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16. Postgeheimnisse

„Moin, moin“, rief Hanna, als sie Paulsens Laden betrat, obwohl weder Petra noch Paul irgendwo zu sehen waren.
„Komme gleich!“ rief eine Stimme von hinten und kurz darauf kam Katrin aus dem Büro.
„Nanu, Katrin, was machst du hier?“ fragte Hanna erstaunt, „ist Petra nicht da?“
„Moin Hanna. Doch, sie ist hinten mit meiner Tochter und kann sich nicht losreißen. Dabei lass ich ihr Rosalind für ein paar Stunden hier. Ich geh nämlich rüber zu Julia, beim Einpacken helfen. Heut ist das Materiallager dran. Du hast nicht zufällig Langeweile?“
„Ich wünschte, ich hätte welche.“ Hanna verdrehte die Augen. „Ich muss die Quartalsabrechnungen vorbereiten.“
„Schade. Was kann ich sonst für dich tun?“
Hanna zog ihren Einkaufszettel aus der Jackentasche und Katrin, die sich noch immer gut im Laden ihres Bruders auskannte, suchte die Sachen zusammen.
„Wie geht’s dir sonst so, Hanna?“ fragte sie.
„Gut, danke. Der Frühling weckt meine Lebensgeister. Endlich kann ich wieder draußen an der Staffelei stehen und den frischen Wind genießen.“
„Joh – frisch ist er auf jeden Fall. Du hast was Neues angefangen?“
„Das kann man so sagen, ja. Letzten Sonntag war ich in Kappeln und da werde ich wohl auch die nächsten Wochenenden verbringen.“
„Schön, da war ich lange nicht mehr. Das ist überhaupt eine Idee. Ich könnte endlich mal Wilma besuchen, sie fragt ständig, wann ich mal vorbeikomme. Erst gestern haben wir telefoniert. Es hat ihr ja keine Ruhe gelassen, dass Pieter so wenig von sich erzählt und so ungesellig ist. Du kennst ja Wilma. Sie hat eine Schleswiger Kollegin angerufen, um sie auszufragen. Mann o Mann, Pieters Ex-Frau ist ja wohl ein Früchtchen!“
„Ach, was du nicht sagst“, warf Hanna, scheinbar nur mäßig an dem Klatsch interessiert, ein. Tatsächlich hoffte sie, Katrin würde von sich aus noch etwas mehr sagen – und sie enttäuschte sie nicht.
„Ja, die ist immer noch in der Filiale, wo Pieter auch war. Jahrzehnte waren die beiden das ideale Vorzeigepaar. Hatten aber offensichtlich Probleme mit der Familienplanung. Sollen nichts unversucht gelassen haben, ein Kind zu bekommen. Das muss wohl am Ende gründlich schief gegangen sein. Und Sonja – das ist Pieters Ex – ist komplett durchgedreht.“ Katrin beugte sich zu Hanna vor und sagte mit leiser Stimme: „Vögelt sich durch sämtliche Betten Schleswig-Holsteins; echt skandalös, sag ich dir. Anscheinend war das dann der eigentliche Scheidungs- grund, obwohl die zwei schon länger nicht mehr das Traumpaar waren. Es muss die Hölle gewesen sein; Pieter hat sich immer mehr abgekapselt – na, so wie wir ihn kennen, nicht? Aber früher soll er richtig gut drauf gewesen sein und es gab mehr als eine Kollegin, die sich sämtliche Finger nach ihm geleckt hat. Er soll ein richtiger Kavalier gewesen sein, kannst du dir das vorstellen? So einer, von dem man in lauen Frühlingsnächten träumt, der einem Rosen und ein Gedicht vor die Tür legt und Ständchen unterm Balkon bringt. Also ehrlich, das kann ich mir gar nicht vorstellen; du?“
„Pieter Bauer als romantischen Rosenkavalier? Nein, nicht wirklich“, gab Hanna kopfschüttelnd zu.
„Nun, wie auch immer. Du siehst jedenfalls, dass nicht nur Kerle fies sein können. Auch Frauen können ganz schön gemein sein.“ Katrin gab Hanna ihr Wechselgeld heraus.
„Ja, so ist das wohl. Ich mach mich dann mal wieder auf. Grüß Julia von mir. Ich komm vielleicht heut Nachmittag vorbei, wenn ich mit der leidigen Büroarbeit fertig bin.“ Hanna ging zur Tür.
„Mach das, da wird sie sich freuen. Vielleicht sehen wir uns dann noch. Jonas hat bis drei Schule, dann noch ne Lehrerkonferenz, also bin ich bestimmt bis halb vier da. Ich brauch nicht zu kochen; Petra hat uns zum Essen eingeladen.“
„Willst du vielleicht auch kommen, Hanna – mit Lars?“ rief Petra und tauchte mit ihrer Nichte auf dem Arm in der Tür auf. „Die Mädels sind heute Abend auf Theaterprobe, für die Abi-Feier.“
„Danke, Petra – aber was glaubst du wohl, habe ich mir gerade von Katrin einpacken lassen? Hättest du mal früher was gesagt“, lachte Hanna.
„Na, dann ein andermal. Du weißt nicht zufällig, ob der Trächtigkeitstest bei Trixi positiv war?“
„Nein, da müsste ich Lars fragen. Soll ich dich anrufen?“

