Sie saß im Schnee und malte Buchstaben. Einer nach dem anderen wurde in die weiße Fläche gezeichnet.
"Komm", rief ihre Mutter. "Du holst dir noch einen Schnupfen!"
Sie blieb sitzen, schrieb einfach weiter. Buchstabe für Buchstabe.
Die Buchstaben setzten sich zusammen, wurden zu einem Wort.
Schnee
, stand da.
Das Mädchen setzte noch sechs weitere Buchstaben hintendran. Ein s
. Ein t
. Die braunen Locken fielen dem Mädchen ins Gesicht, als es das e
zeichnete. Mit der freien Hand schob es sie zurück und malte gleichzeitig ein r
. Ein n
. Und noch ein e
.
Sie lächelte. Blickte auf das Wort und lächelte.
Die Mutter rief noch einmal nach ihr.
Diesmal stand sie auf und rannte über den fast gänzlich unberührten Schnee auf das Haus zu.
Eine Fußspur hin. Eine zurück. Die flache Stelle, auf der sie gesessen hatte. Ein Wort, geschrieben in der unverwechselbaren Handschrift eines Kindes.
Schneesterne
.
Ein Wort lag im Schnee. Ein Wort, geschrieben von einem Mädchen.
Es war dasselbe Mädchen, das auch vor sechs Jahren schon einmal dort gesessen und ein Wort gemalt hatte. Aber das Wort war ein anderes.
Schattenherz
.
Das Mädchen betrachtete eingehend das Wort und strich sich die Locken zurück. Ein glückliches Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus, wie immer, wenn ein neues Wort entstanden war.
Schattenherz
.
Eine Gestalt tauchte vor ihr auf, malte Fußspuren in die weiße Decke. Sie blieb stehen und setzte sich neben das Mädchen, die Augen auf das Wort zwischen den einzelnen Schneesternen gerichtet.
Die Gestalt war ein Junge.
Seine grünen Augen betrachteten das Mädchen, als es das nächste Wort in den Schnee schrieb.
Farbendampf
.
Er lächelte. Flüsterte ihr etwas ins Ohr.
„Wörtermalerin
.“
Ihre Augen lachten. „Lügenkünstler
“, sagte sie. Ihre Finger malten das Wort schon in den Schnee.
Er nickte und holte etwas aus seiner Tasche hervor. Eine Maske. Schwarz, mit goldenen Ranken.
„Neu?“
Der Junge nickte und setzte sie sich auf. Sie bedeckte nur die Hälfte seines Gesichtes, das Mädchen konnte seine Lippen sehen, die mit den grasgrünen Augen um die Wette lachten.
„Gefällt sie dir?“
Das Mädchen nickte. „Natürlich.“ Einer ihrer Finger strich über das Gold. „Todesranken
“, flüsterte sie. Ließ ihren Finger wieder über den Schnee gleiten.
„Du hast meine neue Rolle erraten.“ Er betrachtete die Buchstaben.
Sie blickte ihn fragend an.
„Ich spiele den Tod“, flüsterte er. Bedrohlich. Furchteinflößend.
Das Mädchen lachte nur. „Passt wahrscheinlich besser als deine letzte Rolle. Weißt du noch?“
Der Junge verdrehte die Augen. „Wie könnte ich das je vergessen!“
Sie grinste und wechselte das Thema. „Ich hätte nicht gedacht, dass Miro so schnell fertig sein würde, dieses Stück zu schreiben.“
„Das hätte keiner gedacht.“ Er nahm die Maske wieder ab und legte sie zwischen Todesranken
und Lügenkünstler
. „Er hat in fünf Wochen 300 Seiten geschrieben. Und es ist eines seiner besten Stücke.“
„Besser als Das Löwenmädchen
?“, fragte sie skeptisch.
Er nickte. „Es ist perfekt. Ihm fehlt nur noch ein Titel.
Das Mädchen lächelte. Todestränen
, schrieben ihre Finger.
„Schöner Name“, sagte der Junge. Auch er lächelte.
Sie spielte mit ihrem Armband. „Wann ist eure nächste Probe?“
„Morgen.“ Der Junge holte etwas aus seiner Jackentasche und legte es neben Farbendampf
. Eine Kreide, blau wie der Himmel an einem sonnigen Tag. „Der Schnee schmilzt“, sagte er.
„Warst du auf dem Markt?“ Ihre Finger schlossen sich um die Kreide.
Er nickte. „Heute früh. Es gibt noch mehr Kreide.“
„Du weißt, dass wir kein Geld haben.“ Ihre Stimme war gepresst und bedrückt.
„Ich schenke es dir“, bot er ihr an.
Sie schüttelte den Kopf. „Du kannst mir nicht alles bezahlen. Ich will das nicht.“
Er seufzte. „Ich will dir nur helfen.“
Das Mädchen schwieg eine Weile. Dann sprang sie auf. „Komm. Wenn du unbedingt arm werden willst.“
Er lachte und griff nach seiner Maske. „Wetten, dass das nie passieren wird?“
„Ich wette nicht.“ Sie grinste zu ihm hinunter.
