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Samstag, 19.09.2009, 14:30 Uhr.

Noch etwas weniger als einen Tag bis zum Start des 27. Karlsruher Halbmarathons. Ich gehe mit meinem Laufpartner – und Vater – zur Europahalle, um die Startunterlagen abzuholen. Das Innere der Sportarena ist noch mäßig gefüllt mit Läuferinnen und Läufern und wir gehen zum Stand, an dem die Startgebühr berappt werden muss. Gegen Geld erhalten wir die Unterlagen – die Startnummern (H 4397), einen Chip zur Zeitmessung und ein schönes, schlichtes weißes Laufshirt. Dann sehen wir uns noch ein wenig bei den Ständen um, jeder größere Ausstatter für Läuferbekleidung und Fitnessprodukte versucht hier seine Ware an den Mann zu bringen. Laufshirts und Schuhe habe ich genug, Aufputschmittel ist daheim, aber einen leichten Gürtel zum problemlosen Startnummer-tragen nehmen wir mit. Dann erhalten wir noch einige kleine Geschenke wie Massageöl, Eisgel und Bonbons. Auf die Pasta, die günstig angeboten wird, haben wir keinen Hunger. Nach einer Weile in der Europahalle gehen wir nach Hause. Noch nehmen wir die Erkältung und das leichte Unwohlsein meines Vaters nicht ernst, doch morgen sollte uns das zum ersten Mal voneinander trennen…


Samstag, 19.09.2009, 22:00 Uhr

Ich habe heute viel Wasser getrunken, Obst gegessen und ein gesundes Abendbrot zu mir genommen. Kurz geduscht, jetzt geht es früh ins Bett. Morgen ist ein großer Tag für mich – mein erster Fiducia-Baden-Halbmarathon in Karlsruhe, der Heimatstadt meines Herzens. Während mein Dad bei diesem Lauf inzwischen ein Routinier ist (letztes Jahr hat er sogar den Marathon gemeistert), steigt bei mir die Aufregung so langsam. Bei den letzten Läufen haben wir gemerkt, dass ich ihn langsam aber sicher sportlich überbiete. Wo er mich früher motivierend mitziehen musste, bin heute ich der Frontmann – der Vorzeigeläufer der zweiköpfigen LaufGemeinschaft Haselmaus. Beim Rülzheimer HM habe ich die 21km in 1:52:30 Stunden geschafft. Ob ich das wieder toppen werde? Aber jetzt brauche ich viel Ruhe, in knapp neun Stunden geht es wieder raus aus den Federn.
Noch eine ganze Stunde wälze ich mich unruhig hin und her, bis ich endlich in den Schlaf finde.


Sonntag, 20.09.2009, 07:20 Uhr

Aufstehen ist angesagt, die letzten Vorbereitungen müssen getroffen werden. Voller Vorfreude und Nervosität steige ich in meine sorgfältig hergerichteten Klamotten. Mein LG Haselmaus-Laufshirt mit meinem Namen darauf. Die LG Haselmaus-Kappe, darunter die silberne Sport-Sonnenbrille auf die Nase. Über die "reibungslose" Unterwäsche eine kurze Läuferhose. Über die RP-Socken meine so gut wie nagelneuen Nike's, leicht und perfekt zum laufen. Mein Chip zur Zeitmessung beim HM wird in die Schnürsenkel eingebettet. Der Nike+ Sender ist im Schuh integriert, er wird beim laufen die Daten über Strecke und Geschwindigkeit an meinen iPod übermitteln. Dieser kommt in seine Läufervorrichtung am Oberarm, der Nike+ Empfänger ist eingesteckt. Die Kopfhörer am Ausschnitt aus dem Trikot heraus. Nun nur noch die Startnummer am neuen Gürtel – perfekt. Einen Trinkgürtel brauche ich nicht, die Verpflegung an der Strecke soll gut sein. Ein kleines, weißes Power-Gelkissen, das ich bei einem anderen Lauf bekommen habe, kommt hinten in den Reißverschluss meiner Hose. Kleiner Powerschub für Kilometer 15 oder so…
Fertig eingekleidet geht’s in die Küche, wo mein Dad schon bei einem Kaffee wartet. Ich mache mir auch einen und esse dazu ein kleines Brot, um nicht ganz ohne etwas im Magen an den Start zu gehen. Bis zum Start werde ich noch 1,5 Liter Flüssigkeit zu mir nehmen, das meiste stilles Wasser. Darunter auch ein Glas Iso-Getränk und um 8:00 Uhr sowie kurz vor Start noch ein Glas Wasser mit einem Löffel Guarana-Pulver darin. Das ist die koffeinreichste Pflanze der Welt (aus Brasilien) und wirkt bestimmt besser als hundert Tassen Kaffee… Ein kleines Aufputschmittelchen, das nur bei Wettkämpfen zum durchhalten zum Einsatz kommt. Sicherlich ganz legal… Allerdings setzt die Wirkung erst nach etwa einer Stunde ein, daher das erste Glas des (wirklich absolut widerlichen) Getränkes schon eine Stunde vor Startschuss. Dann esse ich noch einen Apfel und eine Birne, leichtes Obst, das nicht schwer im Magen liegt. Dennoch geht es kurz vor Aufbruch noch einmal aufs Klo.
Dementsprechend frei, gesättigt und gedopt machen wir uns auf den Weg zur Startlinie. So viele Läuferinnen und Läufer und ich mittendrinn. Viele laufen sich warm. Wir nicht, die Kräfte werden für den Halbmarathon gespart. Stattdessen gehe ich noch einmal zum öffentlichsten Pissoir dass ich je gesehen habe und lasse Druck ab.


