Mary meldete sich. "Die Formel lautet a Quadrat plus b Quadrat gleich c Quadrat." Sie lernte alles im Voraus auswendig. Eine Vorstellung die mir, Pia, graute. Ich machte so gut wie gar nichts für die Schule und war fast vollkommen zufrieden mit meinen Noten. "Pia! Du kannst uns die Formel sicherlich anhand eines Beispiels erklären", die strenge Stimme meines Mathelehrers, Herr Bahle, riss mich aus den Gedanken. "Ähh was?!", fragte ich verdattert. Wieso wollten die Lehrer immer in den ungünstigsten Momenten meine Antworten? "Geh' bitte an die Tafel und erkläre uns den Satz des Pythagoras mit einem Beispiel. Ihr solltet das zu heute lernen." Langsam ging ich vor. Der Satz des Pythagoras. Wie musste man ihn noch gleich berechnen? Das Beispiel war leicht. Schnell schrieb ich mein Ergebnis an. "Das ist richtig. Kannst du uns erklären, wie du zu diesem Ergebnis gekommen bist?" Shit! Meine Mum hatte mir gestern in einem ihrer nicht-depressiven Momente eine Eselsbrücke erklärt, mit der ich diese Aufgaben ziemlich schnell hinbekam, aber Herr Bahle wollte immer die genauen Merksätze. "Setz' dich. Das dauert mir gerade etwas zu lange." Ich setzte mich wieder auf meinen Platz. "Was war denn das?", fragte mein Banknachbar Ben. Freunde hatte ich keine. Er, glaube ich, auch nicht. Wir saßen nebeneinander, weil keiner von uns viel redete und auch keiner Lust dazu hatte, alleine zu sitzen. "Kein Plan. Ich hab's nicht mehr gecheckt."
Es klingelte. "Pia, komm bitte noch mal zu mir!", rief Herr Bahle. "Was ist denn noch? Ich hab' Schulschluss und noch einen wichtigen Termin." "Es dauert nicht lange. Deine Leistung kann ich mit einer 3- bewerten, aber du musst dir ernsthafte Gedanken um deine Versetzung machen." Mist. Dass ich in Mathe schlecht stand wusste ich, aber so schlecht, dass meine Versetzung gefährdet war... Ich war sprachlos. "Ich muss deine Mutter um ein Gespräch bitten. So geht es nicht weiter. Du stehst auf 4,6. Wenn du es schaffst, auf die Vier zu kommen, musst du eine Nachprüfung schreiben. Wenn du allerdings noch eine Fünf oder eine Sechs im nächsten Test schreibst, wirst du nicht versetzt. Ich kann dir eine Nachhilfelehrerin besorgen, wenn du willst." "Mal schauen. Sie können sich ja mal erkundigen und dann sagen Sie mir einfach, wer in Frage kommen würde." "Was ich dir schon sagen kann, ist, dass es jemand aus der Zwölften sein wird. Genaueres wirst du noch erfahren." "Okay. Danke. Kann ich dann jetzt gehen?" Langsam nervte er mich. Der Unterricht war seit zehn Minuten Schluss. "Natürlich." Ich ging hinaus. Scheiße. Wenn er meine Mum informieren wollte, dann konnte ich gleich meine Sachen packen. Sie konnte die Trennung von meinem Vater immernoch nicht verkraften. Auch wenn sie alles versuchte. Sie war reizbar und ziemlich schlecht gelaunt. Mein Vater hatte sich vor etwa vier Monaten von ihr getrennt, weil er ihre ständige Eifersucht nicht mehr ausgehalten hatte. Er selbst hatte jetzt eine neue Freundin. Kati. Sie war gerade mal sieben Jahre älter als ich. Zweiundzwanzig. Eigentlich war sie ganz nett und ich verstand mich gut mit ihr, aber an der Seite meines Vaters? Never. Ich musste nachdenken, lief ein bisschen in der Stadt rum und kam schließlich zu dem Schluss, dass mein Leben sich ganz dringend ändern musste.
