Das kleine, blitzschnelle Projektil war das letzte, was er zu sehen bekam.
Nur den Bruchteil einer Sekunde sah er es aufblitzen, ehe alles vorbei war.
Alles, was er vorher noch gespürt hatte – das schmerzende, von einer Kugel getroffene und stark blutende Bein; das Adrenalin, das seinen Körper durchströmt hatte; und die Macht, die göttliche Macht, die er hatte, wenn er einer Geisel seine Waffe an die Stirn presste.
Stundenlang hatten die Bullen ihn gejagt, zu Fuß, in Autos und sogar von einem Hubschrauber aus hatten sie mit Scheinwerfern versucht ihn zu blenden.
Hunderte Schüsse waren gefallen. Er war sich sicher, mindestens vier Bullen erwischt zu haben.
Von den ganzen Geiseln, die er ab dem Tatort genommen hatte – eine junge Frau, die Verkäufer und Kunden einer Tankstelle, ein Sportwagenbesitzer und der Drecksbulle, den sie zum Verhandeln zu ihm geschickt hatten – waren ebenfalls nicht mehr am Leben.
Es war der absolute Kick gewesen, ein Actiongeladener Film – in der Realität! Er hatte den Duft des Blutes, das in Strömen geflossen war, in jeder Sekunde eingesogen und genossen.
Nun war alles vorbei.
Aber es war okay, er hatte seinen Spaß gehabt.
Seine letzte Tat war der Schuss in die Schläfe seiner letzten Geisel gewesen, die ihm als Schutz vor den dutzenden, auf ihn zielenden Bullen gedient hatte. Der Typ hatte geweint wie ein Baby und der Flüchtige hatte vor Erregung gebebt, als ihm das Blut des Mannes ins Gesicht geklatscht war.
Dann hatte er auf die Bullen gezielt, wild um sich geballert. Sie hatten ihn schon vor einer ganzen Weile am Bein erwischt, nun schlug eine ganze Welle von Projektilen in seinen Körper ein.
Die letzte – und tödliche – traf ihn mitten zwischen die Augen.
Er spürte es nicht, die Welt verschwand in rasender Geschwindigkeit und wurde zur Schwärze. Der Körper gehorchte nicht mehr, er fiel einfach immer weiter in diese Leere. Ein letztes Mal wollte er grinsen und dann die Augen schließen. Doch beides war nicht möglich. Würde es bald vorbei sein? Es kam nichts nach dem Tod. Da war er sich sicher. Nun konnte er nur noch warten, bis der Tod auch endgültig eintraf. Doch noch schwebte er einfach nur weiter und weiter in die Schwärze hinein.
Egal ob es Tage, Stunden, Minuten oder Sekunden waren, die vergingen, ihm kam es vor wie Jahre. Seine Instinkte riefen die Notlage aus und wollten ihn schreien lassen, doch sein Körper ließ es nicht zu. Er wollte sehen, ob er überhaupt noch einen Körper hatte, doch er spürte nichts und konnte seinen Blick nicht aus der starren Haltung reißen. Er wollte darüber Nachdenken, was geschehen würde und ob es doch ein Leben nach dem Tod gab, doch einfach alles war leer und ließ keinen Gedanken zu.
Wäre es ihm möglich gewesen, so hätte er auf diesem ewigen Schwebeflug durch die nahtlose Schwärze in voller Panik geschrien, geflucht und um sich geschlagen.
Wamm! Die harte Landung auf einem steinernen Boden kam mehr als überraschend. Weitaus mehr verwundert als über diese Tatsache war er darüber, dass er es spürte. Mit einem Mal konnte er sämtliche Körperfunktionen wieder nutzen. Verwirrt und weiterhin in undurchdringliche Schwärze starrend rappelte er sich auf. Der Boden war verdammt kühl und erst jetzt fiel ihm auf, dass er keine Schuhe trug, sondern barfuß war. Dies brachte ihn dazu, seinen restlichen Körper abzutasten, während er lautstark über den Verlust seiner Nikes fluchte.
