In Neccessariis Unitas;
In Omnii Liberitas;
In Omnibus caritas.
Im Notwendigen Einheit, im Zweifel Freiheit, in allem Liebe.
Lateinisches Sprichwort
Erfolg währt nicht ewig.
Zu Verlieren ist keine Schande.
Was zählt, ist der Mut,
weiterzumachen.
General George S. Patton jun.
Der schnellste Weg
zwischen zwei Menschen
ist ein Lächeln.
Berühmte Letzte Worte eines energy-9/11-helden
I.
Jahr 492 a.L. Spätsommer
Hinter Feindlichen Linien, Zalong & Alt-Neva
Das Mädchen rannte, wie es noch nie zuvor im Leben gerannt war. Die modrigen Wände des endlosen Stollens, aus denen im Laufe der Jahrhunderte unzählige Arten an Flechten und anderen Pflanzen gewuchert waren, flogen scheinbar an ihr vorbei. Hätte es das Mädchen gewollt, wäre für sie trotz der bedrückenden Dunkelheit ein Blick auf die Pflanzen möglich gewesen, doch im Moment hatte sie keine Zeit dafür. Außerdem liefen ihr beständig Tränen aus den Augen, gefolgt von Schluchzen.
Der Name des Mädchens war Dara. Sie hatte keine Ahnung, wo oder wie sie hier her gekommen war und im Augenblick wollte Dara nur noch eines: weg von diesem Ort. Immer wieder sah sie sich durch ihre feuchten Augen um, doch den ganzen Weg hinter ihr war niemand zu erkennen. Dennoch konnte sie die ebenfalls rennenden Schritte hinter sich durch ihr langes blondes, wehendes Haar hindurch deutlich hören. Sie schauderte. Neben der blanken Angst machte sich jetzt noch ein anderes Gefühl in ihr breit, ein Gefühl, das sie bis hierher noch nie gehabt oder überhaupt gekannt hatte. Einsamkeit. Noch nie war sie Einsam gewesen, ihr treuester Freund war noch nie von ihrer Seite gewichen. Daven war mehr als ein Freund, er war ihre zweite Hälfte und das, soweit sie zurück denken konnte. Sie lebten mit- und voneinander. Und jetzt war Daven weg. Einfach verschwunden. Ein Schwall Tränen ergoss sich über ihren kleinen Körper, dann Schniefte sie laut und schrie, so laut sie durch das Schluchzen hindurch nur konnte:
»Daven!« Sie bekam keine Antwort. Dara hatte weder eine Ahnung, wie weit sie schon in den Stollen hinein gerannt war, noch wie lange sie das Rennen noch durchhielt. Wie aufs Stichwort fingen ihre Seiten an zu schmerzen. Ihr Verfolger schien das zu spüren, denn er hielt nicht mehr nur ihr – für ein elfjähriges Kind enorm hohes Tempo, sondern schien seine Schritte zu beschleunigen. Wieder blickte sich Dara durch die tränenden Augen um, der Verfolger konnte höchstens noch zehn Schritte hinter ihr sein. Aber nach wie vor war nichts von ihm zu sehen, kein Schatten oder Fußabdruck, nicht einmal der Staub, der den steinernen Boden bedeckte wurde aufgewirbelt. Sie drehte ihr zartes Gesicht wieder in Laufrichtung – und sah gerade noch die Wand, kurz bevor sie im vollen Lauf dagegen klatschte.
Der Stollen, der die ganze Zeit geradeaus verlaufen war, zweigte völlig unerwartet in einem großen Winkel ab, was Dara nicht hatte kommen sehen. Nun lag sie da, vor der steinernen Mauer zusammengesunken, völlig tränendurchnässt und ihrem Verfolger schutzlos ausgeliefert. Sie schmeckte Blut, und wusste sofort, dass ihre Nase gebrochen war. Aber das war jetzt ihr kleinstes Problem. Schmerzen machten ihr kaum etwas. Die Schritte wurden langsamer und die Geräusche verstummten schließlich. Wer auch immer sie gejagt hatte, er musste nun genau vor ihr stehen. Durch die über ihr Gesicht gefallenen Haare hindurch überblickte sie hastig die Umgebung, fand aber nichts, das ihr helfen konnte. Sie konnte nur noch hilf- und schutzlos abwarten.
»Dav…« weiter kam sie nicht. Das zischende Geräusch einer durch die Luft sausenden Hand war zu hören, dann wurde ihr von einer großen, knochigen Hand der Mund zugedrückt. Zunächst versuchte sie sich dem steinernen Griff zu entwinden, doch dann erstarrte sie. Mit der Berührung ihrer Haut wurde ihr Gegner plötzlich sichtbar, die langen Finger der dürren, grauen Hand zuerst, dann die ebenso grauen, faltigen Arme und zuletzt der zerschundene, von einem zerrissenen Hemd bedeckte Körper - und der Kopf. Dara schrie, durch die Hand hindurch, nicht einmal der fester werdende Griff konnte das Geschrei stoppen. Sie blickte in ihr eigenes Gesicht, allerdings völlig gealtert, grau, mit unzähligen Falten und von Narben durchsetzt. Der Kopf trug keine Haare mehr, nur noch ein länglicher, teilweise gezackter, pinker Streifen verlief auf dem Kopf von der Stirn bis in den Nacken. Auch Dara hatte dieses Mal, nur das bei ihr aus diesem ebenso pinke Haare zwischen all den blonden hindurch wuchsen. Das Gesicht, in das sie blickte, wirkte wie das eines Toten. Einzig und allein die Augen sahen exakt so aus wie ihre, nicht menschlich, sondern die Augen eines Reptils, allerdings in einem strahlenden blau und auf reinem Weiß. Viele Leute bewunderten ihre Augen, aber bei dem Wesen vor ihr wirkten sie absolut deplatziert und jagten Dara einen eiskalten Schauer über den Rücken.
Sie merkte gar nicht mehr, wie laut sie schrie, als sich das Wesen langsam über sie beugte. Blankes Entsetzen, Angst und Schock standen ihr ins Gesicht geschrieben. Daras Schreie unter der knorrigen Hand verstummten, als die Nase des Wesens nur noch eine Handbreit vor der ihren verharrte. Einige stille Sekunden verstrichen, bis sie wieder versuchte nach Daven zu schreien. Ihr Gegenüber reagierte, indem es seinen Kopf nur ein winziges Stückchen nach vorne preschen ließ, dann öffneten sich die dunkelgrauen, vertrockneten Lippen und eine langgezogene, zischende Stimme ertönte
»Schweigen!« Dann flog die zweite Hand des Wesens, die irgendei-nen Gegenstand festhielt, von der Seite heran und donnerte hart gegen Daras Schläfe. Für einen kurzen Augenblick sah sie noch die verschwommenen Umrisse ihres grauenhaften Ebenbildes, das sich über sie beugte. Dann wurde die Welt um sie herum völlig schwarz.
Einen kurzen, schrillen Schrei von sich gebend und wild nach Luft schnappend schreckte Dara aus ihrem Traum auf. Beruhigt stellte sie fest, dass sie noch immer in einem schnell errichteten getarnten Lager lag, umgeben von Bäumen und Gebüschen. Noch beruhigter war sie, als sie Daven neben sich liegen sah. Auch er hatte die Augen geöffnet und schien unruhig, als hätte er ebenfalls schlimm geträumt. Er war ein Ryba, ein mystisches Wesen, das von allen anderen Völkern gefürchtet wurde. Gerne wurde es als ein kleiner Affe beschrieben, dem man Kopf, Wirbelsäule und Schwanz herab gerissen und stattdessen eine Schlange eingesetzt hatte. Die muskulöse Körper- und Beinpartie war dicht schwarz behaart, die kurzen Finger daran waren mit katzenartigen Klauen ausgestattet, die den Rybas das problemlose Klettern ermöglichten. Vom Hals bis in die Schwanzspitze war die Wirbelsäule von einem reptilartigen, schwarzen Schuppenpanzer bedeckt und der drachenartige, ebenfalls schwarz beschuppte Kopf zeugte dank der wachsamen Augen von Intelligenz. Das Maul glich dem einer Schlange, ausgestattet mit drei Reihen sichelscharfer Zähne und zwei langen, gebogenen Eckzähnen, die ein Gift enthielten, das in Sekundenschnelle lähmte. Erst in der Nacht nach der Infektion starb man. Es hieß, kein Pfeil könne einen Ryba töten, dass die Tiere schnell wie der Wind wären und dass sie ihren Herren, den m’Cendo von Geburt an bis zum Tod nie von der Seite wichen, mit ihnen als Team kämpften und ihre Schicksale mit ihnen teilten. Jedes Mitglied der m’Cendo-Familie hatte einen eigenen Ryba. Bekamen zwei Mitglieder ein Kind, so zeugten auch deren Rybas ein Junges, das von nun an jede Sekunde bis zum Ende seines Lebens mit dem Neugeborenen verbrachte. Äußerlich hatten m’Cendos mit ihren jeweiligen Tieren zwei Gemeinsamkeiten. Einmal hatten sie dieselben, schlitzartigen Augen, die ihnen das Sehen im Dunkeln ermöglichten. Nur deren Farbe konnte sich zwischen Mensch und Tier unterscheiden, die Form glich sich komplett. Das zweite war die ‘Palx‘, die Farbe, anhand der man einen Ryba seinem Herrn zuordnen konnte. Bei den m’Cendo war es das Mal, das sich länglich von der Stirn bis zum Nacken zog und die Haare verfärbte. Es gab keine Farbe zweimal, jede war einzigartig. Bei den Rybas zeigte sich diese Farbe auf der Rückenpanzerung, von der Kopfspitze bis zum Schwanzende zeichnete sich eine dünne Linie ab, deren Ausläufer teilweise bis in das dichte Fell hinein führten. Das waren die äußeren Ähnlichkeiten, viel interessanter aber war die Tatsache, dass die Schicksale beider Lebewesen völlig voneinander abhängig waren. Kam ein m’Cendo-Kind zur Welt, brachten die Rybas der Eltern ebenfalls ein Junges hervor, allerdings hatte dieses immer das gegenteilige Geschlecht des Kindes. Von dort an waren beide unzertrennlich, sie spielten miteinander und wuchsen gemeinsam heran. Ab dem vierten Lebensjahr besuchten die Kinder die Schule, selbstverständlich zusammen mit ihren Tieren. Da der Stamm der m’Cendo sehr naturnah war, lernten Kind und Tier gemeinsam, welche Pflanzen und Tiere des Waldes essbar waren und welche giftig oder gefährlich. Sie lernten sich geräuschlos fortzubewegen, und wie sie gemeinsam ein perfektes Team bildeten. Ab dem achten Lebensjahr kam der Unterricht der Kampfkunst hinzu, jedes Stammesmitglied hatte sie zu erlernen, so dass sich jeder im Ernstfall verteidigen konnte. Erstmals wurden Kinder und Rybas hier kurzzeitig von einander getrennt, um zunächst einmal ihre eigenen Fähigkeiten zu erlernen. Während die Schüler und Schülerinnen zunächst in die grundlegenden Geheimnisse der einfachen Kampfmeditation und des Cendo - der schnellen, bewegungsreichen Kampfart der m’Cendo, welcher sie ihren Namen verdankten - eingeweiht wurden, brachte der Ryba des Lehrers seinen Schützlingen Sprungtechniken und das Klettern bei. Darauf folgten gemeinsame Lehrstunden, in denen Mensch und Tier lernten, ihre Fähigkeiten zu kombinieren und perfektionieren. Mit fünfzehn Jahren endete die Schule. Die m’Cendo-Ryba-Teams waren jetzt in der Lage für sich selbst zu sorgen, würden alleine in der Welt überleben können und waren im Kampf die perfekten Partner. Sie selbst entschieden nun, welchen Weg sie einschlagen wollten. Sie konnten einen Beruf erlernen, beispielsweise Schmied oder Lehrer werden. Die Tore der Tempel, in denen Cendo-Mönche ihr Inneres suchten, trainierten und zu den Göttern beteten, standen für neue Novizen immer offen. Ein verlockendes Angebot für viele war auch der Eintritt in die kleine Armee der m’Cendo. Was auch immer der Mensch tat, sein Ryba begleitete ihn. Im Kampf ergänzten sich beide gegenseitig, wenn der Mensch vorne zustach, deckte das kleine, drachenartige Wesen nach hinten ab. Dieses vollständige, blinde Vertrauen ineinander hatte durchaus Sinn, denn Mensch und Ryba wurden nicht nur gleichzeitig geboren. Wenn sich der m’Cendo verliebte, tat dies auch das Tier. Bekam er ein Kind, so tat das auch der treue Begleiter. Fügten sich Mensch oder Ryba eine Verletzung zu, sei es eine Schnittwunde oder ein gebrochenes Bein, erlitt auch der andere die Schmerzen an der-selben Stelle. Und starb einer von beiden, sei es im Krankenbett oder auf dem Schlachtfeld, verließ das Leben auch den Körper des anderen.
Daras Blicke schwenkten ab, weg vom etwa unterarmlangen Daven, nachdem sie ihn eine Weile beobachtet und sich beruhigt hatte. Sie war vierundzwanzig Jahre alt und fast zwei Schritte groß, was selbst für das hochgewachsene Volk der m’Cendo viel war. Seit ihrem elften Lebensjahr hatte sie bei Neumond immer denselben, einen Traum und jedes Mal wachte sie schreiend und Schweißgetränkt auf. Sie hatte bei ihrem Onkel, dem Stammesführer der m’Cendo und bei den Weisen, sogar bei den Göttern um die Deutung des Traumes gebeten. Doch niemand konnte - oder wollte es ihr sagen. Einer der Weisen hatte angedeutet, dass es sich um eine Vision eines späteren Geschehnisses handelte, aber wie konnte das sein, wenn sie im Traum gerade mal elf Jahre alt war? Dara hatte sich vom Äußeren her, bis auf die zunehmende Weiblichkeit kaum verändert, sie hatte immer noch lange, blonde Haare mit den rosa Strähnen, die ihr Mal am Kopf produzierte. Sie war hoch gewachsen und hatte ein zartes Gesicht, mit den blauen, intelligenten Augen eines Reptils, einer kleinen Nase und etwas zu dünnen Lippen, hinter denen eine Reihe reinweißer Zähne ein zauberhaftes Lächeln hervorbringen konnte. Sie war sportlich und schlank gebaut, mit wohlgeformten, nicht zu großen Brüsten und schönen, langen Beinen. Man konnte also sagen, dass sie hübsch war, sehr hübsch sogar. Zumindest unter den m’Cendo, auf die normalen Menschen wirkte sie genau wie alle anderen ihres Volkes aufgrund der übermenschlichen Größe und der schlitzartigen Augen eher abschreckend.
Dara blickte auf die Gestalten, die um sie herum im versteckten Lager schliefen. Neben jeder Gestalt lag ein Ryba zusammengerollt auf den provisorischen Matratzen aus Blättern. Eine Nachtwache gab es nicht, die Tiere hätten einen Feind schon aus kilometerweiter Entfernung gewittert. Die vier schlafenden m’Cendos, zwei Frauen und zwei Männer bildeten mit Dara zusammen eine Eliteeinheit, die aus den m’Cendo-Kriegern für besondere Zwecke gebildet wurden. Hierzu wurde ein Krieger oder eine Kriegerin gewählt, die den Ansprüchen der Mission am Besten entsprach. Diese Person, hier war es Dara gewesen, konnte sich einen Trupp aus beliebig vielen Kriegern zusammenstellen. Die junge Kriegerin hatte ein Team aus fünf Kriegern und deren Rybas gebildet. Alle - bis auf einen - trugen auch nachts die Kleidung und Bewaffnung eines m‘Cendo-Kriegers, dazu gehörten ein dunkelgrünes Hemd, eine passende Hose und darunter zum Schutz eine lederne Weste. Sie hielten ihre Kleidung einfach und ver-zichteten auf metallene Rüstungen wie die ihrer menschlichen Ver-bündeten. Um ihr Cendo perfekt anzuwenden, benötigten die Krieger volle Bewegungsfreiheit. Als zusätzliche Bewaffnung trug jeder ein schlankes, langes Einhand-Schwert in einem ledernen Halfter am Rücken und einen Piken-artigen Dolch an der Hüfte. Beide Waffen waren einfach gehalten, mit metallenem Heft und lederummanteltem Griff. Schon früh hatten sie gelernt, richtig mit ihren letzten Waffen umzugehen, die in den kleinen Fächern der Lederweste steckten. Hierbei handelte es sich um hauchdünne Nadeln aus Metall, etwa so lang wie ein kleiner Finger, deren Spitzen mit dem Gift der Rybas getränkt waren. Die m’Cendo-Krieger hatten in ihrer jahrelangen Ausbildung gelernt, mit dieser gefährlichen Waffe umzugehen und konnten sie bis auf sechs Schritt zielgenau auf ihren Gegner schleudern, etwa in die Sichtaussparungen ihrer Helme oder auf andere, ungeschützte Stellen.
Dara betrachtete nun einen nach dem anderen ihre Kammeraden und deren Rybas. Einen Namen gaben deren Herren ihnen selber, sobald sie alt genug waren. Da diese Wesen ihren Meistern nie von der Seite wichen, auch nicht als Baby und ausschließlich auf jene hörten, hätte es für die Eltern der m’Cendo keinen Sinn gemacht, den Tieren vorzeitig einen Namen zu geben. Dara hatte ihren Ryba mit fünf Jahren Daven getauft, nachdem ihre Mutter ihr die Geschichte eines großen, gutmütigen Kriegers, einem der Gründungsväter der m’Cendo erzählt hatte, der den gleichen Namen trug. Bei einem ihrer Gefährten blieb Daras Blick länger hängen.
Es war Todd, ihr drei Jahre älterer Bruder. Er war fast einen ganzen Kopf größer als sie und hatte einen muskulösen Körperbau, in dessen Kontrast sein gutmütiges, freundliches Gesicht stand, welches wesentlich dunkler war als Daras. Er hatte ebenfalls blaue Augen, eine leichte Hakennase und trug einen kleinen Ziegenbart, der zu seinem kahl geschorenen Kopf mit dem blaugrauen Mal perfekt passte und ihm ein leicht geistliches Aussehen verpasste. Tatsächlich war er das einzige Teammitglied, das kein ausgebildeter Krieger war, sondern ein Cendo-Mönch. Vor zwei Jahren war er vom Novizen in den Rang eines solchen aufgestiegen. Direkt nach der Grundausbildung war in einen der Tempel eingetreten, er hatte für die Götter schon immer viel übrig gehabt.
Die Religion der m’Cendo hatte mit der ihrer Feinde und der anderen Menschenvölker, die zumeist an einen einzigen Gott glaubten, oder für alles eine einzelne Gottheit hatten, nicht viel gemeinsam. Sie hatten lediglich zwei Götter, Soa - den Herrn der Elemente und Centaya - die Göttin des Lebens. Zu Soa betete man, wenn man irdische Sorgen hatte, wenn eine Quelle versiegte, wenn man für Glück in einer Schlacht bat oder für das reichliche Essen dankte. Zu Centaya wurde gesprochen, wenn man Lösungen für innerliche Probleme suchte, wenn man Fragen über die Liebe, das Leben oder den Tod hatte. Die Cendo-Mönche, deren Meister und die Novizen versuchten, durch stunden- manchmal auch tagelange Meditation eine Verbindung zu ihren Göttern aufzubauen, um deren Willen zu erfragen. Davor trainierten sie den waffenlosen Kampf, das Cendo Tag und Nach, verbrachten Wochen fastend und schweigend, um völlige, körperliche Ausgewogenheit zu erzielen. Dann gaben sie die Aufgaben, Anweisungen und Bitten Soas und Centayas direkt vor den frei zugänglichen Tempeln aus an das Volk weiter.
Als einziges Mitglied von Daras kleiner Truppe trug Todd nicht die Ausrüstung eines Kriegers, sondern die lange, schwarze Kutte eines Cendo-Mönches. Sie war einfach gehalten, mit einer Kapuze, die zum stillen Gebet tief über das Gesicht gezogen wurde und einem Gürtel in der Palx des Trägers und dessen Rybas, in Todds Fall also blaugrau. Auch in dieser Kleidung konnte er sich völlig frei und leise fortbewegen, wobei er als Mönch auf Waffen vollständig verzichtete. Die Ordensbrüder unterstanden allerdings keinem Zölibat, auch sie durften eine Frau zu der ihren nehmen, sofern sie eine fanden, die bereit war, ihn sich zum meditieren teils wochenlang in den Tempel zurückzuziehen zu lassen.