Sonntag, 20.09.2009, 08:55 Uhr

Der Startbereich des Baden Marathon ist in zwei Startlinien unterteilt, Halb- und Marathonis starten gemeinsam. Die vorgenommenen Zeiten sind in vier Gruppen unterteilt: A,B,C und D. Offiziell sollen A und B von Start 1 loslaufen, sind alle Läufer durch wird Start 2 für C und D geöffnet.
Wir reihen uns ganz vorne ein, an der Spitze der Gruppe C. Ich stehe direkt unter dem großen Tor mit der Aufschrift "Start 2" und hüpfe ein wenig auf und ab, überprüfe meinen iPod. Vor mir, direkt nach dem Start liegt eine flache Matte auf dem Boden, ein gelber Kasten an der Seite. Wenn ich mit dem Chip am Schuh hier drüber laufe, beginnt meine Zeitmessung. Die Straße vor mir ist frei, an den Rändern stehen viele jubelnde Zuschauer, ganz vorne eine Reihe Cheerleader in Rot-Gold… gar nicht so übel. Ein Blick quer über die breite Straße zeigt mir Start 1, wo gerade die Kenianer und Nigerianer oder woher auch immer die alle kommen gerade ganz an die Spitze geführt werden. Gazellen, gigantisch wie absolut durchtrainiert sie sind. Und sie laufen, um ihre Familien in Afrika ernähren zu können. Sie sind einen weiten Weg gegangen um hier mitmachen zu können. Um hier zu siegen.
Die Große Uhr geht immer weiter auf 9:00 Uhr zu, bald fällt der Startschuss. Die Nervosität steigt. Ich will am liebsten einfach los laufen. Aber zunächst ist Start 1 dran. Unter dem Startschuss und Anfeuerungsrufen legt das Spitzenfeld los, hechtet voran. Die Erde erbebt unter den ungefähr 5.000 Fußpaaren, die zuerst in den Wettkampf starten. Die zweite Hälfte mit mir fast an der Spitze wartet gebannt auf die letzten Nachzügler und die Anspannung steigt. Nur noch wenige Augenblicke… Mein Finger ruht auf dem iPod, ein kurzer Blickkontakt zu meinem Dad, dann wird der Mann auf der Bühne fixiert, der langsam seine Pistole gen Himmel hebt… Adrenalin…


