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V E R G E S S E N E S    V E R L A N G E N

 

 

 

von Josefine Kraus 

 

 

 

Copyright © Josefine Kraus  2018

Alle Rechte vorbehalten.

 

 

 

 

 

 

 

Für jedes Herz, welches schon einmal gelitten hat. 

 

 

 

 

 

 

 

 

  

 

Hier zieh das an, in diesem Kleid siehst du einfach umwerfend aus!“, rief Natalie begeistert aus und streckte mir mein schwarz-beigefarbenes Cocktailkleid entgegen.

„Ein Kleid? Muss ich mich wirklich so aufbrezeln? Ich dachte, wir gehen nur etwas essen ...“, maulte ich. Natalie warf mir einen maßregelnden Blick zu.

„Erst gehen wir was essen, dann ziehen wir um die Häuser. Du darfst echt mal wieder aus deinem Schneckenhaus hervorkriechen. Seit Martin hast du dich mit keinem anderen Mann getroffen und es würde mich nicht wundern, wenn du seither nicht einmal ein männliches Wesen angesehen hättest.“

Das stimmte zwar, dazu gab es aber auch allen Grund. Bevor ich noch einmal an einen Typen wie Martin geriet, ließ ich es lieber ganz sein mit den Männern. Belogen und betrogen hatte er mich – nach nur fünf Monaten Beziehung! In dieser Hinsicht hatte ich wohl ein schlechtes Händchen.

„Mensch Sandrine, guck nicht so skeptisch! Du bist erst 24, da dauert es halt, bis der Richtige auf der Matte steht. Aber wenn du dich zu Hause versteckst, wirst du ihn sicher nicht finden. Oder von ihm gefunden werden. Also, Kleid an, aber dalli!“

Mürrisch nahm ich ihr den Fummel aus der Hand und begann mich umzuziehen. Natalie sah wie immer fabelhaft aus. Sie trug enge, ausgebleichte Jeans, die ihrer kurvigen Figur schmeichelten und dazu schwarze Pumps. Über ihre weiße Bluse, welche genau so weit aufgeknöpft war, dass man ihren Brustansatz erkennen konnte, trug sie einen ockerfarbenen Blazer im Boyfriend-Look. Ihre glatten, blonden Haare hatte sie zu einem hohen Pferdeschwanz zusammengebunden. Entgegen ihrer üblichen Leidenschaft für viel Make-up trug sie heute nur knallroten Lippenstift. Seit ich sie kenne, habe ich Natalie um ihre vollen Lippen beneidet. Ihre ganze Erscheinung wirkte so weiblich, so sinnlich. Neben ihr kam ich mir mit meiner dünnen, fast kurvenlosen Gestalt immer etwas steif und unbeholfen vor, daran änderte auch dieses Kleid nichts, obwohl es mir wirklich gut stand. Natalie hingegen hätte alles für meine langen, schlanken Beine und meine zierliche Taille gegeben.

Während ich mich umzog, tänzelte sie vor meinem Kleiderschrank umher und begutachtete jedes Teil. Ich kannte nur wenige Menschen, die sich der Mode mit einer solchen Leidenschaft widmeten wie Natalie.

„Wo willst du denn heute hin?“, fragte sie und hielt dabei meine kurze Jeansweste an mein neues Sommerkleid. Es passte perfekt.

„Ich dachte wir gehen wie üblich zum Italiener in der Zürcherstraße und anschließend in die Bar gegenüber vom Hauptbahnhof“, sagte ich lustlos. Leicht verärgert hängte Natalie die beiden Kleidungsstücke zurück in den Schrank, drehte sich zu mir um und stemmte die Hände in die Hüften. Sie sah aus wie eine erboste Lehrerin und ich musste lachen.

„Na endlich! Eine Gefühlsregung! Ich dachte schon, aus meiner besten Freundin wäre ein emotionsloser Trauerkloß geworden. Heute wird ein toller Abend und sogar du wirst dich amüsieren!“

Sie hatte recht. Ich sollte mich zusammenreißen und mich über den vor mir liegenden Abend freuen.

„Also gut, rein ins Getümmel! Aber keine Männer, nur wir Mädels, o.k.?“ Ich sah sie mit hochgezogenen Augenbrauen bittend an.

„Meinetwegen. Nur wir Mädels“, erwiderte Natalie seufzend und zog dabei eine Grimasse, mit der sie mich abermals zum Lachen brachte. Ich knetete meine rot-braunen Locken noch etwas in Form, trug Mascara und dezentes Rouge auf und wir machten uns auf den Weg.