Dara schüttelte ganz langsam und lächelnd den Kopf, während sie nachdachte. Todd hatte noch nie die Wärme einer Frau gespürt, wobei auch er als durchaus attraktiv eingestuft werden konnte. Er hatte bislang immer nur für die Religion gelebt. Sie hatte ihn gefragt, ob er sie auf diesem Mission begleiten wolle und er willigte als ihr Bruder - und als ihr bester Freund sofort ein.
Als seine Ryba Narma sich zur Seite wälzte, richtete Dara ihren Blick auf sie. Das Wesen mit dem schwarz-blau gepanzerten Rücken musste im Schlaf kurz die Augen geöffnet und sie gesehen haben, denn es rollte sich sogleich auf die Pfoten und fixierte die junge Anführerin. Sofort erwachte auch Todd, durch das mentale Band zwischen m’Cendo und Ryba war ein Anstupsen zum Wecken nicht nötig. Müde richtete dieser sich auf und rieb sich die verschlafenen Augen. »was’n los?« fragte er Narma flüsternd und folgte dann ihrem Blick zur ebenfalls aufrecht dasitzenden und verträumt lächelnden Dara. Narma legte sich sogleich wieder hin und tat es somit Daven gleich, der sich neben Dara wieder zusammengerollt hatte.
»Hey, Großer.« wurde Todd Begrüßt. Der Mönch rieb sich noch einmal die Augen und fragte »Morgen. Schon wieder schlecht ge-träumt?« er zeigte zum Himmel und fügte hinzu »Neumond?«
»Ja, wieder einmal ne‘ Verfolgungsjagd ohne Daven… ich werd mich wohl nie dran gewöhnen. Hat dir einer von den Zweien da oben mal gesagt, was das mit dem verdammten Traum auf sich hat?« Todd brachte ein halbes Lächeln zustande. »Sie wollen es mir immer noch nicht sagen. Aber ich bin dran. So, Schwesterchen, wie wäre es mit weiterschlafen? Morgen wird wohl ein ziemlich harter Tag. Und dein Traum kommt erst in ein paar Wochen wieder, da kannst du dich beruhigt wieder hinlegen.«
»Hast ja recht, Toddy. Ich werds‘ versuchen. Aber ob ich nach dem Schock wieder einschlafen kann…? Wenn nicht weck ich dich wieder, damit mir nicht so langweilig ist, ok?« Dara hängte dem Satz ihr strahlendes Lächeln an, was Todd dazu brachte, leise kichernd zu antworten »Passt schon. Gute Nacht.«
»Danke, bist der Beste. Schlaf schön weiter.« Der junge Mönch ließ sich zurückfallen und war augenblicklich wieder eingeschlafen. Dara beobachtete ihn noch eine Weile und dachte an ihre Jugend, in der sie sich nicht hatten riechen können. Nun waren sie nicht mehr nur Geschwister, sondern die besten Freunde. Langsam ließ auch sie sich zurücksinken und betrachtete den Sternenhimmel über dem Blätterdach. In wenigen Stunden würde die Sonne aufgehen und dann würden sie zur letzten, gefährlichsten Etappe ihrer Mission aufbrechen. Todd hatte völlig recht, sie sollte sich davor lieber noch einmal ausruhen. Sie schloss blinzelnd die Augen und dann war auch sie ohne Umschweife eingeschlafen.
Mit den ersten Sonnenstrahlen wachte Dara wieder auf und mit ihr alle Begleiter und die Rybas. Sie brachen ihr kleines Lager ab und nahmen als Frühstück einige Stücke Brot, Schinken und Wasser aus den Lederflaschen zu sich. Dara beobachtete ihre Kammeraden, wie sie zum nahe gelegenen Fluss liefen und sich schnell wuschen. Neben ihrem Bruder war noch ein weiterer Mann mit von der Partie.
Sein Name war Sami, der seiner Ryba Amica. Er hatte schwarze, kurze und buschige Haare mit einer weinroten, dunklen Palx, bernsteinfarbene strahlende Augen und ein stetiges Pokerface auf den Lippen. Wie Todd war auch er ein muskulöser Riese und ein wahres Naturtalent im Schwertkampf. Mit seinen achtzehn Jahren war er das jüngste Mitglied der Gruppe.
Die beiden anderen Frauen und deren Rybas, Carolin mit Manus und Cinzia mit Katan waren Zwillinge, die sich fast wie ein Ei dem anderen glichen. Nicht wirklich hübsch, dafür sehr intelligent, zierlich, einen halben Kopf kleiner als Dara und das am besten zusammenarbeitende Team, das diese je gesehen hatte. Darum hatte sie die beiden sofort für ihre Mission angeheuert. Mit ihren zweiundzwanzig Jahren hatten sie dunkelgrüne Augen, große, spitze Nasen und kleine, meist schweigende Münder. Ihre helle Haut zierten viele Sommersprossen und das volle, rötliche Haar schimmerte in der Sonne fast orange. Carolins moosgrüne Palx sah ein wenig merkwürdig dazu aus, Cinzias sehr helles, fast weißes Grasgrün war noch gewöhnungsbedürftiger. Die Palx unterschied sich bei jedem m’Cendo völlig, sie wurde nicht vererbt und auch Zwillinge konnten völlig unterschiedliche Farbtöne haben.
Die Fünf Gefährten zäumten Pferde, nachdem sie auch diese am Bach hatten Saufen lassen. Alle stiegen auf und die Rybas nahmen vor ihren Herren auf dem Pferd Platz, nur Samis Amica war wie er voller Tatendrang und sprang neben ihm her von Baum zu Baum. Dara hatte absichtlich einen Weg mitten durch die Wälder gewählt, immerhin befanden sie sich fernab der Heimat und inzwischen weit hinter den feindlichen Linien. Sie nutzten enge Wege und Pfade, die Tiere im dichten Geäst hinterlassen hatten. Sami ritt voraus und schlug mit seinem Schwert Äste und Gestrüpp beiseite, ihm folgten Dara, Cinzia und Carolin, das Schlusslicht bildete Todd. Inzwischen waren sie seit fast drei Wochen unterwegs, vom Tal der m’Cendo aus waren sie zunächst durch Lahos geritten, dass Land ihrer menschlichen Verbündeten, die sich selbst die Latora nannten.
Die Latora waren eins von sechs menschlichen Völkern auf der Halb-insel Maeji. Vor hunderten von Jahren, mit dem Beginn ihrer Zeit-rechnung strandete das erste Menschenvolk, die Donai an der Westküste der Halbinsel, etwas östlich von ihnen kamen bald unabhängig voneinander die Saeven und die Latora hinzu. Heute wusste niemand mehr, wo die Völker ursprünglich herkamen, doch sie hätten unterschiedlicher nicht sein können.
Die Donai waren ein einfaches, friedliches Volk, sie brauchten nicht viel, um glücklich zu sein. Sie lebten vom Fischfang und der Vieh-zucht, galten als sehr gastfreundlich und gingen Schwierigkeiten gerne aus dem Weg. Dies zeigte sich auch darin, dass ihre kleine, defensive Armee Großteils lediglich aus Speerträgern und Bogenschützen bestand. Sie hatten sich einfach dort niedergelassen, wo sie gestrandet waren, an der Westküste der Halbinsel. Das Land tauften sie Donar, ihre Hauptstadt an der südwestlichen Spitze der Halbinsel wurde die Wasserstadt genannt.
Das zweite Menschenvolk, das einst an der Südküste anlegte, waren die Latora. Sie waren das größte Volk und wurden, im Gegensatz zu den Donai, die einen Häuptling hatten, von einem Kaiser, den der Oberste Rat wählte, angeführt. Sie hatten Bevölkerungsschichten und ihr großes Reich Lahos war gesäumt von gewaltigen Städten. Die größte dieser Metropolen, in deren Mittelpunkt ein gewaltiger Turm bis in die Wolken reichte, wurde einfach und passenderweise die Himmelsstadt genannt. Die Bevölkerung machte sich viel aus ihrem Fortschritt und der Pracht ihrer Städte, was ihnen den Ruf einbrachte, dass sie verdammt eingebildet seien. Kurz nach ihrer Ankunft auf Maeji hatten sie sich mit ihren nächsten Nachbarn, den Donai verbündet. Sie nutzten das landwirtschaftliche Wissen des Volkes, indem sie von ihnen Lebensmittel bezogen, dafür verteidigte die beachtliche Armee der Latora, die unter anderem eine zehntausend Mann starke Kavallerie beinhaltete, Donar zusätzlich vor den unzähligen Feinden. Anfangs hatten die zunächst kleinen Völker keine allzu große Lust gehabt, sich von der großen Halbinsel weg und auf das Land, mit dem Maeji an der Nordseite verbunden war auszuweiten. Die mutigen, oder Wahnsinnigen, die den Weg gegangen waren, hatte man nie wieder gesehen. Das Land über Maeji bildete also auch Jahrhunderte nach der Ankunft der Menschen noch ein großes Geheimnis.
Die Saeven waren das dritte, menschliche Volk auf der Halbinsel. Wie auch die Latora waren sie an der Südküste gelandet, hatten aber keinesfalls den Kontakt zu den anderen Menschen gesucht. Stattdessen wanderten sie an einen nordöstlichen Zipfel der Halbinsel, weit entfernt von den Anderen. Dieses Reich nannten sie Neva. Die etwas zu kurz geratenen Saeven galten als hinterlistig und kriegerisch, außerdem als sehr gebildet. Fast jeder Mann in ihren Reihen hatte eine Kriegerausbildung absolviert, sie waren Meister am Bogen und immer wieder erforschten sie neue Kriegsgeräte wie Katapulte und Ballisten. Es hieß, ihr Volk sei seit jeher zweigespalten. Die eine Hälfte war durchaus gewillt gewesen, sich mit den anderen Menschen zu verbünden, doch die andere zog sie mit sich, weg von den Völkern der Latora und Donai. Schon bald wurde einer ihrer Herrscher, der meist ein Kriegsheld und ein Anhänger der Gegner eines Bündnisses war, von Rebellen gestürzt und ein blutiger Bürgerkrieg brach aus. Die dunklen Wesen, die nach etwa zweihundert Jahren der menschlichen Herrschaft auf der Insel von Norden her gekommen waren, nutzten die Gelegenheit, um über das geschwächte Neva herzufallen, bis das Ganze Land brannte.
Teile beider Parteien der Saeven schafften es jedoch, dem Gemetzel zu entkommen. Die ehemaligen Anführer gründeten als ihr neues Land Ona, mit der Hauptstadt Luxor am Südöstlichen Zipfel der Halbinsel. Sie zogen es weiter vor, unabhängig zu bleiben und nannten sich fortan ‘die Erleuchteten‘. Sie verabscheuten alle anderen Völker, zogen eine Gewaltige Mauer um ihr Reich und bildeten ein kleines, starkes und vor allem unabhängiges Volk. Ihre ehemaligen Brüder verließen ebenfalls das in Schutt und Asche liegende Alt-Neva und verbündeten sich mit den anderen Menschen, wo sie ihr neues Neva neben Donar und über Lahos gründeten. Ihre neue Hauptstatt, das Tal der Helden galt fortan als Zuflucht für alle, die auf ihre Fragen eine Antwort suchten.
Das fünfte Menschenvolk waren die Basei, eine kleine Gruppe Ver-stoßener und Verbrechen, die als Normannen plündernd über die ganze Halbinsel zogen. Seit bald 150 Jahren hatte man inzwischen jedoch nichts mehr von ihnen gehört, es hieß sie hatten eine Reise in das Land im Norden angetreten und wären nie mehr zurückgekehrt. Das letzte der sechs Menschenvölker bildete das kleine Volk der m’Cendo. Die großen Menschen mit den teils bunten Haaren und den reptilartigen Augen waren seit jeher auf Maeji gewesen, schon lange vor dem Eintreffen der Donai. Nicht einmal sie selbst wussten genau, wie sie auf die Halbinsel gekommen waren. Man erzählte sich die Legende, dass es einst einem Menschen gelungen war, eines der schnellsten, bösartigsten und gefürchtetsten mystischen Wesen zu fangen und zu zähmen, dass je auf existiert hatte - den Ryba. Doch die Bedingung dafür, dass der Mensch über den Ryba herrschen durfte, war hart gewesen. Von nun an verband ein Lebensband m’Cendo und Ryba, das sich in der Farbe auf ihrem Kopf und Rücken veräußerte. Es hieß, das Wesen hätte dem Menschen während der Zähmung die Augen ausgekratzt, doch aus der Wunde waren neue Augen her-vorgekommen, schlitzartige, intelligente Augen. Sie verliehen dem m’Cendo die Fähigkeit, im Dunkeln zu sehen. Durch den einen Ryba gelang es der Legende nach, alle diese Wesen auf die Seite der m’Cendo zu ziehen und jedes Mitglied der Familie mit einem Ryba zu verbinden. Nie hatte sich das m’Cendo-Volk über ihren heiligen Wald hinaus ausgebreitet. Niemand kannte sich besser auf Maeji aus als diese Menschen, sie wussten, dass sie nicht in den Norden durften, da sie sonst den Zorn der dunklen Wesen auf sich lenken würden. Sie kannten ihre nächsten Nachbarn, die in den Wäldern des Vergessens im mittleren Osten lebten, gut und waren soweit sie zurückdenken konnten mit ihnen verbündet. Ab und an hatte sich eine Patrouille ihrer bösartigen Gegner bis in ihr Territorium hinein getraut. Nie hatte eine dieser Bericht erstatten können. Die m’Cendo stellten eine Elite dar, sie waren leise, präzise, intelligent und bescheiden, lebten in einfachen Häusern aus Holz und Stein und ernährten sich von den Früchten, Pflanzen und Tieren, die ihr heiliger Wald hervorbrachte. Als die ersten Menschen ankamen, hatten diese mehr Angst vor den riesenhaften m’Cendo gehabt als umgekehrt, doch schon bald wurden Freundschaften geschlossen und Bündnisse eingegangen. Der heilige Wald der m’Cendo stellte nun den Mittelpunkt zwischen Lahos, Donar und Neva dar. Sie hatten vom Bündnis, dem vereinigten Reich der Menschen nur profitiert, da ihr Land nun vor dem unvermeidbaren Angriff der dunklen Mächte, der aufgrund der plötzlichen Menschenmassen kommen musste, perfekt geschützt war. Außerdem lernten sie viel über die Schmiedekunst von ihren Freunden. Die Grundlagen hatten sie zwar schon entdeckt, doch ihre langen, schmalen, Sichelscharfen und stabilen Einhänder verdankten sie allein der weit entwickelten Schmiedekunst der Latora. Die einzige offizielle Forderung der m’Cendo für das Bündnis war jedoch gewesen, dass keines der anderen Völker sich in den heiligen Wald hinein ausbrei-ten durfte, geschweige denn die Tiere darin zu jagen und die Bäume zu fällen. Die Cendo-Mönche beriefen sich darauf, dass es der Wille des Soa wäre, dass der heilige Wald allein für den Gebrauch der m’Cendo erschaffen worden wäre. Die menschlichen Völker hatten es den Erleuchteten, also den Abtrünnigen der Saeven unter dem Banner des vereinigten Menschenreiches gleich getan, und eine gewaltige, nahezu fünfundzwanzig Schritt hohe Mauer um ihr Reich, das fast den ganzen Südwestlichen Bereich der Halbinsel einnahm, gezogen. Von diesen Mauern aus bis zu den Ausläufern des Gebirges, welches Maeji mittig von West nach Ost fast komplett durchzog, war so gut wie jeder Landstrich von den unzähligen Schlachten mit den dunklen Mächten gezeichnet. Es gab abgebrannte Siedlungen, eingegangene Bäume, Lichtungen voller Skelette und Waffen aus bald 300 Jahren des Krieges. Im mittleren Osten der Halbinsel, zwischen dem vereinigten Menschenreich und dem ummauerten Ona lagen die Wälder des Vergessens, die Heimat des letzten nichtmenschlichen Volkes, das die Angriffe der dunklen Mächte heil überstanden hatte. Es wurde bezweifelt, dass die Wesen aus dem Norden überhaupt von der Existenz dieses Volkes wussten. Auch die Menschen hatten diese Lebensform, die sich Rangun nannte, zunächst überhaupt nicht bemerkt, erst die m’Cendo hatten sie einander vertraut gemacht. Das Volk der Rangun lebte in kleinen Gruppen im großen Wald verteilt, hatten keine Städte sondern lebten direkt von und in dessen Bäumen. Man konnte die Wesen mit einem großen, haarlosen Affen ver-gleichen, nur dass sie keinen Kopf hatten. In der Tat endete ihr völlig kahler, schwarzhäutiger Körper dort, wo bei den Menschen der Hals begann. Sie gingen auf allen vieren, hatten zwei paar Hände ohne Finger, dafür mit Fingerlangen, sichelartigen Krallen, mit denen sie sich auf den Bäumen hielten, wenn sie auf diesen schliefen. Die Wesen benutzten eine Sprache, ein tiefes Grollen das aus dem Bauch heraus zu kommen schien, die alleine die m’Cendo verstehen konnten. Die Rangun sahen schlicht und einfach merkwürdig aus, hinten genauso wie vorne. Wenn man sie sah. Keines der dunklen Wesen hatte sie gesehen, ohne den Tod zu finden. Denn solange sich die schwarzhäutigen Rangun nicht bewegten, passten sie sich ihrem Umfeld an und wurden so gut wie unsichtbar. Von den Donai wurden sie Anfangs die Chamäleon-Menschen genannt und mit ängstlichen Blicken bedacht, doch schon bald wussten auch die Menschen die Rangun und deren Stärken zu schätzen. Denn auch wenn sie offenbar nichts hören, sagen oder riechen konnten, waren die Wesen in der Lage, Feinde präziser zu orten und gezielter anzugreifen, als es ein Mensch mit seinen Waffen je könnte.
Nachdem Daras kleine Gruppe das viel bebaute Lahos ohne Um-schweife durchritten, und die gewaltige Mauer zum Menschenreich unter den zweifelnden Blicken der Wachposten passiert hatte, waren die fünf m’Cendos den kurzen Weg durch die Schlachtfelder, die nach Norden hin bis zu den Gebirgszügen reichten, bis in die sicheren Wälder des Vergessens geritten. Hier hatten sie ihre lange Reise zu Pferde zu ihrem nächsten Etappenziel fortgesetzt, dem einzigen, einfach begehbaren Durchgang durch das Gebirge, der sich nahezu zentral auf der Halbinsel befand.
Dieses Gebiet war das am härtesten umkämpfte, blutigste und be-drückendste auf ganz Maeji und wurde die rote Ebene Yinsa genannt. Sie selbst war fast eine Wüste, in ihr gab es kein Leben, keinen Baum und keine Tiere. Nur blanke Erde und Sand von den Ausläufern des östlichen bis zu denen des westlichen Gebirges, der von den unzähligen Gefallenen aller Völker auf diesem Gebiet blutrot eingefärbt war. Stand man genau in der Mitte des ausgedörrten Yinsa, so konnte man im Süden am Horizont die Spähposten der Menschen erkennen, im Norden waren die Umrisse der Mauern, hinter denen das Reich ihrer Feinde begann, zu erfassen. In den letzten Jahren hatte es keine große Schlacht mehr gegeben, beide Parteien rüsteten offenbar auf und warteten auf den Angriff des Gegners. Die Menschen waren angespannt und hielten stets Wache, die dunklen Wesen schienen die Angst ihrer Feinde zu genießen und den nächsten Angriff lange aufzuschieben. In der roten Ebene herrschte also seit langer Zeit eine unangenehme, angespannte Stille, die einem einen eiskalten Schauer über den Rücken laufen lies. Durch das Reich ihrer kopflosen Freunde hindurch waren Dara, Todd, Sami, Carolin und Cinzia mit ihren Rybas und Pferden nun also unterwegs zu eben jenem, traurigen Tal gewesen, das seit Jahren kaum ein Mensch mehr betreten, geschweige denn lebend wieder verlassen hatte. Ohne Schwierigkeiten hatten sie die rote Ebene erreicht und Yinsa an den östlichen Gebirgsausläufern entlang durchritten. Nicht einmal mit einer Wimper zuckten sie, bevor sie das rotbräunliche Erde-Sandgemisch betraten. Auch die Pferde scheuten keineswegs. Nach dem Durchschreiten des Tales hielten sie sich nordöstlich, auf Alt-Neva zu, direkt durch Zalong, das Reich ihrer Feinde.