0km – Start voller Euphorie

Bämm! "Training gestartet" säuselt die iPod-Frau aus meinem Kopfhörer. Pah, Training, das hier ist weitaus mehr! Beim Überschreiten der gelben Matte gibt der Kasten daneben einen kurzen Piep von sich. Jetzt zählt's. An der Spitze von nahezu weiteren 5.000 Paar Schuhen laufe ich los, die noch freie Straße entlang, vorbei an all den Zuschauern, die mich dahin tragen. Nach der ersten Kurve blicke ich zu meinem Vater, der die flache Hand leicht nach unten senkt. Klar, Tempo drosseln. Wir dürfen uns am Anfang nicht in voller Euphorie auspowern. Also lassen wir uns minimal zurück fallen. Kurz darauf kommen die ersten Läufer in Sicht, die bei Start 1 ganz zum Schluss gestartet waren. Schlafwagentempo denke ich, warum ordnen die sich bei B ein? Aber wenn auch nur langsam, schießt es mir durch den Kopf, immerhin versuchen sie sich an so einer großen Leistung.
Ab jetzt wird für mich ein langes Überholen beginnen, bis beinahe Kilometer 17. Einen nach dem anderen aus der Start 1 – Gruppe werde ich hinter mir lassen. Aber in diesem Moment denke ich da noch nicht dran, das zu packen. Nur durchkommen ist wichtig. Der Weg ist das Ziel. Mein Dad und ich nehmen uns die nächsten Nachzügler vor, ziehen an ihnen vorbei. Schon bald taucht rechts eine weitere Gruppe junger Cheerleader auf, die uns anfeuern. Auch sie sind Teil des 1. Karlsruher Tanzmarathons, bei dem an vielen Streckenabschnitten Tanzgruppen ihr Können zeigen. Die hier kurz angesehen und weiter geht’s.
Ungläubig begutachte ich das Schild am Straßenrand, auf dem eine fette "1" prangt. Wirklich schon der erste Kilometer vorbei? So schnell? Ich lasse mir vom iPod das aktuelle Tempo angeben und sage meinem Vater, dass wir etwas langsamer machen sollten. Viel zu schnell war das aktuelle Tempo, im Training waren wir weit darunter gelaufen. So würden wir das nicht bis zum Ende durchhalten.



an der Spitze des zweiten Startblocks, ich bin der zweite von links (in weiß-orange mit schwarzer Hose




1km – Andeutungen

Ich find es hier wunderbar auf dieser Strecke. Mein geliebtes Karlsruhe um mich herum, ambitionierte Zuschauer und ich habe richtig Lust zum Laufen. Meinem Dad ist weniger Spaß an der Sache anzusehen. Er wirkt sehr angestrengt und das schon so früh. Auf meine Frage hin meint er, es wäre etwas am Magen und wir sollten vielleicht noch ein bisschen langsamer machen, dann wird es womöglich besser. Während wir weiter langsamere Läuferinnen und Läufer überholen, ziehen weitere an uns vorbei, die hinter uns gestartet waren. Ich hätte gute Lust und Power, ihnen nachzusetzen, aber Dad ist wichtiger. So oft hat er auf den letzten Kilometern auf mich gewartet, wo ich am Ende war, mich motiviert und mir Kraft gegeben. Ich lasse ihn jetzt ganz bestimmt nicht alleine, wir ziehen das gemeinsam durch.


2-3km – Vorantasten

Wir halten das Tempo und so langsam kommen bei dem schönen, klaren Wetter die ersten Schweißtropfen auf den Gesichtern zum Vorschein. Nach der langen Geraden geht es nach einer Kurve nun auf eine weitere zu, zunächst unter einer Unterführung hindurch. Hier unten hallen die Schritte der vielen Läufer so richtig von den Wänden und obwohl Dad und ich nun nur noch etwa Trainingsgeschwindigkeit laufen, überholen wir immer weiter. Es macht Spaß, denke ich, so viele Menschen lässt man nicht alle Tage hinter sich.
Dann geht es unter einer Brücke hindurch, oben müsste eine Bekannte zum anfeuern stehen. Unter den ganzen jubelnden Zuschauern darauf können wir sie gar nicht ausmachen, aber wahrscheinlich hat sie uns trotz unserem weiß-orangenen Partnerlooks ebenfalls nicht gesehen. Egal, weiter.
Die Tanzgruppen – wenn sie da sind – nehmen wir kaum war, zu schnell sind wir wieder vorbei. Aber hier sind überall Square-Dance-Gruppen, meine Güte, ist das Langweilig, den alten, übergewichtigen Menschen beim Kreiseln zuzuschauen. Diese Zwei Kilometer gehen schnell vorbei, wir laufen einfach weiter und bannen uns einen Weg durch den Läuferjungel. Ich voran, Dad hinter mir, dann wieder nebeneinander und beim nächsten Überhol-Opfer ziehe ich links und Dad rechts vorbei. Ich fühl mich fantastisch, als könnte das auf ewig so weitergehen. Schon bald kommt das 4km-Schild in Sicht, etwas weniger als ein Fünftel ist geschafft.