 

 

Nachdem wir bei unserem Lieblingsitaliener je eine Portion Risotto con gamberoni verspeist hatten, zogen wir weiter in die Altstadt. Laut Natalie gab es dort seit Kurzem eine neu In-Bar, welche wir sofort erkunden mussten.

„Neue Location – neue Leute!“, trällerte sie aufgekratzt. Skeptisch erinnerte ich sie an unsere Abmachung: „Keine Männer!“

„Jaja, ich weiß. Aber nur, weil du niemand Neues kennenlernen willst, heißt das noch lange nicht, dass ich mich nicht wenigstens ein bisschen umsehen darf.“

Inzwischen hatten wir unser Ziel erreicht. Die Bar gefiel mir. Eine gewundene Treppe führte auf eine große steinerne Terrasse hinauf. Dunkelgraue Loungemöbel waren geschickt arrangiert und die ganze Szenerie mit niedrigen Palmen und Fackeln dekoriert. Wir schienen nicht die Einzigen zu sein, die sich für das neue Lokal interessierten. Es war gerappelt voll. Glücklicherweise fanden wir drinnen noch Platz an der Bar und bestellten uns zwei Margaritas. Fröhlich prosteten wir uns zu und Natalie fing an, munter drauf loszuplappern. Erstaunlicherweise kam ich wirklich in gute Stimmung und der Drink lockerte mich zusätzlich ein wenig auf.

Ich hörte Natalie schon eine Weile zu, als sich meine Aufmerksamkeit plötzlich in Richtung Eingang verlagerte. Für einen Moment stockte mir der Atem. Im Türrahmen stand ein Prachtexemplar von einem Mann. Er war groß und trug einen dunkelblauen Anzug über einem blütenweißen Hemd. Das braune Haar war Millimeter kurz geschoren und hatte dieselbe Länge wie sein Dreitagebart. Die dicken geschwungenen Brauen saßen ihm tief über seinen Augen und verliehen ihm einen finsteren Blick. Markante Gesichtszüge und eine äußerst maskuline Figur verstärkten diesen Eindruck zusätzlich. Der Unbekannte war offenbar mit einem anderen Mann gekommen, einem Asiaten. Die Kellnerin näherte sich ihnen lächelnd und sagte etwas, danach führte sie die beiden an einen kleinen Tisch und bat die dort sitzenden Gäste aufzustehen. Wie kam sie dazu, ihn gegenüber den anderen Kunden bevorzugt zu behandeln?

„Huhu, Sandrine! Hörst du mir überhaupt noch zu?“ Natalie sah mich neugierig an.

„Entschuldigung, ich war kurz abgelenkt. Was hast du gesagt?“

Aber so einfach ließ sich meine beste Freundin nicht wieder ins Gespräch vertiefen.

„Kann ich mich umdrehen oder ist es zu auffällig?“, wollte sie spitzbübisch wissen.

„Wie? Was meinst du?“

„Komm schon! Ich seh dir doch an, dass du jemanden Interessantes entdeckt hast. Und wenn DU dich an einem Mädelsabend von einem Mann ablenken lässt, muss er sehr interessant sein.“

Ich sah unauffällig in seine Richtung. Er nahm kaum Notiz von seiner Umgebung und war völlig in die Unterhaltung mit seinem Begleiter vertieft.

„Du kannst gucken.“

Natalie blickte über ihre Schulter hinweg und brauchte nicht lange zu suchen.

„Nice, muss ich schon sagen, aber der wäre gar nichts für dich. Dem sieht man seine Arroganz ja schon von Weitem an. Ich wette, der ist Anwalt oder Vermögensverwalter. Aufgeblasen, langweilig und völlig von sich überzeugt. Außerdem hat er eine seltsame Ausstrahlung. Irgendwie düster und ... fast schon unheimlich“, schloss sie ihre erste Einschätzung ab.