Ich musste mich, wie in Trance, verlaufen haben. In diesem Stadtviertel war ich noch nie gewesen. Alle nannten es "Das Ghettoviertel". Mum hatte es mir immer verboten, dorthin zu gehen. Angeblich lebten dort nur Hartz IV-Empfänger und Assis. Ich fand, dass man nicht alle Leute über einen Kamm scheren konnte. Egal, das war jetzt nebensächlich. Erst mal musste ich wieder nach Hause. Bloß wie kam ich dorthin? Ich ging zu einem der Häuser und studierte die Klingelschilder. Müller, Schmidt, Hermann, Burg. Burg? War das nicht Marys Nachname? Da Mary aus Amerika stammte, wurde Burg ja Börk ausgesprochen, fiel mir gerade ein. Aber es gab mit Sicherheit noch andere Leute in diesem Viertel, die Burg hießen. Ich klingelte. "Hallo?" Das musste die Stimme von Marys Mutter oder ihrer Schwester sein, falls Mary überhaupt hier wohnte. "Ähh ja, hallo. Hier ist Pia. Ist Mary zu Hause?" "Nein, tut mir Leid. Sie ist mit ihrem Freund, Sven, unterwegs." "Okay, dankeschön. Auf Wiedersehen", sagte ich so höflich wie möglich. dann wandte ich mich ab. Mary wohnte also tatsächlich hier, aber was mich viel mehr aufregte: Mary und Sven? Sven aus der Elften? Wie bekam so eine Streberin so einen gut aussehenden Typen an Land gezogen? Naja, es war mir egal. Auf jeden Fall wusste ich nun, dass sie im Ghettoviertel wohnte. Vielleicht würde ich sie gelegentlich darauf ansprechen. Ich lief zum nächsten Haus. Als ich gerade die Klingelschilder studierte, ging die Tür ruckartig auf. "Du kannst mich mal!", schrie ein Typ. Ich erschrak mich so sehr, dass ich einen Schritt zurück machte, eine Stufe übersah und hinfiel. Wie peinlich! Er reichte mir die Hand. Ich nahm sie dankend an und stand auf. Ich merkte, dass ich langsam rot wurde. "Alles in Ordnung?" Er sah ziemlich besorgt aus. "Ja, danke." "Normalerweise bin ich nicht so stürmisch, wenn ich raus gehe. Tut mir Leid. Hast du jetzt noch Zeit? Wollen wir einen Kaffee trinken gehen?" "Ähh, nein sorry. Ich muss nach Hause zu meiner Mum. Sie macht sich sicher schon Sorgen. Ich hätte schon vor zwei Stunden da sein müssen. Aber du kannst gerne mitkommen, wenn du willst. Ich muss noch durch die halbe Stadt." "Okay. Was macht du denn hier, wenn du gar nicht hier wohnst?" "Ich, ähhh... Ich war ein bisschen durcheinander. Hab' halt etwas Stress mit den Lehrern und so." "Achso. Wie heißt du eigentlich?", fragte er. "Pia. Und du?" "Tim." Wir gingen eine Weile schweigend nebeneinander her.
"Hast du morgen schon was vor?", fragte Tim. Er war echt süß. Dunkelbraune Haare und ebenfalls dunkelbraune Augen. Sein Lächeln war umwerfend. "Alles klar?" "Ähhh was?" Er musste mich langsam für bekloppt halten. Rumstottern und von einer Peinlichkeit in die nächste verfallen. Er lächelte geduldig. "Ob du morgen was vor hast..." "Nee, bis jetzt noch nicht. Es sei denn, meine Mum braucht mich." "Kino?" "Okay.", sagte ich. "Das hört sich gut an. Ab wann kannst du denn?" Ich versuchte meine Vorfreude auf den morgigen Tag zu verbergen. "Wir könnten ja vorher noch essen gehen. Treffen wir uns gegen 18.00 Uhr im Pizzahaus?" "Okay, ich freu mich." Er lächelte. "Wir sind da", sagte ich. "Schade. Ich find' dich echt nett." Er schaute mir tief in die Augen. Jetzt bloß nicht schwach werden, dachte ich. "Ich dich auch. Komm' doch noch mit rein. Ich würde mich freuen." "Okay. Gerne, aber nur wenn es keine Umstände macht." "Keine Angst, das geht schon."
