihrer Zigarette, spitzte ihren roten Schmollmund und blies genüsslich den Rauch in die leicht stickige Wohnzimmerluft. Dann sah sie mich aus ihren großen Augen forschend an und schien über etwas nachzudenken. Ich stand immer noch mitten im Raum und fühlte mich etwas verloren.

„Magst du einen Tee?“, unterbrach Malou die Stille.

„Gerne.“

„Was magst du für welchen?“

„Was hast du denn da?“

„Alles!“, lachte sie. „Ich bin ein echter Teefreak. Sag mir irgendeine Sorte, ich wette mit dir, ich habe sie im Haus.“

„Dann nehm ich einen Rooibos.“

„Pur oder aromatisiert?“, wollte Malou wissen, während sie in die kleine Küche ging und ein Schränkchen öffnete, das überquoll vor Teepackungen, Beuteln und Dosen. Dieser Anblick brachte mich zum Lachen. „Wow, du hast echt nicht übertrieben. Das sieht nach einem lebenslangen Teevorrat aus. Den Rooibos trink ich gerne pur.“

Malou nickte zufrieden. „So trink ich ihn auch am liebsten.“

Sie löschte die fertig gerauchte Zigarette in einem verdreckten Aschenbecher aus und holte eine Teekanne aus einem anderen Schrank. Während sie die Kanne unter dem laufenden Wasserstrahl füllte, meinte sie: „In meinem Schlafzimmer steht ein großer Kleiderschrank. Wenn du magst, kannst du dir was Frisches zum Anziehen raussuchen und deine Kleider im Badezimmer zum Trocknen aufhängen, während ich hier Tee mache.“

Wieder überraschte mich Malou, die mich gerade einmal fünf Minuten kannte, mit ihrer Gastfreundlichkeit.

„Oh ja, trockene Kleider wären super. Hey du bist echt klasse, ich weiß gar nicht, wie ich dir danken soll!“

„Brauchst du auch nicht. Karma Baby!“ Sie zwinkerte mir zu und stellte die Kanne auf den Herd.

Ihre unkomplizierte und witzige Art brachte mich abermals zum Lachen. Bevor ich ins Schlafzimmer ging, zog ich meine Schuhe aus und ließ meinen Blick durch die Wohnung schweifen. Klein, aber warm und gemütlich. Die Möbel waren bunt zusammengewürfelt, manches sah antik aus, anderes eher selbst gebastelt. Die Einrichtung hatte einen orientalischen Touch, war aber dennoch nicht wie diese stereotypischen Exoten-Zimmer aus dem Möbelkatalog dekoriert, sondern hatte extrem viel Charme und Charakter. Man spürte, dass in diesen Räumen eine interessante Person lebte und die Atmosphäre war wahnsinnig entspannt. Besonders gut gefiel mir die Sitzecke, die eigentlich nur aus einem Haufen bunt bestickter Kissen bestand, in deren Mitte ein runder, flacher Tisch platziert war.

„Also ich geh mich schnell umziehen“, rief ich in die Küche, wo Malou herumhantierte.

„Mach nur!“

Zögerlich betrat ich Malous Schlafzimmer. Auch hier waren Dutzende von Kissen das Erste, was ich erblickte. Sie bedeckten das große niedrige Bett vollkommen. An der Wand darüber hing ein Schwarz-Weiß-Bild einer wunderschönen Frau. Sie sah aus wie eine Afrikanerin, hatte jedoch einen relativ hellen Hautton und eine gewisse Ähnlichkeit mit Malou. Sie war jedoch bestimmt 20 Jahre älter. Ein eindrückliches Porträtfoto. Die Frau blickte mir direkt entgegen und der Augenkontakt wirkte so lebensecht, dass ich nach ein paar Sekunden wegschauen musste. Ich wandte mich dem hölzernen Kleiderschrank zu, der gegenüber der Fotografie stand. Der Schrank hatte ein Schloss, und nachdem ich den alten Schlüssel zweimal kräftig gedreht hatte, sprangen mir die Schranktüren entgegen und ein paar Leibchen fielen auf den Boden.

„Oh!“, entfuhr es mir und ich sammelte die Kleidungsstücke schnell wieder auf.

