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Es war der Tag, an dem sich mein ganzes Leben veränderte. Der Tag, durch den ich stärker wurde.
Noch fuhr ich mit meiner Mutter und meiner Schwester unwissend ins Krankenhaus. Mein Vater lag seit längerem da, er hatte Krebs und war gelähmt. Es sollte ein harmloser Tag werden, an dem wir zum Waffeln essen im Wartezimmer eingeladen wurden. Ich war erst elf Jahre alt und meine Schwester gerade mal fünf. Im Krankenhaus angekommen, durchlief mich wieder ein Schauer, es war ein unruhiges Gefühl, dieser Ort machte mir irgendwie Angst.
Während wir durch den Gang zum Zimmer liefen, schaute ich mich um. Weiße Wände, überall Türen, viele Menschen, ob alt oder jung. Von den meisten standen die Türen offen, immerhin war gerade Essensausgabe. Nach wenigen Minuten standen wir schon vor dem Zimmer, in dem mein Vater lag. Kurz schluckte ich, wie es ihm wohl heute ging? Ob er bald wieder gesund werden würde und mit uns nach Hause käme? Meine Mutter klopfte und ging rein, gefolgt von mir und meiner Schwester.
Ich atmete tief ein. Es roch nach Desinfektionsmittel. In einem Krankenhaus wohl kein Wunder. Doch das was ich danach mitbekam, erlangte meine ganze Aufmerksamkeit. Gerade war auch eine Ärztin reingekommen, als mein Vater im Bett lag und seine Schlüssel suchte. Er sagte, er wolle nach Hause, er habe keine Lust mehr hier zu bleiben. Mir blieb der Mund offen stehen, in meinem Kopf hallten die Worte nach. Er war nicht er selbst, es war, als habe er alles vergessen. Dachte, er könnte laufen, Auto fahren, unbeschwert nach Hause gehen. Doch so war es nicht. Das war die Realität. Er lag in seinem Bett, war gelähmt und war nicht mehr bei Sinnen.
Der Anblick erschütterte mich. Bis jetzt war er, auch wenn er nicht laufen konnte, immer er selbst gewesen, hatte vernünftig geredet. Und jetzt das. Ich nahm meine Schwester und ging in das Nebenzimmer. Dort war eine kleine Küche, in der anderen Ecke befanden sich Stühle und Tische. Es gab sogar ein Aquarium. Ich hatte mich schon längst wieder beruhigt und spielte mit meiner Schwester, ich wusste, mein Vater würde wieder gesund werden.
Nach einer Weile kam meine Mutter herein, um meinem Vater eine Suppe zu machen. Die Ärzte erlaubten ihr das, sie kannten sich alle gut. Ich ging mit auf den Flur, als ich einen Arzt erblickte. Er schaute emotionslos drein, rief meinen Onkel zu sich. Meine Blicke folgten diesen zweien, welche nun in der hintersten Ecke verschwanden. Was wohl los war? Was es so wichtiges zu besprechen gab? Als mein Onkel sich an die Stirn packte und seine Miene sich änderte, ging mir ein eiskalter Schauer über den Rücken. Meine Gedanken konnte ich schon gar nicht mehr richtig fassen, alles fühlte sich so unecht an. Ich konnte mir denken, worum es ging. Ich hoffte, nein ich flehte, dass es nicht das ist, was ich dachte. Meine Blicke folgten immer noch dem Arzt und meinem Onkel die nun zurückkamen. Täuschte ich mich, oder hatte mein Onkel Tränen in den Augen? Die nächsten Sekunden bekam ich hörte ich niemandem mehr zu. Zu sehr war ich in Gedanken, versuchte mich zu beruhigen. Ein plötzliches Schluchzen riss mich aus den Gedanken. Ich schaute auf, blickte zu meiner Mutter. Sie stand vor der Tür, neben dem Arzt und meinem Onkel und weinte bitterlich. Nein, das konnte nicht wahr sein. Es war bestimmt nicht so, wie ich es mir dachte…
Meine Gedanken und Gefühle überschlugen sich in diesen Minuten. Ich bekam nicht mehr viel um mich herum mit, war, als wäre ich gar nicht da. Ich merkte nur noch, wie mein Onkel meine Schwester und mich mitnahm und zu sich nach Hause ging. Es war schon Abend. Es war dunkel, ich hatte mich schon längst in das Bett gekuschelt. Erste Tränen rollten schon über mein Gesicht. „Nein, er darf nicht sterben, bitte nicht“, flehte ich in mein Kissen hinein, während mein Versuch, die Tränen zu unterdrücken, scheiterte. Ich hoffte nur, dass es keiner mitbekam. Es musste niemand sehen, wie ich weinte, wie schwach ich war.
Irgendwann schlief ich dann, mit Tränen in den Augen, ein. Doch es dauerte nicht lange, bis ich wieder wach wurde. Meine Schwester hatte angefangen zu weinen, meine Tante versuchte sie zu beruhigen. Ob sie was ahnte? Sie, als fünf Jährige, die bestimmt nicht einmal wusste, was der Tod war?
Ich wusste es nicht und wollte auch gar nicht drüber nachdenken. Die Nacht verging langsam. Immer wieder wachte meine Schwester auf und weinte, immer wieder weinte ich von neuem und schlief mit den Tränen ein.
Doch der nächste Morgen würde kommen, egal wie oft meine Schwester weinte. Mein Onkel gab mir am nächsten Morgen Bescheid, dass eine Freundin meiner Mutter mich abholen würde. Meine Miene verfinsterte sich, meine Gedanken versuchte ich neutral zu halten soweit es ging.
Ich wartete vor der Tür, dass es endlich klingelte, dass sie mich abholte und ich nun alles erfahren würde. Wieso eigentlich? Ich wusste ja eh schon alles.
Später saß ich dann mit ihr im Auto. Sie stotterte vor sich hin. Versuchte mir etwas zu erklären. „Die Welt ist nicht immer gerecht“, fing sie an, während ich hinten wieder mit meinen Tränen kämpfte. Nein, ich durfte nicht schon wieder weinen.
Ein gequältes „Dein Vater ist gestorben“, kam dann über ihre Lippen. Leise, doch ich konnte es verstehen und gab nur ein „Ich weiß“ von mir. Ja, ich wusste es, es war ihnen anzusehen.
Wieder kämpfte ich mit der Trauer, mit der Wut, die ohne Grund da war, immerhin konnte ich nichts dafür.

Doch dadurch lernte ich das wahrscheinlich wichtigste in meinem Leben. Der Tod wartet überall auf einen. Ob jung oder alt, ob krank oder gesund, jeder wird irgendwann sterben.
Man sollte sich nicht aufgeben und nur noch in Trauer leben, denn das eigene Leben geht weiter.
Die Trauer, die Verschlossenheit, die Tränen. Es sollte sich in Grenzen halten und einem nicht das Leben zerstören, denn jede Sekunde ist ein Geschenk des Lebens.

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Tag der Veröffentlichung: 04.08.2011

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