"Hi Mum.", rief ich. "Hey, wo kommst du denn jetzt erst her?" Sie hörte sich verärgert an. "Ich war noch mit 'nem Kumpel unterwegs. Das ist Tim." Mittlerweile waren wir in der Küche angekommen. "Oh, hallo", sagte Mum und reichte Tim höflich die Hand. "Guten Tag." Mum hatte Nudeln gekocht. Lecker. Ich schlang die Nudeln so schnell herunter, wie noch nie. "Wir gehen dann mal auf mein Zimmer", sagte ich und zog Tim von seinem Stuhl hoch. "Bis dann", sagte Mum. Sie schien zu merken, dass ich nicht mehr ihr kleines Mädchen war und das machte sie traurig.
"Hast du eigentlich 'nen Freund?", fragte Tim in meinem Zimmer. "Nicht mehr... Wir haben uns vor drei Wochen getrennt." "Oh, sorry, das tut mir Leid für dich." "Ach nein.. ...nein, das muss es nicht." In dem Moment kroch mein Kater aus der hintersten Ecke des Zimmers hervor. Tim schrak zusammen. Felix kam zu mir und kuschelte mich, wie immer, ab. Er war so süß mit seinem schwarz-grau getigerten Fell. Er legte sich auf meinen Schoß. Ein angenehmes Gefühl. Und ein Beruhigendes auch noch. Er tröstete mich immer. Besonders in den letzten Wochen. Sie waren etwas zu viel für mich. Die Scheidung meiner Eltern, die Trennung von Alex und jetzt auch noch der Stress in der Schule. "Du Tim... Ich würde jetzt gerne ein bisschen alleine sein. Außerdem muss ich noch mit Mum über Schule reden und meine Hausaufgaben machen. Tut mir Leid." "Okay, dann geh' ich mal", sagte er. Seine Stimme hatte etwas Trauriges. "Danke, sei mir nicht böse. Bis morgen dann." Ich umarmte ihn und brachte ihn zur Tür. Es tat mir weh, ihn einfach so rauszuschmeißen. Aber ich musste unbedingt noch für den Mathetest am Montag lernen.
"Na endlich! Ist das dein Neuer?", fragte Mum. Irgendwie hatte ihre Stimme einen komischen Unterton. Oder? Vielleicht hatte ich mich auch nur verhört. "Nein, ist nur ein Kumpel.", war meine knappe Antwort. "Achso. Wie läuft's in der Schule?" Das war das erste Mal seit Monaten, dass sie sich danach erkundigte. Sie schien die Trennung langsam zu verkraften. "Äähhhhmmm, naja.......... Herr Bahle möchte gerne mit dir sprechen. Meine Versetzung ist gefährdet. Wegen Mathe.. Ich steh auf Fünf." Ich versuchte ruhig und langsam zu sprechen, doch meine Stimme überschlug sich dauernd. "Waaaaaaaaaaaas???", schrie Mum aufgebracht. "Ja. In den anderen Fächer hab' ich überall Zweien und Dreien. Und in Kunst sogar 'ne Eins. In Mathe kann ich ja alles, aber der nimmt mich immer mündlich dran und da bekomm' ich halt immer schlechte Noten, weil ich meine Rechenwege nicht mehr erklären kann. Wegen den Eselsbrücken." "Okay. Ich kann es ja nicht ändern. Was wollt ihr denn jetzt dagegen unternehmen?" Mum reagierte erstaunlich ruhig. Was war nur los mit ihr? "Naja, er wollte mir halt Nachhilfe besorgen. In der Zwölften gibt es so ein paar Matheasse. Ich hoffe mal, dass das was bringt." "Okay. Ich unterstütze dich gerne. Ich muss sowieso mal wieder was anderes machen, als hier um meine Ehe zu trauern." "Das ist die richtige Einstellung!", freute ich mich. "Hast du morgen schon was vor?" Mum schmunzelte. "Nee, wieso?", fragte ich neugierig. "Umstyling!!!", rief sie lachend. Und nach ihrem Lachkrampf fügte sie hinzu: "Ich finde, wir sollten wieder mehr zusammen unternehmen." "Mum, was ist los? So warst du ja ewig nicht drauf." "Ich habe einfach begriffen, dass ich dich doch viel mehr liebe, als deinen Vater. Er ist es nicht wert, ihm monatelang hinterherzutrauern und dich dabei zu vernachlässigen." Ich lächelte. Und freute mich einfach, dass sie wieder die alte Mum war. Dachte ich zumindest. "Okay. was willst du denn genau an dir verändern?", fragte ich, um mich auf den morgigen Tag vorzubereiten. "Naja, vielleicht 'ne neue Frisur und ein paar neue Klamotten? Hast du noch eine Idee?" "Auf jeden Fall neues Make Up und anderes Beautyzubehör. Deins ist ja uralt. Damit kann sich höchstens deine Martha schminken. Der ihr's ist auch uralt, das riecht man schon." Martha war die Arbeitskollegin meiner Mum und lief immer mit einer Tonne Make Up rum. "Stimmt.", sagte Mum. Wir mussten beide grinsen. "Du Mum, ich gehe in mein Zimmer. Mathe lernen für den Test am Montag."