Alles schien zunächst normal und gewohnt, nur dass er vollkommen nackt war. Seine aufgepumpten Muskelberge waren zu spüren, sein Glied baumelte teilnahmslos zwischen seinen Beinen. Dann stellte er die erste Abnormalität fest.
Er hatte weder offene Einschusslöcher noch Narben, die nach der Schießerei seinen ganzen Körper hätten bedecken müssen. Wieder fluchte er, bei ihrer Entstehung war er beinahe stolz auf diese mehr als markante Zeichnung seines Körpers gewesen.
Verwirrt ging er ein paar Schritte ins Schwarz hinein und fuhr sich mit der Hand über den Kopf, ehe er stockte. Sein neun-Millimeter-Schnitt war einer Glatze gewichen. Ebenso war es Augenbrauen, Wimpern und allen anderen Behaarungen seines Körpers ergangen.
Zuletzt verzog er angewidert das Gesicht, als er bemerke, dass Finger- und Zehennägel ebenfalls spurlos verschwunden waren. Was war hier nur los?
Beinahe hilflos drehte er sich auf der Suche nach irgendeinem Anhaltspunkt um die eigene Achse, bis er erschrocken zusammen zuckte. Etwas vollkommen unerwartetes war erklungen. Gerade war aus der absoluten Geräuschlosigkeit ein Knacken hervor gegangen, das sich anhörte, als hätte jemand ein Mikrofon an einer gewaltigen Anlage angeschlossen.
Dann donnerte eine Stimme über ihn hinweg, scheinbar durch dieses Mikro gesprochen. Er musste fast lachen, sie hörte sich beinahe so an wie die des Mr T aus dem A-Team.
„Jakob Chuan Kolban!“ Pause. Erstaunt legte er den Kopf etwas schief. Einige Sekunden verstrichen.
„Jakob Chuan Kolban!“ „Was?!“ schrie er zurück. Lange hatte ihn niemand mehr beim Namen seines beschissenen Vaters genannt. In seinen mehr als zwielichten Kreisen war er zuletzt nur noch als Java bekannt gewesen.
„Jakob Chuan Kolban!“ „Was soll der Scheiß? Welcher Arsch will das wissen?!“ Er bekam ein finsteres Lachen zur Antwort. Dann wieder:
„Jakob Chuan Kolban!“ „Halt deine verdam…“ „Willkommen in der Hölle!“
Kurz blieb ihm die Luft weg, dann begann er prustend zu lachen.
„Ja, ganz geil! Wurde auch mal Zeit!“ brachte er beim Lachen heraus. Mr T’s Stimme ließ nicht lange auf sich warten. Allerdings völlig anders, als erwartet:
„Konfession?“ Immer noch schallend lachend rief Java: „Bitte was?“
„Konfession, Glaube! Katholisch?“ „Atheist du Vogel! Ich glaube an niemanden als an mich selbst!“
„Zu schade. Zur Akte. Mehrfacher Mord, kein Gewissen, keine Verlustängste. Tod durch Kugeln von mehr als zwanzig Polizisten. Beinahe faszinierend!“ Das letzte Wort troff vor Ironie und wieder lachte die Stimme auf, so dass es Java die Nackenhaare aufgestellt hätte, wären noch welche vorhanden gewesen.
Das plötzlich erstrahlende, grellweiße Licht blendete ihn dermaßen, dass er seine Hände zum Schutz der Augen hob. „Was soll den jetzt der Scheiß?“ murmelte er.
Als seine Pupillen sich ausreichend verengt und an die Helligkeit gewöhnt hatten, klappte ihm vor Erstaunen die Kinnlade herab.
In einem gewaltigen Kreis um ihn herum waren grell leuchtende Türen erschienen. Es mussten hunderte sein, jede etwa zwei Meter hoch, jeweils mit einer Zahl und einem Zeichen versehen, die er von seinem Punkt im Zentrum des Ganzen aus nicht identifizieren konnte. Alles weitere, der Raum über ihm und der Boden bestanden weiterhin nur aus undurchdringlicher Schwärze.