„Paul meldet sich bestimmt heute noch bei euch. Tschüß Hanna, wir machen die nächsten Tage mal was aus, ja?“

Hanna nickte und verabschiedete sich. Sie hatte nach- zudenken. Ob das jetzt so gut für die anstehende Abrechnung war? Das waren ja interessante Neuigkeiten, die Katrin da verraten hatte. Und es passte zu dem, was Laura gesagt hatte: Pieter war tief verwundet worden und bestrafte sich selbst für etwas, das er getan oder nicht getan hatte. Vielleicht hing das alles irgendwie mit dem unerfüllten Kinderwunsch zusammen. Zwar konnte sie sich immer noch nicht vorstellen, dass er einmal ein umschwärmter junger Mann gewesen sein sollte, der wusste, wie man Frauen verwöhnte; doch immerhin sah er auch heute nicht übel aus, trotz seiner hageren Gestalt, dem Stoppelhaarschnitt und der einfachen Brille. Es lag wohl an seinem eher strengen Gesichtsausdruck. Nein, ‚streng’ war das falsche Wort. Verkniffen? Auch nicht. Verschlossen – das schon eher. Oder doch traurig? Sie erinnerte sich an sein zaghaftes Lächeln, das man kaum als solches bezeichnen konnte und den winzigen Funken Leben in seinen Augen, der schnell wieder erloschen war. Wie hatte Lars sich ausgedrückt? ‚Er tut so, als hätte er keine Gefühle, dabei ist eher das Gegenteil der Fall.’
Und das sollte ein Grund dafür sein, dass sie sich auf dieses Angebot mit der Fahrgemeinschaft einließ? Mit einem Mann, der anscheinend einen erloschenen Vulkan in sich trug? Was, wenn der plötzlich doch ausbrach? Wenn Laura sich irrte und unter all den schwelenden Gefühlen doch eines der Rache war und es ihm egal, an welcher Frau er Rache nahm, für das, was seine ihm angetan hatte? Hanna stellte ihr Fahrrad ab. Sie war keinen Schritt weiter gekommen auf dem Weg zur Entscheidung.

Nachdem sie das Gulasch für das Abendessen vorbereitet hatte, das nun auf dem Herd vor sich hin schmorte, widmete sie sich ihrer eigentlichen Aufgabe, dem Rechnungen schreiben. Wenig später, sie hatte eben die Unterlagen bereit gelegt, um die Angaben in das Formular der Verrechnungsstelle einzutragen, klingelte es. Ein Blick zur Uhr sagte ihr, es war schon nach zwei. Das war vielleicht Paul, der wissen wollte, ob seine Trixi erfolgreich gedeckt worden war. Die junge Spanielhündin sollte dieses Jahr ihre ersten Welpen haben, während Murkel, die Mutter von Lobo, ihre Auszeit hatte. Hanna hatte das Testergebnis auf Lars’ Schreibtisch gefunden. Paul würde sich freuen. Doch es war nicht Paul, der vor der Tür stand.
„Pieter!“ rief Hanna überrascht, die so fest damit gerechnet hatte, die füllige Gestalt Paul Paulsens zu sehen, dass sie unwillkürlich einen Schritt zurückwich, nachdem sie die Tür geöffnet hatte. „Was führt Sie denn hierher?“ fragte sie, um Fassung ringend.