Ich wachte auf. "Piiiiiiiiiiiiiiaaaaaaaaaaaaa!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!" Es hörte sich gereizt an. Wer wollte denn um 10 Uhr morgens am Wochenende was von mir? Normale Leute schliefen um diese Zeit noch. Ich kletterte gähnend aus dem Bett. Mein Blick fiel direkt in den Spiegel. Ach du scheiße, ich hatte voll die Augenringe. So konnte ich niemals weggehen. Meine Haare sahen auch aus, wie in die Steckdose geraten. Schnell machte ich die Tür auf damit nicht noch mal jemand rief. "Was ist denn?", fragte ich verschlafen. "Pia! Ich hab' dich jetzt mindestens fünf Mal gerufen! Warum hörst du denn nicht?" "Ich hab' noch geschlafen. Was ist denn los?" "Na dein Kumpel war hier. Er meinte, dass ihr heute was zusammen machen wolltet und er wollte noch mal fragen, ob das alles klar geht. Aber als du nicht gehört hast, ist er wieder gegangen." Scheiße! Das hatte ich ja total vergessen, aber warum hatte er nicht einfach angerufen?. "Oh Shit, das hab' ich gestern vergessen, als wir über heute gesprochen haben. Sorry. Ist das mit deinem Umstyling so wichtig, dass wir es heute machen müssen oder können wir das auch morgen noch machen?", fragte ich verlegen. "Morgen treff' ich mich mit Martha." "Okay, dann ruf' ich Tim jetzt an und sage ihm ab. Bis gleich." Wir hatten zum Glück Handynummern ausgetauscht. "Hallo, hier ist Tim." "Hi Tim. Danke, dass du vorhin da warst. Ich hab' leider noch geschlafen. Entschuldige, dass ich störe, aber das mit unserem Treffen heute wird leider nichts." "Schade.... Warum denn nicht?", fragte er enttäuscht. "Sorry, ich hatte meiner Mum was versprochen und da hab' ich gestern nicht drüber nachgedacht. Hast du morgen vielleicht Zeit?" "Na klar! Morgen passt es mir sowieso besser, weil ich da den ganzen Tag nichts zu tun hätte." "Cool. Danke. Also dann bis morgen", sagte ich und legte auf.