„Sorry, ich hab schon länger nicht mehr aufgeräumt!“, rief Malou aus der Küche. „Wirf einfach alles aufs Bett, bis du was Passendes gefunden hast. Ich wollte sowieso schon lange mal wieder ausmisten.“

Malous Kleider waren völlig ohne System in den Schrank gelegt. In jedem Fach waren T-Shirts, Hosen, Unterwäsche, Pullover, Strümpfe und vieles mehr einfach übereinandergestapelt. Aber man merkte, dass die Kleider alle frisch gewaschen waren, denn sie rochen fantastisch. Ich musste Malou unbedingt nach ihrem Waschmittel fragen. Nach kurzem Überlegen zog ich ein magentafarbenes langärmliges Shirt mit V-Ausschnitt heraus. Ich entledigte mich meiner nassen Kleider und schlüpfte in das himmlisch duftende Leibchen. Anschließend trat ich vor den Ganzkörperspiegel, der an der Wand neben dem Bett angebracht war. Die Farbe stand mir echt gut. Aber der Rest von mir sah grässlich aus. Meine langen blonden Haare hingen mir in feuchten Fäden vom Kopf und der eigentlich wasserfeste Mascara konnte sein Werbeversprechen nicht halten und hatte ein paar schwarze Spuren unter meinen blauen Augen hinterlassen. So gut ich konnte, wischte ich mir die Tusche weg und warf meinen Kopf ein paar Mal in den Nacken und wieder nach vorne, um meine Haare anzutrocknen. Anschließend nahm ich meine nassen Kleider und ging durch das Wohnzimmer ins Bad und hängte Bluse und Blazer über die Heizung. Danach ging ich zurück in die Küche zu Malou, die gerade dabei war, Gebäck auf einem Tellerchen zu verteilen.

„Kann ich dir irgendwie behilflich sein?“

Malou sah sich kurz nach mir um.

„Nein, hab alles im Griff, setz dich ruhig hin und mach es dir bequem.“

Ich ging in die Stube und setzte mich auf eines der vielen Kissen. Malou folgte mir mit dem Teller und zwei Tassen, welche sie auf den niedrigen Tisch stellte. Dann ging sie noch einmal in die Küche, um den Tee zu holen und setzte sich anschließend ebenfalls auf die Kissen.

„Was sind das für Kekse?“

Neugierig inspizierte ich das Süßgebäck. Von der Farbe her erinnerte es mich ein wenig an Butterkekse, aber die Form war ganz anders. Es waren kleine runde Häufchen, in die ein wunderschönes Muster eingeprägt war.

„Das sind Maamoul, eine ägyptische Süßspeise. Greif zu!“, erklärte mir Malou, als sie meine Tasse mit Tee füllte. Gespannt nahm ich mir einen Keks und biss hinein. Zu meiner Überraschung war er mit einer köstlichen Nuss-Zimt-Mischung gefüllt.

„Wahnsinnig lecker! Hast du die selbst gebacken?“

„Jep. Ich liebe es zu kochen und zu backen. Selbst gemachtes schmeckt einfach viel besser als dieses gekaufte Zeug. Zudem weiß man dann auch, was drin ist.“

Ich stimmte ihr zu und griff nach meiner dunkelblauen Teetasse mit orangefarbenem Blumenmuster. Auf Malous Tasse hingegen prangte ein leicht beschädigtes Libellenmosaik. Ich würde jede Wette eingehen, dass Malou keine zwei Tassen besaß, die gleich aussahen. Auf den ersten Blick wirkte ihre Wohnung leicht chaotisch und planlos eingerichtet. Aber bei genauerem Hinsehen konnte man erkennen, mit wie viel Liebe und Sorgfalt dieses bunte Sammelsurium zusammengetragen war. Bestimmt steckte hinter jedem einzelnen Stück eine interessante Geschichte.

„Wer ist die Frau auf dem Bild in deinem Schlafzimmer?“

Nachdem Malou ihr Maamoul heruntergeschluckt hatte, antwortete sie: „Das ist Asala, eine marokkanische Künstlerin. Mir gefallen besonders ihre Aktzeichnungen. Als ich das erste Mal ein Bild von ihr gesehen habe, war ich noch recht klein. Damals war Asala noch nicht sehr bekannt. Heute könnte ich mir keines ihrer Bilder leisten, sie hat es schon ziemlich weit gebracht in der afrikanischen aber auch in der internationalen Kunstszene.“

„Bist du selbst auch aus Marokko? Oder hast zumindest afrikanische Wurzeln?“

„Irgendwie ja. Ist kompliziert. Ich erzähl es dir mal, wenn wir uns etwas besser kennen.“

Dass Malou annahm, dass wir uns nach diesem Tag wiedersehen würden, freute mich sehr.