An dem, was Natalie sagte, war etwas Wahres dran, dennoch faszinierte er mich. Oder gerade deswegen? Für Natalie schien der Fall abgeschlossen und sie plapperte lebhaft weiter. Ich versuchte mich auf unsere Unterhaltung zu konzentrieren, doch meine Augen wanderten unkontrollierbar immer wieder zu Mister Unbekannt. Bis jetzt hatte er noch nicht einmal in meine Richtung gesehen; es sah tatsächlich so aus, als ob ihn außer dem Asiaten niemand anders interessierte. Er nahm im Raum eine unglaubliche Präsenz ein und es umgab ihn eine autoritäre Aura. Dabei sah er noch ziemlich jung aus, ich schätzte ihn auf Ende zwanzig. Plötzlich erhob er sich und ging in Richtung der Toiletten. Kurz bevor er um die Ecke verschwand, trafen sich unsere Blicke zum ersten Mal. Es war, als ob ein Blitz mich durchzuckt hätte. Mein ganzer Körper fing an zu vibrieren und mein Herz klopfte wie wild. Dieser strenge, dunkle Blick fuhr mir bis in die Knochen und machte mir weiche Knie. Ob ich ihm auch aufgefallen war? Ich ließ den Eingang zur Toilette keine Sekunde aus den Augen, um den Moment nicht zu verpassen, wenn er wieder herauskam. Als es so weit war, blieb mir beinahe die Luft weg. Er sah mich unverhohlen an und wandte selbst dann die Augen nicht mehr von mir ab, als er sich wieder zu seinem Begleiter gesetzt hatte. Ich konnte dem Blickkontakt nicht länger standhalten, senkte meine Lider und sah zum Cocktail hinab. Dennoch spürte ich, wie sich sein Starren beinahe in mich hineinzubohren schien. Es jagte mir Gänsehaut über die Unterarme.

„Sandrine? Alles in Ordnung?“

Natalie guckte mich forschend an, bevor sie ohne noch einmal zu fragen ihren Kopf in seine Richtung drehte.

„Soso, hat Herr Superarrogant dich also entdeckt. Jetzt sag mir bitte nicht, dass der dich ernsthaft interessiert?“

Ich machte ein entschuldigendes Gesicht und meinte: „Irgendwie schon ... Du musst zugeben, er hat was ...“

„Ja wie gesagt, etwas Überhebliches, Unheimliches.“

Tatsächlich war mir seine penetrante Aufmerksamkeit sowohl willkommen als auch unangenehm. Ich konnte mich nicht mehr normal verhalten, war völlig versteift und hätte gerne meinen Cocktail in einem Zug geleert. Da meine Hand unter seinem eindringlichen Starren aber womöglich angefangen hätte zu zittern, ließ ich es bleiben. Auch Natalie hatte meinen Stimmungsumschwung wahrgenommen.

„Willst du lieber gehen?“

Wollte ich das? Eigentlich nicht, im Gegenteil ... Auf der anderen Seite hatte er wirklich eine seltsame Wirkung auf mich, was mir nicht gefiel. Schließlich war ich schon oft genug an die falschen Männer geraten.

„Los, nimm deine Jacke und dann lass uns von hier verschwinden. Es gibt noch jede Menge andere Bars, die nur auf uns warten! Und jede Menge andere Männer!“, fügte sie zwinkernd hinzu.

Wir riefen nach der Kellnerin, um zu bezahlen und erhoben uns.

„Lass nur, ich mach schon!“, wimmelte mich Natalie ab, als ich mein Portemonnaie zücken wollte, und bezahlte unsere Drinks. Ich bedankte mich lächelnd, wandte mich schon einmal zum Gehen um und erstarrte.

Direkt vor mir stand der unbekannte Schönling. Ich hatte gar nicht mitbekommen, dass er sich von seinem Platz entfernt hatte, da sah ich mich ihm auch schon gegenüber. Immer noch starrte er mich aus, wie ich jetzt erkennen konnte, kalten, hellblauen Augen an. Er roch fantastisch. Der dezente Duft seines Aftershaves unterstrich seinen verführerischen Eigengeruch. Ohne den Blick von mir abzuwenden, griff er in die Innentasche seines Jacketts, zog eine Visitenkarte daraus hervor und schob sie mir über den Tresen entgegen.

„Ich will, dass du mich anrufst.“

Damit drehte er sich um und ließ mich einfach so stehen. Völlig überrumpelt und mit klopfendem Herzen sah ich ihm nach. Der tiefe wohlige Bass seiner Stimme hallte in meinem Kopf nach.

Ich will, dass du mich anrufst.

Sein Gang war bestimmt und geschmeidig zugleich. Er setzte sich zurück an den Tisch, führte die Unterhaltung mit seinem Begleiter fort und würdigte mich keines Blickes mehr.

 

 

„Oh. Mein. Gott! Was für eine Unverschämtheit! Was glaubt der Kerl eigentlich, wer er ist? So was von anmaßend!“

Natalie schnappte nach Luft und kriegte sich nicht mehr ein.

Langsam und vorsichtig nahm ich die Karte auf, fast so, als könnte ich mir die Finger daran verbrennen. Bauer, Widmer & Frey stand da aufgedruckt. Und darunter: John Wicker, lawyer.