Eine Stunde später war ich fertig und wartete auf Mum, damit wir endlich shoppen gehen konnten. Vielleicht würde auch etwas für mich abfallen. Ich schmunzelte. "Bist du fertig?", fragte Mum in meine Gedanken hinein. "Ja klar. Komm..." Die Straßenbahn war total überfüllt. Viele starrten mich an. Oder kam es mir nur so vor? Vielleicht sollte ich mir meine Haare wieder mal schwarz färben und endlich die türkisen Strähnen und die braunen Haare vergessen. Viele dachten ich sei Emo. Aber das war ich nicht. Ich liebte einfach diese auffälligen Farben. In die schwarzen Haare würden auf jeden Fall wieder Strähnen kommen. Vielleicht hellgrün oder pink. "Nächste Haltestelle: Hauptbahnhof", sagte die eintönige Frauenstimme der Straßenbahn. Ich hasste Navigationsgeräte und die Ansagen in Straßenbahnen, Bussen und so weiter. Wir stiegen aus. Mum steuerte direkt auf das riesige Einkaufszentrum zu, in dem sie immer ihre Klamotten kaufte. Die Läden darin war sauteuer und außerdem gab es nur Omaklamotten. "Ich denke, du willst neue ordentliche Klamotten?!", sagte ich erschrocken, als ich bemerkte, dass Mum ihren alten Gewohnheiten doch treu blieb. "Naja, glaubst du etwa, da drin gibt es nur blödes Zeug?" "Ja. Komm mit! Ich kenn ein paar tolle günstige Edelboutiquen in der Stadt." Sie kam sofort hinter mir her, als sie merkte, dass ich die Richtung bereits geändert hatte. "Aber ich kauf' meine Klamotten doch immer im 'GrandDépartementMagasin' Da kann ich doch jetzt nicht meine Stammkundenkarte verfallen lassen.." Gelassen antwortete ich: "Na wenn's weiter nichts ist. Gibst du sie mir mal bitte?" Sie nestelte in ihrer braunen Tasche herum und kramte schließlich ein grün-glitzerndes Portemonaie heraus. Sie gab mir die Kundenkarte. Sie war aus Pappe. Mit einer hässlichen Schnirkelschrift. Ich zerriss die Karte, ging zum nächsten Papierkorb und warf sie hinein. Mum wollte schon ansetzen und mir eine Szene machen, als ich gelassen sagte: "Willst du nun 'ne Typveränderung oder nicht?" "Doch, doch." "Siehst du..." Zuerst steuerte ich meinen Stammfriseur an. Dort lief coole, neuartige Rockmusik. Es waren nicht viele Leute dort und meine Lieblingsfriseuse kam gleich auf mich zu. "Hi, was kann ich für dich tun, Pia?" "Hey, naja, meine Mum hätte gerne 'ne kleine Typveränderung und ich will auch mal was Neues." "Okee, das dürften wir hinkriegen. Was haben Sie sich denn vorgestellt, Frau Hellman?" "Mhh, keine Ahnung. Versuchen Sie einfach etwas Schickes draus zu machen." "Okay. Ich schicke Ihnen dann meine Kollegin." Mum nickte. Meine Lieblingsfriseuse, Steffi, kam mit mir mit. "Und was willst du deinen Haaren heute antun?" Sie schmunzelte. "Erstmal komplett schwarz und dann grüne und pinke Strähnchen, wenn das möglich ist. Und den viel zu langen Pony wieder zu 'nem ordentlichen Longpony machen, vielleicht noch mal ordentliche Stufen rein." "Das kriegen wir hin. Dann setz' dich mal."
Wir waren fertig und standen an der Kasse. Mum hatte wundervolle kinnlange braun gefärbte Haare mit blonden Strähnen. Es sah super aus. Als sie mich sah, war sie etwas schockiert, aber sie konnte es ja doch nicht ändern. Pech gehabt. Ich grinste. Steffi stand hinter der Kasse. "Das wären dann genau 54, 63¤." "Machen sie 55¤. Ich bin hier sehr zufrieden", sagte Mum. Steffi strahlte. Sie freute sich immer über Lob und noch mehr über Trinkgeld. Wir verabschiedeten uns und ich steuerte gleich die Boutique gegenüber an. Auch dort war laute Musik. Es schien Mum nicht mehr zu stören. Ich fand sofort zwei hammergeile Oberteile, ein Kleid und coole Boots. Es sah zwar voll Emo-like aus, aber es gefiel und passte mir. Außerdem dachten sowieso alle, dass ich Emo bin. Mum hatte alleine nicht so viel Glück, aber als ich ihr half, fand sie drei Blusen, zwei schicke Hosen und ein Paar Pumps. Sie sah toll aus. Auf einmal drehte sie sich schnell zu einem Kleiderständer und duckte sich. Es kam mir vor, als wollte sie nicht gesehen werden, aber nach einer halben Minute schaute sie wieder hoch und zeigte mir einen hellbraunen Rock. "Der sieht gut aus. Nimmst du ihn?", fragte ich. "Ja. Wenn er mir passt, auf jeden Fall." Sie ging erneut zur Anprobe. Der Rock stand ihr total gut und er passte auch super mit ihren Haaren zusammen. Wir gingen zur Kasse und bezahlten. Dann setzten wir uns in das italienische Eiscafé, was ich so liebte. Auf einmal schaute Mum ganz erschrocken auf. Ihr Blick traf einen Mann, der am "Deichmann" stand. Als er sich in unsere Richtung drehte, erblickte er sie und kam direkt auf uns zu. "Das ist ja eine nette Überraschung. Das ich dich hier treffe..", sagte er. Ich sah ihn verwundert an. Aber Mum schien ihn zu kennen. "Oh, hallo Klaus. Das ist wirklich 'ne Überraschung." Sie lächelte. "Ich hätte dich fast gar nicht erkannt. Die neue Frisur. Das ist wunderschön." "Oh, ähhm ja, vielen Dank", sagte Mum stockend. Ich fasste es nicht. Deshalb wollte sie die Typveränderung. Sie hatte sich offenbar verliebt. "Ich gehe mal kurz auf Toilette", sagte ich und beobachtete die Situation von der Eingangstür des Cafés aus.
