Leben in Waaseby
von Waltraud Grampp
31. Irlandwochenende: Galway
Phil schloss seine Zimmertür auf und stellte die
Reisetasche ab. Dann drehte er sich zu Julia und
Sven um, die das gegenüber liegende Zimmer hatten und sagte: „Wenn ihr gern noch in ein Pub gehen wollt, ihr braucht nur die Straße runter laufen, da gibt es reichlich – die meisten mit Live-Musik – das hört ihr dann schon von draußen“ erklärte er. „Ich hau mich gleich aufs Ohr, muss morgen fit sein. Trinkt ein Guinness für mich mit. Wir sehen uns dann zum Frühstück, um halb neun. Pünktlich.“
„Yessir!“ salutierte Sven und lachte. Dann nahm
er Julias Arm, und sie schauten sich nur kurz in ihrem Zimmer um, packten das Nötigste für die Nacht aus und fuhren mit dem Lift zur Empfangshalle hinunter. Das Hotel lag oberhalb des Eyre Square, ein kleiner Park im Herzen von Galway. Auch wenn die Geschäfte schon geschlossen hatten, waren die Straßen doch sehr belebt. Vor allem junge Leute, paarweise oder in Gruppen, schlenderten wie sie die Fußgängerzone entlang. Aber auch Familien, angefangen von Oma und Opa bis zum Säugling, waren unterwegs. Alle paar Meter hatten sich Straßenmusikanten aufgestellt, die hauptsächlich irische Folkmusik spielten: auf Fidel, Gitarre, einem kleinen Akkordeon und einer Trommel, die wie ein zu groß geratenes Tamburin aussah, und mit einem Holzklöppel geschlagen wurde. Julia war fasziniert.
„So hätte ich mir das nicht vorgestellt“, sagte sie mit leuchtenden Augen, „hier geht es ja zu wie am Mittel- meer in der Hochsaison. Ich dachte immer, die Leute hier sind etwas steif und zurückhaltend. Aber die leben ja regelrecht auf der Straße!“ „Es hat was Privates, das stimmt. Man darf die Iren auf keinen Fall mit den Engländern vergleichen. Das ist ein völlig anderer Menschenschlag.“ Sven schaute sich ebenfalls interessiert um und genoss die lockere Stimmung in den abendlichen Straßen.
„Christopher erzählte, die Engländer hätten sich hier Jahrhunderte breitgemacht und die Iren und ihre Kultur unterdrückt. Tatsächlich gibt es die Republik Irland erst seit den zwanziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts – und Nordirland gehört politisch immer noch zu England.“
„Dort führten sie doch bis vor ein paar Jahren einen Religionskrieg, wenn ich das richtig verstehe, Katholiken gegen Protestanten. Und so ganz scheint der noch nicht vorbei zu sein. Unvorstellbar, in unserer aufgeklärten Zeit.“ Julia schüttelte den Kopf.
„Ich glaube, das hat weniger mit Religion zu tun, als vielmehr damit, dass die Iren katholisch und die Engländer protestantisch sind – es ist eher der Konflikt zwischen den Iren, die zu Irland und denen, die zu Großbritannien gehören wollen. So genau weiß ich das aber auch nicht. Hätte ich mich besser informieren sollen?“
„Ach was. Ich will jetzt nichts von Konflikten hören. Ich will das hier genießen, mit dir zusammen.“
Julia blieb plötzlich bei einer Gruppe von Straßen- musikanten stehen, wie etliche andere Passanten auch. „Kann es sein, dass mir das Lied bekannt vorkommt?“
„Ich hoffe doch, dass du dich daran erinnerst“,
lächelte Sven, „das ist ‚Fields of Athenry’ – hörst du?“
„Welch ein Zufall. Mein Geburtstagsgeschenk-
Lied. Du hast das nicht zufällig im Voraus arrangiert?“
„So weit reichen meine Verbindungen auch wieder nicht. Es ist wirklich ein Zufall – oder Bestimmung.“
Sie gingen langsam weiter.
„Schau mal, hier gibt es aber hübschen Schmuck.
So was habe ich ja noch gar nicht gesehen. Zwei
Hände halten ein Herz mit einer Krone. Das gefällt mir.“ Julia drückte sich die Nase an einem der Schaufenster platt.