Und genau dort befanden sie sich nun, weit entfernt von der Heimat und hinter den Linien ihrer Feinde. Hintereinander ritten sie durch einen dichten Wald, sehr wohl mit dem Wissen, dass ihre Feinde sie von der Mauer aus beim Durchschreiten der roten Ebene und dem Eindringen in ihr Reich gesehen haben mussten und sie verfolgten. Auch war ihnen klar, dass ein Kampf während dieser Mission wohl unumgänglich war, doch sie hofften darauf, dass die Herrscher über Zalong, die Stamlocks, sie in der roten Ebene über die große Entfernung nur für eine Hand voll wagemutiger - oder irrer Menschen gehalten hatten. In diesem Fall würden sie die m’Cendos nämlich nicht als wirkliche Feinde betrachten und ihnen somit nur einen kleinen Trupp hinterher schicken. Halb Zalong hatten die fünf Gefährten nun schon hinter sich gelassen und sie ritten meist schweigend voran, in der Hoffnung dem offenen Kampf weiterhin aus dem Weg gehen zu können.
Die Stamlocks waren eines der zwei Völker gewesen, die einst aus dem Norden gekommen waren. Sie galten als nicht sonderlich intelligent, waren klein und relativ schwach, jedoch auch ausdauernd und blutrünstig. Niemand wusste, wie viele Stamlocks Zalong belagerten. Man wusste nur, dass es viel zu viele von ihnen gab. Auch ihr Nachschub aus dem Festland im Norden wollte nicht versiegen. Als die Stamlocks, angeblich vom Duft des frischen Menschenblutes gelockt, auf Maeji geströmt waren, hatten sie sich sofort das gesamte Land, das östlich über dem Gebirge lag, unter den Nagel gerissen. Im Yinsa zettelten sie sofort den Krieg gegen die Menschen an, die sich auf Bitten der m’Cendo hin unter Anderem durch den Bau der großen Mauer auf einen Angriff vorbereitet hatten. Allein durch ihre Schiere Überzahl war es ihnen möglich, lange und ausdauernd gegen die technisch weit überlegenen Menschen anzukommen. Tausende fielen, Menschen wie Stamlocks und gaben der roten Ebene ihren Namen. Gleichzeitig kesselten die kriegsgierigen Wesen das jetzige Alt-Neva ein, rissen die Mauern nieder und zerstörten das ganze Land, ließen keinen Stein auf dem anderen. Es hieß, die ehemals stolze Hauptstadt der Saeven brenne noch heute und die Schreie der Gefallenen würden nachts noch immer durch deren leeren Straßen hallen. Die Spione der m’Cendo und der Saeven hatten herausgefunden, dass sich die Stamlocks mit ihrem Verbündeten, dem Volk der Komolai in einer Art verbalen Krieg in den eigenen Reihen befanden, was wohl auch einer der Gründe für den ausbleibenden Angriff war. Offenbar hatte es Uneinigkeiten über die Landesverteilung im Norden gegeben und die leicht reizbaren Stamlocks hatten das ihren Kriegskammeraden übel genommen.
Nachdem sich die kleinen Stamlocks, die einem Menschen etwa bis zum Kinn reichten, mit ihren groben Knüppeln und den schlecht geschmiedeten Klingen einen etwa fünfzigjährigen Stellungskampf mit den menschlichen Völkern um die Rote Ebene geleistet hatten, waren wie aus heiterem Himmel die Komolai aufgetaucht, hatten sich im Nordosten niedergelassen und zunächst einmal einige Jahre lang den Krieg beobachtet. Im Gegensatz zu den Stamlocks, die eher wie dickliche Zwerge mit gelblicher Haut, einem kümmerlichen Bart, zerfurchtem Gesicht und zerfetzter Kleidung aussahen, waren die Komolai große, stolze, aber doch dunkle Wesen. Sie waren gut zweieinhalb Schritte groß, hatten einen dürren Körper mit spinnenartigen Armen und Fingern und Trugen stets einen langen Mantel-Umhang, der nur noch den länglichen Kopf sehen ließ. Sie hatten eine weißgraue Haut, wodurch die Komolai fast wie tot erscheinen. Die schmalen Lippen waren ebenfalls aschfahl, die Nase wirkte wie abgerissen, nur noch zwei Löcher waren zu sehen. Die tief in den Höhlen liegenden Augen waren schwarz wie der Tod und undurchdringlich. Im krassen Gegensatz zu diesem erschreckenden Äußeren hatten sie langes, blondes Haar, das sie stets gepflegt zu einem Pferdeschwanz zusammen gebunden im Rücken trugen.
Sie hatten sich ihr neues Reich zunächst einmal eingerichtet, wäh-rend sie den Menschen und den Stamlocks beim sinnlosen Ab-schlachten zusahen. Zunächst einmal errichteten sie eine gewaltige Stadt, der Himmelsstadt nicht unähnlich. Die wenigen, die lebend aus Kämpfen zurück kamen und von ihr berichten konnten, beschrieben sie als die größte, uneinnehmbarste Festung, die je existiert hatte. Angeblich zersprangen selbst die schweren Geschosse der Katapulte an ihren tiefgrauen Mauern in tausende Teile. Nachdem die Wesen ihr Land nach ihren Vorstellungen gestaltet hatten, stellten sie sich an die Seite der Stamlocks, um die Menschen – die unverschämten Neuankömmlinge, die sich ihr Land unter den Nagel reißen wollten – zu vernichten. Die Komolai hielten nicht viel vom Nahkampf, so wie ihre Verbündeten. Überlebende berichteten, dass sie einem Menschen lediglich einige Sekunden in die Augen blicken mussten und er würde an purer Angst sterben. Da ihre Anzahl eher klein war setzten sie eher auf neue Technologien und Katapulte. Außerdem waren sie Meister an den Ballisten. Es hieß, sie können einem 500 Schritte entfernten Reiter im vollen Galopp zielgenau einen der gewaltigen Pfeile durch den Schädel jagen. Sie ahnten die Bewegungen ihrer Feinde im Voraus, vor allem das machte sie so unglaublich gefährlich.
Seit die Komolai in das Geschehen eingegriffen hatten, waren die Menschen gezwungen, die Gegenangriffe zu unterlassen und statt-dessen Verteidigungsstellungen einzunehmen. Intelligent hatten die großen Wesen ihre Stellungen gewählt und gezielt bestimmte, strategische Ziele anvisiert. So war es ihnen gelungen, die Menschen mit Hilfe der nicht nachlassenden und unkontrollierten Sturmflut an Stamlocks bis zu der gewaltigen Menschenmauer zurückzudrängen. Nur an dieser waren sie bis dato gescheitert. Nach Jahrzehnten des Kampfes auf dem, von der Roten Ebene bis zu den Mauern der vereinten Menschenvölker reichenden Schlachtfeld hatten sich die dunklen Wesen plötzlich und unerwartet zurückgezogen. Die Weißen der Menschen Sahen darin allerdings keinen Rückzug, sondern eine wohl überlegte Kampfstrategie. Die dunklen Wesen hatten wohl begriffen, dass dieser Dauerangriff nichts einbrachte, bis auf unzählige Tote auf beiden Seiten. Die meisten Schlachten, zumindest außerhalb der Mauern, hatten bis hierhin die Komolai zusammen mit den Stam-locks gewonnen, den Krieg aber bislang die Menschen. Von nun an folgten nur noch vereinzelte Großangriffe alle paar Jahre. Die dunk-len Wesen bereiteten sich perfekt auf die Schlachten vor, die Latora, Dunai, Saeven und m’Cendo stockten die Verteidigungen auf. Die Großangriffe der geballten, dunklen Armee prallten gegen die der Menschen und auch diese Schlachten brachten für keine der Parteien einen wirklichen Sieg ein, sondern endeten wieder nur mit tausenden Toten. Hierbei wurden die Siege zwar nur knapp, aber immerhin meistens für die Menschenvölker entschieden, auch weil die Rangun sich auf Seiten der Menschen eingemischt hatten.
Weitaus mehr Erfolg, als die gewaltigen Truppenaufmärsche brach-ten kleine Aktionen von Spionen und Saboteuren auf beiden Seiten ein. Jedes Volk hatte seine eigenen Spezialeinheiten, die nur selten zusammengewürfelt wurden.
Bei den Komolai waren es fünf Mann starke Gruppen, die man von den normalen Komolai rein äußerlich nicht unterscheiden konnte. Sie waren schneller und stärker als ihre Brüder und kämpften auch im Nahkampf mit, ausgerüstet mit Mini-Armbrüsten an den Handgelenken und messerscharfen Säbeln an den Hüftgürteln ihrer Mäntel. Durch ihre Vorahnungen und die Präzision ihrer Hiebe war fast niemand in der Lage, die kleinen, metzelnden Gruppen im Nahkampf aufzuhalten.
Die Stamlocks hatten angeblich aus ihren gefangenen und gefolterten Feinden Wesen gezüchtet, die zerschrammt und zerfallen nur noch vage an einen Menschen erinnerten. Von den Peitschen der Stamlocks getrieben, rannten diese von der blanken Wut getrieben in die menschlichen Lager und richteten jeden hin, den sie sahen. Töten konnte man diese Wesen nur noch durch das Abtrennen des Kopfes, da sie in den Folterkammern ihrer Herren schon oft kurz vor dem Tod gestanden hatten und deshalb keinen Schmerz mehr spürten.
Die Saeven hatten kleine Einheiten von Bogenschützen, denen kein Ziel zu klein oder zu weit entfernt war.
Kleine, in schwarze Mäntel gehüllte Spione, die schnell und leise überall hin gelangen konnten ohne gesehen zu werden stellte der Stamm der Donai.
Das Volk der Latora sendete oftmals kleine, berittene Einheiten hinter die feindlichen Linien, die aus einem Bogenschützen, zwei Schwertkämpfern, zwei Wurfspeerträgern mit Kurzschwertern und einem Saboteur, der sich mit der Technologie der Feinde auskannte, bestanden.
Bei den m’Cendo waren es Gruppen wie Daras – die besten Krieger und manchmal auch Cendo-Mönche mit ihren Rybas, die gezielt und leise in feindliches Territorium vordrangen um präzise und meist ohne eigene Verluste gegnerische Stellungen auszuheben. Manchmal aber wurden auch Missionen von den Weisen oder dem Anführer der m'Cendo vorgegeben. Missionen, die so wenig wie nur möglich mit dem offenen Kampf zu tun hatten. Missionen wie die, in der sich Dara und ihre Gefährten gerade befanden.
Der zuvor sehr dichte Wald war inzwischen zu vereinzelten Bäumen geworden, und hatte schließlich ganz geendet. An einem einsamen Bach, der kaum noch Wasser führte und einst ein gewaltiger Fluss gewesen war, welcher das Reich der Saeven einst gekennzeichnet hatte, beschlossen die fünf m’Cendo ein letztes Mal zu Rasten. Sie ließen ihre Pferde saufen, tranken selbst einen Schluck Wasser und blickten vom nahezu ausgetrockneten Flussbett aus nach Osten. In der Ferne, über den ausgedörrten Boden hinweg waren die zerfallenen Mauern Alt-Nevas zu erkennen. Dara glaubte nicht an die Legenden, dass dieses einst stolze Land noch immer brenne. Die Stamlocks hatten schon lange das Interesse an dem früheren Menschenreich verloren und schickten nur noch selten Patrouillen hier her. Auch die anderen Menschenvölker hatten Alt-Neva schon längst aufgegeben. »Mir rennt echt ein eiskalter Schauer über den Rücken, wenn ich daran denke, wie diese Biester damals einfach die Mauern überrannt und die Saeven praktisch im Schlaf nahezu ausgelöscht haben.« meinte Todd. Keiner erwiderte etwas. »Wollen wir mal hoffen, dass unser Onkel Recht hatte und wir an diesem Ort der Toten finden, wonach wir suchen.« fügte er an Dara gewannt hinzu. Völlig in Gedanken und den Blick zu den von hässlichen Pflanzen überwucherten, durchbrochenen Mauern gewandt, nickte diese nur leicht zur Antwort.
Wildes Hufgeklapper war zu hören und Sami kam hinter ihnen wie vom Teufel getrieben aus dem lichter werdenden Wald geschossen. Sein Fuchs flog förmlich dahin, Amica klammerte sich an Samis Schulter. Er war vor einer Weile umgekehrt, um das vorrankommen ihrer Verfolger auszukundschaften. Erst kurz vor dem kleinen Bach zügelte er sein Ross und sprang sofort von ihm herunter, das Pferd trabte selbstständig zum Gewässer und trank begierig.
»Komm erst einmal zur Ruhe und trinke einen Schluck Wasser« sagte Todd noch bevor Sami von seinen Sichtungen berichten konnte und reichte seinem Gefährten eine lederne Flasche. Dieser nahm einen kurzen Schluck, sammelte sich und sprudelte dann sofort los. »Es sind etwa vierunddreißig von diesen Biestern, größtenteils nur leicht bewaffnet um schnell voran zu kommen. Sie sind auf ihren komischen Pferden unterwegs und sind bemüht unsere Spur nicht zu verlieren. Habe sie gerade beim Rasten erwischt. Sie sind keinen halben Tagesmarsch mehr von uns entfernt. Ich verstehe zwar nicht viel von ihrer Sprache, aber sie scheinen ziemlich siegessicher zu sein und freuen sich schon auf das kommende Blutbad.« Hechelnd und noch einen Schluck Wasser nehmend ließ sich Sami neben den Zwillingen nieder.
»Vierunddreißig kleine, schwächliche und leicht bewaffnete Stam-locks gegen fünf m’Cendos?« meinte Cinzia lächelnd und Carolin erwiderte »Das klingt ja schon fast zu einfach.«
»Ja« nickte Sami zustimmend »Sie scheinen uns nicht wirklich für eine Gefahr zu halten.« Plötzlich erhob sich Dara mit ernstem Gesicht von ihrem Platz und lief zu ihrem stolzen Schimmel. Daven folgte ihr. Offensichtlich fand sie das Ganze nicht so belustigend wie der Rest. Nun wieder auf dem Rücken ihres Pferdes sitzend rief sie herüber.
»Wir sollten die Unwissenheit unserer Verfolger ausnutzen und den Kampf so lange wie möglich hinauszögern. Lasst uns sofort aufbre-chen, weiter nach Osten reiten und die alte Hauptstadt der Neva suchen – oder zumindest das, was von ihr übrig ist. Den Geheimgang unter dem alten Schloss werden wir dann hoffentlich schnell finden, immerhin kennen wir die genaue Position.« Teilweise verzogen die m’Cendos mürrisch ihr Gesicht, vor allem Sami, der noch nie ein echtes Gefecht geschlagen hatte und mehr als heiß darauf war. Doch Dara hatte ein Machtwort gesprochen und alle wussten, dass diese die beste Lösung war. Daher wurde schnell aufgesessen, auf Sattel verzichteten sie. Soweit sie zurück denken konnten, hatten die m’Cendo ihre Pferde stets ungesattelt geritten und dieser Tradition blieben sie treu, auch nachdem die anderen Menschen auf der Insel eingetroffen waren.
Mit dem Wind im Rücken galoppierten die Pferde mit ihren Reitern darauf auf die Mauern Alt-Nevas zu. Dara an der Spitze, dann folgten in einem halsbrecherischen Tempo die beiden Zwillinge, dicht gefolgt von Todd und Sami. Nach kurzer Zeit hatten sie den Weg bis zu den Mauern zurückgelegt, sie hatten eine große, zugewachsene Lücke in ihr angesteuert. Sobald sie diese übersprungen hatten zog Dara heftig an den Zügeln, sodass sich Daven gerade noch am Hals des bremsenden Schimmels festkrallen konnte, um nicht vornüber zu fallen. Die anderen hatten Schwierigkeiten, hinter Dara und ihrem vor Schmerz wiehernden Pferd zum stehen zu kommen und nun standen alle dicht an dicht in einer gewaltigen Staubwolke aus aufgewirbeltem Schmutz hinter den Mauern. Todds Stimme erhob sich aus der schmutzigen Wolke
»Dara! Verdammt, du kannst doch nicht…« Er stockte mitten im Satz als sich der Schmutz langsam wieder legte und er sah, was Dara na-hezu gelähmt hatte. Sie saß einfach nur auf ihrem, sich langsam wieder beruhigenden Ross und starrte gen Osten. So weit das Auge reichte war nur flaches, Graues Land zu sehen. Keine Pflanzen, kein Leben, keine Gebäude, lediglich völlig flacher, scheinbar steinerner Boden bis hin zum Meer am Horizont. Todd entsann sich, dass hier einst große Städte gestanden haben mussten, doch von ihnen war hier nichts mehr zu erblicken.
Die Wogen von Stamlocks hatten einfach alles, was sie gesehen hatten zerschlagen und niedergetrampelt. Von einem ewig brennenden Land war hier nichts zu sehen, doch es gab ja auch keine Stadt mehr, die hätte brennen können. Wenn man genau hinsah, erkannte man zerbrochene Menschenknochen, die zwischen den zerschlagenen Steinen ebenso wie diese in die Erde getrampelt waren. Dadurch war ein gräuliches Mosaik entstanden, das auf der gewaltigen Fläche wie ein einziger, grauer Boden aussah. Wie gebannt standen alle fünf m’Cendos da und malten sich schockiert das Unheil aus, das vor vielen Jahrzehnten sprichwörtlich niederschmetternd über dieses trostlose Land gekommen war. Cinzia riss sie alle aus ihrer Trance
»Dort!« rief sie und die anderem folgten ihrem ausgestreckten Arm. Ganz am Rande der Sichtweite, kurz vor dem Meer, waren die Umrisse einer nicht vollends zerstörten Stadt zu erkennen, deren Ruinen trotz der Verwitterung noch imposant aus dem niedergetrampelten Schutt aufragte. Dara gab ihrem Schimmel einen leichten Tritt in die Flanken und trabte langsam wieder los.
»Ich denke, dass ist unser Ziel. Wir sollten keine Zeit verlieren.« Bald schon flogen sie wieder über das zerstörte Land dahin. Ab und an blitzte zwischen dem Schutt ein halb verrostetes Schwert auf und an manchen Stellen war wesentlich mehr Gestein zu erkennen, was zur Annahme führte, dass hier einst eine Stadt der Saeven gestanden haben musste. Als sie schon ein Drittel der nicht enden wollenden Fläche überwunden hatten, schloss Carolin, mit Manus vor ihr auf dem Pferd sitzend zu Dara auf.