"Mum? Wer war das vorhin im Café? Ich meine diesen Klaus", sagte ich, nach unserer erfolgreichen Shoppingtour. Sie sah ein bisschen verlegen aus. "Äähmm.. Naja. Ähh... Also..." Sie räusperte sich. "Das war mein Freund." Sie lächelte. Ich pfiff durch die Zähne. "Achso, deshalb das Umstyling. Wie alt ist er denn?" "45. Und jetzt hör' auf mich auszufragen. Das hab' ich bei Alex auch nicht gemacht." Alex... Ich versuchte die Erinnerung nicht so an mich heranzulassen. "Ich habe gerade mal eine Frage gestellt. Egal, eine Frage hab' ich aber noch: Wie lange geht das schon?" "Es ist noch ziemlich frisch. Vielleicht so 2 Wochen..." Ich nickte. Vielleicht sollte ich Tim besuchen. Ich hatte plötzlich einfach Lust dazu. "Du Mum, ich muss noch mal weg..", versuchte ich mir die Erlaubnis für den abendlichen Ausflug zu holen. "Wohin denn?" Diese Übervorsichtigkeit. "Ich will noch mal zu Tim. Ich muss noch mal was fragen, wegen morgen." "Okay, aber du bist spätestens um 10 wieder hier. Und wehe, du läufst allein nach Hause!" "Danke, du bist ein Schatz." Ich hauchte ihr einen Kuss auf die Wange und schnappte mir meine Jacke. Ich hatte das Gefühl, dass sie in sich hinein grinste, wusste aber nicht woran das lag.
Im Ghettoviertel liefen überall betrunkene Jugendliche auf der Straße rum. Jetzt wusste ich, warum Mum mir nicht erlaubte, hierher zu kommen. Welcher Hauseingang war das noch gleich? Der neben Mary. Also die Nummer Dreizehn A. Ich musste an der Dreizehn vorbei. Als ich näher kam, sah ich, wie Mary und Sven in der Tür standen und sich gegenseitig die Zungen in den Hals steckten. Musste man das unbedingt in der Öffentlichkeit machen?! Ich lief weiter und musterte die Klingelschilder. Mist! Wie hieß Tim noch gleich mit Nachnamen? Kein Plan. Sven ging Richtung Hauptstraße und Mary blieb noch stehen bis er um die Ecke verschwunden war. Dann wollte sie ins Haus gehen. "Mary?", rief ich. Sie schaute mich an. "Was willst du denn hier?", fragte sie. "Ich will zu Tim aus dem Nachbarhaus. Weißt du zufällig, wie er mit Nachnamen heißt?" "Ähhm, warte... Belitz, glaube ich. Bin mir aber nicht sicher." "Cool, danke." Ich wandte mich ab. "Pia?" "Ja?" "Kannst du mir vielleicht diesen dämlichen Satz des Pythagoras noch mal erklären? Also wie man das rechnet." "Klar. Aber morgen hab' ich leider keine Zeit. Es sei denn du kommst morgen früh so gegen 11 zu mir." "Wenn dir das passt. Cool, danke." Sie sah mich glücklich an. Ich lächelte und wandte mich wieder den Klingelschildern des Nachbarhauses zu. Belitz. Ich drückte den Klingelknopf. Eine sanfte Frauenstimme erklang. "Hallo?" "Ja, hallo. Hier ist Pia. Ist Tim da?", fragte ich. "Ja." Sie drückte den Summer. Ich drückte die Tür auf und betrat den Flur. Es war zwar modern, aber irgendwie erdrückend. Ich fühlte mich nicht wohl. Das lag wahrscheinlich an der Umgebung und dass in jedes Haus jeder Betrunkene und Obdachloser reinkommen konnte. Eine junge Frau stand in der Tür. Sie war zierlich und hatte blonde Haare. "Mein Bruder ist gerade noch duschen, aber komm' doch bitte schon mal rein", sagte sie. Sie trug eine lange Jeans und