„Wir können ja morgen noch mal herkommen, wenn die Läden geöffnet haben. Das gehört alles zu deinem Geburtstagsgeschenk, du darfst bestimmen, was du gern machen möchtest.“
Julia entdeckte noch weitere Läden, die ebenfalls Schmuck mit dieser Anordnung führten. Das musste hier so eine Art Tradition sein, einer hatte es sogar auf die Hausfassade gemalt. Schließlich entschieden sie sich eher aufs Geratewohl für einen Pub, nachdem sie bemerkt hatten, dass alle gesteckt voll waren, egal, ob eine Live-Gruppe spielte, oder die Musik vom Band kam. Und überall wurde das schwarze Bier in bauchige Halblitergläser gezapft.
Sven kannte es von seinem Dublin-Aufenthalt vor
ein paar Jahren. Der Geschmack des berühmten
Guinness war gewöhnungsbedürftig, herb und
gleichzeitig süßlich. Bis es ihm schließlich gelang, aus der dritten Reihe an der Theke zwei Gläser zu ergattern, war Julia bereits in ein Gespräch mit einem älteren Mann verwickelt. Sie hatte Mühe, sein Englisch zu verstehen, das hin und wieder mit völlig fremden Worten gespickt war, verstand aber gerade genug, dass er wissen wollte, woher sie kam, ob sie das erste Mal in Irland sei, wann sie angekommen war, ob sie allein unterwegs sei und wie ihr Galway gefalle. Sie bemühte sich, ihre Antworten verständlich zu formulieren. Als Sven mit dem Guinness kam, blieb er aber trotz aller Versuche, den Alten vom Gegenteil zu überzeugen, ihr ‚handsome husband’ – und sie Svens ‚beautiful wife’, die zusammen sicher eine ganze Batterie ‚lovely children’ hätten. Als sie die Kinder verneinten, klopfte er ihnen tröstend auf die Schultern, sagte, sie sollten sich nur keine Sorgen deswegen machen, das würde sicher noch klappen. Die Natur finde immer einen Weg. Dann wünschte er ihnen noch einen unterhaltsamen Abend, schöne Tage in Galway und tauchte in der Menge unter.
Julia sah Sven an, noch ganz verwirrt von dem
Gespräch. „Daran gewöhnst du dich besser gleich“, sagte Sven, „eines der wenigen Dinge, die ich über die Iren weiß ist, dass sie einfach jeden anquatschen. Es gibt hier ein Sprichwort, das besagt ‚Fremde sind Freunde, die man noch nicht kennen gelernt hat’ – und jeder scheint pausenlos damit beschäftigt, seinen Freundeskreis zu erweitern. Dazu sind sie absolut kinderverrückt. Das kann uns noch ein paar Mal passieren, so lange wir hier sind.“
„Ich weiß gar nicht, was ich dazu sagen soll. Es
wimmelt hier von jungen Leuten, die Musik ist laut – ein Mann seines Alters würde bei uns zu Hause nie in so eine Kneipe gehen. Und erst recht kein Gespräch mit völlig fremden Ausländern anfangen. Irgendwie war er goldig, nicht? Wie hat er dich genannt – ‚handsome husband’? Gehe ich recht in der Annahme, dass das nichts mit ‚handzahm’ zu tun hat? Das hab ich nämlich zuerst verstanden.“
Sven musste herzhaft lachen und verschluckte
sich fast an seinem Guinness. „Nein, meine wunder- schöne Frau, er hält mich lediglich für deinen gut aussehenden Mann, weswegen wir ja hübsche Kinder zusammen haben müssen.“
Da die Aussicht auf einen Sitzplatz eher schlechter als besser wurde, verließen sie den Pub, nachdem sie ihr Bier ausgetrunken hatten. Sie schlugen die Richtung zum Hotel ein, saßen noch für eine Zigarettenlänge auf einer Bank am Eyre Square und gingen dann auf ihr Zimmer, damit sie nicht noch das Frühstück mit Phil verschliefen.