„Ha! Hab ich’s dir nicht gesagt!“

Natalie lugte mir über die Schulter und nahm die Karte genauer in Augenschein.

„Ein Anwalt. Wie klischeehaft! Die riech ich schon aus zehn Kilometer Entfernung. Leg das blöde Ding wieder hin und lass uns endlich von hier verschwinden.“

Ich zögerte. Eigentlich wollte ich genau das tun, was Natalie mir vorgeschlagen hatte, aber irgendetwas hielt mich zurück. Ohne Natalie anzusehen, schob ich die Karte in ein freies Fach in meinem Portemonnaie, das ich immer noch in der Hand hielt. Als ich es in meine Tasche zurückgelegt hatte, meinte ich: „Alles klar, wir können weiter.“

„Du bist einfach unverbesserlich, weißt du das, Sandrine?“, zischte Natalie wütend und verdrehte genervt ihre Augen. Als wir aus dem Lokal heraustraten, fügte sie aufgebracht hinzu: „Komm dann einfach nicht wieder bei mir angekrochen, wenn dich dieser Typ enttäuscht. Langsam hab ich genug davon. Ich kann dir jetzt schon sagen, dass das in einer Katastrophe enden wird.“

Natalies Gehabe ärgerte mich.

„Wie schön, dass du mal wieder alles besser weißt. Aber ich bin kein kleines Kind, auf das du aufpassen musst. Wenn ich dir so auf die Nerven falle, dann geh doch ohne mich weiter. Ich bin nicht scharf auf dein Mitleid!“

Meine beste Freundin sah mich mit einer Mischung aus Ungläubigkeit und Ärger an. Da ich selten aus der Haut fuhr, war sie sich solche Töne von mir nicht gewohnt. Fast gleichzeitig drehten wir uns um und stapften in entgegengesetzte Richtungen davon. Als ich noch einmal einen Blick zurückwarf, war Natalie schon fast außer Sichtweite. Doch etwas anderes erregte meine Aufmerksamkeit. Auf der Terrasse, die wir gerade verlassen hatten, stand der Mann namens John und sah über sein Weinglas hinweg zu mir hinab. Hatte er uns die ganze Zeit beobachtet? Wie viel von unserer Unterhaltung hatte er mitbekommen? Und warum machte mich sein Blick so unglaublich nervös? Schnell drehte ich mich wieder um und verschwand zügigen Schrittes in der Dunkelheit der Zürcher Altstadt.

2

 

Zu Hause angekommen zog ich die Schuhe aus und warf mich erst einmal aufs Bett. Ich starrte eine Weile zur Decke und ließ den Abend Revue passieren. So heftig hatte ich mich schon lange nicht mehr mit Natalie gestritten. Wahrscheinlich würde jetzt tagelang Funkstille zwischen uns herrschen. Dabei war sie es ja gewesen, die mich unbedingt unter Leute hatte bringen wollen, ich wäre lieber nach dem Essen direkt wieder nach Hause gegangen. Andererseits wäre ich so diesem John nicht über den Weg gelaufen ...

Sollte ich auf Natalie hören? Auch wenn mir ihr Ausbruch vorhin unangemessen erschien, hatte sie nicht auch ein wenig recht? Sie kannte mich einfach ziemlich gut und hatte in puncto Männergeschichten schon einiges mitgemacht. Auf der anderen Seite würde ich ihr gerne das Gegenteil beweisen. Ich würde ihr gerne zeigen, dass ich nicht mehr so naiv und verletzlich war, wie sie immer dachte. Mit einem Fuß angelte ich meine Handtasche herbei, nahm das Portemonnaie und daraus die Karte hervor.

„Ich will, dass du mich anrufst.“

Das war schon ziemlich arrogant von ihm. In diesem Punkt stimmte ich Natalie zu. Und normalerweise schreckten mich selbstverliebte Männer total ab, doch dieses Exemplar faszinierte mich. Es reizte mich, ihn anzurufen, nur um zu hören, was er dann wohl zu sagen hätte. Sollte ich ihn noch heute Nacht anrufen? Nein, das sah allzu sehr danach aus, als ob ich seinem Befehl Folge leisten würde. So klang es schließlich: wie ein Befehl. Er wollte es, also sollte ich es tun. Ob er jetzt auf meinen Anruf wartete? Oder spielte er dasselbe Spiel mit einem Dutzend anderer Frauen ebenfalls und wusste am Ende womöglich gar nicht mehr, welche ich war? Ich beschloss, ihn zumindest heute nicht mehr anzurufen.