ein cooles Printshirt. Ihre Stimme war kraftvoll. Viel zu laut und stark für diese zierliche Frau. "Dankeschön. Ich will mit Tim noch was wegen morgen besprechen." Ich lief ihr hinterher in die Küche. Die Wohnung war modern eingerichtet und wirkte total gemütlich. "Ich habe gerade Tee gekocht. Möchtest du auch einen?", fragte Tim's Schwester höflich. "Ja, gerne." Sie lächelte. Ihre Eltern schienen nicht zu Hause zu sein. Das freute mich. Ich lächelte nun auch. Tim kam herein. Er hatte nur noch T-Shirt und Shorts an. Seine Haare waren nass und sahen aus, als ob er sie noch nicht gekämmt hatte. "Hey Pia! Was machst du denn hier?", fragte er überrascht, aber erfreut. Ich antwortete: "Hab' gerade einfach keinen Bock auf meine Mum. Die ist total verliebt. Nicht auszuhalten!" Tim's Schwester lächelte immer noch oder schon wieder. Ich hatte nicht darauf geachtet. Eine dunkle Strähne fiel Tim ins Gesicht. Er strich sie sich langsam wieder hinter sein Ohr. Er war so süß. "Lass uns auf mein Zimmer gehen. Du kommst doch ohne mich klar, Klara?", wandte Tim sich an seine Schwester. "Klar", sagte sie mit einem Lächeln, das vielsagend war. Wir gingen auf Tim's Zimmer. Es war sehr geschmackvoll eingerichtet. Ich fühlte mich auf Anhieb wohl. Wir saßen nebeneinander auf seinem Bett und lächelten uns an. Er hatte den ganzen Tag gechillt und nur ein bisschen an seinem Motorrad herumgeschraubt. Ich erzählte ihm von dem Tag mit meiner Mutter und von Klaus. Ich hatte keine Ahnung, wie ich damit umgehen sollte. Plötzlich kamen die Tränen, einfach so. Die ganze Zeit hatte ich versucht, die Trennung meiner Eltern einfach auszublenden, aber jetzt gelang es mir nicht mehr. Tim sah überfordert aus, nahm mich aber dann einfach in den Arm und tröstete mich. Ich ließ es geschehen. Nach der Heulattacke erklärte ich ihm erst mal, warum ich überhaupt geweint hatte und wie es zu der Trennung meiner Eltern gekommen war. Er sah mir mitleidig in die Augen. Ich hielt seinem Blick stand. Wir sahen uns lange tief in die Augen. Dann nahm er mein Gesicht in seine Hände und küsste mich. Erst kurz. Dann noch einmal. Länger. Er zog mich zu sich aufs Bett. "Ich liebe dich", flüsterte er in mein Ohr und küsste mich. Vorsichtig schob er seine Hand unter mein T-Shirt. Ich konnte mir keine bessere Situation für mein erstes Mal vorstellen. "Warte mal kurz", sagte ich und schob ihn leicht zur Seite. Ich zog mein Handy aus der Hosentasche und schrieb: Komme später. LG Pia. Ich wählte "Senden an Mama" aus und schmiss das Handy in meine Tasche. Ich erlebte ein leidenschaftliches erstes Mal. Es war wunderschön. Mittlerweile war es um 1. "Ich fahre dich noch nach Hause, Süße." Tim küsste mich. "Okay." Wir schwangen uns aufs Motorrad und ich lehnte mich ganz dicht an ihn an. Er war ein guter Fahrer. Ich liebte ihn. Bei mir zu Hause angekommen, sah ich, dass das Licht noch brannte. Mum war noch wach. Sie hatte auf mich gewartet. "Tschüß dann. Wir sehen uns morgen", sagte ich. Wir küssten uns. "Ich freu' mich drauf", sagte Tim. "Ich liebe dich", seufzte ich. "Ich dich auch", sagte er und küsste mich noch ein mal.