4km – Abschied

Nach einer Weile müssen wir uns wieder zurück fallen lassen, man sieht meinem Vater an, dass es heute zu schnell für ihn ist. Als wir gerade in einer "Lichtung" zwischen all den Läufern sind, zieht er dicht neben mich und meint, ich solle alleine losziehen. Er mache langsamer und lässt sich zurückfallen. Ich sage nein, wir haben bisher immer alles gemeinsam durchgezogen. Außerdem kann ich meine Ausdauer nicht richtig einschätzen und brauche jemanden, der mich ab und an ein wenig drosselt, da ich schneller werde. Er lacht und antwortet, dass ich heute einen guten Tag habe und meine Bestzeit toppen könnte. Es lockt natürlich, loszuziehen, all die Menschen vor mir hinter mich zu bringen. Aber ich bleibe skeptisch. Er gibt mir einen Ruck, sagt für die LG Haselmaus und schaut zuversichtlich drein. Na gut, ich tu's. Ich sage, dass ich im Ziel auf im warte und wünsche ihm noch viel Glück und vor Allem durchkommen. Es wäre ein Horror für mich, wenn er zusammenbrechen würde und ich wäre nicht bei ihm. Wir Klatschen uns ab (was mit den schweißgetränkten Händen nicht gerade angenehm ist). Dann gebe ich Gas und schalte laut, sehr laut meine Musik ein, Dad drosselt sein Tempo. Ich sehe ihn hinter mir langsam in der Menge verschwinden. Irgendwie traurig. Aber ich bin frei, kann mein Tempo gehen. Also gebe ich richtig Gas, ziehe in ungeahnter Geschwindigkeit an den Mitläufern vorbei, voller Euphorie, meinen Rekord zu brechen und meinen Dad nicht zu enttäuschen, wobei er das natürlich niemals wäre. Ich taste mich voran, lasse zehn, zwanzig, vierzig – haufenweise Läufer hinter mir. Ab und an sind die Lücken zwischen ihnen nur winzig, aber ich zwänge mich vorbei. Das 5km-Schild kommt in Sicht, etwas dahinter die erste Versorgungsstation. Ich nehme peile an und laufe im leichten Winkel direkt auf den Wasserstand zu.


5-6km – Jetzt kann es los gehen

Aus meinen Kopfhörern schallt ein Powermix-Podcast. Ich bin wild, ich bin ein Tier auf der Jagd. Das Ziel ist die Beute. Ich greife mir im vollen Lauf zwei Plastikbecher voller Wasser, trinke einen zur Hälfte, wobei mir die das Meiste der kühlen Flüssigkeit über den Becherrand hinaus in Gesicht und über das Trikot schwappt. Scheißegal. Die zweite Wasserhälfte landet direkt in meinem Gesicht und der leere Becher wird unachtsam zur Seite geworfen. Dann ziehe ich die Kappe ab und fülle den zweiten Becher dort hinein, setze sie schnell wieder auf. Ich fühle mich gut, verdammt gut. Jetzt geht es von der breiten Straße, auf der sich das Feld hat verteilen sollen hinein in engere Straßen, das Überholen wird schwerer. Vor mir ist ein extrem dicht von Läufern besetzter Abschnitt. Klar, mittendrin läuft ein Ballonläufer, der den anderen als Orientierung hilft. Der Gelbe Ballon über ihm zeigt an, dass er den Marathon in unter 4:00 Stunden laufen wird, und er ist mit Start 1 bestimmt zwei Minuten vor mir gestartet. Perfekt, denke ich, das heißt, dass ich aktuell wieder eine Zeit unter zwei Stunden anpeile. Aber ich will mehr, ich will den persönlichen Rekord. Also Augen zu und durch, geradewegs durch die Ballon-Meute hindurch. Zum Glück habe ich ein paar Meter weiter die Möglichkeit, rechts an der ganzen Menge vorbei zu ziehen. Das waren aber mindestens 70 weitere überholte Läuferinnen und Läufer, denke ich zufrieden. So kann es weiter gehen, also beschleunige ich weiter.





