In Strömen lief der Regen den kalten, grauen Asphalt hinab um dann zu den Seiten hin in die Kanalisation zu verschwinden. Schon seit Tagen hatte diese Stadt kein Sonnenlicht mehr gesehen.
Eine Frauenstimme fluchte, ihr Absatz hatte sich in einem Gullideckel verfangen.
Wild mit dem Schirm in ihrer rechten Hand fuchtelnd versuchte sie, ihn zu befreien, was ihr schließlich auch gelang. Als wäre nichts gewesen, schob sie ihre Brille zurecht und setzte ihren Weg fort, die Blicke der Passanten ignorierend.
Es dauerte nicht lange, bis sie ein kleines Waldgebiet durchquert hatte, nicht ohne weiter darüber zu spekulieren, warum sie gerade bei diesem Wetter die teuren Schuhe angezogen hatte, und an einem großen Eisentor ankam.
Dahinter lag ein Gebäude, das aussah, wie eine Lagerhalle. Von den meisten wurde es wahrscheinlich auch dafür gehalten, und das war besser so. Denn nur die wenigsten wussten, was sich wirklich hinter den kühlen Mauern verbarg.
Ms. Lurey kramte nun in ihrer Handtasche, während sie ihren Schirm unter ihren Arm geklemmt hatte, nach der kleinen, blauen Chipkarte. Jedes Mal musste sie dieses Ding suchen. Vielleicht sollte sie sich auf anraten ihrer Freundin wirklich mal eine Brieftasche zulegen.
Endlich fand sie das Ding und zog es durch den dafür vorgesehen Schlitz, ehe sie einen Schritt zurück trat und beobachtete, wie sich das große Eisentor unter einem warnenden Piepen öffnete. Ohne sich weiter umzusehen stöckelte sie hinein, während die Tore sich hinter ihr wieder schlossen.
Eine angenehme Wärme schlug ihr entgegen, als sie das steril gehaltene Gebäude betrat und ihren Schirm in der Halterung neben der Tür abstellte.
Der dicklichen Empfangsdame am Tresen nickte Ms. Lurey kurz zu und richtete erneut ihre Brille, eine Angewohnheit. Dann betrat sie den Gang, den sie nun schon seit ein paar Monaten regelmäßig entlang ging. Ihr Blick huschte dabei zu den Wänden, die verziert waren mit unzähligen, von Kinderhand geschaffenen Zeichnungen.
Endlich erreichte sie die schwer gesicherte Metalltür. Langsam hob sie die Hände, klopfte sie. Keine Antwort, aber das war sie gewöhnt. Erneut holte sie ihre kleine, blaue Chipkarte hervor und die Tür öffnete sich.
„Luna?“ fragte sie in heller Stimme, als sie den ebenso steril gehaltenen Raum betrat. Ein kleines, schwarzhaariges Mädchen saß auf einem Hocker am Fenster und starrte geradezu melancholisch auf die Straße. Sie schien Ms. Lureys Eintreffen nicht mitbekommen zu haben, weswegen sie sich nocheinmal räusperte. Jetzt endlich drehte das Mädchen sich um, und ihr Gesicht hellte sich auf.
„Tracey!“ stieß sie aus, stand auf und setzte sich an den kleinen Tisch in der Mitte des Raumes. Auch Tracey ging nun auf diesen zu und setzte sich ihr gegenüber, die Tür schloss sich automatisch hinter ihnen. Sie sah einen Moment auf das Mädchen, ehe ihr ein leiser Seufzer entfuhr.
Gerade einmal 14 Jahre alt, und schon hier gelandet. Ms. Lurey begann nun, Luna in ein Gespräch zu verwickeln. Über dies und das, ganz nebensächliche, unbedeutende Dinge, aber sie halfen ihr, Vertrauen aufzubauen, und das war ihr Job. Dann jedoch kam sie auf ein ernsteres Thema zu sprechen, was man auch an ihrem veränderten Gesichtsausdruck erkennen konnte.
„Ist.. in letzter Zeit etwas passiert?“, fragte sie und sah das Mädchen forschend an. Sie beide wussten, was Tracey meinte, und Luna sah sie einen Moment an, ehe sie zaghaft den Kopf schüttelte.
„Nein, nichts.“ antwortete sie schließlich, und Ms. Lureys Gesichtsausdruck entspannte sich wieder. Sie wusste es besser. Nun allerdings stand sie auf und griff nach dem Mantel, den sie über den Stuhl gehangen hatte.