Pieter stand etwas verlegen da und sagte: „Entschuldigen Sie, Hanna – habe ich Sie schon wieder erschreckt? Das wollte ich nicht. Ich kann wieder gehen ...“
„Nein, schon gut – ich habe nur jemand anderen erwartet. Kann ich irgendetwas für Sie tun?“
„Sie – hm – Sie hatten doch gesagt, wenn ich Ihre Dorfplatz-Serie sehen wollte, könnte ich vorbei kommen. Aber wenn es jetzt nicht passt, wenn Sie jemanden erwarten – also ich will nicht stören.“
„Sie stören nicht, Pieter. Ich erwarte nicht wirklich jemanden; ich dachte nur, es sei Paul, wegen Trixi – kommen Sie doch herein.“
Hanna trat noch einen Schritt zur Seite und es entging Pieter nicht, dass sie sich eng an die Wand drückte, als er durch die Tür in den Flur trat. Angst, dachte er; diese Frau hat so eine tiefsitzende Angst, dass sie fast zu ihrer zweiten Natur geworden ist. Genau wie sein Schmerz, der ihn nie zu verlassen schien, was immer er auch tat. Und gleichzeitig wusste er – woher auch immer – dass sie nicht vor ihm, Pieter Bauer, Angst hatte, eher davor, dass er ein Mann war, ein fremder Mann. Es war vielleicht doch keine so gute Idee gewesen, wirklich ihre Einladung anzunehmen.
„Sie sind hier im Wartezimmer“, sagte Hanna, die allmählich ihre Fassung zurückgewann, und öffnete eine Tür an der Seite.
Wieder wich sie zurück, als Pieter durch die Tür trat, eher zufällig, als wolle sie ihn nur zu der Wand leiten, an der die Serie hing. Er ging in einigem Abstand an ihr vorbei, um sich die Bilder aus der Nähe zu betrachten.
„Sie haben gesagt, Sie seien dilettantisch, Hanna. Das finde ich nicht. Wie lange ist es her, dass Sie sie gemalt haben?“
„Ungefähr fünfzehn – nein, fast zwanzig Jahre. Ich habe überall nachgebessert, sehen Sie“, Hanna zwang sich, näher zu treten und ihn auf die entsprechenden Stellen hinzuweisen.
„Wenn diese Übermalungen Nachbesserungen sind, fügen sie sich aber so gut ein, als wären sie Absicht. Der Brunnen hat eine andere Pflasterung als heute – aber der Weihnachtsbaum sieht genau so aus wie letztes Jahr“, bemerkte er.
„Er hat nie anders ausgesehen, seit ich mich erinnern kann. Der Platz wurde vor etwa zehn Jahren komplett saniert. Schade eigentlich, mir hat das Kopfsteinpflaster besser gefallen als die Platten.“
„Da haben Sie recht, Hanna. Ich finde auch, es passt viel besser zum Charakter der umliegenden Häuser. Welchen Pinsel haben Sie für diese feinen Linien benutzt?“ Pieter deutete auf das Sommerbild, auf dem mit winzigen Strichen die voll besetzten Tische vor dem ‚Hasen’ dargestellt waren.
„Oh, dafür habe ich meinen Nulleinser gerupft, bis er kaum mehr als drei oder vier Haare hatte. Das war der Moment, wo ich wünschte, ich hätte ein größeres Format gewählt.“
Pieter trat ein paar Schritte zurück, um die komplette Serie aus der Entfernung zu betrachten.
„Der Blickwinkel verändert sich nicht“, bemerkte er. „Haben Sie die komplette Serie vorher skizziert? Die Besonderheiten und das unterschiedliche Licht dann aktuell herausgearbeitet?“
„Nein. Ich habe jedes Mal mit einer nackten Leinwand begonnen. Aber ich habe sie alle von Katrins Zimmer aus gemalt. Tun Sie das? Alle vier zusammen skizzieren?“