7-10km – Die Zuschauer motivieren, um angefeuert zu werden

Links, rechts, geradeaus und wieder links – es interessiert mich gar nicht mehr, wo in Karlsruhe ich gerade bin. Wichtig ist nur, dass ich laufe und überhole. Ab und an sehe ich wieder ein paar Tanzgruppen an den Seiten stehen. Irgendwie scheinen sie immer Pause zu machen, wenn ich vorbei komme. Nur die "tollen" Square-Dancer sind unermüdlich. Die Zuschauer hier, offensichtlich in Stadtrandnähe, sind etwas weniger aufmunternd, geklatscht wird nur vereinzelt, ab und an streckt ein Kind die Hand zum abklatschen heraus und freut sich, dass es wahrgenommen wird wenn jemand abklatscht. Das strahlende Lachen eines Kindes ist etwas ganz besonders motivierendes. Aber die meisten Leute recken nur die Hälse, auf der Suche nach einem bekannten Läufer.
Leute, das könnt ihr nicht bringen, feuert doch alle an! Der Vorname eines jeden steht fett auf der Startnummer… aber ich muss nachhelfen. Hab ich schon bei mehreren Läufen erfolgreich gemacht. An einer Kreuzung, an der sich eine größere Zuschauermasse gebildet hat, die alle nur mehr oder weniger gelangweilt dreinschauen, klatsche ich laut in die Hände und schreie "Stimmung!"
Es wirkt, sie brechen in Jubel aus und tragen mich und die Läufer im Umkreis dahin. Geht doch. Viele sehen mich lachend an, ich bin zufrieden. Hoffentlich klatschen sie weiter, sodass mein Dad auch noch etwas abbekommt.
Nach 7,5km kommt die nächste Versorgungsstation, selbes Spiel wie beim ersten Mal. Noch macht mein Körper keine Anstalten, vorzeitig schlapp zu machen, obwohl ich weiß, dass ich viel zu schnell laufe. Im Training war mein Maximum bei dieser Geschwindigkeit etwa 12km… aber noch bin ich frisch. Auch bei Kilometer 10 (Getränke tanken) fühle ich mich noch zum Bäume ausreißen. Ob es das Guarana ist, die Wettbewerbssituation oder die Zuschauer ist mir egal. Noch habe ich die Hälfte der Strecke vor mir und im Moment geht es in Richtung eines wohl bekannten Waldes – meiner Karlsruher Trainingsstecke.


11-13km – Erste Schmerzen

Eigentlich geht es mir hervorragend, aber etwa seit 11,5km hab ich ein leichtes Stechen auf dem Knochen meines rechten Unterbeines. Direkt in der Mitte des Schienenbeins. Weiterlaufen, nicht beachten, vielleicht geht es wieder weg. Ich halte mein Tempo, überhole weiter und weiter, wenn auch langsamer, da sich das Läuferfeld inzwischen sehr stark ausgedehnt hat. Der 12,5km-Versorgungsstand liegt an einem geteerten Feldweg – links von mir Wald, Rechts ein korngelbes, Hüfthoch bewachsenes Feld. Und kurz davor passiert es, wie tausend Nadeln sticht mein Bein. Das Tempo weiter haltend humpel ich eher zum Versorgungsstand, lasse mir von den Mädels Wasser reichen und kippe mir den ersten Becher über das höllisch schmerzende Bein. Das tut gut und lindert, der Schmerz lässt nach. Das Gesicht schmerzhaft verzogen beschleunige ich ein wenig, um mich davon abzulenken. Dabei trinke ich den zweiten Becher leer, mehr als einen Liter Schweiß hat bislang meine Drüsen schon verlassen. Natürlich ist das schmerzende Schienenbein eine Folge meiner unachtsamen Beschleunigung, viel zu selten habe ich mein Tempo wieder angepasst. Darum hat sich bisher eigentlich immer Dad mit seiner GPS-Uhr gekümmert. Aber egal, langsam schwindet das Wehwehchen und ich habe einen Halbmarathon zu laufen.
Wie in Zeitlupe ziehe ich an zwei Männern Mitte vierzig vorbei, der eine mit graustichigen Haaren. Kurz darauf überholen die beiden mich wieder, hat sie vielleicht der Aufdruch "Überhol doch, du Angeber!" hinten auf meinem Laufshirt dazu angespornt? Wie dem auch sei, ich lasse mich auf die Herausforderung ein und halte mit den beiden mit. Wir überholen einige weitere Läufer fast gleich auf, aber nach einer Weile beschwert sich mein Schienenbein wieder und ich drossele das Tempo.