32. Irlandwochenende: Clifden
„Mir soll bloß niemand mehr erzählen, man könnte hier nicht gut essen“, sagte Julia, als sie das Restaurant mit den blauen Fensterrahmen verließen, „allein dieses Brot mit den Kräutern, oder was immer sie in den Teig gemischt haben. So was Tolles hab ich noch nie gegessen.“
„Und gemütlich. Man erkennt noch deutlich das
ursprüngliche Wohnhaus und die einzelnen Zimmer. Noch ein Spaziergang durch den Ort?“ fragte Sven und legte seinen Arm um ihre Schulter.
„Aber nur ein ganz kleiner – okay, der Ort ist eh nicht besonders groß. Richtig übersichtlich. Nach dem Marathon durch Galway und dann den Hügel zu diesem Cottage hinauf hatte ich heute schon ausreichend Bewegung.“
„War sehr interessant, diese Anlage mit dem Cottage und den Rundhütten im See. Wenn man bedenkt, die Hälfte der Bevölkerung entweder verhungert oder auf den Auswandererschiffen zugrunde gegangen – die wenigen, die es geschafft haben, hatten wirklich Glück. Und das ist gerade mal hundertfünfzig Jahre her – und bei uns zu Hause kaum bekannt. Ich wusste jedenfalls nichts davon, du?“
„Ich kann mich dunkel erinnern, dass wir in der Schule mal was über die Kartoffelpest hatten. In ganz Europa soll die Ernte verfault sein, aber auf dem Kontinent hatten sie wenigstens noch das Korn, das sie vor dem Schlimmsten bewahrte. Hier gab es nur Kartoffeln und Gras. – Aber stell dir mal vor: eine Fenstersteuer! Nur weil du Glas statt Lumpen in den Fensterrahmen hast, sollst du extra Steuern dafür zahlen! Ich kann verstehen, dass die Iren die Engländer nicht besonders mochten.“ Sie waren am oberen Ende des Ortes angekommen. „Schau, hier ist noch ein Tisch frei. Magst du was trinken? Ein Guinness – oder lieber was anderes?“
So klein der Ort auch war, gab es mehrere Pubs verschiedener Größenordnung. An der Kreuzung am Ortseingang waren auf dem breiten Bürgersteig Tische und Bänke aus grob behauenem Holz aufgestellt – und ihr Hotel lag direkt gegenüber.
„Das Guinness gestern war nicht schlecht, aber
ein kleines würde mir reichen“, nickte Julia und
setzte sich. Während Sven hineinging, um zwei
Gläser des Nationalgetränks zu holen, bewunderte Julia ihren Ring, den sie in Galway gekauft hatten.
Sie waren in mehreren Geschäften gewesen und
überall hatte man sie über die Bedeutung des
Symbols aufgeklärt: das Claddagh – eigentlich ein Ortsteil von Galway, war es heute die Bezeichnung des Symbols Herz, Hände und Krone. Das Herz stand für Liebe, die Hände für Freundschaft und die Krone für Treue. Ursprünglich war es ein Ehering, den nur Frauen trugen; er wurde sogar von der Mutter an die Tochter weitergegeben. Julia hatte sich erst gesträubt, aber Sven bestand darauf, dass
sie sich einen aussuchte. Heutzutage galt er nicht mehr nur als Ehering, viele Mädchen und Frauen trugen ihn als Schmuckring, versicherten die Verkäufer.
Sogar die Art, wie der Ring an der Hand getragen
wurde, hatte eine Bedeutung: am rechten Ringfinger, mit dem Herz zur Fingerspitze hieß, man war mit jemandem zusammen, aber noch nicht fest versprochen. Also frei nach dem Motto‚ drum prüfe, wer sich ewig bindet, ob sich nicht noch was Bess’res findet’. Zeigte allerdings die Krone zur Fingerspitze, war man praktisch verlobt. Glücklich Verheiratete trugen den Ring mit der Krone nach außen am linken Ringfinger – zeigte hier das Herz nach außen, hieß es aufgepasst: man war zwar verheiratet, aber einem kleinen Abenteuer nicht abgeneigt.
Julia hatte die ganze Geschichte so fasziniert, dass dies jetzt nicht nur ein Schmuckring für sie war. Was immer Sven davon halten mochte – gesagt hatte er nichts dazu – sie trug ihn wie einen Verlobungsring, auch wenn er das nicht wirklich war.