 

Am nächsten Tag erwachte ich mit einem leichten Kater, den ich mit einer großen Tasse Kaffee zu kurieren versuchte. Ich war spät dran. Schnell hüpfte ich unter die Dusche und kleidete mich anschließend an. Den Rest des Morgenkaffees goss ich mir in meine kleine Thermoskanne und dann machte ich mich auf den Weg zur Arbeit. Meine Kollegin Laura saß bereits an ihrem Platz, als ich das Sekretariat betrat. Sie war gerade am Telefon und nickte mir zur Begrüßung zu. Als sie den Hörer aufgelegt hatte, meinte sie: „Du siehst etwas mitgenommen aus. Spät geworden gestern?“

„Nein, nur etwas zu viel Margarita.“

„Aber wenigstens hat Natalie dich mal wieder unter Leute gebracht. Wir haben uns alle schon langsam Sorgen um dich gemacht.“

Ich nickte abwesend und sah auf die Zeitanzeige meines Computers. 9 Uhr 12. Ob John wohl auch schon auf der Arbeit war? Bestimmt musste er früh raus und hatte womöglich schon den ersten Klienten bei sich. In Gedanken sah ich ihn in einem schicken Büro hinter einem eindrucksvollen Schreibtisch sitzen, den ernsten Blick auf seinen Laptop gerichtet.

„Und, jemand Nettes kennengelernt?“, riss mich Laura aus meinen Gedanken. Noch nicht ganz bei der Sache sah ich sie mit leicht verwirrtem Gesichtsausdruck an.

„Ob du jemanden kennengelernt hast? Aber so gedankenversunken, wie du heute Morgen wirkst, erübrigt sich meine Frage wohl. Wer ist der Glückliche? Was macht er? Sieht er gut aus?“

„Ich habe niemanden kennengelernt. Zumindest nicht direkt.“

„Aber da war doch was, stimmt’s?“

„Nun ja ... Es gab da so einen Typen, der hat mir seine Visitenkarte gegeben und gemeint, ich solle ihn anrufen.“

Lauras Augen wurden größer. Sie liebte jede Art von Tratsch und Klatsch.

„Na und weiter? Hast du ihn schon angerufen?“

„Nein, natürlich nicht. Wie sähe das denn aus, wenn ich ihn gleich sofort anriefe.“

„So, als ob du Interesse hast. Das hast du doch, oder?“

„Ich weiß nicht so recht ...“, weiter kam ich nicht, denn in dem Moment betrat unser Chef, Herr Gisler, das Büro.

„Für elf Uhr ist spontan ein Kundenmeeting eingeplant. Ich brauche bis dann bringend unser Portfolio. Sandrine, übernehmen sie das?“

„Ich kümmere mich drum“, antwortete ich erleichtert darüber, auf diese Weise meine Unterhaltung mit Laura beenden zu können. Ihre Fragen brachten mich nur zu sehr zum Nachdenken. Der Rest des Tages zog sich öde dahin und ich ertappte mich mehrmals dabei, wie meine Gedanken abschweiften und sich diesen düsteren Blick ins Gedächtnis riefen. Um 17 Uhr hatte ich genug davon und machte mich auf den Nachhauseweg. Laura war schon vor einer halben Stunde ins Wochenende gestartet.

 

 

Ich ging noch schnell in den kleinen Supermarkt in der Nähe, um mir etwas fürs Abendessen zu besorgen und dann schloss ich auch schon erschöpft die Haustüre hinter mir. Mit wenigen Handgriffen hatte ich die Papiertüte mit den Esswaren geleert und alles in den Kühlschrank verstaut. Hunger hatte ich seltsamerweise noch keinen, daher entschied ich mich, vor dem Abendessen noch eine Runde joggen zu gehen. Ich zog mich schnell um, hüpfte in meine Laufschuhe und steckte mir die Kopfhörer meines iPods in die Ohren. Kaum war die Haustüre hinter mir ins Schloss gefallen, fingen meine Füße auch schon an wie von selbst zu rennen. Ich war in Topform. Eine ganze Stunde lang joggte ich durch die Stadt und mit jedem Schritt fühlte ich mich leichter und beschwingter. Ziemlich verschwitzt kehrte ich in meine kleine Wohnung zurück. Im Treppenhaus traf ich auf Frau Kohler, eine freundliche alte Nachbarin.