14-15km – mach's halt noch schlimmer

Langsam spüre ich, dass mein Körper etwas mitgenommen ist. Seitenstechen setzt ein, dass ich aber schnell und geübt wieder abschüttle. Ich beschleunige nicht mehr, versuche nur noch mein Tempo zu halten. Die Beine werden etwas schwerer und die Füße schmerzen. Was soll's, ich bin selber Schuld. Muss ich den Rest halt mit ein paar Schmerzen durchziehen. Was mich viel eher stört ist, dass meine Spucke sich wie in einen Schleim verwandelt, der meinen Rachen verstopft. Das ist wirklich ein schlechtes Zeichen, bislang musste ich immer bald darauf abbrechen, wenn so etwas passiert ist. Aber nicht heute, nicht hier, du ziehst das jetzt durch, Junge. Kurz vor der 15km-Marke will ich mir das PowerGel-Pad-Werbegeschenk einschmeißen, das ich mir in die Hosentasche gesteckt hatte. Laut der Beschreibung sollte es einen wahren Powerschub verursachen – mal sehen. Ich reiße die Verpackung auf und untersuche kurz das ovale Ding, von der Konsistenz und Farbe her ist es wie ein Marshmellow. Naja, hau weg. Es ist wirklich kein Genuss, das klebrige und papp süße, knautschige Teil zu kauen. Ich bin froh, als es mithilfe meiner schleimigen Spucke runtergeschluckt ist. Allerdings ist etwas anders, das Zeug scheint irgendwie meinen Hals etwas verklebt zu haben. Als hätte ich nicht schon genug Probleme, eigentlich sollte mir das Gelkissen doch helfen!
Glücklicherweise kommt bei Kilometer 15 ja wieder ein Versorgungsstand, ich brauche ganz dringend Flüssigkeit!


16km – Lichtblick?

Endlich etwas zu trinken, gierig nehme ich das Wasser in mich auf. Der hässliche Kloß im Hals wird so gut wie weggespült, die klebrige Spucke kommt immer wieder auf den Wegrand. Die ganze Zeit über haben sich meine Beine wie von selbst bewegt. Aber jetzt geht es mir wieder besser und ich laufe mit neuem Schwung voran. Und eins weiß ich sicher: so ein komisches Gelkissen nehm ich nie wieder. Mit neuer Euphorie versorgt beschleunige ich wieder ein wenig. Ich denke daran, wie schön der Zieleinlauf werden wird und die Gedanken an meinen Dad irgendwo da hinter mir nehmen wieder zu. Musste er schon aufgeben? Bitte nicht…
Nur zwei Wochen zuvor waren wir in Rülzheim das erste Mal einen Halbmarathon komplett ohne Gehpause durchgelaufen. Bei Kilometer 19 hatten wir damals sogar noch die Power gehabt, im Finisher-Style gemeinsam auf einen Sportphotographen zuzulaufen. Heute würde mein Bruder ungefähr bei diesem Streckenabschnitt auf mich warten – noch eine fantastische Vorstellung. Mut und Lust am Laufen sind nun völlig zurück und ich nehme meine Schmerzen kaum noch wahr. Einen nach dem anderen überhole ich wieder Läuferinnen und Läufer, das Tier ist wieder erwacht!
Leider nur kurz, einmal mehr habe ich mich selbst absolut überschätzt.


17-19km – Ein elendes Auf und Ab…

Die letzten vier Kilometer sind angebrochen, es geht langsam wieder zurück über die Karlsruher Heimat Beiertheim zur Europahalle und dem Stadion. Ich habe übertrieben, muss eine Gehpause einlegen. Resigniert denke ich an die schwindende Möglichkeit, meinen Rekord zu brechen, während etliche Läufer an mir vorbei ziehen. Meine Spucke ist nicht mehr schluckbar und landet auf der Straße. Erst als sie sich wieder etwas verdünnt gebe ich wieder Gas, ich konzentriere mich auf die antreibende Musik, die der iPod ausspuckt und setze mich wieder vor die Truppe, die mich gerade überholt hat. Endlich kommt wieder ein Versorgungsstand – der letzte vor dem Ziel. Nach einem knappen Kilometer muss ich wieder gehen, viele Trikots der Überholenden erkenne ich inzwischen. Nachdem eine lange Brücke überwunden ist, lege ich wieder los. Es ist nicht mehr weit bis zu meinem wartenden Bruder und ich habe nicht mehr vor, ein weiteres Mal Pause zu machen. Noch ist die Chance auf den persönlichen Rekord da. Achtsam halte ich das Tempo eines Mitläufers um mich nicht wieder zu überbeanspruchen. Ich muss das packen.
Und endlich kommt Beiertheim in Sicht, ich mache meinen Bruder in der Masse an Zuschauern aus und winke ihm zu, er hält ein LG Haselmaus-Plakat in die Höhe. Dann mache ich langsamer und rufe ihm zu "Vaddi hat sich zurück fallen lassen. Sag ihm 'nen Gruß von mir." Wir klatschen ab, er ruft mir noch ein paar aufmunternde Worte hinterher und ich gebe wieder voller Adrenalin und Euphorie Gas. Nach der nächsten Kurve allerdings habe ich schon wieder das Gefühl, nicht mehr zu können. Scheiß drauf, ich muss das durchziehen… muss!