Pieter nickte. „Ja, ich habe bereits alle unveränderlichen Details, also Häuser und Brunnen, vorbereitet. Es wird ja wohl in nächster Zeit kaum etwas abgerissen und neu aufgebaut.“
„Eher nicht, außer, es bricht ein Feuer aus, was wir nicht hoffen wollen. Karl, der Hasenwirt, hat damals dauernd davon gesprochen, er wolle einen richtigen Biergarten anlegen. Ich hab praktisch das ganze Jahr darauf gewartet, dass er hier an der Seite Bäume pflanzen würde. Aber es ist nie was draus geworden und Jens meint, ihm stehen schon ausreichend Tische vor dem Haus zur Verfügung. Wenn er mehr hätte, müsste er eine zusätzliche Bedienung einstellen und ob sich das rechnet...“
„Dann hätten Sie ohne diese Ankündigung auch vorskizziert?“ Pieter stand ihr nun direkt gegenüber, konnte ihr auf fast gleicher Höhe in die Augen schauen; prägte sich fast unbewusst den Bogen ihrer schwarzen Augenbrauen über den leuchtend blauen Augen ein.
„Vielleicht. Es ist schon so lange her und seitdem habe ich kaum zwei gleiche Ansichten verwendet – oder mich exakt an das gehalten, was ich sehe. Es gibt nur – “ Hanna brach ab und ging nervös ein paar Schritte Richtung Fenster. Dann drehte sie sich um und sagte:
„Warten Sie einen Moment, Pieter. Ich habe oben ein Doppel, das exakt gleich und doch sehr unterschiedlich ist. Falls es Sie interessiert – und Sie nicht noch etwas anderes vorhaben?“
„Nein, ganz und gar nicht. Ich würde sehr gern mehr Ihrer Bilder sehen, Hanna.“ Wieder zog die Andeutung eines Lächelns über sein Gesicht – wie am Sonntag, als sie zugestimmt hatte, mitzufahren.
Hanna nickte und verließ das Zimmer, um die beiden Leinwände von der Husumer Hafenpromenade bei Ebbe und bei Flut aus dem Atelier zu holen. An der Treppe stockte sie. Es wäre einfacher, wenn er nach oben käme, statt dass sie die beiden recht großen Leinwände ins Wartezimmer schleppte. Spielte es letztendlich eine Rolle, ob sie im Erdgeschoss oder auf dem Dachboden mit ihm allein war? Er schien sich doch wirklich nur für ihre Malerei zu interessieren. Hanna wandte sich langsam um, während Lauras Worte ihr durch den Kopf gingen: ‚du bestimmst Richtung und Geschwindigkeit’. Sie ging die zwei Stufen, die sie bereits genommen hatte, wieder hinunter und näherte sich langsam der Tür. Pieter stand wieder vor der Serie und strich sachte mit den Fingerspitzen über die Leinwand, als wolle er die Farben fühlen.
„Pieter?“ sagte sie leise, worauf er wie ertappt herumfuhr, den Blick irritiert auf ihre leeren Hände gerichtet. „Es ist einfacher, wenn Sie mit nach oben kommen – es sind 60/90er.“ Sie ließ den Satz im Raum hängen, während sie sich an den Türrahmen klammerte.