„Und was tust du so Sarah? Gehst du noch zur Schule oder studierst du?“

„Ja ich studiere. Jus, 1. Semester.“

„Oh, eine angehende Rechtswissenschaftlerin. Immer gut, solche Leute zu kennen. Nicht, dass ich hoffe, eines Tages mal einen von euch zu brauchen.“

Sie zwinkerte mir zu. „Hab ich auch mal kurz studiert. Hätte mich gerne auf Menschenrecht spezialisiert und wäre dann später irgendwo nach Afrika oder Südamerika, um zu versuchen, die sozialen Missstände etwas zu verbessern. Aber hab schon bald gemerkt, dass ich dieses Studium wohl niemals sechs Jahre durchziehen könnte.“

„Und jetzt studierst du was anderes?“

„Nö. Kann mich allgemein nicht mehr so richtig für ein Studium begeistern. Zu viel Zeit in den besten Jahren, die fürs Büffeln und Bücherwälzen draufgeht. Und so viele Leute, die ich kenne, haben jahrelang studiert und am Ende was völlig anderes gemacht, wofür sie das Studium nicht mal gebraucht hätten.“

„Und was machst du jetzt?“

„Was mir gerade so gefällt.“

Malou lachte und aß noch ein Maamoul.

„Im Moment arbeite ich an zwei Tagen in der Woche in einem kleinen Laden namens ‚Little India’. Die verkaufen dort alles Mögliche. Von Räucherstäbchen bis hin zu Büchern mit altindischen Zaubersprüchen gegen Wadenkrämpfe. Echt interessant, komm mich doch mal besuchen.“

„Mach ich gerne! Aber kannst du davon leben, zwei Tage in diesem Shop zu arbeiten?“

„Ach so, nein, ich war noch nicht ganz fertig. An zwei Abenden in der Woche helfe ich noch in einer Bar in der Altstadt aus. Manche sagen, ich mixe die besten Cocktails der ganzen Stadt! Das sind meine beiden festen Jobs. Aber ich mache noch ganz viel kleines Zeug nebenbei. Ab und zu helfe ich einem älteren Herrn mit seinem Garten. Unkraut jäten, Rasen mähen, etc. Und wann immer es etwas zu tun gibt, helfe ich einer Galeristin, einer Freundin meiner Mutter. Ich bin zwar selbst kein sehr organisierter Mensch, aber diese Frau ist so chaotisch, dass man ihr ab und zu mal unter die Arme greifen muss. Und natürlich immer, wenn wieder eine Ausstellung ansteht, bin ich Mädchen für alles. Ich gestalte und verschicke die Einladungen, kümmere mich um das Catering und bereite auch selbst immer wieder mal den Apéro zu, kümmere mich um die Gäste etc. Ja und mit all diesen Jobs zusammen, komm ich meistens gut durch den Monat. Wenn es mal nicht reicht, such ich mir einfach noch schnell einen Gelegenheitsjob. Geh Flyer verteilen oder so was.“

„Wow, echt interessant, was du alles machst! Und es stört dich nicht, diese Ungewissheit, ob es am Monatsende reichen wird?“

„Nein, eigentlich überhaupt nicht. Im Gegenzug dafür habe ich so viel Freiheit. Ich könnte mir nie vorstellen, jeden Tag von 8 bis 5 in einem Büro zu sitzen. Da würde ich wohl durchdrehen. Außerdem kann ich bei meinen jetzigen Arbeitsstellen jederzeit gehen und mir was anderes suchen. Oder eine Weltreise machen. Wer weiß, was das Leben noch bringt!“

Malou stand auf und holte ihr Zigarettenpäckchen und den Aschenbecher. Während sie sich wieder setzte und das Feuerzeug zur Hand nahm, fragte sie: „Es stört dich hoffentlich nicht, wenn ich rauche?“

„Kein Problem“, erwiderte ich und beobachtete sie fasziniert. Jede ihrer Bewegungen war geschmeidig und ihre Ausstrahlung pure Sinnlichkeit.