„Tja, ich muss wieder gehen. Unsere Zeit ist um.“, erklärte sie Luna. Diese blickte etwas traurig drein, nickte aber.
„Kommst du.. bald wieder?“
„Sehr bald.“ Tracey schenkte ihr noch ein Lächeln, dann verließ sie den Raum. Zum letzten Mal, denn sie hatte einen Entschluss gefasst. Langsam ging sie den Gang zurück, bis zur Empfangsdame. Vielsagend lächelte sie sie an.
„Sagen sie Dr. Rade bescheid. Nummer 254 ist soweit.“
Luna blickte noch einen Moment auf die Tür, hinter der Tracey geradeeben verschwunden war, ehe sie sich langsam wieder erhob und zurück an das Fenster setzte. Die Besuche wurden in letzter Zeit seltener, kürzer.
Und dabei waren sie das einzige, was ihr ein wenig Abwechslung in ihren grauen Alltag brachte.
Ihr Blick folgte den dicken Wassertropfen, die langsam das Glas der Scheibe hinunterliefen und auf dem Fenstersims zu einer kleinen Pfütze verschmolzen.
Die Tage hier zogen sich hin, verschwammen ineinander und Luna fragte sich zunehmends, ob sie jemals wieder hier raus kommen würde. Sie war aus einem bestimmten Grund hier. Sie war hier, weil sie Dinge konnte, die andere nicht konnten.
Ihr Blick huschte in die Ecke des sterilen Zimmers, ein kleines, rotes Lämpchen blickte ihr entgegen. Sie dachten wirklich, Luna wusste nicht, dass sie sie beobachteten. Die Tür wurde geöffnet, aber Luna drehte sich nicht um, um nachzusehen, wer sie da besuchen kam.
Etwas wurde abgestellt, ein leises klirren ertönte. Schritte, dann fiel die Tür wieder in ihr undurchdringliches Schloss. Luna drehte sich auf ihrem Stuhl um.
Auf dem kleinen Tischchen stand ein Tablett, darauf ein Laib Brot, eine Kanne mit klarem Wasser und ein Glas, außerdem eine dampfende Schüssel. Der Geruch des Inhaltes, offensichtlich eine Suppe, breitete sich in dem kleinen Raum aus. Ihr Mittagessen.
Sie verengte die Augen zu Schlitzen.
Eigentlich müsste sie nichtmal aufstehen. Ein kleiner Gedanke würde genügen, und das Essen würde mit allem, was darauf war zu ihr herüber geschwebt kommen. Aber wenn sie diese Dinge nicht mehr tat, wenn sie sich ganz normal benahm… vielleicht dürfte sie dann irgendwann hier weg.
Wenn sie dachten, dass sie diese Sachen nicht mehr konnte. Also erhob sie sich langsam von ihrem Stuhl am Fenster und ging auf den Tisch zu.
Das Brot war wohl schon etwas älter, stellte sie fest, während sie kleine Stücke davon abbrach und sie sich in den Mund schob. Manchmal tunkte sie das Brot auch kurz in die Suppe, damit es wenigstens etwas weicher wäre. Die Suppe war fad, geschmacklos. Aber was anderes bekam sie hier nunmal nicht. Schon bald war die Schüssel geleert und das Brot aufgegessen.
Auch die Kanne hatte sie ausgetrunken und alles zusammen beiseite gestellt. Irgendwann würde eine von diesen Frauen in den weißen Mänteln kommen, um die Sachen abzuholen. So wie jeden Tag.
Doch Luna wurde in ihren Gedanken gestört, als sich ihre Tür öffnete und ein Mann mit schwarzen Haaren eintrat. Auch er trug einen dieser Mäntel, außerdem ein Klemmbrett.
Und er lächelte sie so seltsam an. Sie schluckte einen Moment. Der Mann schloss die Tür hinter sich wieder und setzte sich ihr gegenüber.
„Mein Name ist Dr. Rade. Mir gehört diese Institution. Dieses Haus für besondere Kinder. Du bist auch ein besonderes Mädchen, Luna.“, sprach er leise, und noch immer hatte er dieses Lächeln aufgesetzt.