»Was meinst du, warum die Mistviecher gerade die Hauptstadt nicht völlig zerstört haben? Eigentlich sollte ihr Hass sich doch gerade auf diese konzentrieren, oder?« Die Anführerin runzelte die Stirn. Auch sie hatte sich schon dieselbe Frage gestellt. »Ich weiß es nicht genau, aber ich vermute, dass wir die Antwort erst in der Stadt finden werden.«
»Aber du vermutest etwas.« erwiderte Carolin, während sie Dara mit einem ahnungsvollen Blick musterte. »Ich bin mir nicht sicher« meinte diese nach einer kurzen Pause. »Aber es kommt mir unwahrscheinlich vor, dass diese Wesen so etwas wie Hass empfinden. Es ist wahrscheinlicher, dass die Stamlocks sofort abgezogen sind, nachdem es nichts mehr abzumetzeln gab. Der einzige Lebenszweck dieser Wesen ist meiner Meinung nach, sich im Blut ihrer gefallenen Gegner zu suhlen. Gerade deswegen wundert es mich eigentlich, dass sie sich mit den Komolai verbündet haben. Eigentlich sollte es ihnen genauso viel Spaß machen, diese zu vernichten wie uns.«
Carolin nickte langsam und schweigend, offensichtlich war sie zufrieden mit der Antwort. Ihre Haare wehten in der hohen Ritt-Geschwindigkeit nach hinten, und Dara konnte die moosgrüne Palx inmitten der rötlichen Haarpracht gut erkennen. Sie wusste, dass Carolin trotz ihres jungen Alters und dem nicht gerade umwerfenden Aussehen, also maximal exotischer Schönheit, einen Mann und ein Kind – eine Familie hatte, die daheim auf sie warteten. Dieses Glück war ihr selbst bislang verwehrt geblieben, noch hatte sie den Richtigen nicht gefunden. Die Anführerin richtete ihren Blick wieder nach vorne, auf die halb zerstörte Stadt zu. Auch aus der hohen Entfernung schien sie gewaltig, es musste einmal eine schier uneinnehmbare Festung gewesen sein. Nun ja, eine fast uneinnehmbare Festung. Mit blanker, massiger Gewalt war es den Stamlocks einst gelungen, die Mauern niederzureißen und auch die letzten Saeven, die dahinter Schutz gesucht hatten, entweder zu vertreiben oder ohne Gnade in einem wahren Blutrausch abzuschlachten.
Die Nacht war bereits hereingebrochen, als Dara, Daven und ihre Begleiter auf ihren Pferden die Ruinenstadt erreichten. Sie hatten ihr Ziel schnell erreicht, da es auf ihrem Weg nichts gegeben hatte, das es zu umgehen galt. Weit hinter ihnen war inzwischen auch die Gruppe Stamlocks aufgetaucht, die Sami zuvor gesichtet hatte. Auch sie preschten in Richtung der zerstörten, alten Stadt. Sie waren, ebenfalls wie von Sami beschrieben, auf ihren wahrhaft hässlichen Pferden unterwegs. Diese schienen den Rössern der Menschen nicht unähnlich, doch waren sie durch heftige Schläge und zerreißende Peitschenhiebe vom Maul bis zum Schweif entsetzlich entstellt.
Die rauen Winde, die vom Meer her durch die zerfallenen, steinernen Gebäude wehten, erzeugte ein merkwürdiges, pfeifendes und singendes Geräusch. Die Gruppe trabte nun langsam durch die zerstörten Gassen. Ehrfürchtig überschritten sie die fast vollkommen zersetzen Knochen, die überall herum lagen. Carolin, die voran ritt, stockte auf einmal in einer Abzweigung von der Gasse, durch die sie ritten.
»Oh mein Gott!« ächzte sie. Dann ließ sie sich langsam von ihrem Pferd gleiten und nahm es bei den Zügeln. Dara und die anderen schlossen zu ihr auf und allen stockte der Atem. Sie taten es Carolin gleich und stiegen ab, um den grauenvoll zugerichteten Marktplatz der alten Stadt langsam zu Fuß zu betreten, der sich nun vor ihnen öffnete.
Sie waren einst aus dem Norden gekommen, ohne Vorwarnung.
Alles was ihnen in den Weg kam wurde brutal zerschmettert, sowohl Mauern und Gebäude als auch Menschen. Es traf das im Bürgerkrieg befindliche Neva völlig ohne Vorbereitung und die meisten der heutigen Saeven flohen zu den anderen Menschen in den Süden.
Die andere Partei jedoch hatte es sich schnell zum Ziel gemacht, ihr Land bis zum letzten Mann zu verteidigen. Sie waren wesentlich höher entwickelt als die Stamlocks, die keine Katapulte und nicht einmal Fernwaffen besaßen. Mit den bloßen Händen, ihren schäbigen Waffen und teils Steine werfend metzelten sie sich durch das Land auf die stolze Hauptstadt zu und hinterließen dabei lediglich Schutt und Asche. Das Menschenvolk wehrte sich buchstäblich mit Händen und Füßen, dennoch hatten sie der puren Anzahl an dunklen Wesen kaum etwas entgegen zu setzen.
Nach einiger Zeit hatten sich die übrigen Saeven Alt-Nevas allesamt in die belagerte Hauptstadt zurückgezogen. Sie war prall gefüllt mit Familien – Kriegern, Alten, Frauen und Kindern, außerdem gaben von hier aus noch der Herrscher mit seinem Weißenrat und den Generälen die Befehle für die Soldaten, welche die Stadt von den Mauern aus verteidigten.
Als die Stamlocks jedoch die erste Mauer eingerissen hatten, tat der Herrscher etwas, das ihm die heutigen Saeven noch immer sehr übel nahmen. Er zog seinen Rat, die Generäle und die stärksten Krieger zusammen, ließ sie aus dem Volk die schönsten Frauen und die kräftigsten Jünglinge heraussuchen und schickte alle auf die letzten drei Schiffe, die hinter der Hauptstadt ankerten. Dann flüchtete er mit dieser kleinen Flotte nach Ona und gründete aus diesen "perfekten" Überlebenden die Erleuchteten.
Alle anderen Bürger des Volkes, die immer zu ihm gehalten hatten – die Kinder, die Alten, die weniger Starken und die meisten Frauen – ließ er ohne mit der Wimper zu zucken als schreiende und weinende Menge einfach in der fallenden Stadt zurück und übergab sie ihrem grauenvollen Schicksal.
Als die Stamlocks auch die innerste Mauer niedergerissen hatten, fielen sie nicht wie bei den vorherigen Städten scheinbar unkontrol-liert und im Blutrausch in die Stadt ein. Nein, an dieser letzten Stadt wollten sie ein Exempel für alle anderen Menschenvölker statuieren. Sie trieben die wimmernde Menge auf dem riesigen Marktplatz zusammen, Gegenwehr wurde nicht geduldet und mit dem Tod bestraft. Als sie die Saeven vollends auf dem großen Platz umzingelt hatten, begannen sie.
Sie zogen wahllos Leute aus der Menge, hunderte, sowohl Krieger als auch Frauen und Kinder, sogar Säuglinge, die sie den kreischen Müttern wild entschlossen entrissen. Dann wurden diese erhängt, allesamt und vor den Augen ihrer Familien. Von allen Dächern wurden sie mit dicken Seilen um den Hals gestoßen.
Bald waren alle Gebäudeseiten, die in Richtung Marktplatz zeigten bedeckt mit den Erhängten. Den meisten, vor allem den Babys und Kindern war sofort mit einem widerwärtigen Knacken der Hals ge-brochen, andere lebten noch eine kurze Zeit, wobei ihnen bis zum Ersticken die Augen immer weiter herausquollen.
Die übrigen Saeven auf dem Marktplatz reagierten auf die Szenerie unterschiedlich, einige waren wie erstarrt und blickten fassungslos auf die Leichenbedeckten Fassaden. Andere, vor allem die Frauen, schrien und weinten, beteten und flehten um ihr Leben und einige wenige entrissen den verbliebenen, erschütterten Soldaten ihre Schwerter und bereiteten sich selbst einen schnellen Tod.
Eine ganze Woche lang hielten die Stamlocks ihre Gefangenen in der Mitte des Marktplatzes fest, umgeben von ihren eigenen Toten und ohne Zugang zu Nahrung und Wasser. Die dunklen Wesen nährten und sonnten sich in ihrer Angst und jeden Tag starben mehr Menschen, da sie verdursteten, bei der Flucht erschlagen wurden oder mit einem Schwert Selbstmord verübten.
Erst nach Ablauf der Woche bereiteten die Stamlocks dem ganzen Leiden ein Ende und mähten die abgemagerte, wimmernde Menge ohne Gnade nieder. Würde je wieder jemand in diese Stadt kommen, so würde er wissen, welch ein schreckliches Schicksal ihm blühte. Nachdem nun kein einziger Saeven mehr in Alt-Neva lebte, widmeten die Stamlocks den Menschen im Süden ihre volle Aufmerksamkeit und kehrten dem Land, das sie nahezu vollends zerstört hatten eiskalt den Rücken zu. Ihr Blutdurst war zwar etwas besänftigt worden, doch gestillt war er noch lange nicht.
Viele Jahrzehnte später betraten nun die fünf m’Cendos mit ihren Rybas auf den Schultern und den Pferden, die sie am Halfter führten den Marktplatz, der einst Schauplatz des grausigen Geschehens gewesen war.
Die Nacht war inzwischen stockfinster über die Stadt hereingebro-chen, was den Gefährten dank der Fähigkeiten ihrer Augen, im Dunkeln zu sehen allerdings keine Probleme bereitete. Nun standen sie einfach nur da und starrten auf das bizarre Schauspiel, das sich ihnen bot. Alle Gebäude im Umkreis waren vom Angriff der Stamlocks unberührt, lediglich das Rad der Zeit hatte die Mauern spröde werden und mit dunklen Pflanzen bewachsen lassen. Überall hingen vermoderte Seile herab, an denen teils noch die Reste von Gerippen im Wind pendelten. Unter den freien Seilen hatten sich Haufen aus verwesten Knochen gebildet und Dara konnte darunter auch kleinere Häufchen mit wesentlich kleineren Gebeinen ausmachen – Kinderknochen.
Diese verdammten Bestien, dachte sie und in den Augen ihrer Freunde konnte sie ähnliche Gedanken lesen. Ihr Blick viel auf den rot-braunstichigen, ebenfalls bewachsenen Marktplatz selbst und bei näherem Betrachten erkannte sie auch hier viele, einzelne Knochen. Arme, Körper, Köpfe und Gebeine lagen überall verteilt, die Stamlocks hatten sie damals buchstäblich auseinander genommen.
Mit einem Kopfschütteln riss Dara den Blick vom Marktplatz ab und weckte praktisch ihre Freunde aus dem verständnislosen Staunen, da diese die Szenerie einfach nur mit offenem Mund in sich aufnahmen und verdauten.
»Auf geht’s, wir haben einen Auftrag und das Schloss liegt genau vor uns.« Die Anderen sahen auf und folgten Daras Blick schweigend. Auch sie erkannten den ehemaligen Regierungssitz der Saeven. Groß und mächtig, wenn auch herunter gekommen und mit Erhängten überseht, bedeckte er die gesamte Ostseite des Marktplatzes. Über dem imposanten, von Säulen gestützten Eingangstor war in einer bräunlichen, vertrockneten und nur noch halbwegs sichtbaren Farbe – offensichtlich Menschenblut – in großen Lettern geschrieben:
Das war Anfang. Am Ende alle Menschen bedeckt von Blut!
Dara vernahm hinter sich leise Samis verächtliches Lachen und sie konnte sich gut vorstellen, wie er darauf gierte, an den Stamlocks Rache für die ganzen ermordeten Saeven zu nehmen.
Schnell und koordiniert betraten sie das alte Schloss, dessen Hallen nichts mehr von ihrem alten Glanz übrig hatten. Sie waren von den dunklen Wesen geplündert worden, von Moosen und Flechten, sowie Spinnennetzen überzogen und stanken modrig wie die Pest.
Todd blieb am Eingang zurück, um die anderen im Falle eines frühzeitigen Eintreffens der von Wut beflügelten Stamlocks zu warnen.
Geführt von Dara wandte sich der Rest in einen Gang zur rechten, nur um gleich darauf wieder einen Raum an der linken Seite zu betreten. Und so ging es weiter. Ohne zu zögern rannten sie kreuz und quer durch das ganze Schloss, doch was für einen Außenstehenden wie ein planloses Umherirren aussehen musste, war in Wirklichkeit der einzige Weg zum wohl abgelegensten Raum im ganzen Schloss.
Die m’Cendos hatten ihn sich vor der Abreise und auch während den Rasten immer wieder angeschaut und eingeprägt, so dass sie ihn nun auswendig durchlaufen konnten. Daras Onkel Jahomiah, das Oberhaupt der m’Cendo- Familie hatte ihnen den Plan des Gebäudes mit dem eingezeichneten Weg übergeben, als er ihnen ihre Mission mitteilte.
Glücklicherweise hatten die Stamlocks das Schloss nur geplündert und nicht zerstört, wodurch kein Umweg aufgrund eines eingestürzten Ganges nötig war. Nach kurzer Zeit waren sie fast an ihrem Ziel angelangt. Gerade durchliefen sie einen einst prunkvollen Raum mit bunt gefliestem Boden und vergoldeten Wänden und bogen von ihm aus in eine unscheinbare Tür ein.
»Jetzt nur noch…« Dara stockte und blickte verdutzt von ihrem Plan zur kleinen, freien Wand der Lagerkammer, in der sie sich befanden auf. Die blutrünstigen Biester hatten wohl damals kein Interesse an der Nahrung der Menschen gehabt, da noch immer Töpfe und Gefäße mit längst verwesten Speisen in den schäbigen Regalen standen. Und genau an der einzigen, freien Wand des Raumes, die mit Marmorplatten vertäfelt war, hätte laut Jahomiahs Plan eine Tür zum letzten Raum sein müssen, in dem sich wiederum der geheime Durchgang zur gesuchten Kammer befand.
Cinzia warf Dara einen fragenden Blick zu, doch sie konnte nicht mehr tun als diesen mit einem Schulterzucken zu erwidern.
»Nun ja« schloss sie daraufhin »wir müssen definitiv an die andere Seite dieser Wand.« Nach einer kurzen, kreativen Pause, in der alle sie nur weiterhin fragend musterten und Sami sogar den Raum ver-ließ fuhr sie fort.
»Also, wer würde freiwillig gegen die Mauer, ähm… rennen? Irgendwie muss man den Weg ja freilegen. Nein? Daven du vielleicht?«
Ihr treuer und eitler, reptilartiger Begleiter starrte sie nur vollkom-men verständnislos an, ähnlich wie die anderen m’Cendos, als wollte er sagen »Sonst geht’s dir aber noch ganz gut, oder? Ich renn ganz bestimmt gegen eine Marmorwand!«
»Na gut« seufzte Dara »dann werde ich es wohl tun müssen! Macht mal Platz hier!« Die anderen räumten gehorsam den Weg frei und die Anführerin machte sich tief ein- und ausatmend zum Sprung gegen die Wand bereit. Carolin schüttelte langsam den Kopf.
»Es muss doch noch einen anderen…« Da hechtete sie vorwärts und erreichte auf der kurzen Strecke ein enormes Tempo. Kurz vor dem Aufprall, sie bereitete sich schon innerlich auf ihn vor, ertönte plötz-lich Samis Stimme – scheinbar von der anderen Seite der Wand »Hey Freunde, kommt mal raus! Ich hab was…« Wamm.
Mit einem lauten Klatschen prallte Dara gegen die Wand. Die offen-sichtlich dünnen Marmorplatten gaben sofort nach und sie fiel mit einem schmerzhaften Schrei und in einer Woge aus Steinen und Staub im gegenüberliegenden Raum flach auf den Fußboden, unmittelbar neben Samis Füßen, der entgeistert zu ihr herab starrte.
Daven, der noch immer in der Vorratskammer saß, brüllte kurz auf, da er die exakt selben Schmerzen wie Dara verspürte. Die anderen Rybas sahen ihn ebenso bedauernswert an wie ihre Herren die am Boden liegende Dara.
Langsam erhob sie sich und rieb sich mit verzogenem Gesicht die Schulter.
»Autsch.« Zuerst sah sie durch das frisch entstandene Loch im Ge-stein zurück auf ihre Begleiter, die sich nicht rührten, dann zu Sami, der neben ihr vor einer geöffneten Türe stand und sie verdutzt beobachtete.
»Wie bist du denn…« Sie hielt sich weiterhin die Schulter, welche die volle Wucht des Aufpralls zu spüren bekommen hatte, aber der Schmerz ließ bereits nach. Wie alle m’Cendos konnte sie sehr viele Leiden nahezu problemlos wegstecken.
»Durch die Tür« erwiderte Sami grinsend »Ich wollte euch den Durchgang gerade zeigen als du wie eine Irre durch die Wand ge-sprungen bist. Direkt neben dem Lagerraum lag ein weiterer, und dieser hatte die eingezeichnete Tür in der Wand. Ihr wart einfach nur im falschen Raum, die Karte deines Onkels scheint nicht die aktuellste zu sein.« beendete er zwinkernd seinen Satz, während seine Hand auf den Durchgang hinter ihm wies.
»Aber deine Variante hat mir auch gefallen. Man sieht seine Chefin nicht alle Tage durch eine Marmorwand vor die eigenen Füße kra-chen.« Diese murmelte zunächst pflichtschuldig »Ich habe etwas zu überstürzt gehandelt« doch dann hob sie die Stimme und rief über den sich legenden Staub hinweg.
»Los jetzt. Wir stehen kurz vor unserem Ziel! An die Arbeit!« Teils grinsend kamen Carolin und Cinzia mit den Rybas durch das Loch in der Mauer und widmeten sich wieder ihrer Arbeit.
Nachdem Dara von der südlicher Wand aus eine komplizierte Schrittfolge abgelaufen war – drei Schritte vor, vier rechts, zwei rechts, sechs links und so weiter, die unten auf die Karte des Schlosses gekritzelt war, hebelten die vier m‘Cendos die schwere Bodenplatte heraus, auf der die Anführerin am Schluss stehen geblieben war. Unter Ächzen stemmten sie die riesige Fliese hoch und Sami witzelte »Warum springen wir denn nicht einfach mit dem Kopf voran hindurch?« Dara ahnte schon, dass sie sich die Geschichte über ihre sinnlose Aktion noch lange würde anhören müssen.
Zunächst tat sich nur ein schwarzes Loch im Boden auf, nachdem die Platte zur Seite gewuchtet war. Fackeln benötigten sie keine, die Krieger hatten ja ihre besonderen Augen.
In etwa anderthalb Fuß Tiefe stoppte der freie Fall und ging in eine Treppe über, die mit einem leichten Gefälle weit hinunter verlief. Dara runzelte die Stirn. Von hier an waren sie auf sich gestellt, ir-gendwo da unten befand sich das Ziel ihrer langen Reise.
Doch von dem Gang hatte die junge Anführerin nichts gewusst. Sie konnte sich gut vorstellen, dass er mit Fallen praktisch zugepflastert war.
»Okay, ihr zwei geht da runter und sucht das Buch« Sie wies die beiden Zwillinge an, in den Gang zu steigen. »Wir warten hier oben. Ruft, wenn ihr Hilfe braucht. Und rechnet immer und überall mit Fallen.«
Ohne zu zögern ließen sich die beiden Schwestern herab, Manus und Katan dicht neben ihnen. Schnell aber auch vorsichtig stiegen sie die Stufen hinunter und Dara sah ihnen hinterher, bis die rötlich-grünen Haarschöpfe im Schwarz verschwanden.
Todd saß wachsam und ruhig im Eingang des Schlosses, die Pferde lagen ruhig hinter ihm in einer Ecke der gewaltigen Eingangshalle und schliefen.
Vor einer Weile hatte er ein lautes Poltern durch die leeren Säle hallen hören, doch Dara hielt die Lage sicherlich im Griff.
Die Zeit nutze er zur Meditation, um seinen Geist frei zu machen und sich auf den nahenden Kampf mit den Stamlocks vorzubereiten.
Sie konnten nicht mehr allzu weit von der Stadt und dem Marktplatz entfernt sein, von ihrem Blutdurst getrieben kamen sie schnell voran. Todd öffnete die Augen und betrachtete den Blutgetränkten und von Knochen übersäten Platz. Was für ein grausames Gemetzel musste hier einst stattgefunden haben? Was machte diese Wesen zu derart brutalen und herzlosen Bestien?
Ein leises knarzen ließ seinen Kopf nach oben schnellen. Direkt über ihm pendelte ein Erhängter sachte im Wind. Es musste ein Soldat gewesen sein, denn lediglich die verrostete Rüstung, die das Ge-räusch verursacht hatte, hielt seine Knochen noch in der Luft, da sie sich im Seil verklemmt hatte.
Die Seile. Warum hielten sie eigentlich seit so vielen Jahrzehnten Wind und Wetter stand, ohne zu verfaulen? Lediglich ihre Farbe, die einst ein dunkles Braun gewesen sein musste war geblichen und stellenweise hatte sich eine dünne Schicht schwarzen Schimmels darüber gelegt.