„Guten Abend Fräulein Widmer! Sie sehen gut aus heute. Nicht mehr so traurig wie leider viel zu oft in letzter Zeit.“

Lachend antwortete ich: „Besten Dank Frau Kohler. Sie sehen auch gut aus. Grüßen sie Herrn Kohler von mir!“

„Das werde ich tun, Fräulein Widmer. Kommen sie doch am besten Mal wieder auf Kaffee und Kuchen vorbei. Wir würden uns sehr über einen kleinen Besuch von ihnen freuen.“

„Danke für die Einladung und einen schönen Abend noch“, erwiderte ich lächelnd, ohne weiter darauf einzugehen.

Oben in meiner Wohnung begab ich mich auf der Stelle ins Badezimmer und nahm eine ausgiebige Dusche. Danach fühlte ich mich wie neu geboren. Ich schlüpfte in meinen flauschigen Bademantel, wickelte ein Handtuch um meine feuchten Haare und ging in die Küche. Seltsamerweise hatte sich trotz meines Dauerlaufs noch immer kein Hungergefühl eingestellt. Da ich nun schon einmal in der Küche war, kochte ich mir stattdessen eine Tasse Schwarztee. Nachdem dieser lange genug gezogen hatte, goss ich großzügig Milch dazu und setzte mich damit vor den Fernseher.

Lustlos zappte ich mich durch das stumpfsinnige Vorabendprogramm und blieb bei einer Biografie über einen halb bekannten Architekten hängen. Nach ein paar Minuten stellte ich das Gerät wieder aus. Was tat ich hier bloß an einem Freitagabend alleine zu Hause und dann auch noch vor dem TV?

Ich stellte meine halb geleerte Teetasse auf den Couchtisch und ging zum Fenster im hinteren Teil meiner Wohnung. Von hier aus hatte ich einen tollen Blick ins Grüne und konnte in der Ferne oft sehen, was für Wetter gerade aufzog. Diese Aussicht kostete mich zwar einen stattlichen Teil meines bescheidenen Sekretärinnensalärs, aber das war es mir Wert. Ich liebte es, die Wetterumschwünge zu beobachten. Es gab nichts Schöneres für mich, als wenn sich am Horizont immer mehr graue Wolken verdichteten, aus einem lauen Lüftchen kräftige Windböen erwuchsen und das Ganze dann schlussendlich in einem heftigen Gewitter endete. Auch heute sollte es laut Wetterbericht noch eines der letzten Spätsommergewitter geben. Und den düsteren Wolken dort hinten nach zu urteilen, stand mir zumindest wettertechnisch ein spannender Abend bevor.

Aus dem Korb mit frisch gewaschener Wäsche holte ich meine Lieblingskuscheldecke hervor, schnappte mir ein Buch aus dem Regal und ging damit ins Schlafzimmer. Dort öffnete ich noch das Fenster, um die bald regenfrische Luft hereinzulassen und dann pflanzte ich mich aufs Bett und begann zu lesen.

Normalerweise versank ich nach wenigen Zeilen vollkommen in einer Geschichte, doch heute fiel es mir unglaublich schwer, mich zu konzentrieren. Immer wieder drifteten meine Gedanken ab und meine Augen schielten dabei auf meine Handtasche. Dort drin befand sich die Visitenkarte. Sollte ich nun anrufen oder nicht?

Stand auf der Karte nur John Wickers Geschäftsnummer oder auch die Nummer seines Mobiles? Es war Freitagabend, sollte ich nur seine Geschäftsnummer haben, würde ich ihn wohl kaum mehr vor Montag erreichen können ...

Der Gedanke machte mich nervös und diese Tatsache wiederum beunruhigte mich noch mehr.

„Ich nehme die Karte heraus, nur um zu sehen, was für eine Nummer drauf ist“, sagte ich zu mir selber und wusste dabei ganz genau, dass ich mir nur etwas vormachte.

Ohne ein Buchzeichen zwischen die Seiten zu klemmen, legte ich meinen Krimi aufs Bett und angelte meine Tasche herbei.

Aufgeregt öffnete ich meinen Geldbeutel und nahm die Karte heraus. Das Papier, aus welchem sie gefertigt worden war, fühlte sich edel an und schmeichelte meinen Fingerkuppen. Die anthrazitfarbenen Buchstaben waren sanft in die Karte eingeprägt und prangten darauf in einer fast schon lächerlich akkuraten Weise. John Wicker. Lawyer.

John Wicker. Egomane.

Ich musste schmunzeln und drehte die Karte um. Dort stand in normalen Druckbuchstaben die Adresse der Anwaltskanzlei.