„Tür Vierunddreißig.“ War das letzte, was Java von der lauten, tiefen Stimme zu hören bekam.
Achselzuckend und ein leises „Schon klar“ von sich gebend setzte er sich langsam in Bewegung auf irgendeine der Türen zu. War doch scheißegal. Er war tot und laut Mr T in der Hölle. Warum sollte er das Spielchen also nicht mitspielen?
Erst einen Meter vor der anvisierten Tür blieb er stehen. Auf ihr prangte, ähnlich wie in einem Hotel, eine fette, schwarze 86. Darunter war ein verschnörkeltes Symbol abgebildet, das er noch nie zuvor gesehen hatte.
Vierunddreißig hatte der Typ gesagt. Nur selten hielt sich Java an die Regeln, sollte er es dieses Mal tun?
Er entschied sich dafür und wendete sich nach links, wo irgendwann seine Tür erscheinen musste. Jede Tür, an der er vorbei kam, zeigte ein anderes Symbol. Erstaunt blieb er für einen Moment stehen, als er einen Judenstern erkannte. Die meisten Zeichen bestanden aus Strichen, Rundungen und Schnörkeln, von denen er ein paar schon einmal irgendwo gesehen hatte. Eine Menge an unterschiedlichsten Kreuzen war dabei, darunter erkannte er die Kreuz-Stern-Kombination der Scientologen. Galt jede Tür einer bestimmten Religion?
Aufmerksam ging er voran, bis er sein Ziel erreicht hatte. Zwischen einer Tür mit einem offensichtlich katholischen Kreuz und einer, die mit dem Halbmond und dem Stern der Islamisten versehen war, strahlte ihn die Tür mit der Nummer 34 an. Als einzige trug sie überhaupt kein Symbol.
Java atmete noch einmal tief durch und ließ seine Gedanken darüber schweifen, was ihn dahinter wohl irres erwarten würde.
Die Tür hatte keinen Griff, daher legte er einfach nur seine Hand darauf, um sie aufzudrücken.
Erschrocken riss er die Augen auf, als sein ganzer Körper, den ausgestreckten Arm voraus, mit einer Wahnsinnsgeschwindigkeit durch die Tür gezogen wurde.
Auf der anderen Seite klatschte er auf den Boden und blieb erst einmal regungslos liegen, um das, was gerade geschehen war, zu verarbeiten.
Dann nahm er die Geräusche wahr. Schreie, grässliche Schreie. Sie schienen aus dem Untergrund zu kommen. Mit einem Mal verspürte er ein Gefühl, das ihm seit langem fremd geworden war. Angst. Hemmungslose, schweißtreibende Angst davor, dass nun wirklich die Hölle auf ihn wartete. Und mit ihr Qualen bis in die Ewigkeit. Ihm wäre das Nichts, das einfache Vorbeisein seines Lebens, das er sich immer vorgestellt hatte, so viel lieber gewesen, also das, wonach diese schrecklichen Schreie und Wehklagen klangen.
Schluckend hob er vorsichtig seinen Kopf. Es war heiß und stank nach Rauch und Angstschweiß. Vor ihm sah er einen etwa einen Meter schmalen, steinernen Weg bis außerhalb seines Sichtfeldes führen. Irre. Vollkommen Irre. Langsam erhob er sich und machte sich ein Bild seiner Umgebung.
Vor ihm der endlose Weg – der nahezu frei über einem gewaltigen Abgrund schwebte. Aus diesem kamen die qualvollen Schreie hervor und er gab einen flackernden, roten Schein ab, der alles um Java herum matt bestrahlte.
Mit offenem Mund blickte er hinter sich. Der Weg, auf dem er stand, begann genau am Absatz der grellweißen Tür. Diese wiederrum war in einen gewaltigen, kreisrunden Turm eingelassen, der sowohl nach unten als auch nach oben kein Ende zu nehmen schien. Auch alle anderen Türen machte er aus, nur dass nach den meisten kein Weg verlief. Die Tür, die links neben der seinen gelegen und die er für katholisch gehalten hatte, endete einfach. Wäre er durch diese gesogen worden, so hätte er einen langen Fall in diese Qualengrube vor sich gehabt. Andere Durchgänge gingen sofort in unterschiedlich große, rechteckige Bauten über, aus denen er auch meinte, Schreie und Flehen zu hören.