„Oh, dann – wenn es Ihnen nichts ausmacht – ja, gern.“ Pieter machte zwei Schritte auf sie zu und Hanna drehte sich rasch um und lief fast zur Treppe. Auf was ließ sie sich da ein? Sie verlangsamte ihren Schritt und warf einen Blick über die Schulter; sah, dass Pieter ihr folgte und konnte nicht verhindern, dass ihr ein Schaudern über den Rücken kroch, nur, weil er hinter ihr die Treppe hoch ging – mit wenigstens vier Stufen Abstand. Pieter entging ihre Nervosität nicht. Wenn er nur etwas sagen, etwas tun könnte, um ihr begreiflich zu machen, dass sie sich nicht vor ihm zu fürchten brauchte!
Hanna hatte die Tür erreicht, die direkt in den licht- durchfluteten Teil des Dachbodens führte, den sie ihr Atelier nannte. Pieter sah sich staunend um, als er den Raum betrat.
„Das ist ja ein Traum“, rief er aus, „der Traum jedes Malers!“
Hanna ging zu der Ecke, in der die Leinwände standen und zog die beiden Ansichten heraus; stellte sie auf eine Leiste, die gegenüber des verglasten Giebels an der Wand angebracht war und trat dann ein paar Schritte zurück, um Pieter zu beobachten, der noch immer damit beschäftigt war, das Atelier zu bestaunen. Die große Staffelei, die an einer Seite stand, den Apothekerschrank, der offensichtlich Farben, Pinsel und weitere Utensilien enthielt; die neuen Leinwände, die an einer Seite aufgereiht, und vor allem die anderen, die mit der Vorderseite an die Wand gelehnt waren. Eine kleinere, sowie die zusammengeklappte, mit einem Lederband verschnürte Staffelei, die sie am Sonntag dabei gehabt hatte, lehnten neben der Tür. Ein langer Tisch mit zwei Stühlen und ein alter Sessel waren alles, was an Möbeln in diesem großen Raum stand.
„Mein Vater hat den Giebel verglasen lassen – etwa zu der Zeit, als ich anfing, auf Leinwand zu malen. Meine Mutter saß oft in diesem Sessel und hat mir zugesehen. Sie war überzeugt, ich würde es als Malerin mal zu etwas bringen. Na ja – wie das Leben dann so spielt.“ Ihr Vater war von einem Bullen niedergetrampelt worden, während Lars noch mitten im Studium war, und Hanna nahm Nebenjobs an, da ihr Anfangsgehalt kaum ausreichte, um die Familie über Wasser zu halten. Erst nach dem Tod der Mutter hatten Lars und sie das dicke Sparbuch ihres Vaters gefunden. Das erzählte sie jedoch nicht, sondern beobachtete stattdessen Pieter, der jetzt die beiden Leinwände studierte.
„Wo ist das?“ fragte er.
„In Husum. An der Hafenpromenade. Ich habe eine Zeitlang dort gewohnt.“
„Warum verstecken Sie die Bilder hier oben auf dem Dachboden? Sie sollten hängen, wo man sie sehen kann. Sie sind wunderschön.“
„Husum ist eine recht hübsche Stadt, ja. Im Frühling ...“ Hanna zog ein weiteres Bild aus dem Stapel, stellte es neben die beiden anderen und warf Pieter einen Blick zu, gespannt auf seine Reaktion. „Das ist der Schlosspark zur Krokusblüte. Millionen lila Krokusse. Ich konnte nicht alle Schattierungen hinbekommen.“