Es herrschte für einen Moment Stille und Malou beobachtete mich ebenfalls aus ihren großen dunklen Augen und sah aus, als ob sie etwas sagen wollte. Das Vibrieren eines Handys irgendwo in der Wohnung durchbrach die Stille.

„Ist das deines?“, fragte ich Malou. Diese schüttelte den Kopf. „Ich besitze kein Handy.“

Erstaunt sah ich sie an und ging meine Tasche holen. Als ich das Smartphone daraus hervorholte, sah ich die Nummer meiner Mutter auf dem Display. Kurz danach blinkte eine SMS von ihr auf.

Wo bist du? In einer halben Stunde kommen die Rohners zum Abendessen!

Oh stimmt, das Abendessen mit den Rohners, das hatte ich ja ganz vergessen!

„Dein Freund?“

„Wie?“, fragte ich verwirrt in Malous Richtung.

„Na der Anruf. War das dein Freund?“

„Ach so! Nein, meine Mutter. Ich muss dringend los. In einer halben Stunde kommen Freunde von uns zum Abendessen. Tut mir echt leid, dass ich jetzt einfach so losrennen muss, aber ich komme wahrscheinlich sowieso schon zu spät. Ich guck mal schnell, ob meine Kleider schon trocken sind.“

„Lass nur“, meinte Malou und stand auf. „Die sind mit ziemlicher Sicherheit noch nass. Aber du kannst das Shirt behalten, wenn du magst. Es steht dir echt klasse.“

„Du bist so was von nett Malou, aber das kann ich nicht auch noch annehmen. Ich komm so bald wie möglich noch mal vorbei, um meine Sachen zu holen und es dir zurück zu bringen. Und dann revanchiere ich mich auch für deinen spontanen Rettungsakt!“

Malou lächelte und zog an ihrer Zigarette. „Wie du willst. Du bist jederzeit herzlich willkommen.“

„Wie erreiche ich dich denn am besten, so ohne Handy?“

„Gib du mir doch einfach deine Nummer, dann ruf ich dich von meiner Arbeit aus an, okay?“

„Super! Wo soll ich sie aufschreiben?“

Sie sah sich kurz in ihrer Wohnung um und griff nach einem Kugelschreiber, der auf dem Beistelltischchen lag.

„Schreib sie mir auf die Hand, sonst verschussel ich den Zettel wahrscheinlich.“

Sie überreichte mir den Stift, und als ich ihn nahm, hielt sie mir ihre geöffnete Handinnenfläche entgegen. Damit ich besser schreiben konnte, musste ich sie mit meiner anderen Hand halten. Wieder machte mich die Berührung mit Malou unglaublich nervös. Ihre Haut war so sanft und warm und meine Finger kribbelten unter unserer Berührung.

„Weißt du zufällig, wann der nächste Bus geht?“, fragte ich, als ich meine Nummer auf ihrer Hand notiert hatte.

„Wenn du dich beeilst, schaffst du womöglich noch den 9er um 18 Uhr 10.“

„Puh, das wird knapp! Dann geh ich jetzt besser gleich los, danke Malou. Echt vielen Dank für alles!“

„Kein Problem. Hab ich gerne gemacht.“

Da ich keine Ahnung hatte, wie ich mich von ihr verabschieden sollte, ging ich zuerst einen Schritt auf Malou zu, um ihr drei Küsschen zu geben. Sie sah mich interessiert an und ich hatte auf einmal große Hemmungen, mich ihr noch weiter zu nähern. Daher öffnete ich die Türe, winkte ihr zu und sagte: „Bis bald!“

Ich glaubte, ein amüsiertes Lächeln auf Malous Gesicht zu erkennen. „Tschüss Sarah. Komm gut nach Hause.“

Schnell durchquerte ich den Eingangsbereich des Gebäudes, der immer noch von der flackernden Emma beleuchtet wurde. Ich trat hinaus auf die Straße, stellte erleichtert fest, dass es inzwischen nur noch leicht nieselte und blickte noch einmal zurück. Kurz bevor sich die hölzerne Eingangstüre schloss, konnte ich einen letzten Blick auf Malou werfen, die lässig in den Türrahmen gelehnt mit ihrer herabhängenden Kippe im Mund dastand und aussah, wie die fleischgewordene Hippietochter einer ägyptischen Sonnengöttin.

 

 

 

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Tag der Veröffentlichung: 14.05.2014

Alle Rechte vorbehalten

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Für sie.

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