Wahrscheinlich sollte es den Zweck haben, sie zu beruhigen, aber diesen verfehlte es ganz gewaltig. Nervös begann Luna, mit ihren Fingernägeln herumzuspielen. Was wollte dieser Kerl von ihr?
„Wie ich sehe, hast du schon aufgegessen? Die meisten brauchen etwas länger, anscheinend schmeckts dir?“, fragte Dr. Rade. Luna nickte, auch wenn es nicht der Wahrheit entsprach. Wem würde dieses Essen schon schmecken.
„Jedenfalls, wie du dir sicher denken kannst, bin ich aus einem bestimmten Grund hier.“, sprach er nun weiter.
„Du hast Tracey sehr gerne, nicht wahr?“ Nun horchte Luna doch auf und blickte Dr. Rade direkt an.
„Sie hat dich aus einem bestimmten Grund so oft besucht. Weißt du, sie ist von einer Schule. Einer besonderen Schule, wo du lernen kannst, mit deinen außergewöhnlichen Fähigkeiten umzugehen.“, erklärte er. Luna spürte, wie ihr Hals trocken wurde. Würde sie hier raus kommen? Würde Tracey sie mitnehmen, zu dieser Schule? Sonst würde dieser Mann ihr das doch nicht erzählen oder? Ein Hoffnungsschimmer blitzte in ihren goldenen Augen auf. Mr. Rade schien es zu bemerken und lächelte, dieses Mal sanfter als geradeeben, nicht so aufgesetzt.
„Du kannst Dinge bewegen, ohne dass du sie berühren musst.“, sagte Dr. Rade. Es war mehr eine Feststellung, aber Luna nickte dennoch, sodass ihre schwarzen Locken nur so auf und ab wippten. Er nickte ebenfalls kurz, dann stand er wieder auf.
„Tracey wird dich Morgen früh abholen. Pack solang alles, was du mitnehmen willst.“, erklärte Dr. Rade noch, dann ließ er Luna zurück. Sie brauchte noch einige Momente, um zu verarbeiten, was er gerade gesagt hatte, dann strahlte sie übers ganze Gesicht.
Sie würde hier weg kommen! Schon Morgen früh! Sie würde auf eine Schule gehen können, ganz normal, wie andere Kinder auch! Sie würde endlich ihr ganz normales Leben bekommen!
Mehr oder weniger normal. Gleich öffnete sie den Wandschrank, der in demselben Weiß gehalten war, wie alles andere in diesem Raum. Viel besaß sie nicht, nur ein paar Anziehsachen, eine kleine Spieluhr in Form eines Medaillons und ihre Bücher.
Etwas unglaublich Wertvolles für sie. Sie und die Spieluhr waren das einzige, was sie an ihr Leben vor dieser Anstalt erinnerte, das einzige Andenken an…
Dafür war jetzt keine Zeit. Sie war so glücklich, das wollte sie sich nicht mit düsteren Gedanken an die Vergangenheit kaputt machen. Sie griff das Medaillon und hing es sich um den Hals, ließ das Ende unter ihrem Pulli verschwinden und schüttelte ihre langen, schwarzen Haare wieder auf.
Kurz darauf griff sie sich ihre Anziehsachen und die Bücher und legte sie sorgfältig zusammen. Sie hatte keinen Koffer oder dergleichen.
Sie müsste wohl bis zum Morgen warten und darauf hoffen, dass Tracey irgendwas mitbrachte. Bis zum Morgen… das kam ihr wie eine unglaublich lange Zeit vor, auch wenn sie schon Jahre hier verbracht hatte.
Nervös setzte sie sich auf ihr Bett. Hier drin hatte sie absolut kein Zeitgefühl. War es schon Zeit zu schlafen? Schwer zu sagen, bei dem Regen war es immer dunkel. Luna ließ sich nach hinten fallen und sah an die Decke. Bald wäre dieser Alptraum hier zu Ende.
Den restlichen Tag hatte Luna quälend hinter sich gebracht. Die Stunden zogen sich dahin wie ein ausgelutschter Kaugummi, immer wieder hatte sie gewechselt zwischen dem Hocker am Fenster, dem Tisch und ihrem Bett.
Die Aussicht wurde langweilig, alles was sie sehen konnte, war der dicht bewachsene Wald in dem Kinder wie sie versteckt wurden.