Todd stand auf, auch Narma erhob sich und reckte ihre Glieder. Das Material dieser Seile interessierte ihn, kaum etwas außer Stein konnte so lange allen Elementen nahezu unbeschadet trotzen.
Kurzentschlossen näherte sich Todd dem nächsten Gebäude und bestieg ohne weiteres dessen Dach. Für einen sportlichen Riesen wie ihn, der einen Saeven um gut zwei Köpfe überragte war es kein Problem, sich an den Fenstern des zweistöckigen Hauses hinauf zu ziehen. Oben angekommen näherte er sich den fünf Seilen, die an steinernen Säulen befestigt waren.
Am zweiten war keine Leiche mehr befestigt und Todd bückte sich, um den Strick hinauf zu ziehen. Kurz bevor er seine Faust um ihn legen wollte, kreischte Narma hinter ihm auf einmal alarmierend auf. Es war ein leises, hohes und zischendes Geräusch, das die kleine Ryba ausstieß.
Todd schreckte hoch. Waren die Stamlocks etwa schon angekom-men? Nein, das kleine Wesen mit der dunkelblauen Palx hatte nicht den Feind gewittert, die Gefahr ging von dem Seil aus.
Gewarnt neigte sich Todd zu dem Seil herab und sog vorsichtig des-sen Geruch ein.
Wieder schrak er hoch, diesmal mit Verwunderung im Blick.
»Danke dir.« meinte er an Narma gewandt und tätschelte sanft ihren Kopf. Das kleine Wesen drückte stolz den Kopf in die Kuhle in Todds Hand, sie konnte nie genug vom tätscheln kriegen.
Todd kannte den säuerlichen und Minze-artigen Geruch, als Cendo-Mönch war er in die Alchemie der Pflanzenheilung eingeweiht wor-den. Dieses Seil bestand aus getrockneten Fasern des gemeinen Salomonkrautes, das einem bei Berührung durch seine Säure schwere Verbrennungen zufügte. Auch in den Wäldern der m’Cendo kam dieses Kraut vereinzelt vor. Ihr dicker Saft, in festen Handschuhen gepresst und auf offenem Feuer abgekocht war jedoch ein perfektes Heilmittel gegen Fieber und die Cendo-Mönche griffen des Öfteren darauf zurück.
Dass es jedoch auch nach Jahrzehnten noch als haltbares Seil diente und scheinbar immer noch die ätzende Wirkung hatte, war etwas völlig neues für Todd.
Nun zog er sich die Ärmel bis über die Hände und packte dann das Seil, bevor er leichtfüßig vom Dach wieder herunter sprang. Dann suchte er sein Pferd auf und verstaute den Salomonkraut-Strick in einem dicken Lederbeutel. Bevor er wieder zu seinem Wachposten im Eingang des Schlosses zurück kehrte, kramte er noch sein Notiz-buch hervor und schrieb seine neueste Entdeckung nieder.
Schon bald würde diese Eigenschaft der Pflanze im großen m’Cendo- Codex für die Eigenschaften des Waldes stehen, das seit jeher unvollendet im großen Kloster der Cendo-Mönche auslag.
Als Todd wieder meditierend da saß, dachte er darüber nach, wie die Stamlocks auf das Salomonkraut gekommen und ob sie gegen dessen Säure immun waren. Er würde es sicherlich schon bald herausfinden.
Carolin und ihre wenige Minuten jüngere Schwester eilten durch den dunklen Gang, der eine gefühlte Ewigkeit die Treppen hinab führte. Sie waren wachsam und auf Fallen vorbereitet, doch bisher waren merkwürdiger Weise keine aufgetaucht.
Keine Fallbeile, Löcher im Boden oder Pfeilmechanismen an den Wänden. Es war alles andere als beruhigend, dass die Saeven etwas so wertvolles zwar gut versteckt aber dennoch unbeschützt ließen.
Es wurde nicht heller und sie sahen ihn nicht im Voraus, stattdessen standen sie auf einmal inmitten eines kreisrunden Raumes. Verwundert blieben sie stehen und musterten ihre neue Umgebung. Es war wie eine große Halle. Ohne jegliche Ecken und Kanten war sie Kuppelförmig direkt in den Stein gehauen worden.
Cinzia hielt den Kopf im Nacken und betrachtete staunend die per-fekt geglättete Decke, die überseht von merkwürdigen Schriftzeichen war. An der ihnen gegenüberliegenden Seite klaffte ein Loch im Gestein, das dem ihren Durchgang glich wie ein Ei dem anderen. Das einzige, was die perfekte Geometrie der Höhle störte, war eine steinerne Säule, die – ebenfalls aus dem Fels geschlagen – vom Boden bis zur Decke der von den Zwillingen aus linken Seite ragte. Inmitten der Säule war eine Aushöhlung mit einer Art Altar darin eingelassen. Vorsichtig bewegten sich die zwei m’Cendos zu ihm und betrachteten seinen Inhalt.
Die ganze Säule war ebenfalls mit den Schriftzeichen bedeckt, doch der Altar war frei davon und dafür mit goldenen, menschlichen Buchstaben überzogen. Fasziniert von der Schönheit und dem Schwung der Zeichen, widmeten sich die Zwillinge zunächst dem Text, bevor sie in den verstaubten Altar selbst blickten.
Anscheinend war es ein Text, der sich immer wieder wiederholte. Als Carolin den Anfang gefunden hatte, begann sie laut zu lesen, und ihre Worte hallten leise von allen Seiten wieder.
»Erwecket die Bestie; Erwecket den Tod; Einer wird nie mehr sein; Frieden und Leben an seiner statt; Dem Anderen gebühret Kaahl Destaya; Obsiegen möge der Wackerste; Der Beherzteste; Der Ehrbarste; Das Buch soll ihn führen; Doch ist sein Geist nicht rein; Niemand wird mehr sein; Die Grube des Todes weit geöffnet; Der Sieger gleich gestellt mit dem Herzlosen; Kaahl Destaya gleichgestellt mit der Hölle; Laufe, Krieger; Die Chance ist erweckt; Der Tod ist erweckt; Die Bestie ist erweckt; Laufe und entscheide, wer obsieget!«
Die Zwillinge schwiegen und dachten kurz über den Text nach, Cinzia notierte ihn schnell in ein kleines Buch. Dann verschoben sie die Gedanken, sie hatte eine Aufgabe zu erledigen.
Als wäre es ein Ritual griff Carolin langsam mit beiden Händen auf den dick mit Staub bedeckten Boden des Altars, bis sie ihre Arme tief in der Säule stecken hatte. Dann fand sie endlich etwas zum greifen und kurz darauf kam das Buch in ihren Händen zum Vorschein.
Es war nicht sonderlich groß, zusammengeklappt hatte es etwa die Ausmaße zweier einer größeren Männerhand. Dick war es schon, etwa wie ein Unterarm und es wog schwer in Carolins Händen. Ge-naueres kam erst zum Vorschein, als sie die Staubschicht hinfort pustete.
Ein schwarzer Ledereinband war darauf hin zu erkennen, der die Zeit in der trockenen Luft des Raumes nahezu unbeschadet überstanden hatte. Auf ihm prangte ein einzelnes, großes und goldenes Zeichen, eine Hieroglyphe, die denen an der Kuppeldecke glich. Im Grunde war es ein “T“, von dessen Seiten viele kleine Blätter heraus wuchsen, nur dass eben alles künstlerisch verschnörkelt worden war.
Jedoch auch etwas anderes auf dem Buch fiel den Zwillingen sofort auf. Eine Kette lag dort lose, ein wundervoller hexagonaler Diamant, ein fantastisches Werk einer Edelschmiede, der an einem einfachen Lederband befestigt worden war.
Der Stein war in etwa Fingernagelgroß und strahlte trotz der bedrängenden Dunkelheit einen fantastischen Glanz ab. Ohne weiter darüber nachzudenken, was ein solches Kunstwerk an einem Ort wie diesem verloren hatte, reichte Carolin die Kette an Cinzia weiter, die sie in eine ihrer Taschen gleiten ließ.
Dann klappte sie das alte Buch auf.
Kurz betrachtete sie die Seite, sie hatte die Zeit weniger gut über-standen, war spröde, gelblich und die verschnörkelten Zeichen dar-auf, die die Zwillinge sowieso nicht lesen konnten waren fast bis zur Unkenntlichkeit geblichen.
Vorsichtig wurde das Buch wieder geschlossen. Carolin wollte es schonen, damit sie Jahomiah auch ein vollständiges Buch aushändi-gen könnten. Dann machten sie sich wieder auf den Rückweg zu Dara und Sami.
Die beiden saßen neben der heraus gehebelten Fliese, lauschten immer wieder in Richtung Ausgang, ob die Stamlocks eingetroffen waren und in den Tunnel hinein, die Zwillinge waren jetzt schon viel zu lange da unten.
Dara klärte ihren jungen Freund noch ein wenig über die Stärken und Schwächen der Stamlocks für den bevorstehenden Kampf auf.
Die Krieger der dunklen Wesen trugen schwarze Rüstungen aus Teilen von Metall und Leder, die sie aus den Panzerungen der getöteten Menschen kreiert hatten. Auf ihren hässlichen, gelblichen und zerfurchten Köpfen saßen allerlei Helme, ebenfalls von Menschen, die teils viel zu groß oder auch zu klein für die kleinen, fetten Stamlocks waren.
Da sie so nur sehr langsam voran kamen, waren sie oft auf ihren Pferden unterwegs und trugen grob geschnitzte Nagelkeulen und menschliche Äxte und Schwerter, die meist ungepflegt und rostig waren.
Kamen sie gar nicht mehr weiter, machten sie sich die Umgebung zu Nutze, sie warfen mit Steinen oder schlugen mit Hölzern um sich. Ihrer schwächlichen Statur und dem planlosen Verhalten kam eine Ausdauer und Kampfeslust entgegen, die ihres gleichen suchte. Sie kamen in Überzahl angeströmt und schlugen alles kurz und klein, was ich ihnen in den Weg stellte.
Dara riet Sami, mit seinen Wurfnadeln auf die ungeschützten Unte-rarme und Waden der Wesen zu zielen, im Nahkampf mit dem Schwer war ein gezielter Schlag in Richtung Kopf am effektivsten. Sollten es die Biester je schaffen, ihn zu entwaffnen, lautete die Devise, einen der Angreifer mit einem gezielten Tritt ebenfalls die Waffe zu entreißen und sich diese dann zu Nutze zu machen.
Natürlich war auch noch der oder die Ryba da, in Samis Fall Amica, welche die Stamlocks hinter ihm ansprang und ihnen in die unge-schützten Körperteile biss.
Wie Daras Erfahrungen bisher gezeigt hatten, konnte sich ein m’Cendo-Krieger problemlos mit mindestens fünf Kriegern der dunklen Wesen auf einmal duellieren, guten Kämpfern wie Sami, die im Training alle anderen in die Tasche steckten waren auch der doppelten Menge gewachsen.
Mitten im Satz wurde Dara jäh von einem tiefen Grollen, das den Boden erzittern ließ unterbrochen, es schien aus dem Gang zu kom-men. Erschrocken fuhren die beiden hoch.
Die Zwillinge hatten den halben Gang bereits zügig zurück gelegt, als das Grollen von hinten kam. Es klang fast wie ein tiefer, unmenschli-cher Schrei. Nein, mehr ein Brüllen, das fatale Auswirkungen hatte. Der ganze Gang bebte und Steine lösten sich aus Wand und Decke. Carolin stürzte, fing sich aber und war sofort wieder auf den Beinen. Genauso plötzlich, wie das laute Beben gekommen war, hatte es auch schon wieder aufgehört.
Die Schwestern blickten sich verdutzt an, bis nach wenigen Augenblicken weitere, viel kleinere Beben folgten. Es schien, als würde die Erde nun in kurzen, gleichmäßigen Abständen erzittern und ihre Kraft nahm von Beben zu Beben zu.
»Schritte!« schrie Carolin »Das sind Schritte!«
»Was?«
»Die Bestie! Wir haben sie erweckt!«
»Aha, und jetzt?«
»Tun wir, was weiter im Text stand: Laufet, Krieger!« Damit löste sie sich aus ihrer Starre und sprintete den dunklen Gang entlang zurück zum Schloss.
Verfolgt von den immer dröhnenderen Beben hechtete Carolin aus dem Loch im Boden, dicht gefolgt von ihrer Schwester und den Ry-bas.
Dara starrte sie mit einer Mischung aus Verwunderung und Schock in den Gesichtszügen an.
»Was zur Hölle habt ihr denn da unten so lange gemacht?«
»Deckel zu und Lauf! Was auch immer da unten ist, ich möchte es nicht kennenlernen!«
»Aber was…«
»Später! Wir haben das Buch, das sollte fürs Erste reichen« Zu viert setzten sie unter Ächzen die schwere Fliese wieder in das Loch im Boden und rannten dann wortlos zurück zum Eingang des Schlosses. Unterwegs stellten sie mit Verwunderung fest, dass die bebenden Schritte verebbt waren.
Entweder das, was sie verursachte, hatte die Verfolgung aufgegeben – oder es war bei der Fliese angekommen.
In welchem Fall auch immer, die vier m’Cendos drängte es so schnell wie möglich weg von diesem Ort.
Gerade wollten sie den letzten Durchgang in die große Eingangshalle nehmen, da wären sie beinahe mit Todd zusammengestoßen.
Verdutzt blieb dieser stehen.
»Na, dass nenn ich mal Timing. Fündig geworden?« Mit einem triumphierenden Lächeln hielt Carolin ihm das Buch vor die Nase. »Gut, dann bring es zu den Pferden und verstau es sicher. Gleich wirst du beide Hände brauchen, denn unsere Freunde sind angekommen…«
Ihre Opfer waren noch hier, das rochen sie.
Die Gruppe von Stamlocks war ohne an Tempo zu verlieren direkt in die Stadt geritten und hielt nun in einer Kreisformation im Zentrum des Marktplatzes.
Ihr Anführer stand in ihrer Mitte und brüllte Befehle, als einziger war er in eine völlig Metallern glänzende Rüstung gehüllt.
In einer Art Mischung aus grimmigem und stolzem Lächeln begutachteten sie das Werk ihrer Vorfahren, das auch sie bisher nur aus Legenden gekannt hatten. Sie hatten den Menschen gezeigt, wem dieser Inselteil gehörte.
Und nun würden sie die Bestrafung an den Frevlern fortführen, die es gewagt hatten, ihr Land zu betreten.
»Sie haben sich irgendwo verkrochen! Sucht sie! Und bringt sie her, lebend. Sie sollen um ihr jämmerliches Leben winseln, bevor sie ihren Ahnen folgen!« Cinzia übersetzte leise die grunzende Sprache des Stamlock-Anführers für die anderen. Sie hatte diese primitive Mundart einst ausgiebig studiert, bei der sich fast jedes Wort entweder gleich oder nach einem Schimpfwort anhörte – was Zweifellos daran lag, dass die Wesen für gewöhnlich nur sprachen, um Befehle zu erteilen.
Die Fünf m’Cendos hatten sich mit ihren kampfbereiten Rybas links und rechts neben den Eingangstoren im Inneren des Schlosses ver-schanzt. Eine durchschaubare und einfache Taktik, doch für lediglich vierunddreißig Stamlocks würde das reichen.
Es dauerte nicht lange, bis eine kleine Gruppe von sieben dunklen Wesen herein stürmte. Planlos rannten sie in das Schloss hinein, einfach vorbei an den lauernden m’Cendos. Dara hätte sich am liebsten die Hand vor die Augen geschlagen. Wie verplant und dumm konnte man eigentlich sein? Doch sie wiederstand dem Drang, mit den giftgetränkten Metallstiften in ihrer Hand wäre das weniger gut gekommen.
In der Mitte des Saales blieben die Stamlocks kurz stehen, um sich umzusehen. Sie entdeckten die müden Pferde in einer hinteren Ecke, die teilweise den Kopf hoben um die Neuankömmlinge zu betrachten. In der Lust, ein paar tierische Gefährten der Menschen zu töten, wollten die dunklen Wesen auf sie los stürmen – als auf einmal vier von ihnen zusammenklappten, vornüberfielen und auf den Boden klatschten.
Die restlichen Stamlocks blickten sich verdutzt zu den starr da liegenden Kameraden um. Einer bückte sich und zog einen kleinen Gegenstand aus dem ungeschützten Bein. Kurz betrachtete er ihn, dann murmelte er
»m’Cendo«
Das Letzte, was das kleine, hässliche Wesen in seinem Leben zu sehen bekam, als es sich in die Wurfrichtung der Nadel umwandte, war eine kleine Gruppe von Menschen mit farbigen Haaren, die mit zu ihm ausgestreckten Armen hinter dem Eingang kauerte. Außerdem sah er für einen kurzen Augenblick zwei zischende Gegenstände auf sich zukommen, die sich sofort schmerzhaft in seinen Hals und in die linke Wange bohrten.
Er versuchte, eine Warnung zu schreien, doch der Stamlock brachte keinen Ton mehr heraus. Sämtliche Körperteile waren wie gelähmt, wie ein Sack fiel der Stamlock zu Seite.
Dann umringte ihn Dunkelheit.
Bis auf Todd hatten die Krieger sich jeweils zwei Stamlocks ausge-sucht, die sie schnell ausschalteten. Den einen von hinten, den anderen nur wenige Augenblicke später in die Gesichtsgegend.
Allesamt hatten sie ein kleines Bündel der Nadeln in ihrer rechten Hand, sorgsam darauf bedacht, die hochgiftigen Spitzen nicht zu berühren. In einer einzigen Bewegung zogen sie mit der Linken ein Metallstängelchen daraus hervor und schleuderten es, je nach Position in unterschiedlichen Wurfarten auf ihre Gegner.
Dara hatte sich ihres ersten Zieles per gezieltem, vorstoßenden Wurf aus der Schulter heraus entledigt, als zweites war der am Boden kniende Krieger an der Reihe gewesen. Ihn nahm sie sich mit einem Wurf aus der Unterhand vor.
Offenbar hatte Sami den gleichen Gedanken gehabt und sich ihn als zweites Ziel ausgesucht, denn ihre Nadeln kreuzten sich vor dem Gesicht des Stamlocks, kurz bevor sie darin einschlugen.
Bis auf das leise, kurze Gemurmel des einen Stamlocks, das fast geräuschlose Zischen der Nadeln, die die Luft durchschnitten und die gedämpften Klatscher, mit denen die Sterbenden zu Boden gingen war diese erste Attacke zur Zufriedenheit der Gruppe sehr ruhig verlaufen. Die restlichen siebendundzwanzig sollten davon nichts mitbekommen haben.
Sami folgend, der sich wieder lauschend an das Tor heranwagte, versammelten sich die m’Cendos wieder. Es konnte weitergehen.
Die Zerschundenen Pferde standen hinter ihnen, als sich die Stam-locks wieder um ihren Anführer, Gòthba war sein Name, sammelten. Wütend brüllte er auf seine Truppe ein, keiner hatte einen Menschen gesehen und erst recht nicht gefangen genommen, außerdem fehlten sieben seiner Krieger.
Glühend vor Zorn schrie er von der Mitte des Marktplatzes aus, während er sich hoch auf seinem Ross langsam um die eigene Achse drehte.
Ohne an Lautstärke oder Wut zu verlieren, wechselte er auf einmal von seiner primitiven Sprache, in der wahrlich fast jedes Wort auf “-ba“ endete, ins menschliche.
Auch wenn er scheinbar versuchte, mit jedem der Wörter so viel Speichel wie möglich an die Außenwelt abzugeben, konnte man ihn gut verstehen.
»Menschen! Tod euch allen! Bleiben versteckt wir euch finden und langsam töten. Kommen raus und dafür sterben schnell. Ohne Kwal!« In kurzen Abständen wiederholte Gòthba diesen Satz immer wieder mit seiner gellenden, tiefen und grunzenden Stimme, bis er von einer ruhigen Frauenstimme, die aus dem Inneren des Schlosses zu kommen schien, unterbrochen wurde.
»Es heißt “Qual“, mit “Q“.« Dem Satz folgte schallendes Gelächter. Der Stamlock-Anführer antwortete nur mit einem lauten Grunzen, während er seine Truppe per Handzeichen anwies, sich von links, rechts und von vorne dem Schloss zu nähern.