„Wie ich sehe, gefällt er dir immer noch.“ Sven stellte ein großes und ein kleines Glas Guinness auf den Tisch und setzte sich neben sie.
„Wie sollte er das nicht? Wir haben den halben
Tag nichts anderes gemacht, als von Juwelier zu Juwelier zu laufen, bis ich mich endlich für diesen entscheiden konnte. Und du hättest mich dafür bezahlen lassen sollen. Du schenkst mir schon dieses Wochenende – und jetzt auch noch den Ring – das ist einfach zu viel.“
„Ist es nicht, Julia. Lass mir die Freude. Du bist es, die mein Herz in den Händen hält, beschützt von der Krone. Es ist genau richtig so.“ Sven hielt Julias Hand in seinen Händen und sah ihr tief in die Augen.
Aus dem Pub klang ein melancholisches Lied zu ihnen heraus, und die letzten Sonnenstrahlen färbten die Wolken in Rosa- und Blautönen.
„Glaubst du, Katrin und Jonas gefallen die Pullover?“ fragte sie schließlich, bevor die Stimmung zwischen ihnen so kitschig wurde wie der Himmel über ihnen.
„Wenn nicht, können sie sie meinetwegen auf
Petras nächstem Basar verkaufen. Slainte.“ Sven
hob sein Glas und sie tranken. „Ich werde in meinem jedenfalls nächsten Winter nicht frieren.“
„Was steht morgen auf deinem Programm?“ fragte Julia.
„Wie kommst du darauf, dass ich ein Programm habe? Es ist dein Wochenende. Was möchtest du
unternehmen?“ gab Sven die Frage zurück.
„Also gut, aber es ist unser Wochenende; auf
deiner Karte stand sogar ‚romantisches Wochenende’ – du musst dir doch irgendetwas darunter vorgestellt haben“, beharrte sie.
„Dann mach ich dir drei Vorschläge: Wir fahren
über die Sky Road, die Klippen sollen sehr romantisch sein; oder wir besuchen Kylemore Abbey, die wurde von einem wohlhabenden Mann für seine geliebte Frau erbaut und liegt direkt an einem See. Auch wenn heute eine Klosterschule drin ist, kann man das Haus besichtigen und durch den Park laufen. Oder wir nehmen die Fähre nach Inishboffin und verbringen den Tag am Strand. Such dir was aus.“
„Siehst du, ich wusste, du hast ein Programm“,
lachte Julia.
„Ich musste mich ja wenigstens ein bisschen vorbereiten“, gab Sven zu, „also – wohin möchtest du?“
„Strand haben wir zu Hause auch. Sky Road
klingt gut und die Abbey auch. Ist das weit? Können wir beides machen?“
„Sicher können wir das. Die Sky Road beginnt gleich hinterm Ortsausgang, bis Kylemore Abbey ist es etwa eine halbe Stunde, und wir haben zwei Tage hier, bevor wir zurück nach Galway fahren.“
„Dann möchte ich jetzt ins Hotel und ins Bett.
Zum Glück ist das nur über die Straße.“ Julia gähnte.
„Ich bin ganz schön müde nach der Lauferei.“
„Ich hoffe, du bist nicht zu müde ...“ „Vielleicht ...“
Am nächsten Morgen war der Himmel bedeckt,
und feiner Regen fiel – nein, eigentlich schwebte er mehr in der Luft: ‚irish mist’ nannte man diese Erscheinung, denn es war nicht mal Nieselregen. Als sie beim Frühstück saßen, überlegten sie, ihren Plan einfach umzustellen – also an diesem Tag zur Abbey und am nächsten über die Sky Road zu fahren. Vielleicht hatte es bis dahin wieder aufgeklart. „Das kann man nicht wissen“, sagte das Mädchen, das ihnen den Kaffee brachte, und von ihrem Gespräch zumindest die wichtigsten Worte, und vor allem den Blick aus dem Fenster mitbekommen hatte, „in einer halben Stunde kann schon wieder die Sonne scheinen. Eins unserer zahlreichen Sprichworte lautet: wenn dir das Wetter nicht gefällt, warte zehn Minuten.“
Sie gab ihnen auch noch den Tipp, nach Kylemore
Abbey nicht den kürzeren Weg über Letterfrack
zu nehmen, wo im Übrigen der Eingang zum Con-
nemara Nationalpark lag, den sie ihnen ebenfalls
empfahl, sondern quer durch die zwölf Bens zu
fahren. Das sei nicht nur die landschaftlich schönere Strecke, sondern sie hätten auch, wenn sie an der ‚T-Junction’ der N59 links abbogen, von der Straße aus den schönsten Blick über den See auf die Abbey.