20km – Reiß dich zusammen!

Es schmerzt überall, als ich den letzten Kilometer entlang der Alb laufe. Tempo… halten… nicht… langsamer… werden… verdammt! So zwingend bin ich noch nie gelaufen, aber der Drang zum persönlichen Sieg ist stärker als jedes Jammern des Körpers. Es scheint eine Ewigkeit zu dauern, bis endlich die Abzweigung zur Europahalle kommt. Ich biege erleichtert ab und denke an die vielen, die für den Marathon weiter geradeaus weiterlaufen. Allen Respekt! Eine Bigband und eine – endlich mal tanzende – Tanzgruppe heizen die Stimmung kurz vor dem Stadioneinlauf noch einmal an. Ich werde schneller. Dann ein winziges Stück ohne irgendeine Menschenseele. Ich kann nicht mehr. Und dann – endlich – erscheint die Abzweigung hinein auf die rote Laufbahn des Stadions!


20,8km – Zeileinlauf

Kaum habe ich die Laufbahn betreten, schießt Adrenalin durch jede noch so kleine Ader meines Körpers. Ich nehme an Geschwindigkeit zu, während ich die erste, volle Gerade der halben Stadionumrundung entlang renne. Links ist der Sportrasen, rechts gut besetzte, jubelnde Zuschauertribünen. Ich lasse mich tragen, beinahe schwebe ich dahin. Ein Traum, der erste Karlsruher Halbmarathon wird gleich wahr werden.
Als ich die 100m-Gerade hinter mir habe kommt die lange Linkskurve. Obwohl hier keine Zuschauer mehr zu sehen sind, halte ich das Tempo, werde schneller. Ich renne außen, lasse die Läufer auf der Innenbahn hinter mir. In der Kurve versucht mein Körper ein letztes Mal, mich zum gehen zu zwingen. Ich muss lachen. Vergiss es!
Dann bin ich durch, die Kurve liegt hinter mir und etwa 30 Meter entfernt ragt das Ziel gen Himmel. Ich renne, springe, sprinte, überhole, rase. Pures Adrenalin. Purer Speed.
Das Raubtier hat seine Beute erfasst und wird sie gleich erlegen.
Zentimeter vor dem Ziel überhole ich einen letzten Konkurrenten. Ich recke dankend die Arme gen Himmel, als ich durch das Tor und über die gelbe Matte renne. Endlich!