Und das monotone Plätschern des Regens auf die Glasscheibe und den Fenstersims was das einzige Geräusch, welches die Stille des Raumes ab und an unterbrach. Irgendwann dann war sie in einen unruhigen Schlaf gefallen. Hin und her wälzte Luna sich, den Kopf vollgepackt mit Träumen über das bevorstehende. Manche waren vielleicht war, manche waren Blödsinn, ein buntes Wirrwarr, aus dem man nichts hätte erkennen können.
Bereits die ersten Sonnenstrahlen des nächsten Morgens, die ihre Nase kitzelten weckten sie.
Schlaftrunken setzte sie sich auf, schüttelte sich einmal ihre Haare aus und warf den Blick aus dem Fenster. Helles Licht schien ihr entgegen, die Wassertropfen auf den grünen Blättern vor ihrem Fenster glitzerten. Ein Lächeln schlich sich auf Lunas Gesicht.
Das erste Mal seit Tagen hatte es wieder aufgehört zu regnen. Ein gutes Zeichen. Nun erhob sie sich ganz von ihrem Bett und ging zu dem Schrank hinüber. Als sie ihn öffnete, lagen ihre Sachen noch immer fein säuberlich zusammen gelegt auf dem Schrankboden.
Bereit, abgeholt zu werden, auf nimmer wiedersehen. Luna fragte sich, wann Tracey wohl kommen würde. Dr. Rade hatte nur Morgenfrüh gesagt. Aber wie spät war es denn nun? Wie lang hatte sie geschlafen? Es half nichts, sich verrückt zu machen.
Erst einmal zog sie sich frische Sachen an, legte die alten auf den Stapel. Am liebsten hätte sie sich raus geputzt, ein wenig hübsch gemacht, aber sie hatte nicht besonderes anzuziehen. Also blieb es bei einem blauen Pullover und einer einfachen, dunklen Stoffhose.
Soweit bereit setzte sie sich wieder auf ihr Bett und faltete die Hände auf dem Schoß. Endlich blinkte das kleine Licht an ihrer Tür und verriet, dass jemand von der anderen Seite gerade die Chipkarte durchzog.
Ihre Augen weiteten sich gespannt, doch als sie sah, wer da reinkam, seufzte sie. Es war nur eine der Arbeiterinnen hier, die das Frühstück hereinbrachte.
Ein paar Scheiben Brot, ein bisschen Wurst und Käse und eine Kanne Wasser.
Die Frau nickte ihr kurz zu und ging dann wieder. Es wäre auch zu schön gewesen. Aber vielleicht könnte das Essen ihr die Zeit bis Tracey endlich kommen würde ein wenig vertreiben. Also stand sie auf und ging an den Tisch, ließ sich nieder und griff nach einem Stück Brot. Dieses knabberte sie, einfach trocken, den Blick kontinuierlich auf die Tür gerichtet.
Sie schmeckte kaum etwas, das Wasser trank sie hinterher um das trockene, harte Brot runter zu kriegen. Bald zeugten nurnoch ein paar Krümel davon, dass hier gerade noch Brot lag. Als nächstes nahm sie sich den Käse vor, auch den aß sie einfach so, und zu guter Letzt auch noch die Wurst.
Den letzten Rest aus der Kanne schluckte sie herunter, dann war sie fertig.
Allerdings immernoch kein Zeichen von Tracey. Langsam wurde Luna nervös. Vielleicht hatte sie sie ja vergessen. Oder vielleicht hatte der Mann auch nicht die Wahrheit gesagt. Gedanken kreisten um Gedanken, und alle landeten wieder auf einem Punkt. Sie würde hier bleiben müssen.
Doch dann leuchtete erneut das Lämpchen, die Tür öffnete sich und Dr. Rade trat ein. Lunas Herz machte einen Sprung.
„Tracey wartet unten auf dich. Ich hab hier eine Tasche, da kannst du deine Sachen reintun.“, sagte er und reichte ihr eine, schon etwas gebraucht aussehende Ledertasche.
Dr. Rade hatte seinen Satz noch nicht ganz zu Ende gesprochen, da war Luna schon aufgesprungen und hatte ihm die Tasche förmlich aus der Hand gerissen. Sofort packte sie den Kleiderstapel und auch ihre Bücher in die Tasche.
Diese war mehr als ausreichend für ihre Sachen, und ohne Dr. Rade auch nur eines weiteren Blickes zu würdigen huschte sie an ihm vorbei auf den Gang. Hier war sie das letzte Mal gewesen, als sie in diese Anstalt gebracht wurde, vor vier Jahren.