Pieter ging sprachlos zu dem Bild, um sich die lila Fläche zwischen den zartgrünen Bäumen genauer anzusehen.
„Getupft, ja – es geht nur getupft“, murmelte er vor sich hin und trat dann wieder ein paar Schritte zurück, schaute kopfschüttelnd von einem Bild zum anderen und sah dann Hanna an, die mit verschränkten Armen da stand und ihn beobachtete, die Bilder keines Blickes würdigte.
„Ihre Mutter hatte recht, Hanna. Sie sollten sie nicht verstecken, Sie sollten sie ausstellen.“

„Danke für das Kompliment, Pieter. Ich wüsste nicht, wer sich dafür interessieren sollte.“
„Es gibt Galerien in Kiel – ich kenne ein paar davon, ich bin sicher, Sie könnten dort eine Ausstellung ...“
„Nein“, unterbrach sie ihn, „danke, das ist nett gemeint, aber ich will das nicht. Es sind ja nicht nur die Bilder, die präsentiert werden, es ist auch immer die Malerin. Das ist nichts für mich.“
„Haben Sie Angst vor allen Menschen, Hanna?“ die Frage war ihm herausgerutscht, bevor er darüber nachgedacht hatte. Er hätte sie gern zurück genommen, als er sah, wie Hanna zur Wand zurückwich, als hätte er sie geschlagen, ihn mit aufgerissenen Augen ansah.
„Es tut mir leid, ich hätte das nicht sagen sollen. Es steht mir nicht zu, ich dürfte gar nicht wissen ...“ Pieter machte einen Schritt auf sie zu – ein weiterer Fehler, wie er sofort an ihrer Reaktion sah. Hanna erstarrte, war unfähig, sich zu bewegen, einen Ton zu sagen, obwohl sie innerlich schrie: ‚hau ab – verschwinde – lass mich allein’. Pieter sah die Qual in ihren Augen und hob beschwichtigend die Hände, was sie zusammenzucken ließ. Konnte er denn im Bemühen, seinen ersten Fehler zu entschuldigen, stattdessen mit jedem Wort, jeder Geste einen noch größeren begehen?
„Hanna“, er ließ die Hände sinken, rührte sich nicht von der Stelle. „Hanna, bitte, haben Sie keine Angst vor mir. Ich tue Ihnen nichts, bitte, vertrauen Sie mir. Ich wollte das nicht. Ich – ich muss Ihnen etwas gestehen. Ihr Wunsch- zettel – es war keine Absicht: ich habe einen Satz daraus gelesen. Der Satz, der nicht verbrannt ist; wo es um Ihre Angst geht, und um Vertrauen. Es tut mir unendlich leid, Hanna.“ Pieter wandte sich langsam ab, schickte sich an, das Atelier zu verlassen; wo er sie doch offensichtlich nicht beruhigen konnte, sie wenigstens allein zu lassen.
„Wie meinen Sie das?“ hielten ihn ihre geflüsterten Worte an der Tür auf, „der Satz, der nicht verbrannt ist?“
Pieter drehte sich im Türrahmen um und sah sie an.
„Ich wusste nicht, was ich mit den Wunschzetteln machen sollte, die nicht abgeholt worden sind. Ich konnte sie doch nicht öffnen: auch wenn sie nur im Weihnachtsmann- briefkasten waren, sie unterliegen dem Postgeheimnis, wie jeder Brief.“ Sie sah ihn zweifelnd an, und er erklärte: „Ich bin am Weihnachtsmorgen zur Steilküste gegangen und habe sie verbrannt. Nur ein einziger Schnipsel ist übrig geblieben: ‚nimm meine Angst und schenk mir die Fähigkeit zu vertrauen’ – ich erkannte Ihre Schrift, Hanna.“
„Sie haben die Wunschzettel verbrannt?“ hauchte sie ungläubig.
„Fast alle frühen Kulturen brachten ihren Göttern Brandopfer. Ich hielt es für eine gute Idee, die übrig gebliebenen Wünsche direkt in den Himmel zu schicken“, verteidigte er seine Handlung.
„Katrin hat sie immer in Flaschen gesteckt und ins Meer geworfen. Hat sie Ihnen das nicht gesagt?“
Pieter schüttelte den Kopf.
„Gehen Sie jetzt bitte, Pieter.“ Hanna sah, wie er langsam nickte, sich nach einem letzten, bittenden Blick noch langsamer abwandte und zur Treppe ging. Als sie die knarrende, fünfte Stufe hörte, ging sie rasch zum Treppen- absatz.
„Ich bin Ihnen nicht böse, Pieter“, sagte sie leise und nur ein fast unmerkliches Stocken seines Schrittes verriet ihr, dass er sie gehört hatte. „Dinge geschehen, wenn es Zeit ist, dass sie geschehen. Rufen Sie mich am Samstag an.“
Pieter neigte einmal den Kopf, blieb aber weder stehen, noch wandte er sich um, sondern ging durch den unteren Flur und Hanna hörte kurz danach die Eingangstür leise ins Schloss fallen.


Impressum

Texte: Layoutgestaltung Waltraud Grampp mit TZ- Verlag & Print GmbH
Tag der Veröffentlichung: 25.05.2010

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Mein Dank gilt Uwe- für seine Bereitschaft ein Risiko einzugehen- ebenso Heinz-der den Stein schließlich ins Rollen brachte- Allen gewidmet, die plötzlich zu neuen Einsichten kamen.

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