Ein Schauer durchfuhr ihn. Gottseidank war er nicht durch eine der anderen Türen gegangen. Sein schmaler Pfad über den gewaltigen, heißen Abgrund kam ihm mit einem Mal sehr sicher vor.
Dennoch betrachtete er für einen Moment die leuchtende Tür, durch die er gesogen worden war und spielte mit dem Gedanken, wieder zurück zu gehen. Doch was sollte das bringen? Ihn würde wieder nur ein Raum voller totbringender Türen erwarten. Er schüttelte den Kopf und machte sich auf den Weg geradeaus, immer weiter ins Ungewisse hinein.
Wieder verging eine Ewigkeit, nur dass er diesmal völlig klar denken konnte. Er verspürte keinerlei Hunger, Durst, Schmerzen oder Schwäche, alle irdischen Probleme schienen verschwunden. Was würde ihn am Ende des Weges erwarten? Endete er überhaupt? Wenn auf Christen und andere Religionen in der Hölle grässliche Qualen warteten, was hielt sie für Nichtgläubige wie ihn bereit? Die ganze Zeit über beschallten und begleiteten ihn die Wehklagen aus dem roten Höllenschlund unter ihm.
Irgendwann – er hatte schon gar nicht mehr damit gerechnet – machte er ein Gebäude am Horizont aus. Voller Euphorie beschleunigte er seinen Schritt, bis er genaueres erkennen konnte. Es war ein rechteckiger Turm, der Kantige Bruder des Monuments mit den vielen Türen, aus dem er gekommen war. Es sah aus wie ein mittelalterlicher Bürotower, komplett aus gewaltigen Steinen und mit vielen Inschriften und Statuen übersät. Er war mit einer einzigen, grellweiß leuchtenden und riesigen Türe versehen, die am Ende von Javas Weg angebracht war. Über ihr ragte eine gewaltige, dreiköpfige Hundestatue aus der Wand, die allen Neuankömmlinge anzuknurren schien. Nach einer Weile erinnerte sich Java daran, dass sie wohl Zerberus, den Höllenhund und Wächter des Hades aus der griechischen Mythologie darstellte.
Grinsend schüttelte er den Kopf darüber, an was für einen Scheiß er sich hier erinnerte. Als er endlich an der Türe ankam ging er ohne Halt zu machen direkt hindurch, wurde hinein gesogen und klatschte an der anderen Seite wieder unbeholfen auf den Boden.
So war das nicht geplant gewesen, also fluchte er wieder vor sich hin, als er sich aufrappeln wollte.
Was er jetzt zu sehen bekam, trieb ihm die Lauft aus den Lungen. Er hatte die elenden, stocksteifen Anzugtypen, wie sein Vater einer gewesen war, ehe er ihm ein Messer in den Rücken getrieben hatte, schon immer gehasst. Erstarrt blickte er sein Gegenüber an.
Der große rechteckige Raum, der sich Java aufgetan hatte, war komplett in das inzwischen wohlbekannte, grell leuchtende weiß getaucht und in die Wand ihm gegenüber waren drei Türen eingelassen. Genau in seiner Mitte stand ein einzelner, massiver und ebenfalls blütenweißer Arbeitstisch. Bis auf einen Laptop und einen Stapel Formulare, auf dem ein blutroter Füllfederhalter lag, war er absolut leer und aufgeräumt.
Doch was ihn so erschreckte war der Mann mittleren Alters, der hinter dem Schreibtisch auf einem weißen Ledersessel saß. Dieser hatte seitlich grau melierte Haare, trug einen makellosen weißen Anzug und starrte den Neuankömmling mit leicht verwundertem Blick an, der vor ihm auf dem Boden lag.