Sie war Barfuß, der kalte Boden unter ihren Füßen war ein wenig unangenehm, und doch genoss sie es irgendwie. Dann lief sie die Treppen hinunter, und schon bald erblickte sie Tracey in der großen Empfangshalle, lächelnd auf sie wartend.
Lunas Lächeln breitete sich über ihr ganzes Gesicht aus, als sie ihre Tasche einfach fallen ließ und auf sie zu rannte. Mit einem Satz landete sie in ihren Armen, und Tracey fing sie auf, die Augen vor Überraschung geweitet.
„Vielen Dank.“, sagte Luna leise. Tracey erwiderte nichts, sondern strich ihr nur über den Kopf, ehe sie sich von ihr löste und nach ihrer Tasche griff.
„Na komm, mein Auto steht draußen.“, sagte Tracey und nahm Luna bei der Hand. Diese nickte, immernoch lächelnd und folgte ihr.
Sie verließen das Gebäude, und Luna drehte sich nicht um. Sie würde nie wieder zurücksehen auf diese Zeit, sondern nurnoch auf das, was kommen würde. Sie hatte ja noch keine Ahnung, was sie bald erleben würde.
Die ganze Autofahrt über sprach Luna nicht, sondern war damit beschäftigt, ihre Nase begeistert an die Fensterscheibe zu drücken und sich alles ganz genau anzusehen. Die Menschen, die Häuser, die Natur…
Diese ganzen, alltäglichen Dinge waren etwas Besonderes für sie, da sie für ewig scheinende 4 Jahre nichts anderes gesehen hatte, als die kalten, weißen Wände ihres Zimmers. Auch Tracey sprach nicht, aber sie lächelte ein wenig darüber, wie sehr Luna sich über eine Autofahrt freuen konnte. Doch nun setzte Luna sich wieder gerade auf ihren Sitz und sah nach vorn aus dem Fenster, ehe sie ihren Blick an Tracey richtete.
„Wo fahren wir eigentlich hin? Fahren wir schon zur Schule?“, fragte Luna. Diese schüttelte nur den Kopf.
„Nein, wir fahren zunächst einkaufen. Du kannst doch nicht mit nichts dort ankommen. Du brauchst deine Schuluniform, ein paar Schulsachen, deine Bücher… Außerdem ist heute Sonntag, Dummerchen.“, antwortete Tracey, und sie bogen auf den Parkplatz vor einer kleinen Einkaufsstraße ein.
„So, aussteigen.“, wies sie Luna nun an, diese nickte und tat wie befohlen. Draußen atmete sie die frische Luft ein. Tracey stieg ebenfalls aus und warf einen Blick auf Lunas immernoch nackte Füße, ehe sie mit dem Kopf schüttelte.
„Du hast ja garkeine Schuhe. Haben sie dir nichtmal das gegeben?“, fragte Tracey. Luna schüttelte mit dem Kopf. Nein, viel gehabt hatte sie wirklich nicht. Sie war ja froh, dass sie wenigstens die Bücher und das Medaillon hatte behalten dürfen. Tracey trat hinter sie, legte eine Hand auf ihren Rücken und schob sie sanft vor sich her.
Die doch recht enge Gasse war gut besucht, überall liefen Menschen herum, unterhielten sich wild gestikulierend. Manche Kinder in Lunas Alter sahen zu ihr herüber, zeigten auf ihre nackten Füße, lachten und tuschelten, aber Luna ließ sich durch nichts ihre gute Laune verderben.
„Siehst du den Laden dahinten?“, fragte Tracey und zeigte auf ein recht brüchig aussehendes Geschäft. Luna hätte auf den ersten Anblick angenommen, es sei leer stehend. Auf dem klapprigen Holzschild darüber stand in schwer leserlicher Schrift „McDarcys Book Store“.
„Da bekommst du deine Schulbücher. Sag, Ms. Lurey schickt dich, dann wird er Bescheid wissen. Ich komm dich dort gleich abholen.“, erklärte sie, und Luna nickte, ehe sie sich langsam auf den Weg dorthin machte. Langsam öffnete sie die Tür, von der sie dachte, dass sie jeden Moment in ihren Händen zerfallen würde. Stickige Luft schlug ihr entgegen, außerdem hingen Spinnenweben von der Decke. Der Raum war in ein dunkles Licht getaucht, und sobald die Tür hinter ihr ins Schloss fiel, erstarb der Lärm der Straße und es wurde Mucksmäusschen still. Beinahe so, als hätte sie eine andere Welt betreten. Langsam ging sie auf den Tresen zu. Eine alte Klingel stand dort, aber Luna traute sich nicht wirklich, sie zu drücken, aus Angst, sie könnte sie kaputt machen.