Kein schlechtes Pflaster. Es handelte sich wohl um die Schweizer Filiale eines englischen Unternehmens.

Unter der Adresse stand John Wickers Telefonnummer. Direktwahl.

Und noch eine Zeile weiter war seine Handynummer. Für einen Moment spürte ich Freude in mir aufkeimen, welche ich aber sogleich wieder im Keim zu ersticken versuchte.

„Jetzt weißt du Bescheid und kannst in Ruhe weiterlesen“, versuchte ich mich selbst zu beruhigen und legte die Karte auf meinen Nachttisch.

Doch nachdem ich das Buch wieder zur Hand genommen hatte und eine Seite schon zum dritten Mal las, weil ich mich keine fünf Worte lang zusammenreißen konnte, gab ich entnervt auf.

Warum sollte ich mir noch länger etwas vormachen: Ich wollte diesen John Wicker anrufen, und zwar heute noch. Aber was in Gottes Namen sollte ich bloß sagen? Hallo, du wolltest, dass ich dich anrufe?

Und wie würde er wohl auf meinen Anruf reagieren? Wäre er überrascht, dass ich überhaupt auf diese Tour ansprang und mich bei ihm meldete? Würde er mich gar auslachen? Oder überspielte er mit seinem forschen Auftreten eine gewisse Unsicherheit und würde sich freuen, dass ich ihn anrief? Es gab nur einen Weg, das herauszufinden...

 

Mit leicht zitternden Fingern griff ich nach meinem Mobiltelefon und fing an, die Nummer einzutippen.

Wie damals in der Grundschule, als ich mit meiner damaligen besten Freundin meinen Angebeteten anrief, nur um gleich wieder aufzuhängen, sobald er am Apparat war.

„John Wicker speaking.“

Er hatte gleich nach dem ersten Klingelzeichen abgenommen. Ich war völlig perplex und mir stockte der Atem.

Ich doofes Huhn. Was hatte ich denn anderes erwartet, als dass er den Anruf entgegennehmen würde. Irgendwie hatte ich mir die Sache zu wenig überlegt und nun atmete ich leise in den Hörer, wie so ein irrer Stalker. Ich war drauf und dran, das Telefonat einfach wieder zu beenden, als John Wicker erneut etwas sagte.

„Du rufst spät an.“

Seine Stimme klang rau und schmeichelnd zugleich.

Immerhin schien ich meine fünf Sinne wieder beieinanderzuhaben und entgegnete trocken: „Weißt du überhaupt, wer ich bin?“

Da er mich geduzt hatte, tat ich es ihm gleich.

„Nein, wer du bist, das weiß ich nicht. Und das interessiert mich auch nicht. Aber ich würde zu gerne noch einmal sehen, wie du dir aus lauter Verlegenheit eine deiner Locken hinters Ohr streichst.“

Sofern er nicht ausschließlich Frauen mit Lockenschopf ansprach, erinnerte er sich also doch noch an mich.

„Wieso rufst du erst jetzt an?“

„Was heißt denn ‚erst jetzt’? Schließlich sind wir uns gestern erst begegnet.“

„Aber ich sagte, ich will, dass du mich anrufst.“

Hörte sich dieser Mann eigentlich reden?

„Du hast nicht gesagt, wann ich dich anrufen soll.“

Am anderen Ende der Leitung herrschte für einige Sekunden Schweigen. Dann erwiderte John in leicht unzufriedenem Ton: „Das ist wahr. Ich hätte eine klarere Anweisung machen müssen. Daher werde ich erst einmal darüber hinwegsehen.“

Was zur Hölle ...? Ich war sprachlos. Ein zweites Mal verspürte ich den Drang, das Gespräch zu beenden.

„Also dieses Mal präziser: Ich will dich sehen, und zwar heute noch.“

Ich lachte in den Hörer. Dieser Kerl war ja unglaublich!

„Findest du das lustig?“ John klang jedoch selbst etwas amüsiert.

„Hörst du dir jemals beim Reden zu?“

Erneut einige Sekunden Schweigen.

„Kennst du das Golden Bridge?“, überging er meine Frage dann mit einer Gegenfrage.

„Ja.“

„Gut. Ich werde um Punkt 9 Uhr dort sein und eine halbe Stunde auf dich warten. Wenn du bis um halb 10 nicht gekommen bist, werde ich gehen und es wird keine Chance mehr geben, mich wiederzusehen.“

Bevor ich noch irgendetwas darauf erwidern konnte, hatte er schon aufgelegt.