»Kommen raus! Kämpfen wie Mann!« donnerte er, als er mit der größten der nun aufgeteilten Truppenteile vor dem Eingang stand.
Die Stamlocks schwangen in Vorfreude auf den Kampf ihre alten Schwerter, Knüppel und Äxte und johlten, um den Gegnern Angst einzujagen.
Dann verstummten sie.
Ein Mensch war wie aus dem Nichts im Eingang des Schlosses aufge-taucht.
Er war nahezu einen ganzen Schritt größer die dunklen Wesen, hatte geschlossene, schlitzartige Augen. Der Mensch stand einfach nur da, unbewaffnet in seinem langen Gewand. Den kahlen Kopf hatte er konzentriert leicht nach vorne gesenkt, so dass ein blaugraues Mal gut zu erkennen war. Die Hände waren gefaltet und ruhten auf dem bläulichen Gürtel, den der Mensch an der Hüfte trug.
Mit einem Schaudern erkannten die Stamlocks auch das kleine We-sen, das auf seiner Schulter saß und die Ruhe selbst auszustrahlen schien – ein Ryba. Etwa zwanzig Schritte von Todd entfernt stieß Gòthba ein verächtliches
»m‘Cendo« aus.
Weitere zwanzig Schritte hinter dem Anführer auf seinem Pferd schlich sich Dara heran, dicht gefolgt von Sami. Daven und Amica saßen mit in Kampfhaltung angespannten Körpern auf ihren Schultern.
Über die Menge an Stamlocks hinweg erkannten sie Todd und Narma, der ohne eine einzige Bewegung alle dunklen Wesen zum erstarren brachten. Mit heißerer, ja, fast angstvoller Stimme stieß Gòthba ein
»thsba« aus – töten.
Gleichzeitig wandte er sich an die drei schwer bewaffneten Stam-locks, die ihn schützend umgaben, offensichtlich seine Leibgarde. Ein Blick reichte, und die vier Wesen wendeten ihre grässlichen Pferde, um den Rückzug anzutreten. Die Bewegung war nicht vollendet und schon stockten sie wieder.
Sie standen Auge in Auge mit zwei weiteren m’Cendos.
Es kam nicht oft vor, dass die Stamlocks ihren Blutdurst verdrängten, geschweige denn einen direkten Befehl verweigerten, doch in anbetracht des Menschens vor ihnen mit dem Wesen auf der Schulter, das sie über alles fürchteten, verließ sie alle Moral.
Keiner wagte es, sich zu rühren.
Der kleine Trupp, der den linken Flügel des Tores abdeckte, wagte als erstes eine Regung.
Ruhig scannte Todd seine Umgebung ab.
Siebenundzwanzig Stamlocks waren noch übrig geblieben. Jeweils acht zu seiner Linken und Rechten, außerdem elf direkt vor ihm. Bis auf die vier berittenen Krieger, die mit dem Rücken zu ihm standen und Dara anstarrten, waren sie zu Fuß unterwegs.
Dann geschahen mehrere Dinge gleichzeitig.
Von vorne kamen Steine herangeflogen.
Die Truppe zu seiner Rechten stürmte heran.
Und die vier berittenen Stamlocks stürmten aufgeteilt in die andere Richtung, im Versuch an Dara und Sami vorbei zu kommen.
In einer fließenden Bewegung wich Todd allen Steinen gleichzeitig aus, in einem gut durchdachten Sprung flogen mehrere Steine über und unter ihm vorbei, einer landete gekonnt in seiner Hand.
Doch im Gegensatz des Gedankenganges der Stamlocks landete er nicht wieder auf seinen Beinen, um in den offenen Kampf überzugehen, sondern flach und auf allen Vieren auf dem steinernen Boden als wolle er Liegestützen machen.
Alles geplant, die Vorgehensweise der Stamlocks war den m’Cendo schon lange kein geschlossenes Buch mehr.
Während der Cendo-Mönch am Boden lag, angespannt und die dunklen Wesen beobachtend, Narma nach wie vor auf seiner Schulter, schossen dünne Nadeln über ihn hinweg auf die heranstürmende Truppe zu.
Carolin und Cinzia hatten genug Zeit gehabt, um sich abzusprechen. Im dunkeln hinter Todd lauernd waren sie ihren Plan durchgegangen, hatten die giftgetränkten Metallnadeln gezückt und sie nun schnell und präzise auf die nur noch wenige Schritte entfernten Gegner geschleudert.
Immer in Zweierpaaren gingen sie zu Boden, solange, bis nur noch zwei übrig waren. Ungeachtet ihrer gefallenen Gefährten stürmten diese weiter voran und als sie gerade ihre Waffen auf den immer noch am Boden liegenden Todd nieder schmettern wollten, sprangen zwei schattenhafte Wesen aus der Dunkelheit geradewegs auf sie zu, zerkratzten ihnen die schäbigen Gesichter und töteten sie mit raschen Bissen ihrer giftigen Zähne.
Nach ihrer Tat hechteten Manus und Kartan sofort wieder zurück in das dunkle Innere des Schlosses zu ihren Herrinnen. Die ganze Aktion hatte nur wenige Sekunden gedauert.
Todd wollte sich gerade wieder erheben, als ein schriller Pfiff ertönte und ein weißer Blitz von hinten über ihn hinweg ins Freie schoss.
Zur gleichen Zeit, in der die Stamlocks vorne angegriffen hatten, waren Gòthba und seine drei Leibwachen zum Rückzug gestartet.
Fächerförmig galoppierten sie auf Dara und Sami zu, wobei die mittleren beiden als Ablenkung genau auf die beiden m’Cendos zuritten. Der Anführer und der dritte Krieger hatten vor, außen an ihnen vorbei zu kommen.
Dara und ihr junger Begleiter wollten sich darauf einlassen. Sofort waren die Schwerter gezückt, dann sprangen sie nahezu synkron vor den trampelnden Hufen der Pferde zur Seite, rollten sich schnell ab und stießen den Flüchtlingen gekonnt in einer fließenden Bewegung die Klingen unter den Rüstungen hindurch in die Rippen.
Brüllend vor Schmerz stürzten die dunklen Wesen zu Boden.
Noch während die m'Cendos ihre Schwerter wieder aus den Leibern herauzogen, brachten sie mit der freien Hand eine Nadel hervor, und schleuderten sie dem hoch zu Ross hinfortsprintenden Anführer und dem letzten Leibwächter hinterher.
Samis Wurf auf den Krieger saß, die Nadel bohrte sich knapp über dem Schweif des Pferdes tief in das Fleisch und es stürzte panisch wiehernd auf den trostlosen Boden.
Noch ehe sich der fettleibige Stamlock unter dem knochigen Körper des toten Pferdes hervorziehen konnte, war Amica bei ihm und beendete sein Leben mit einem festen Biss in den Unterarm.
Dara hingegen hatte wahrhaft Pech.
Im Training hatte sie noch nie einen Wurf über diese Entfernung verfehlt, doch ihr Ziel war der freie Hals Gòthbas gewesen und durch eine Sprungbewegung seines Pferdes im genau falschen Moment prallte der giftgetränkte Metallstift lediglich an einem Eisernen Teil seiner glänzenden Rüstung ab.
Fluchend tat Dara das einzige, was ihr noch durch den Kopf ging. Sie wusste, dass der Anführer der Stamlocktruppe niemals entkommen durfte. Würde er es schaffen, Verstärkung zu holen und ihnen den Heimweg abzuschneiden, würden sie ihr geliebtes Zuhause nie mehr wieder sehen. Wild entschlossen, den Fliehenden bis zu dessen Tod zu verfolgen, pfiff Dara nach ihrem Schimmel.
Todd, der nun verwundert am Boden liegend dem Pferd hinterher sah, das ihn gerade übersprungen hatte und sich nun einen Weg durch die Menge an Stamlocks bahnte, richtete sich langsam wieder auf.
Während er über die nächsten Schritte nachdachte, spürte er den Stein in seiner Hand, den er zuvor instinktiv aus der Luft gefischt hatte. Um die Gegener anzustacheln warf er ihn ziellos inmitten der versammelten Stamlocks.
Hinter der aufgebracht grunzenden Gruppe vor ihm sah er seine Schwester im vollen Lauf auf ihr Ross springen und Staub aufwirbelnd aus der Stadt galloppieren.
Na gut, dachte er, wir vier gegen einen verängstigten Haufen von fünfzehn Stamlocks.
Sein Kopf ruckte leicht nach oben als er mit einem schiefen Grinsen auf dem linken Mundwinkel in sich hineinlachte. Sie hatten das Buch gefunden und würden diesen Kampf hier ohne einen Verwundeten überstehen. Besser konnte es ja wirklich nicht laufen.
Todd stürmte von vorne heran, Sami von hinten.
Zu zweit kesselten sie die kleine Gruppe ein.
Die dunklen Wesen brachten ihre schäbigen Waffen sichtlich nervös, aber dennoch kampflustig in Position. Der m’Cendo in der Mönchskutte machte ihnen nun weniger Angst, da er unbewaffnet war. Viel eher konzentrierten sie sich auf den Krieger in leichter Rüstung und mit gefährlich aufblitzendem Schwert in der Hand.
Eine kleine, einseitige Schlacht entbrannte.
Die beiden Männer stürzten sich gleichzeitig in den Kampf, Sami streckte sofort den ersten Stamlock nieder, nachdem er dessen Attacke mühelos pariert hatte.
Amica sprang einem weiteren Wesen, das sich von hinten nähern wollte, direkt ins Gesicht.
Todd wich aus, duckte sich, schlug zu. Seine Bewegungen waren flüssig, für ihn verlief das Ganze wie in Trance, das Ergebnis jahrelanger Kampfmeditation.
Er wich einem Seitenhieb aus, entzog mit einem Tritt in das Gesicht einem weiteren Stamlock das Leben, indem er ihm die krumme Nase tief ins Gehirn trieb.
Mit einer Rolle seitwärts entging er dem zerschmetternden Schlag einer Keule, sprang sofort wieder auf und schlug dem rundlichen, hässlichen Wesen die hölzerne Waffe aus den Händen.
Instinktiv zog er den Kopf nach unten und ein altes Schwert sauste sirrend und um Haaresbreite über seine Glatze hinweg. Diese Gefahr hatte er selbst nicht kommen sehen, seine Ryba Narma hingegen schon. Sie hatte ihm den Befehl zum Ducken übermittelt und er war ihm dankend gefolgt.
Blitzschnell drehte er sich um, wobei sein ausgestreckter Fuß sich tief in den Magen des entwaffneten Stamlocks grub, der daraufhin winselnd zu Boden ging.
Nun sah er vor sich auf dem Boden liegend das Wesen, das ihn fast enthauptet hätte. Narma hatte sich seiner bereits angenommen.
Als er wieder aufblicke, zog Sami gerade sein Schwert aus dem letz-ten Gegner.
Sofort wandte er seinen Blick zur zweiten Stamlock-Gruppe an der Seite des Schloss-Einganges, die sich die rotgrünhaarigen Zwillinge vorgenommen hatten. Er begegnete Cinzias Blick, die mit aufgesetz-tem Pokerface Rücken an Rücken mit ihrer Schwester inmitten eines Haufens erbarmungslos niedergestreckter Stamlocks stand.
In der wieder eingetretenen Ruhe dachte Todd an seine kleine Schwester, die wild aus der halb zerstörten Stadt galoppiert war. Nur ihre erfolgreiche Rückkehr fehlte noch zu einem perfekten Sieg.
»Na los, Leute. Treten wir den Heimweg an!« rief er seinen Beglei-tern zu. »Dara wird uns schon wieder einholen.«
Mehrere Pfiffe ertönten und die vier Pferde trabten aus dem Schloss heraus zu ihren Herren.
Wenige Augenblicke später hatten sie die Ruinenstadt hinter sich gelassen, ohne auch nur einen Blick zurück an diesen grausigen Ort zu verlieren. Es warteten neue Aufgaben auf sie und die erste war das Ausliefern des Buches an Jahomiah, ihren Anführer.
In weiter Entfernung konnten die m’Cendos eine Staubwolke ausmachen, welche wohl Dara und Gòthba darstellte, die sich ein wildes Verfolgungsduell lieferten.
Sie folgten ihnen nicht, sondern schlugen wieder den alten Weg in Richtung Wald ein.
Der Stamlock hingegen lenkte sein Pferd geradewegs auf die Haupt-stadt – wenn man sie Stadt nennen konnte – der dunklen Wesen zu.
Dara spornte ihren Schimmel an und holte langsam auf.
Bei dieser Geschwindigkeit war das Werfen einer Giftnadel unmög-lich, sie musste aufholen und ihn im Nahkampf besiegen.
Inzwischen hatte sie fast die Staubwolke erreicht, die hinter dem Stamlock in der Luft schwebte.
Da musste sie durch.
Zwanzig Schritte war sie noch vom Fliehenden entfernt, als sie in den Nebel eintauchte, in dem das Atmen schwer fiel und ihr aufgewirbelte Steinchen hart ins Gesicht schlugen. Pferd und Reiter, beide mit zusammengekniffenen Augen – keiner von beiden scheute sich davor.
Daven kauerte geduckt zwischen Daras Beinen.
Die Hinterläufe des geschundenen Rosses vor ihr kamen immer Näher, bald hätte Dara den Stamlock eingeholt.
»Okay, Mädchen. Nicht überhastet vorgehen«, dachte Sie. »Du musst ihn überlisten bevor er es…« Wamm.
Dara wurde auf dem Pferderücken zurückgeworfen und unterdrückte einen qualvollen Schrei. Ein stechender Schmerz machte sich in ihrer Schulter breit.
Aus dem Nebel war ein eiserner Helm herangeflogen gekommen und hatte sie hart am rechten Oberarm erwischt.
Mit schmerzverzerrtem Gesicht beugte sie sich wieder nach vorne, auf der Lauer nach weiteren, heranfliegenden Gegenständen. Flüchtig untersuchte sie ihren Arm. Sie hatte Glück gehabt, er war nicht gebrochen, sondern lediglich ausgekugelt. Außerdem würde sie einen heftigen blauen Fleck bekommen.
Mit einem widerlichen Geräusch und einer einstudierten Bewegung kugelte sie sich den Arm wieder ein. Daven tat es ihr gleich.
Auch das war eine Kehrseite ihres Bundes, zwar wurde der andere ebenfalls verletzt, wenn dem einen eine Wunde zugefügt wurde, doch mussten die Verletzungen separat behandelt werden.
Nach und nach wich Dara weiteren Rüstungsteilen Gòthbas aus, bis sie endlich aus der Staubwolke galoppierte und sich direkt hinter den Stamlock setzen konnte.
Doch dieser Zustand hielt nur einen winzigen Augenblick an.
Kaum war ihr Kopf aus dem Nebel aufgewirbelten Staubes heraus, da sah sie den gelbhäutigen, fettleibigen Körper des dunklen Wesens auf sich zufliegen. Die fahlen Hände mit einem Dolch darin voran war er nach hinten von seinem Ross herabgesprungen und prallte nun im vollen Tempo auf Dara, die nur noch abwehrend ihre Fäuste heben konnten.
Wie in Zeitlupe segelten die beiden miteinander hinter dem Schim-mel wieder in die Staubwolke hinein und Dara verspürte einen brennenden Schmerz von der linken Wange bis zum Ohr. Gòthba hatte sie offenbar erwischt und ihr die Backe aufgeschlitzt.
Doch dieses Gefühl war nur von kurzer Dauer, viel mehr Sorgen bereitete ihr der Boden, der nun unaufhaltsam auf sie zukam.
Im Gegensatz zu dem Stamlock in seiner schweren, Metallenen Brustpanzerung schaffte sie es wenigstens noch ein bisschen, sich abzurollen.
Jeder einzelne ihrer Knochen schmerzte, als sie sich im legenden Schmutz wieder aufrichtete. In einiger Entfernung machte sie Daven aus, der trotz seiner tadellosen Landung all ihre Schmerzen verspürte.
Vorsichtig betastete die junge m’Cendo-Kriegerin ihre Wunde. Sie war nicht sonderlich tief, aber das klebrige Blut an ihrer Handfläche machte sie rasend.
Wütend schritt sie auf Gòthba zu, der nicht weit von ihr entfernt stöhnend am Boden lag. Mit dem Fuß wendete sie ihn auf den Rücken, wobei ihm ein schmerzvoller Schrei entglitt.
Erstaunt und – zu ihrer eigenen Verwunderung – gehässig befriedigt stellte sie fest, dass der hässliche Anführer der Stamlock-Gruppe auf einem spitzen, zerbrochenen Mauerstein gelandet war, woraufhin sich seine Rüstung nach innen in die Lunge hinein aufgetan hatte.
Röchelnd spukte er sein purpurnes Blut. Lange würde das Wesen es nicht mehr machen.
Breitbeinig stand Dara neben ihm, Daven saß inzwischen wieder auf ihrer Schulter.
Mit angestrengter Grimasse hob Gòthba ein wenig seinen Kopf.
»Ihr alle sterben. Alle Menschen…« Wieder spukte er einen blutigen Klumpen aus. Ein dünnes Rinnsal lief inzwischen beständig aus seinem Mundwinkel. »Alle Menschen bald sterben! Dann endlich das Land gehört wieder uns!« Er versuchte, ein hämisches Lachen auf die Reiche zu bekommen, doch daraus wurde schnell wieder ein gurgelndes Husten, sein ganzes Kinn war inzwischen mit Blut bedeckt.
»Ihr so dumm! Nicht sehen! Bald…« Das Leben wich langsam seinem kleinen, rundlichen Körper, seine Stimme war nur noch ein Zischen.
»Sehr, sehr bald…« Er schloss die Augen, hatte seinen Tod schon akzeptiert. »Sterben...« Ein langer, rasselnder Atemzug. »Menschen…« Ein letztes Mal öffnete Gòthba seine blutunterlaufenen Augen und sah Dara durchdringend an. Keinerlei Furcht lag in seinem Blick. Nur reine Zuversicht.
»Alle!«
2
Jahr 492 a.L. Herbst
Die letzte Hoffnung, Vereinigtes Menschenreich
Daras verletzte Schulter schmerzte stark, als sie mit geducktem Kör-per auf ihrem Schimmel die rote Ebene in einem Höllentempo durchritt.
In einer kleinen Dreiecksformation durchquerten die fünf m‘Cendos Yinsa, möglichst schnell wollten sie das Land ihrer Feinde hinter sich lassen.
Aus weiter Entfernung konnten sie wütende Schreie hören. Die Stamlocks hatten die Reitergruppe vor ein paar Tagen unterschätzt und ihnen nur einen kleinen Trupp hinterher geschickt. Jetzt aber war sie zurückgekehrt und auf dem Weg in das sichere Menschenreich.
Was bedeutete, dass sie ihre Mission erfolgreich beendet hatten.
Die Anführer der dunklen Wesen brüllten Befehle und einige berittene Truppen machten mobil, um den Fliehenden Einhalt zu gebieten.
Eine sinnlose Aktion, die m’Cendos hatten schon bald die schützen-den Wachtürme der Menschen erreicht und rasten ohne Rast direkt weiter in Richtung Heimat.
Die Stamlock-Truppen hingegen fanden das Ende ihrer Verfolgung bei eben jenen Türmen, die mit Bogenschützen der Saeven besetzt waren.
Viel mehr Sorgen als die über das Entkommen der Menschen und ihre Verluste bereitete den Anführern der Stamlocks jedoch die Strafe die ihnen selbst bevorstand. Ihr Herrscher duldete kein Versagen.
Die fünf m’Cendos hatten denselben Weg genommen wie auch auf ihrer Hinreise und ihn wohlbehalten überstanden.
Dara war im Wald wieder zum Rest gestoßen und hatte mit ihnen die Geschehnisse ausgetauscht.
Alle anderen verschwendeten keine großen Gedanken an die Dro-hung Gòthbas, sondern unterhielten sich lieber über die Erlebnisse in Alt-Neva.