Angst und Hasskeimten auf und vermischten sich in ihm, als Java in die Tiefblauen Augen seines Vaters blickte. Wie oft hatten sie ihn als Jugendlichen vorwurfsvoll betrachtet und durchdrungen.
„Mein Sohn! So früh hatte ich dich nicht erwartet.“ Er klang beinahe teilnahmslos. Als würde er über das Wetter sprechen. Mit entsetztem Gesichtsausdruck starrte Java seinen Vater an, der den Blick nach einer Weile von ihm abließ und etwas in den Laptop eintippte.
Kurze Zeit später – der Jüngere hatte es nicht gewagt sich zu rühren oder etwas zu sagen – schüttelte Jakob Chuan Kolban sen. traurig den Kopf. Er hatte nach wie vor die Stimme eines Vaters, der es gewohnt war, enttäuscht zu werden, aber die Hoffnung und den Glauben an das Gute in seinem Sohn nie verloren hatte.
„Es war klar, dass du irgendwann hier bei mir landen würdest. Aber das du jemals zu solch einer geisteskranken Handlung fähig wärst, hatte ich nicht einmal dir zugetraut.“ Während er sprach, sah er Java durgehend und eindringlich in die Augen. Die Tatsache, dass sein Sohn vollkommen nackt vor ihm stand, schien ihn nicht zu stören.
„Ich habe immer an dich geglaubt, Junge. Sogar als du mit dem Messer vor mir standest hatte ich noch gehofft, ein Stückchen Verstand und Vernunft anzuregen. Aber jetzt bist du hier!“ Den letzten Satz schrie sein Vater fast voller Enttäuschung heraus. Nach einer kurzen Pause fügte er traurig und mit ausgebreiteten Armen hinzu: „Hier, in der Hölle, verdammt!“
Java brachte es endlich fertig, sich vollends aufzurichten und wollte etwas sagen, doch er brachte kein Wort heraus. Das alles war einfach viel zu absurd.
Der ältere Mann hatte sich mittlerweile erhoben und war um den weißen Tisch herum gegangen. Wie früher strahlte er eine enorme Autorität aus. Sie hatte Java immer am meisten genervt. Er hatte Respekt davor und das wiedersprach seinem Drang danach, vollkommen frei zu sein.
„Du fragst dich sicher, warum du hier in der Atheistenabteilung“, er setzte das Wort mit den Händen in Gänsefüßchen „der Hölle auf deinen alten Vater triffst, nicht wahr?“ „Eigentlich…“ doch wie damals auch brachte Kolban sen. Seinen Sohn mit nur einer Handbewegung zum Schweigen.
„Ich habe mein Leben immer im absoluten Einklang mit Gottes Gesetzen verbracht. Eine Sache, dich ich mir eigentlich auch von meinem Sohn erhofft hatte. Daher kam ich nicht wie du hier hinunter in die Hölle, sondern direkt zum Heiligen Vater. Du machst dir kein Bild vom Paradies, Junge. Und du wirst es dir auch nie machen können.“ Er machte eine kurze Pause um seine Worte wirken zu lassen. Java sagte nichts, sondern verengte seine Augen ein wenig.
„Kurz nach meiner Ankunft dort oben wurde beschlossen, die Hölle komplett umzubauen. Was bislang ein einziger Hochofen für Qualen war, sollte in verschiedenste Abteilungen unterteilt werden. Jeder Neuankömmling sollte in der Hölle die Strafe erfahren, die ihm laut seiner Religion büßte. Das Ergebnis hast du ja schon gesehen, nehme ich an.
Jedenfalls wurden Leiter für die Abteilungen gesucht. In den meisten Fällen brauchte es Leute, welche die“ er räusperte sich „Mitarbeiter kontrollieren. Gerichte, Todesengel, Höllenhunde, Henker, Foltermeister, Fegefeuer und so weiter, du verstehst?“ Java betrachtete seinen Vater wie einen Geistesgestörten.