Sven ließ sich erklären, in welche Richtung er
fahren musste und wo er abbiegen sollte, und
bedankte sich bei dem Mädchen.
Bis sie mit dem Frühstück fertig waren, hatten
sich tatsächlich die düsteren Wolken zum Großteil verzogen, und hier und da war schon wieder blauer Himmel zu sehen. Also doch die Sky Road zuerst – an der Kreuzung wies ein Schild die Richtung, allerdings mussten sie wegen der Einbahnstraßen einmal quer durch den Ort fahren. Sven fuhr die Straße hoch, und als sie aus dem Wald kamen, wurde sie eher noch schmaler als zuvor und schlängelte sich am Klippenrand durch Grasland, bis sie buchstäblich auf der Kuppe des nächsten Hügels im Himmel zu verschwinden schien.
„Bist du sicher, dass wir hier richtig sind?“ fragte Julia zweifelnd, „das sieht mir eher nach einem Privatweg aus. Sicher landen wir auf einer Schaffarm.“
„Ich bin nach dem Schild am Ortsrand nicht mehr
abgebogen, wir müssen richtig sein. Auch dem
Aussehen nach kann das nur die Straße in den
Himmel sein. Außerdem kann ich hier eh nicht
wenden, wir müssen also einfach weiterfahren und sehen, wo wir landen.“
„Sven! Das ist phantastisch – kannst du das sehen? Kannst du die Klippen und das Meer von
deiner Seite aus sehen?“ rief Julia aufgeregt, als sie zwischen den Ginsterhecken am Straßenrand die steil abfallenden Felsen und die Gischt der Brandung erkennen konnte. „Kannst du vielleicht kurz anhalten?“
„Ich kann ein bisschen was erkennen, aber anhalten kann ich hier beim besten Willen nicht. Ich kann ja nicht mitten auf der Straße stehen bleiben; dann kommt keiner an uns vorbei – und hinter uns kommen leider noch zwei Autos.“
Nach dem ersten Hügel kamen noch weitere Klippen und einmal war sogar Sven überzeugt, dass hinter der nächsten Kuppe die Welt zu Ende sein müsste. Das letzte sichtbare Stück der Straße führte schnurgerade mitten in die Wolken. Julia krallte sich in seinen Arm, als Sven direkt in diese letzte Regenwolke hineinfuhr. Auf der anderen Seite senkte sich die Straße ein wenig und als sie aus der Wolke herauskamen, waren sie auf dem Plateau angekommen, kurz vor einem Parkplatz. Sven hielt neben drei oder vier anderen Autos an.
„Das glaube ich nicht. Ich glaub das einfach nicht“, stammelte Julia vor sich hin und sah Sven an, „sag, dass wir nicht mitten durch eine Wolke gefahren sind.“
„Schau selbst, Julia.“ Sven stieg aus und trat
dann neben Julia, legte die Arme um sie und beide schauten zu, wie sich die letzten Wolkenfetzen wie Fäden von Zuckerwatte von der Klippe lösten und schließlich die ganze Wolke einfach verschwunden war. Der ganze Himmel strahlte in intensivem Blau, nur über dem Meer und den kleinen Inseln schwebten schneeweiß ein paar Schäfchenwolken.
„Das werde ich mein ganzes Leben nicht vergessen“, flüsterte sie und drehte sich zu Sven um, „danke, Sven.“
Sven schwieg, er hielt sie nur fest in seinen Armen.