Dara jedoch brachte das Bild des sterbenden Stamlocks nicht mehr aus ihrem Kopf heraus. Jede Nacht, in der sie rasteten, wiederholte sie das Erlebnis im Traum. Inhaltlich hatte die Drohung zwar nach dem üblichen, leeren Geschwätz der dunklen Wesen geklungen, doch die Augen des Sterbenden hatten eine solche Gewissheit ausgestrahlt – als hätten die Stamlocks wirklich einen vernichtenden Plan.
War der Verbal-Krieg zwischen den Komolai und Stamlocks nur ein Ablenkungsmanöver?
Brüteten die Herrscher beider Seiten seit Jahren über einem perfekten Plan, um die Menschen endgültig von der Karte der Halbinsel zu streichen?
Tausende Fragen schossen durch Daras Kopf, inzwischen schmerzte er schon heftig. Als Todd einmal ihre inzwischen verkrustete Wunde an der Wange betastete, hatte er ein leichtes Fieber festgestellt und ihr sogleich ein Kräuter-Cocktail aus allerlei Pflanzen des Waldes gemischt. Das hatte ihr Fieber gesenkt, die Kopfschmerzen vom Nachdenken aber blieben.
Am Tor der gewaltigen Mauer, die das Menschenreich umgab, wur-den die fünf m’Cendos mit Jubelrufen empfangen.
Die Wachen auf den Zinnen begannen damit, hinter dem Tor kamen Menschen aus allen Häusern herbeigerannt und stimmten mit ein. Es war ein kleines Wunder, dass jemand aus dem Reich der Feinde lebend wieder zurück kehrte. Todd schüttelte traurig den gesenkten Kopf. Wenn es schon als Heldentat galt, zu leben…
Neben ihm ritt Dara, die die Menschenmenge kaum registrierte und irgendwie abwesend wirkte. Den ganzen Rückweg über hatte sie kaum etwas gesprochen und war stets tief in Gedanken. Als ihr Bruder wusste er, dass man sie einfach in Ruhe lassen sollte, wenn sie derart viel nachdachte.
Vor ihm ritten Sami und die Zwillinge, die den Trubel allesamt genossen. Sie waren sehr jung und wie alle jungen Krieger begegneten sie jedem Lob glückserfüllt und mit strahlenden Augen. Sami reckte triumphierend die Faust gen Himmel und schrie Hymnen heraus, die den Menschen Mut für den Kampf gegen das Böse machen sollten.
Carolin und Cinzia winkten allen mit breitem Grinsen zu und nahmen Blumen von kleinen Kindern entgegen.
»Narren« murmelte der Cendo-Mönch. Doch er wusste, dass er als junger Novize noch genauso in jugendlichem Leichtsinn geschwelgt war.
Bald würde einer der größten Kriege über ihr Land hereinbrechen, der jemals statt gefunden hatte. Wenn nicht gar der größte – und entscheidendste.
Er wusste es, die Götter hatten es ihm prophezeit. In naher Zeit, hatte es geheißen. Dann würden alle Menschen anders über wahre Heldentaten denken.
Der Schwall an jubelnden Latora wollte nicht verebben.
Auch in der nächsten Stadt schien niemand mehr in den Häusern zu sein, alle wollten die fünf m’Cendos sehen, die zurück gekehrt waren.
Todd ließ seinen Blick über die Menge schweifen und stellte sich alle in schimmernden Rüstungen vor, in angstvoller Erwartung des Fein-des. Narren. Wusste denn niemand mehr, dass das hier kein Spiel war? Dass dort draußen der Tod lauerte? Sie bejubelten ihn, der ein paar Tage fort gewesen war. Sollten sie doch lieber um ihre Gefalle-nen aus den letzten Schlachten trauern und sich auf die nächste vorbereiten.
Todd war der wohl gutmütigste und gläubigste Mensch, den man sich vorstellen konnte. Doch solche realitätsfremden Menschen regten ihn genauso auf, wie sie die Traurigkeit in ihm erweckten.
»Todd, Dara! Ihr seid vielleicht zwei elende Pessimisten. Wir haben es geschafft!« Sami hatte sich etwas zurückfallen lassen. »Wir haben die Mission gemeistert! Freut euch doch mal!« Der junge Krieger ließ die Worte kurz mit hochgezogenen Augenbrauen und in der Luft stehen, dann winkte er ab und schloss wieder zu den Zwillingen auf.
Irgendwie vermisste der Mönch diese alte Zeit, in der er sich Gedankenlos hatte freuen können. Doch inzwischen war er auch geistlich erwachsen und trug Verantwortung für sein Volk.
Auf einmal verschwammen alle Gesichter vor seinen Augen, jegliche finsteren Gedanken wurden sofort aus seinem Kopf gestrichen.
Er sah ein Paar Augen aus der Menschenmenge hervorstechen, die ihn alles andere vergessen ließen.
Er konnte nicht anders, als sie einfach nur anzustarren. Es waren wundervolle, große tiefgrüne Augen, strahlend wie mit Morgentau bedecktes Graß im Frühling.
Ein Glücksgefühl machte sich in Todds Körper breit, diese Augen gaben Hoffnung und zeugten von sanfter Weisheit. Ohne die zugehörige Person zu betrachten wusste er, dass es ein Engel sein musste. Er konnte den Blick ein wenig lösen und sah sie.
In einem einfachen und doch wunderschönen, Blütenweißen Kleid stand sie im Eingang eines Gebäudes, das Todd völlig egal war. Eine ihrer Hände lehnte sanft am Gemäuer. Es war eine kleine, zarte Hand, deren leichte Bewegungen wunderschön, weich und vollendet schienen. Ein langer, geflochtener Zopf bebte sanft auf ihrer Brust im Takt des Atems.
Der Cendo-Mönch schluckte und verfolgte die ebenholzfarbene Haarpracht von der Brust über die Schulter bis zurück zum Gesicht des Engels. Einige Strähnen flankierten die fantastischen Augen zu beiden Seiten und waren teilweise hinter die kleinen, minimal abstehenden Ohren zurückgekämmt. Zartrosa Wangen, eine kleine Stubsnase und natürliche, etwas zugespitzte Lippen vollendeten die Schönheit.
Wie in Trance konnte Todd seinen Blick nicht von ihr losreißen. Diese Augen…
»He!« Die Stimme kam von weit, weit weg…
»He!« langsam materialisierten sich die anderen Menschen um den Engel wieder, doch die Augen setzten sich nach wie vor über alles hinweg und ließen Todds Blick auf ihnen ruhen.
Er spürte einen ganz leichten Druck auf seinem Kinn ruhen, der je-doch auf einmal an Kraft zunahm und dann jäh mit dem Zuschnappen seines Kiefers endete.
Verwirrt wendete er seinen Blick von der Schönheit ab und erkannte Dara, die nun dicht neben ihm ritt und ihre Hand noch immer auf seinem Kinn ruhen hatte.
»Mund zu, Bruderherz. Die Lady ist etwas zu groß für dich.«
Groß war relativ, jeder normale Mensch reichte Todd gerademal bis zur Brust. Wer konnte diese Schönheit sein, dass sie selbst für ihn zu groß war? Er blickte sich wieder um, sie stand noch immer am selben Ort und verfolgte die kleine Gruppe m’Cendos mit ihrem Blick.
Todd meinte, ein ganz sanftes Lächeln in ihren Zügen zu erkennen. Dann – ganz plötzlich – war sie verschwunden. Der Mönch streckte verwirrt seinen Hals weiter nach hinten, doch er konnte sie nicht mehr erspähen. Dann gab er es auf und sah zurück zu seiner Schwester, die wieder ihr schelmisches Grinsen aufgesetzt hatte.
»Wer ist sie? Sie ist… sie ist wunderschön.« Er war selbst verwirrt von seinen Worten und Gefühlen, er konnte sich nicht mehr erinnern wann, geschweige denn ob er schon einmal etwas wie dieses verspürt hatte.
»Eine Tochter des Herrschers der Latora. Frag mich nicht nach ihrem Namen. Jedenfalls viel zu groß für dich. Sie kann so gut wie jeden haben. Wenn sie nur will.«
»Aber ich…«
»Denk nicht mehr an die Kleine. Ist besser so, glaub mir. Aber es freut mich wirklich, dass du doch noch einen Blick für die Frauenwelt übrig hast. Ich hatte schon geglaubt du wärst verloren« Sie zwinkerte ihm zu und ein sanftes rot schoss auf Todds Wangen.
»Ich habe nur…«
»Geguckt. Schon klar. Du setzt die Latte ein wenig zu hoch, Bruder-herzchen.«
Einige Zeit darauf verbrachte Todd mit gesenktem Kopf und leichtem Lächeln. Es war ihm peinlich, dass Dara ihn beim begutachten einer wahren Schönheit erwischt hatte. Das war eigentlich nicht seine Art.
Und dennoch wünschte er sich nichts sehnlicher, als noch einmal einen Blick in diese Augen zu werfen, die ihn derart glücklich gemacht hatten.
Still betete er, dass er den Engel noch einmal wieder sehen dürfe. Zumindest für den Moment waren alle Gedanken an die menschliche Unvernunft gestrichen und hatten Platz für ein ganz neues Gefühl gemacht: Die Liebe.
Als die fünf Gefährten ihren geliebten, heiligen Wald erreichten, stiegen sie ab und knieten nieder. Sie dankten Soa und Centaya für die Unterstützung bei ihrer langen Reise.
Dann gingen sie zu Fuß weiter und genossen den Duft der Heimat. Ihre kleine Stadt lag genau inmitten des Waldes und diesen letzten Fußmarsch wollten sie sich noch gönnen.
Unterwegs liefen ihnen einige m'Cendos mit ihren Rybas über den Weg, die im Wald jagen wollten. Sie grüßten sich lächelnd.
Hier wurden Dara und ihre Freunde nicht gefeiert wie Helden, son-dern freundlich begrüßt wie jeder andere auch. Dara war das nur recht, vor allem Sami jedoch war deutlich anzusehen, dass er doch ein wenig mehr Zuspruch erwartet hätte.
Es gab etwa viertausend m'Cendos auf Maeji. Ihre Stadt inmitten des heiligen Waldes hatte keine Mauer, die teils riesigen Bäume boten Schutz genug. Das gesamte, kleine Reich aus Stadt und Wald war komplett eben.
Es gab drei Klöster. Einen kolossalen Tempel, der den Mittelpunkt der Stadt darstellte und zwei kleinere, die außerhalb inmitten des Waldes standen. Hier hatten die Mönche ihre Ruhe zum meditieren.
Im Osten an den Wald angrenzend lag die Schule, in der alle kleinen m'Cendos ihre Grundausbildung genossen.
Dann gab es noch eine Kaserne, eine Schmiede, einen Schlachthof und allerlei andere Gebäude aus Holz und Stein.
Die größte Zahl an Gebäuden stellten jedoch die Wohnhäuser dar, in denen meist Familien wohnten, die drei Generationen umfassten. Und ebenfalls sehr Zentral im Ort stand ein besonders prächtiges Haus, an dessen Dach Banner mit dem Wappen der m'Cendos im Wind wehten.
Es war Jahomiahs Haus, der Sitz des Oberhauptes der stolzen Familie.
Und während Todd zu den Meistern im Kloster ging, um zu berichten, sich auszuruhen und zu beten und Sami, Carolin und Cinzia sich eine Mütze Schlaf holten, war Daras erstes Ziel dieses Haus, in dem ihr Onkel wohl bereits auf sie wartete.
Die zwei Wachen an der hölzernen Tür begrüßten Dara freundlich und ließen sie passieren.
Sie trugen Paradeuniformen – auf Hochglanz polierte Brustpanzerungen, die das Emblem der m'Cendos als Relief trugen, darunter grüne Hemden. Dazu kamen eine lederne, schwarze Hose und passende Stiefel. Wie auch der Brustpanzer waren Schulter-, Arm- und Beinschutz aus reich verziertem, schimmerndem Metall.
Der Helm ließ vom oberen Teil des Kopfes nur zwei Schlitze für die Augen offen, Mund und Kinn lagen allerdings vollends frei. Hinten im Nacken lief er lange und spitz zu und oben wurde er von einem grünen Büschel geziert.
Die linke Hand der Soldaten ruhte auf dem ebenfalls reich verzierten Griff der Schwerter, die in makellosen, schwarzen Scheiden an den Hüften hingen. Die rechte hielt einen Ebenhölzernen Speer aufrecht, dessen Spitze im Sonnenschein glänzte und dessen grünes Banner kurz vor dem scharfen Ende sanft im Wind wehte.
Im Grunde genommen konnten die beweglichen m'Cendo-Krieger ihre Fähigkeiten in dieser Aufmachung kaum ausnutzen. Im Krieg wurden immer nur die leichten Panzerungen getragen.
Die Paradeuniform trugen die Leibwachen des Anführers generell nur, um Feinde abzuschrecken und um zu zeigen, um was für eine wichtige Person es sich handelte – und das wirkte.
Dara trat durch die Tür und traf sogleich auf ihre Tante, die gerade einen Korb voller schmutziger Wäsche die hölzerne, geschwungene Treppe hinab steig. Das faltige Gesicht der alten Dame – sie war die älteste Schwester Daras Mutter – erhellte sich, als sie ihre Nichte erblickte.
So schnell es ihre dürren Beine unter dem langen Rock und ihr buckeliger Rücken erlaubten kam sie herab, stellte den Korb beiseite und umarmte Dara.
»Da bist du ja wieder, mein Kind« sie löste sich und betrachtete die junge Kriegerin. Dann fasste sie ihr erschrocken an die Wange.
»Wer oder was hat dir denn das angetan?«
»Ein Stamlock. Aber Todd hat sich schon gut darum gekümmert. Er meint es wird vielleicht nicht mal eine Narbe bleiben.«
Die alte Dame mit den grauen Haaren, die immer noch eine pastelb-laue Palx zierten, schaute kritisch drein.
»Na, dass will ich mal hoffen. Dein schönes Gesicht sollte nicht ver-unstaltet werden. Nun geh, dein Onkel wartet schon sehnsüchtig auf dich. Ich mach euch beiden einen Tee, die Wäsche kann warten.« großmütterlich lächelnd betrachtete Daras Tante sie noch einen Moment, bevor sie wieder die Treppe hinauf stieg. Ihr wäre es wesentlich lieber gewesen, wenn Dara Verkäuferin, Amme oder einfach nur Mutter geworden wäre, anstatt als Kriegerin bei solchen Aktionen Kopf und Kragen zu riskieren.
Jaromiah blickte auf, als Dara gegen die Tür klopfte, sie einen Spalt breit öffnete und herein lugte.
Schnell war er auf den Beinen und ging um den halbrunden Tisch herum, an dessen Platz in der Mitte er gearbeitet hatte.
»Dara, Kleines. Komm doch herein.« Auch wenn das Rad der Zeit den Anführer der m'Cendo durch die grauen Haare und einige Falten hatte altern lassen, wirkte er frisch und würdevoll wie eh und je.
Als der Mann mit nachtblauer Palx und eisgrünen Augen, denen nichts zu entgehen schien, sich bückte um Dara flüchtig zu Umarmen, fiel sein Blick kaum merkbar auf die lederne Tasche in der Hand seiner Nichte.
»Du hast es also geschafft. Ich bin stolz auf dich, mein Kind.« bevor Dara etwas erwidern konnte, richtete er seine Aufmerksamkeit auf den Türspalt hinter ihr und rief laut »Emanuel!«
»Ja, Herr« kam die abrupte Antwort.
»Lass bitte den Rat herbei rufen. Es eilt!«
»Sofort, Herr.« Sich schnell entfernende Schritte waren zu hören.
Jaromiah wandte sich wieder an seine Nichte.
»Nun komm und setze dich. Wir haben noch einiges zu besprechen bevor du dir deinen wohlverdienten Schlaf nehmen kannst. Aber lass uns warten, bis der Rat eingetroffen ist, sonst musst du die ganze Geschichte zweimal erzählen.« Er lächelte gutmütig, ehe er Dara den Platz sich gegenüber in der Mitte des großen Tisches anbot.
Seine Frau kam kurz herein und stellte den Tee ab, bevor sie den Raum wortlos wieder verließ. Sie war die gute Fee des Hauses, mit Politik hatte sie jedoch nichts am Hut.
Dara kraulte sanft ihren Daven, der sich auf ihrem Schoß zusammengerollt hatte, während Jaromiah sie über die Geschehnisse der letzten Wochen in Kenntnis setzte.
Nach und nach trafen die Ratsmitglieder der m'Cendo ein und nah-men an ihren Plätzen am halbrunden Tisch Platz. Insgesamt waren es neben dem Anführer sieben weitere Männer und drei Frauen, die sich zu je fünf Personen links und rechts neben Jaromiah nieder ließen.
Daras Tante hatte ihre Wäsche inzwischen wohl vollends vergessen, denn sie kam schon bald mit noch mehr Tee und frisch dampfenden, verlockend riechenden Keksen herein. Das Mehl, Salz und Zucker hierfür hatten die m'Cendo im Tausch gegen ihre besonderen Medikamente von den anderen Menschenvölkern erhalten. Sie selbst betrieben kaum Landwirtschaft, sondern lebten ausschließlich von ihrem heiligen Wald.
Als einer der letzten trat Daras Vater ein, der ebenfalls ein Ratsmitg-lied war. Er umarmte glücklich seine zurück gekehrte Tochter und fragte sich, warum sie heute dem Rat gegenüber sitze. Vorerst blieb die Frage unbeantwortet, offensichtlich hatte Jaromiah seiner Toch-ter einen Auftrag aufgetragen, ohne den Beistand des Rates zu ersuchen.
Vierzehn Personen mit farbigen Haaren waren im Raum, als endlich alle eingetroffen waren. Eine Weile wurde noch miteinander getu-schelt, ehe Jaromiah die Hände hob, was zu sofortigem Schweigen führte und zu sprechen begann.
»Meine Freunde, schön das ihr so schnell kommen konntet.
Seit Monaten machen wir uns viele Gedanken aufgrund des ausbleibenden Angriffes unserer Feinde. Ich denke, dass wir uns einig sind, dass der Streit zwischen Stamlocks und Komolai nur Fassade ist. In Wahrheit brüten sie wohl seit Jahren – länger als je zuvor über einer Lösung, die Menschheit endgültig zu vernichten.
Die Sanduhr bis zum gewaltigsten Angriff, der je statt gefunden hat, läuft gnadenlos ab. Und in der oberen Kammer befinden sich kaum noch Körner, das haben uns die Götter prophezeit.«
Jaromiah ließ einen kurzen Moment verstreichen, in dem er alle m'Cendos im Raum betrachtete, die beipflichtend murmelten.
»Bislang haben wir keine andere Lösung gesehen, als unsere Vereidigung auszubauen und unseren Verbündeten beim Ausbilden der Krieger zu helfen.
Doch in jahrelanger Forschung, die bislang nur sehr quälend voran ging, habe ich einen anderen Weg gefunden. Einen Weg, der nicht nur den unabwendbaren Angriff zurück schlägt, sondern der unsere Feinde ein für allemal vernichtet. Auf dass endlich der lang ersehnte Frieden auf Maeji einkehrt.«
Das Gemurmel wurde wesentlich lauter und ein Ratsmitglied fragte, was für unnatürliche Kräfte hier im Spiel wären. Doch der Anführer lies sich nicht beirren und redete ruhig weiter.
»Ich habe uralte Schriften durchblättert und mir eine längst verges-sene Sprache angeeignet. Die Sprache, die einst die alleinigen Herr-scher über diese Halbinsel – oder sogar über das ganze Land auch darüber gesprochen hatten. In den wenigen Schriftrollen und Bü-chern, die ich in all den Jahren zusammengesucht habe, wurde dieses wohl riesige Reich nur Kaahl Destaya genannt.«
Während alle anderen nur ungläubig, gespannt oder abwartend dreinschauten, ruckte Daras müder Kopf nach oben. Diesen Namen hatte sie erst kürzlich gelesen. In einer Notiz, die die Zwillinge ihr ausgehändigt hatten. Dem Anderen gebühret Kaahl Destaya…
Nach einem kurzen Schluck Tee fuhr Jaromiah fort.