Ich hielt das Mobiltelefon von mir weg und starrte es entgeistert an. Was war denn das gewesen? Das Gespräch hatte nicht länger als zwei Minuten gedauert, mich aber vollkommen durcheinandergebracht.

Zuerst hatte John von mir verlangt, ihn anzurufen und nun forderte er ein Treffen noch am selben Abend.

Ich werde eine halbe Stunde auf dich warten, danach werde ich gehen.

Was, wenn ich für heute schon Pläne gehabt hätte? Nicht, dass dem so war. Aber das konnte dieser John ja nicht wissen. Und wahrscheinlich war es ihm auch völlig egal. Diese Sorte Männer scherte sich einzig darum, zu bekommen, was sie wollten. Und ich wusste auch schon, wie John Wicker reagierte, wenn er nicht bekam, was er wollte.

Wenn du bis dann nicht gekommen bist, wird es keine Chance mehr geben, mich wiederzusehen.

Danke, ich verzichte. Ich wusste ganz genau, wie das enden würde, daher wollte ich es gar nicht erst anfangen. So sehr mich dieser John auch faszinierte und in seinen Bann geschlagen hatte; ich ließ mich doch nicht herumkommandieren wie eine Dienstbotin. Nachdem ich das Handy beiseitegelegt hatte, ging ich in die Küche. Nun da ich meine Gedanken endlich wieder etwas unter Kontrolle hatte, kam der Hunger.

 

Draußen hatte inzwischen der Regen eingesetzt und prasselte nun geräuschvoll an meine alten Fenster. Die düsteren Wolken bedeckten den ganzen Himmel und es war dunkel geworden, weshalb ich meine kleine Lampe anstellte und auf dem Tisch ein paar Kerzen anzündete. Dann begann ich zu kochen. Ich schnitt ein paar rote und grüne Peperoni klein, kochte Reis, und gab dann alles zusammen mit gewürfelter Hähnchenbrust in eine Pfanne. Noch ein paar Gewürze dazu und schon war das Abendessen fertig. Ich stellte den dampfenden Teller auf den Tisch mit den Kerzen und begann zu essen. Das grelle Licht der ersten Blitze zuckte durch meine Wohnung. Durch eines der geöffneten Fenster drang kühler Wind herein und ich begann zu frieren. Nach dem Duschen hatte ich mir nur ein dünnes Sommerkleid übergezogen. Ich legte die Gabel auf den Rand des halb leer gegessenen Tellers und ging ins Schlafzimmer, um mir ein Jäckchen zum Überziehen zu holen. Danach schloss ich alle Fenster im Haus, bis auf das im Schlafzimmer. Die frische Gewitterluft würde mir einen wunderbaren Schlaf bescheren. Als ich mich wieder an den Tisch gesetzt hatte und meine Gabel aufnahm, klingelte es plötzlich an der Haustüre. Im ersten Moment erschrak ich und sah auf die Wanduhr über dem Herd. Sie zeigte 9 Uhr 10. Wer konnte das sein?

John Wicker, schoss mir durch den Kopf. Aber den Gedanken verwarf ich gleich wieder. Er wusste ja gar nicht, wo ich wohnte. Vielleicht war es Natalie, die für einen spontanen Versöhnungsakt vorbeikam. Oder Frau Kohler, welche sich etwas Zucker borgen wollte.

Ich erhob mich noch einmal und ging zum Wohnungseingang. Als ich durch den Türspion guckte, stand niemand auf der anderen Seite. Da klingelte es erneut und stürmischer als zuvor. Es musste also jemand unten beim Hauseingang stehen. Das Läuten klang fordernd. Konnte eine Klingel überhaupt fordernd klingen? Schließlich war ihr Laut immer eine Aufforderung. Was für ein blöder Gedanke, dachte ich und schüttelte den Kopf.

Leise öffnete ich die Türe und ging barfuß die kalten Steinstufen hinab. Mit jedem Tritt fing mein Herz an, schneller zu schlagen. Ich zog mein Jäckchen enger um mich, dann hatte ich den Hauseingang erreicht. Leider gab es hier kein Guckloch, sodass mir nichts anderes übrig blieb, als die Türe zu öffnen, um herauszufinden, wer der oder die Unbekannte auf der anderen Seite war.

Langsam öffnete ich einen spaltbreit und sah hinaus in die verregnete Nacht. Als ich meinen spätabendlichen Besucher erkannte, blieb mein Herz für einen Moment stehen.

Es war doch tatsächlich John Wicker!

 

 

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Tag der Veröffentlichung: 02.10.2013

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Für jedes Herz, welches schon einmal gelitten hat.

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