„Ich komm gleich, Kind, einen Moment!“, hörte sie plötzlich eine Stimme von weiter hinten. Luna versuchte an den Unmengen der staubigen Bücherregale vorbeizuspähen und etwas zu erkennen. Aber sie konnte nichts und niemanden erkennen.
Plötzlich tauchte ein Haarschopf hinter dem Tresen auf, und im ersten Moment wich Luna erschrocken zurück. Ein alter, bärtiger Mann kam zum Vorschein und rückte seine Brille zurecht, die ständig von seiner knubbeligen Nase zu rutschen schien. Mit großen Augen musterte er sie.
„I..Ich.. Ms. Lurey..“, stammelte Luna, im ersten Moment etwas überrumpelt, aber das schien völlig ausreichend zu sein, damit er verschwand.
„Ach ja, Tracey. Du brauchst sicher deine Bücher, Mental Class, nicht wahr?“, fragte der Mann, wartete aber keine Antwort ab sondern sprang von dem kleinen Hocker, den er offensichtlich brauchte, um über den Tresen sehen zu können, und kletterte auf eine der Holzleitern, die an den Bücherregalen lehnten.
„Tracey hat dich schon angekündigt. Armes Ding, hast so lang darin gesessen. Ah, hier…“, der bärtige Mann zog ein Buch mit einem Lila Einband herraus, hüpfte behände von der Leiter und knallte ihr das Buch vor die Nase. Luna reckte sich etwas vor, um den Titel zu lesen. „Macht der Gedanken für Anfänger. Kontrollier sie, bevor sie dich kontrollieren.“
Sie zog eine Augenbraue hoch. Wie ein gewöhnliches Schulbuch sah das nicht aus. Der Mann war schonwieder unter dem Tresen zu Gange. Es folgten ein Blaues und ein Rotes, welche er ebenfalls auf den Stapel knallte.
„Könnte vielleicht ein wenig schwierig werden, so mitten im Jahr auf die Schule zu kommen. Aber ich bin sicher, dass schaffst du schon. So, das noch und dann haben wir‘s.“, meinte der alte Mann, dann legte er noch ein Buch in einem braunen Stoffeinband oben drauf. Es hatte keinen Titel, war aber mit einer Schnalle verschlossen.
Plötzlich ging die Türklingel. Beide drehten ihren Kopf in ihre Richtung, und Tracey trat ein, eine Plastiktüte in der Hand.
„Harold, meine Güte. Seit wie vielen Jahren hast du nicht mehr Staub gewischt?“, fragte sie und sah sich kopfschüttelnd in dem Laden um. Der Mann, offensichtlich Harold mit Namen, kratzte sich verlegen am Hinterkopf.
„Ein paar kommen zusammen.“, gab er zu und ging um den Tresen herum. Erst jetzt sah sie, wie klein er eigentlich wirklich war. Er ging ihr gerademal bis knapp über den Bauchnabel.
„Hast dich lange nicht mehr blicken lassen, Tracey. Die Klein hier ist ein wirklich nettes Ding, ein bisschen schüchtern vielleicht, wird sich aber gut machen, da bin ich sicher.“, meinte Harold zwinkerte Luna zu. Sie wusste nicht recht, wie sie reagieren sollte, deswegen lächelte sie einfach.
„Nun komm, wir haben noch einiges vor.“, meinte Tracey lächelnd und ging zum Tresen, nahm die Bücher, ließ sie ebenfalls in der Tüte verschwinden und legte eine Hand auf Lucys Rücken, um sie wieder herauszuschieben.
„Man sieht sich, Harold.“, rief sie noch, aber der Mann war schonwieder mit seinen Bücherregalen beschäftigt. Offensichtlich nahm er sich Traceys Vorschlag, mal Staub zu wischen, zu Herzen.
Texte: Fabienne Goedde
Bildmaterialien: Fabienne Goedde
Tag der Veröffentlichung: 28.02.2013
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