»Diese Wesen, vermutlich waren einige von ihnen unsere Vorfahren, hatten irgendwann genug von ihrem Land. Sie glaubten an eine bessere Welt nach dem Tod, also versammelten sie sich nahezu komplett um einen mystischen Berg, der Baron genannt wurde. Das mächtigste aller Rituale wurde gesprochen, sodass alle Versammelten ihre Welt auf einmal verlassen konnten. Wie genau das ausgesehen hatte, wurde nicht geschildert, immerhin wurden die Texte vor dem Ritual verfasst. Ich vermute, dass der Ort dieses Geschehens der heutige Blutsee war.«
Der Blutsee lag östlich vom Menschenreich und stellte einen Teil der Grenze zwischen ihm und den Wäldern des Vergessens dar. Er war eine gewaltige Einbuchtung vom Meer, die alles andere als natürlich wirkte. Die Landstriche, die den See umgaben, wirkten wie ausgef-ranst, als hätte man ein Stück Land einfach herausgerissen. Nur eini-ge Hügel überragten noch das Wasser in mitten des riesigen Sees.
Doch das eigentlich geheimnisvolle an ihm war eben jenes Wasser. Es war milchig und blutrot. Niemand konnte bis zum Grund sehen. Und wer das Wasser berührte, starb eines grauenvollen Todes, indem er sich von der Stelle des Berührens aus langsam, ganz langsam auflöste und zu Asche zerfiel, bis nichts mehr von dem Menschen – oder Tier übrig war. An der Stelle, an welcher der See ins Meer mündete, wurde das Wasser wieder klar und blau, als wäre nichts geschehen.
Die Menschen hatte gelernt, den Blutsee zu meiden, niemand war interessiert daran, seinen Grund zu erforschen.
Doch konnte er wirklich von einem gewaltigen, grauenvollen Ritual stammen, das hier vor vielen Jahrhunderten stattgefunden haben soll?
Die meisten der Ratsmitglieder konnten – oder wollten es nicht glauben.
Ohne weiter auf diese gewagte Aussage einzugehen, fuhr Jaromiah mit seinem wohl lange vorbereiteten Vortrag fort.
»Die Wesen verließen unsere Welt damals jedoch nicht, ohne genaue Anweisungen zu hinterlassen. Anweisungen, die ausgeführt werden mussten, damit es einen neuen, alleinigen Herrscher über Kaahl Destaya geben würde. Ein Ritual, das vollendet werden musste, um ein Volk zum mächtigsten aller Völker zu machen. Seine ehemaligen Feinde sollten auf ewig verbannt werden und seine Freunde seinem Willen folgen.
Wie ich vor kurzem herausfand, wurde das Ritual in einem oder mehreren Büchern niedergeschrieben.« Der Anführer der m'Cendo beendete seinen Satz, lehnte sich im Stuhl zurück und faltete seine Hände, während er zwischen den Ratsmitgliedern hin- und hersah.
In angespannter Erwartung auf das folgende, standen einige von ihnen auf. Doch es folgten keine weiteren Worte.
Ein alter Weiser mit weißen Haaren und schwarzer Palx durchbrach das Schweigen und fragte
»Es gibt also ein Ritual, mit dem wir die Komolai und Stamlocks… ausnahmelos vernichten könnten?« Als Antwort kam ein leichtes, einmaliges Nicken von Jaromiah.
»Und… haben wir ein solches Buch?«
»Vor vielen, vielen Jahren, vor der Zerstörung Alt-Nevas, hatte der damalige Anführer ein solches Buch tief unter der Erde gefunden, konnte es aber nicht lesen. Er spürte wohl die Macht des Buches und wollte verhindern, dass irgendjemand anderes es in die Hände bekam. Konnte er es nicht benutzen, sollte es niemand können. Also ließ er es in eben jener Kammer tief unter der Erde und gab den Befehl, sein Schloss direkt über ihr errichten. Nur wenige wussten davon und nahmen das Geheimnis mit in den Tod. Durch eine glückliche Aufreihung von Zufällen sind mir jedoch die Notizen und Baupläne des damaligen Baumeisters in die Hände gefallen.«
Die Ratsmitglieder ließen sich zurückfallen und atmeten mit einem Hauch von Traurigkeit aus. Jaromiah hatte ruhig, überlegt und doch ein wenig angespannt gesprochen. Sie besaßen kein Buch und Alt-Neva mitsamt dem Zugang zur uralten Kammer lag in Schutt und Asche. Der alte Mann meldete sich wieder zu Wort.
»Wir haben also kein Buch?« Es klang mehr nach einer Feststellung als nach einer Frage.
»Nein, wir haben kein Ritual-Buch.« Die Gesichter der Ratsmitglieder sprachen Bände. Ihr Anführer hatte sie herbeirufen lassen, um ihnen erst eine vielversprechende Lösung zu präsentieren, nur um ihnen danach wieder alle Hoffnung zu nehmen. Doch Jaromiah hatte noch nicht geendet.
»Ich hoffe jedoch, dass Dara mir eines dieser Bücher von ihrer Wo-chenlangen Reise mitgebracht hat.« Er beugte sich vor und legte seine Ellenbogen mit immer noch gefalteten Händen auf den Tisch und sah Dara freundlich und mit seinen hellgrünen Augen doch durchdringen an. Die Köpfe der anderen Ratsmitglieder fuhren ebenfalls sofort zur jungen m'Cendo-Kriegerin und sahen erwartungsvoll drein.
Dara war dem ganzen Vortrag mit hochgezogenen Augenbrauen gefolgt, während ihr mehr und mehr klar geworden war, welch einen wichtigen Auftrag sie ausgeführt hatte.
Kurz schüttelte sie kaum merklich den Kopf über die Schlitzohrigkeit ihres Onkels, ehe sie das Buch zu Tage förderte und es sachte auf den Tisch genau vor Jaromiah legte.
Angespannt und teils gierig starrten alle den dunklen Einband an. Auch der Anführer ließ dessen Aura kurz auf sich wirken, ehe er verwundert zu Dara aufschaute.
»Von einem Diamanten war nie die Rede gewesen, in keinem der Berichte. Woher stammt er?« Dara hatte den Edelstein, den die Zwillinge ihr ebenfalls überreicht hatten, für die Übergabe wieder auf das Buch gelegt, so wie sie ihn vorgefunden hatten.
»Wir haben ihn so mit dem Buch vereint vorgefunden. Weil wir nicht wussten, was wir damit anfangen sollten, brachten wir ihn mit. Vielleicht ist er wichtig.« Ihr Onkel nickte nachdenklich.
»Gut. Ich werde mich nun an die Übersetzung dieses Werkes machen und euch nach der Vollendung wieder rufen lassen. Oder gibt es noch etwas zu sagen?« Alle waren einfach nur sprachlos, zu viel war in zu kurzer Zeit geschehen. Nur Dara lag noch etwas auf der Zunge.
Ȇber dem Schrein, in dem wir das Buch und den Diamanten fanden, hatte eine Inschrift gestanden.
Erwecket die Bestie; Erwecket den Tod; Einer wird nie mehr sein; Frie-den und Leben an seiner statt; Dem Anderen gebühret Kaahl Destaya; Obsiegen möge der Wackerste; Der Beherzteste; Der Ehrbarste; Das Buch soll ihn führen; Doch ist sein Geist nicht rein; Niemand wird mehr sein; Die Grube des Todes weit geöffnet; Der Sieger gleich gestellt mit dem Herzlosen; Kaahl Destaya gleichgestellt mit der Hölle; Laufe, Krieger; Die Chance ist erweckt; Der Tod ist erweckt; Die Bestie ist erweckt; Laufe und entscheide, wer obsieget!« Den Text hatte Dara mittlerweile Auswendig gelernt und dachte kurz noch einmal darüber nach, ehe sie weitersprach.
»Kurz nachdem meine Begleiter das Buch im alten Gewölbe an sich genommen hatten, waren dröhnende Beben zu spüren gewesen. Es klang nach donnernden Schreien und sich schnell nähernden Schritten von etwas Großem. Die Bestie war offensichtlich erweckt! Wir taten das wohl einzig richtige, als wir den Eingang zum Jahrhunderte langen Lagerort des Buches verschlossen und das Weite suchten. Wie es im Text gestanden hatte: "Laufe, Krieger!"
Was auch immer es war, es schien nicht über die Kammer hinaus gekommen zu sein. Am Eingang des Schlosses kam es zu einem Kampf mit einer Gruppe Stamlocks, doch in all der Zeit trat keine Bestie hinzu, die das Buch zurück haben wollte. Auch die bebenden Schritte waren verebbt.« Eine Weile herrschte Schweigen, bis Jaro-miah leicht beunruhigt meinte
»Ich werde das Buch übersetzen, vielleicht wird diese "Bestie" ja erwähnt.« Darauf erwiderte zunächst niemand etwas. Doch alle Ratsmitglieder schienen das Gleiche zu denken. Nach einer gefühlten Ewigkeit der Anspannung war es schließlich Daras Vater, der überlegt und leise die Stille durchbrach.
»Der Ganze Plan, mit einem einzigen Ritual alles Böse zu vernichten klingt ja – wenn auch etwas unreal – sehr verlockend…« Alle Blicke richteten sich nachdenklich auf ihn. »Aber das alles hat doch offen-sichtlich irgendwo einen enormen Haken...« Es klang fast wie eine Frage, in der das Bedürfnis mitschwang, eine einfache Antwort zu erhalten. Doch diese würde er an diesem Tage nicht mehr bekom-men.
Die nächsten zwei Tage lang verbrachte Dara ruhig, traf sich mit Freundinnen und erzählte ihr Abenteuer tausende Male.
In der Kaserne traf sie auf Sami, der vor seinen Freunden in den Trainingspausen mit seinem Kampfgeschick und Wissen über die schwächlichen Stamlocks prahlte.
Todd hatte sich in ein Kloster außerhalb zurückgezogen, um in Ruhe meditieren zu können.
Dara schlenderte gerade zusammen mit Daven nach einer Trainings-einheit aus der Kaserne heraus, als irgendwo von der Seite her eine wohl bekannte Stimme erklang.
»Hey, Dara! Bleib doch mal bitte stehen!« Ohne darauf einzugehen, beschleunigte sie ihren Schritt zielstrebig in Richtung Dorf.
»Ach komm schon, kleine Zicke!« Die gedämpft hallenden Schritte sich schnell nähernder Füße waren zu hören und Dara blieb resigniert stehen, den Blick immer noch geradeaus gerichtet.
»Was willst du?« fragte sie genervt.
Raphaél war seit ihren Schultagen hinter Dara her. Zunächst hatte er sie geärgert, doch mit der Pubertät kamen ganz andere Gefühle auf. In alle der Zeit hatte Raphaél keine Chance ungenutzt gelassen um Dara den Hof zu machen. Kein Korb konnte ihn anschrecken.
So manches Mädchen wäre seinen Himmelblauen Augen, den mar-kanten Gesichtszügen und dem muskulösen Äußeren vermutlich verfallen, doch Dara hatte rein gar nichts für den Macho übrig.
Die Mutter des jungen Schmiedes war vor seiner Geburt schwanger aus einem Krieg zurück gekehrt – geschwängert von einem Latora. Ihr Ryba konnte kein junges Zeugen und so wuchs Raphaél als einziger seiner Klasse alleine heran ohne einen treuen Begleiter.
Es kam nicht oft vor das m'Cendos nicht in der Familie blieben, son-dern eine Beziehung mit einem anderen Menschen eingingen. Doch die Kinder – meist groß wie ein m'Cendo doch mit den Augen eines Menschen – wurden überall außer in der Armee, wo der Band zwi-schen Krieger und Ryba an erster Stelle stand, voll und ganz akzep-tiert.
Raphaél hatte sein Talent als Schmied schon lange unter Beweis gestellt und fertigte mit seinem Meister unter anderem die Charakteristischen Schwerter der Krieger. Auch heute hatte er wieder eine Ladung solcher bei der Kaserne abgeliefert und war auf dem Rückweg auf Dara gestoßen.
»Hab dich hier lange nicht mehr gesehen, wo hast du dich denn rumgetrieben?« Dara stöhnte genervt und nahm das gehen wieder auf noch ehe er sie erreicht hatte. Sie wusste genau, was nun kommen würde. Das Selbe wie immer, wenn sie auf Raphaél stieß.
»Was hältst du von einem kleinen Drink heute Abend? Mir ist es gelungen, einen der wahrhaft besten Weine dieser traurigen Insel zu ergattern. Oder gleich? Ich könnte mir den restlichen Tag frei nehmen und...«
»Nein!« fiel Dara ihm lautstark ins Wort und drehte sich zu ihm um.
»Nein?« fragte der junge Schmied gespielt verwundert und mit Hundeblick.
»Nein. Wie jedes mal wenn du fragst. Nein. Vergiss es doch einfach.« Ohne Hemmungen strich er ihr über sanft Haare und Wange und meinte »Wir können doch einfach nur reden. So lange haben wir das nicht mehr getan. Es gibt so viele Neuigkeiten…« Aufgebracht schlug Dara Raphaéls Hand beiseite und hielt sie einen Moment fest, dem Gedanken nah im das Gelenk auszukugeln.
»Nein, verdammt. Mach das nie wieder, wenn dir dein Leben lieb ist!« Ergeben grinsend hob er die Hände in die Luft und ging einen Schritt zurück.
»Was immer du willst, meine liebste Furie.« Kurz schnappte Dara nach Luft und hatte tausend schlimme Worte auf der Zunge, doch sie wiederstad dem Drang, sie auszusprechen, schloss ihren Mund und machte auf dem Absatz kehrt. Sollte sie Raphaél heute noch einmal sehen, konnte sie für nichts mehr garantieren.
Fast Zwei Tage nach der ersten Sitzung ließ Jaromiah den Rat und Dara ein weiteres Mal versammeln.
Er sah müde aus, hatte wohl die Nächte hindurch nur übersetzt. Vor ihm auf dem ebenhölzernen Tisch lagen das mystische Buch und der Diamant, außerdem einige Pergamente mit seiner krakeligen Schrift – die Übersetzung.
»Meine Freunde«, begann er seine Rede. »Ich habe die Übersetzung abgeschlossen und viele neue Dinge herausgefunden.« niemand sprach ein Wort, alle lauschten gespannt dem Vortrag, der möglicherweise die Lösung all ihrer Probleme enthielt.
»Ich möchte gleich zum Wichtigsten kommen, denn die Zeit läuft uns davon. Auf Maeji verteilt gibt es außer diesem noch drei weitere, identische Bücher, sowie drei weitere Edelsteine. An einem bestimmten Ort zusammengesetzt und durch ein aufwendiges Ritual aktiviert, kann die Auslöschung aller Feinde und die Herrschaft über Kaahl Destaya erlangt werden.« Jemand wollte etwas erwidern, doch Jaromiah erhob warnend den Zeigefinger. »Doch es gibt viele Harken.«
Mit weisem Blick sah er in die Runde.
»Zum einen wird mit jedem Buch, das seinem jahrhundertelangen Lagerplatz entnommen wird, ein Wesen erweckt, das eines jeden größte Angst verkörpert. Jedoch kann es sich nur in absoluter Dun-kelheit voran bewegen, was wohl der Grund dafür war,« er ließ seine Hand erhaben in Richtung Dara schwenken »dass die "Bestie" euch nicht weiter als durch den geheimen Gang hindurch verfolgte.
Des weiteren muss das Ritual am heiligsten aller Orte gesprochen werden – dem Berg Baron!« stöhnend ließen sich einige Ratsmitglieder zurückfallen. Einer meinte »Wie um alles in der Welt sollen wir auf diesen Berg gelangen? Ich dachte, er läge versunken im Blutsee. Und diesen kann nun mal niemand durchschwimmen!« Viele nickten zustimmend und sahen Jaromiah fragend an. Auch dieser nickte weise, den Blick nachdenklich nach vorne gerichtet.
»Es muss irgendeine Möglichkeit geben. Man muss nicht nur auf den Berg gelangen, sondern in eine Art Tempel in seinem Inneren. In dessen Mitte wiederum befindet sich laut Buch ein gewaltiger Altar, an dem das Ritual gesprochen werden muss. Womit wir zum nächsten Punkt auf meiner Liste kommen. Beim Ritual müssen genau vier Personen in den Himmelsrichtungen um den Altar verteilt stehen und die komplizierten, mystischen Worte sprechen. In perfektem Einklang und fehlerfrei, ansonsten wird im Buch von der totalen Vernichtung gesprochen. Außerdem muss sich inmitten des Altars eine "reine Seele" befinden, die die vier Diamanten trägt. Rein, was die Seite angeht. Ihr muss völlig klar sein, für welche Sache sie kämpft. Ist ihr das nicht klar und die mystischen Worte werden gesprochen, so wird ebenfalls die totale Vernichtung vorhergesagt«
»Das heißt, die Person darf keinerlei Zweifel an der eigenen Sache haben?«
»Genau. Und ebenso darf sie keinerlei Zweifel daran hegen, dass sie im Moment des Ritus für diese Sache sterben wird.« Jaromiah schluckte und senkte seinen Blick.
Einige Ratsmitglieder zuckten zusammen bei dem Gedanken, ihre treueste Seele opfern zu müssen, doch ein faltiger Mann mit von grauen Strähnen durchzogenem Haar und ockerner Palx murmelte »Wenn es der Wille der Götter ist…« Ein anderer erhob die Stimme.
»Aber wen sollen wir in diesen Freitod für die Menschheit schicken? Wem können wir vollends vertrauen? Ein jeder hat doch Makel, jedem kommen irgendwann kleine Zweifel am eigenen Tun.«
Jaromiah hob, den Kopf weiterhin gesenkt, die Hand und sofort kehrte Ruhe ein. Lange, sehr lange herrschte absolutes Schweigen.
»Ich werde es tun. Meine Seele ist rein und ich bin ein alter Mann. Meine Kerze des Lebens ist sowieso beinahe abgebrannt.«
Alle Schwiegen. Es war eine traurige und beängstigende Stille, doch alle hatten Verstanden, dass dies wohl die beste Lösung war.
»Und bis es soweit ist, dass wir das mächtige Ritual sprechen können, werde ich acht geben auf diesen ersten Diamanten. Die gebündelte Macht der vier Steine und die Aufopferung einer reinen Seele wird uns endlich den lang ersehnten Frieden bringen.« Mit diesen Worten hängte er sich das lederne Band mit dem Diamanten um, der im Feuerschein in seiner ganzen Pracht strahlte.
Nachdem eine kurze Zeit verging, in der andächtiges Schweigen herrschte, nahm Jaromiah wieder das Wort auf.
»Eine Sache, die vorerst oberste Priorität hat, fehlt noch. Die Beschaffung der restlichen drei Diamanten. Es gibt Tempel in allen vier Himmelsrichtungen Maejis. Bewachte Lagerstätten tief unter der Erde, jede einzelne beherbergt ein Buch und einen Edelstein. Der Östliche befindet sich bereits in unserem Besitz.« Die Blicke richteten sich auf den Diamanten, der am Hals des m'Cendo-Anführers hing. »Der Tempel im Süden ist im Reich unserer Kopflosen Freunde, nahe der Grenze zwischen Ona und den Wäldern des Vergessens. In diesem Moment ist ein Bote auf dem Weg zu unseren Freunden, der sie um Hilfe bei der Suche nach dem Tempel bittet.« Kurz tuschelten die Ratsmitglieder miteinander, richteten ihre ungeteilte Aufmerksamkeit jedoch schnell wieder auf Jaromiah. Dieser fuhr fort.
»Von der Spitze des Westlichsten Berges ist im Buch die Rede… der dritte Tempel muss im Gebirge zwischen unserem und dem Feindesreich liegen. Um ihn und den letzten Diamanten zu finden, benötigen wir die Hilfe unserer menschlichen Freunde…«
Den Ratsmitgliedern lief ein eiskalter Schauer über den Rücken. Der nördliche Tempel musste weit hinter den feindlichen Linien liegen! Möglicherweise inmitten der Reiche Leyteson und Zalong! Wie soll-ten sie diesen Ort jemals lebend erreichen, oder gar wieder verlassen sollen? Doch ihr Anführer wäre nicht eben jener gewesen, hätte er nicht bereits eine tollkühne Lösung ausgearbeitet.
Tag der Veröffentlichung: 04.01.2010
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Für meine Familie,
und meine Freunde.