Finish – Runners Heaven

Irgendjemand hängt mir eine Medaille um den Hals. Egal. Ganz langsam laufe ich nur Meter hinter dem Ziel aus lasse mich halb auf der Laufbahn und halb auf dem Rasen zwischen einer Notfalltrage der Sanitäter und einem Nachschubstand der Medaillenverteiler zu Boden fallen. Eine Frau schaut mich leicht besorgt von oben herab an, aber ich bringe ein Lächeln zu Stande und sie wendet sich wieder den anderen zu. Alle viere von mir gestreckt liege ich einfach nur da und betrachte den Himmel. Ich hab's echt gepackt. Dann denke ich an meine Zeit. Erst etwa eine gefühlte Minute nach meinem Zieleinlauf drücke ich den "Training beenden"-Knopf am iPod. Die Damenstimme liest mir die Daten vor: Distanz: 21,1km; Zeit: 1:53:43 Stunden; Durchschnittliche Geschwindigkeit: 5:20min/km; verbrauchte Kalorien: 1410
Das mit der neuen Bestzeit könnte knapp werden, denke ich im liegen. Aber das werde ich heute Abend im Internet sehen können. Sofort fallen meine Gedanken auf meinen Dad zurück, irgendwann demnächst müsste er doch auch ankommen, oder? Wieder Bete ich, dass er es packt.
Noch habe ich nichts getrunken, mit Getränken und Sportlernahrung werden wir hinter einem Bereich nur für Läufer hinter einem der Ausgänge der Arena versorgt – dem Runners Heaven. Aber ich habe noch nicht vor, ihn schon aufzusuchen. Ich muss auf Dad warten. Mit schweren Beinen aber beruhigtem Puls rappel ich mich auf, um nach ihm Ausschau zu halten. Unsanft schiebt mich jemand bei Seite und sagt, ich solle im Zielbereich Platz für Neuankömmlinge machen. Laber halt. Du bist ja gerade keinen Halbmarathon gelaufen. Aber was soll's, ich stelle mich etwas abseits zum Warten auf.
Mit jeder Minute, die auf der großen Anzeigetafel in Richtung der 2:00:00-Stunden-Marke verstreicht, werde ich nervöser. Immer wieder kommen die Sanitäter zum Einsatz, um zusammengebrochene Läufer aus dem Zielbereich aufzusammeln. Hat er abgebrochen und wird gar nicht mehr kommen? Bitte nicht…
Nach etwa fünf verstrichenen Minuten bricht auf einmal ein gewaltiger Jubel in der Tribüne gegenüber aus, an der ich zuvor auch vorbei gelaufen bin. Als ich der Laola-Welle folge, erkenne ich den Läufer, gefolgt von Motorrädern, der sie verursacht: ein Farbiger in gelber Sportlerkleidung. Mein Gott: der erste Marathoni!!! Verdammt ist der schnell…
Als er vor meinen Augen jubelnd ins Ziel einläuft, bekommt er flüchtig die Teilnehmermedaille umgehängt, erhält ein Handtuch und wird in einen abgegrenzten Bereich gebracht. Der Mann ist soeben eine neue Karlsruher Marathon-Bestzeit gelaufen. Ich sehe kurz hin, dann habe ich keine Interesse mehr an ihm. Während die Angestellten sich um den Neuankömmling kümmern, nähere ich mich wieder dem Zielbereich.
Und da ist er. Im Schlusssprint rennt er auf mich zu. Dad hat es tatsächlich gepackt, und das sogar noch unter zwei Stunden! Nachdem auch er – eigentlich auf der Suche nach Wasser – sofort eine Medaille gereicht bekommt, gehe ich schnell auf ihn zu, außer mir vor Freude.
Nach einer schnellen Umarmung gehen wir gemeinsam ganz langsam auf Runners Heaven zu. Dabei tauschen wir unsere Erlebnisse aus, lachen zusammen über die Leistung, schon wieder einen Halbmarathon hinter uns gebracht zu haben. Dad hat einfach nur langsamer gemacht und den Lauf so gut und sicher hinter sich gebracht. Mein Bruder hatte ihm zu seinem Erstaunen erzählt, dass ich zehn Minuten vor ihm da gewesen wäre. Aber ich denke, dass es maximal sieben waren.
Wir sind im Himmel! Im Heaven! In Runners Heaven! Und er trägt seinen Namen zu Recht. Schnell sind wir mit Iso-Getränken, alkoholfreiem Bier und Obst eingedeckt. Dann lassen wir uns auf einer Bank nieder, entspannen und massieren die Beine, essen und trinken und tauschen weiter die neuen Erfahrungen aus, lachen viel.
So lassen wir das ganze noch eine lange Zeit ausklingen. Wir haben es gepackt. Und ich bin endlich meinen ersten Karlsruher Halbmarathon gelaufen.


Später am Abend rufen wir die veröffentlichten Ergebnisse ab. Ich nehm's mit Humor, dass ich für die Strecke mit 1:52:37 Stunden genau sieben Sekunden hinter meinem Rekord liege. Es gibt immer ein nächstes Mal… Dad hat es in 1:57:58 hinter sich gebracht und damit ebenfalls sein bislang zweitbestes Ergebnis abgeliefert. Der Lauf war toll und voller Erlebnisse. So spannend war bislang noch keiner und ich bereue nichts von dem, was ich meinem Körper während dem Lauf angetan habe – auch wenn er es mir die nächsten Tage heimzahlen wird.
Mit meiner Zeit stehe ich unter 4399 männlichen Startern auf Platz 2107 und belege den 33 Platz von 92 männlichen Startern in meiner Altersgruppe (u20). Von dem her bin ich mehr als zufrieden und der nächste Halbmarathon kann gerne kommen…





RUN LIKE AN ANIMAL



Danke für's lesen
euer Patrick

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 09.08.2010

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Läufer sind Jäger, Jogger sind Beute!

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