Langsam stand er auf. „Ich eigentlich auch nicht.“
„Na, dann ist ja gut.“
Er lächelte. „Komm. Der Markt ist nicht ewig da.“
Ihr helles Lachen verlor sich im sanften Wind, als sie zusammen davongingen. Fünf Wörter wurden von den ersten warmen Sonnenstrahlen beschienen. Bald würden sie schmelzen.
Das Mädchen saß auf der Straße und malte mit roter Kreide ein Wort darauf.
Bluttränen
.
Neben ihr lag ihre Mutter, Blut floss aus einer Wunde in ihrem Bauch und sammelte sich bei den Knien des Mädchen.
Es weinte. Legte mit einem leisen Schluchzen die Kreide zur Seite und setzte sich neben den Kopf ihrer Mutter. Sanft schloss das Mädchen deren Augen. Ein kleiner, salziger Tropfen fiel auf die Lider.
Der Junge stand hinter ihr und setzte sich nun neben sie. Sein Arm ruhte auf der Schulter des Mädchens.
Sie schwiegen eine Zeit lang. Das Mädchen weinte. Der Junge drückte sie tröstend an sich.
„Sie hat mich nur beschützen wollen“, sagte das Mädchen schließlich. Wischte sich die Tränen aus dem Gesicht.
Der Junge nickte. „Ich habe es gesehen.“
„Wieso hat sie das getan?“ Ihre Augen blickten zu ihm hoch. Es schien, als würde ihr Leben von der Antwort abhängen, von den Worten, die aus seinem Mund kommen würden.
„Weil sie dich liebt.“ Der Junge strich sanft mit dem Daumen über ihre Wange, ließ einen kleinen Tropfen von ihrer Haut verschwinden. „Und weil ihr dein Leben wichtiger war als ihres. Du weiß, dass sie kaum noch gelebt hat. Dass sie sich mit ihren Geschichten in eurem Haus eingeschlossen hat.“ Grüne Augen sahen das Mädchen an. Wollten den Schmerz verringern, die Trauer um die Mutter.
Das Mädchen spielte mit der Kreide. „Und wieso ist sie heute hinaus?“
Der Junge schüttelte den Kopf. „Das weißt am ehesten du.“
Sie blinzelte. Dann setzte sie die Kreide wieder auf den Boden. „Ich wusste es schon immer.“
Schicksalsflüsterer
.
„Die Götter“, flüsterte sie. „Sie hat in ihren Geschichten aufgeschrieben, wie die Zukunft sein würde.“
Der Junge lächelte schwach. „Deshalb ist sie dir gefolgt.“
Sie legte die Kreide zur Seite. „Das Schicksal ist gegen uns.“ Ihr Blick huschte zu ihrer Mutter, zu dem Ring an deren Hand, zu einem Armband um das dünne Handgelenk.
„Aber die Götter lieben dich“, erwiderte der Junge. Er nahm die Kreide und schrieb Wörtermalerin
unter Schicksalsflüsterer
. „Sie müssen dich lieben.“
Das Mädchen schüttelte den Kopf. „Ich glaube es nicht. Aber ich werde darauf vertrauen, wenn du es sagst.“
Er nahm ihre Hand, legte ihr die Kreide hinein. „Ich sage es nicht. Ich weiß es.“ Seine Augen sagten, dass er die Wahrheit sprach.
„Ich wünschte, ich hätte selber eine solche Zuversicht.“ Sie schloss ihre Finger langsam über dem roten Gegenstand. Feine Spuren zeichneten sich auf ihrer Haut ab, Kreidestaub haftete in den Rillen ihrer Hand.
„Suche etwas, für das es sich lohnt zu leben“, sagte der Junge. „Suche das, was deine Mutter verloren hat.“
Das Mädchen lächelte zaghaft. „Eine Art Schatzsuche also?“ Die Kreide glitt über die Straße.
Lebenssuche
.
„Genau“, erwiderte der Junge und umarmte sie fest. „Ich habe meine Lebenssuche schon beendet. Ich habe den Schatz gefunden. Jetzt helfe ich dir, ja?“
Sie nickte und stand auf. „Trägst du meine Mutter mit mir zum Friedhof?“
„Natürlich.“
Behutsam hob er sie hoch. Das Mädchen trug den Kopf der Mutter, blickte traurig auf die geschlossenen Lider.
Regen setzte ein, als sie die Straße entlang gingen. Das Wasser wusch die Tränen und die roten Spuren auf dem Boden weg, Bluttränen
floss zusammen mit Lebenssuche
und Wörtermalerin
in einen Abfluss, spülte das schon getrocknete Blut mit.
Nur Schicksalsflüsterer
blieb, sah dem Mädchen und dem Jungen hinterher. Die rote Schrift auf dem Boden ließ sich nicht vom Regen vertreiben, nicht so zerstören wie die anderen zwei Wörter, die nun vermischt mit Blut und Tränen die Straße hinunter flossen.
Texte: @cessieannemay
Bildmaterialien: @cessieannemay
Tag der Veröffentlichung: 13.02.2013
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