„Bei den Ungläubigen war es anders. Niemand wusste, was mit denen geschehen sollte, die an gar nichts nach dem Tod glaubten. Eine Weile überlegte man tatsächlich, ihre Vorstellungen wahr zu machen.
Doch Gott meinte, dass alle Seelen wichtig seien und erhalten bleiben müssen. Also wurde eine Abteilung geschaffen, die keiner anderen glich. Ein Atheist, der in die Hölle kam, sollte lange Zeit dafür haben, über sich und sein Leben nachzudenken. Dann würde ein Mensch darüber urteilen, welche Strafe seinen Taten am ehesten Gerecht werde.“ Wieder breitete Javas Vater die Hände aus. „Tja, mein Sohn. Und hier bin ich nun und muss über mein eigenes Kind richten.
Eine Ewigkeit sagte keiner der beiden ein Wort. Java brach am ganzen Körper der Schweiß aus und seine Lippen bebten, ehe er mit einem Mal lossprudelte: „Dad, bitte, du kannst mich nicht in diesen Abgrund schicken. Das habe ich nie gewollt, niemals! Du kannst doch nicht dein eigen Fleisch und Blut…“ flehend traf sein Blick den seines Vaters. Voller Panik zeigte er das erste Mal in seinem Leben reue. Doch Kolban sen. schüttelte nur traurig den Kopf und senkte seinen Blick.
„Es tut mir Leid, mein Sohn. Gott ist gütig. Gütiger als je zuvor. Doch auch diese Güte gerät irgendwann an ihre Grenzen. Und du hast die Grenzen schon lange überschritten. Für die schrecklichen Dinge, die du getan hast, kann es nur eine einzige Bestrafung geben.“ Er sah seinen Sohn nicht mehr an, sondern betrachtete den Boden. Er musste mit sich ringen, das sah man ihm förmlich an. Java konnte nicht mehr tun, als ihn entsetzt anzustarren.
„Nein, Vater, Bitte!“ wimmerte er. Doch dieser wendete sich ab und ging wieder an seinen Arbeitsplatz, wo er eines der Formulare zur Hand nahm und mit dem roten Füllfederhalter auszufüllen begann.
„Vater!“ schrie der nackte, schweißgebadete Mann und fiel auf die Knie. „Bitte! Alles, aber nicht das!“ Kopfschüttelnd beendete dieser seinen Aufschrieb mit einer Unterschrift und hielt das Blatt daraufhin mit der Linken in die Luft. Sofort begann es, sich in Luft aufzulösen.
„Ich muss dich nun bitten zu gehen, mein Sohn.“ Meinte er trauernd. „Du hast Gott und mich, einfach alle enttäuscht. Möge die Strafe deiner gerecht sein.“ „Vater, bitte…“ Langsam, ganz langsam wurde Java durch eine unsichtbare Macht zur linken der drei Türen gezogen.
„Bitte“ wimmerte er, während er auf allen Vieren versuchte, sich gegen die Zugkraft zu wehren.
Sein Vater lief in kurzem Abstand und kontinuierlich kopfschüttelnd hinter ihm her, während die weiße Tür in der Wand immer näher kam. Er murmelte leise einen Psalm vor sich hin: „Der Hölle Bande umfingen mich, und des Todes Stricke überwältigten mich.“
Ein letztes Mal breitete Java flehend die Hände aus, bevor eines seiner Beine die Tür berührte. Verzweifelt schreiend wurde er hindurch gezogen, doch diesmal gab es keinen steinernen Weg, der seinen Fall bremste. Dieses Mal begann sein langer, hoffnungsloser Fall in die tiefsten Abgründe der Hölle.
Als er noch einen angsterfüllten Blick nach oben warf, sah er seinen Vater durch die geöffnete Tür ihm nach schauen.
Das allerletze, was Jakov Chuan Kolban jun. vom Bereich außerhalb der Höllengründe sah, war eine einzelne Träne seines Vaters, die ihn auf dem ganzen Weg nach unten begleitete.
Tag der Veröffentlichung: 24.05.2010
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