Lange Zeit sagten beide kein Wort, rührten
sich nicht und hielten sich nur fest umschlungen. Als Julia schließlich den Kopf hob, um Sven anzusehen, bemerkte sie Tränenspuren auf seinen Wangen. Sein Blick löste sich langsam aus der Ferne und als er in ihr erschrockenes Gesicht sah, lächelte er. „Es ist alles in Ordnung. Es ist gut, mir fehlt nichts“, beruhigte er sie mit etwas rauer Stimme und küsste sie kurz. Dann wischte er sich mit beiden Händen über das Gesicht, um die verräterischen Spuren zu beseitigen.
„Sag nicht, das war vom Wind“, sagte sie eindringlich, stellte aber keine weitere Frage und Sven war ihr dankbar dafür.
„Hast du eine Zigarette für mich?“ fragte er, und Julia sagte auch dazu nichts, drehte sich zum Auto um und zündete zwei Zigaretten an. Dann gingen sie zum Klippenrand und setzten sich auf die Felsen, schauten hinunter auf das Tiefplateau, wo verstreut einzelne Häuser standen, auf den glitzernden Atlantik dahinter und rauchten schweigend.
„Meine Mutter hat mir einen Brief hinterlassen“,
sagte er plötzlich, den Blick aufs Meer gerichtet, „sie hatte ihn lange vorher geschrieben und Phil hat ihn für mich aufbewahrt. ‚Wenn wir eines Tages nicht zu dir zurückkommen können, glaub niemals, dass wir dich verlassen haben’ stand drin, ‚auch wenn du uns nicht sehen kannst, werden wir immer bei dir sein, hinter einer Wolke am Himmel verborgen. Eines Tages wird sich diese Wolke auflösen und dann weißt du, dass wir dir nahe sind.’ – Ich war zwölf und ich war wütend und ich habe es nicht verstanden. Bis heute.“
Sven schwieg und auch Julia wagte nichts zu sagen, um den Augenblick nicht zu zerstören; sie
wagte nicht einmal, ihn zu berühren, sah ihn nur an und schluckte an dem Kloß in ihrem Hals. Sie sah den wütenden kleinen Jungen, dessen Eltern tot waren, der den Schmerz über seinen Verlust nicht zulassen wollte, ihn mit aller Macht verdrängte. Der mit diesem Schmerz, tief in sich vergraben, erwachsen geworden war. Sie konnte fast hören, wie die Ketten in ihm brachen und zu Staub zerfielen. Was immer er Laura über seine Eltern erzählt haben mochte, hatte diese Ketten noch nicht gelöst. Brüchig gemacht, vielleicht.
„Komm, Julia, lass uns ein Stück die Straße entlang gehen. Ich konnte nicht wirklich viel sehen vom Auto aus“, sagte er schließlich, stand auf und hielt ihr die Hand hin. So gingen sie zusammen auf dem schmalen Grasstreifen am Straßenrand bis zur Spitze der letzten Klippe, wo von der Wolke nicht einmal Tautropfen im Gras geblieben waren, und genossen zusammen die Aussicht.
In dieser Nacht hielt sie Sven in ihren Armen und hörte ihm zu, als er von seiner Kindheit erzählte, von den Ausgrabungsorten, die er mit seinen Eltern besucht hatte; wie er sich nachts im Zelt zu seiner Mutter geflüchtet hatte, wenn unbekannte Tiere auf nächtlichem Beutezug seltsame Geräusche mach ten; wie sie ihrem kleinen Sohn Geschichten erzählte, bis er einschlief. Julia fühlte sich in dieser Nacht Sven näher, tiefer verbunden, als wenn sie miteinander geschlafen hätten. War das der Zauber Irlands, der Heimat von Feen, Elfen und Kobolden, dass die Menschen gesund wurden in ihrer Seele? Dass sie erkannten, dass es mehr als das Sichtbare gab, etwas das sie nur ahnen, nicht begreifen konnten, das aber ein wichtiger Teil des Lebens war?
Texte: Layoutgestaltung Waltraud Grampp und TZ-Verlag &Print Gembh
Tag der Veröffentlichung: 25.05.2010
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Für Rosel, die an allem Schuld ist. Für Siggi, die mich antrieb. Und nicht zuletzt für Stephanie, die immer für die nötige Bodenhaftung sorgte.