"Ich bin wieder da!", rief ich. Aber da war niemand. Zehn Minuten lief ich in der Wohnung herum, um Mum zu suchen, da kam sie plötzlich durch den Hintereingang ins Wohnzimmer. "Hallo Pia, ich habe dich gar nicht kommen hören." "Ich habe dich gerufen. Wo warst du?" Sie hielt die Hand auf und zeigte mir ein paar Kirschen. Ich nahm mir eine und aß sie genüsslich. "Wieso plückst du mitten in der Nacht Kirschen?", fragte ich verwirrt. "Ich hatte gerade einfach mal Appetit." "Achso." Ich gähnte. "Gehst du morgen mit Tim weg?" "Ja. Aber da muss ich ausgeschlafen sein. Also, ich geh' dann jetzt mal ins Bett." Ich hauchte ihr einen Kuss auf die Wange. "Gute Nacht."
Am nächsten Morgen versuchte ich Tim zu erreichen, doch es ging nur seine Schwester ans Telefon. "Hallo Klara, hier ist Pia. Ist Tim da?" "Nein. Ich dachte, er hätte bei dir geschlafen. Stimmt das denn nicht?" Sie hörte sich besorgt an. "Nein. Er hat mich nach Hause gefahren und wollte dann wieder zu euch nach Hause." "Komisch. Hast du schon versucht ihn auf Handy zu erreichen?" "Ja. Da nimmt niemand ab, aber es klingelt." "Du, warte mal. Mein Handy klingelt gerade", sagte sie und legte das Telefon ab. Ich verstand nicht, mit wem sie redete. Als sie wieder ans Telefon kam, hörte sich ihre Stimme verweint und gar nicht mehr kraftvoll an. "Das... Das war die Polizei. Sie haben Tim gefunden.... Er.. Er ist.... Tot." Ich merkte, wie mir die Tränen in die Augen traten. Ich hatte einen Kloß im Hals. "Sorry, das ist gerade etwas zu viel für mich", sagte ich und legte auf. Ich schmiss mich auf mein Bett und weinte hemmungslos. Tim... Gestern Abend noch war ich bei ihm gewesen. Ich hatte mit ihm geredet, gelacht, ich hatte ihn geküsst und mit ihm geschlafen. Wie konnte er jetzt tot sein? Er hatte mich ja sogar noch nach Hause gebracht. Das Klopfen holte mich aus meinen Gedanken. "Ja?", fragte ich. Mir war klar, dass es Mum sein würde. "Hey, mein Schatz. Was ist denn los?", fragte sie und ich hatte das Gefühl, dass sie es längst wusste, denn sie nahm mich einfach in die Arme. Das hatte sie nicht mehr gemacht seit mein Vater weg war. Es klingelte. "Ich geh' schon." Mum ging nach draußen und kam etwa zwei Minuten später wieder rein. "Es ist die Polizei. Sie wollen gerne mit dir sprechen, wegen Tim." Ich nickte. Wenig später kam eine junge Frau in mein Zimmer und sah sich neugierig um. Sie stellte sich als Marie Lerch vor. "Du hast Tim also als Letztes gesehen?", fragte sie vorsichtig. "Ja", antwortete ich einsilbig. Ich hatte keine Lust zu reden. "Wann war das denn?" "Gestern Abend." "Und um welche Uhrzeit?" "Ich glaube, wir kamen so gegen halb zwei hier an." "Und du bist sofort reingegangen?" "Wir haben uns draußen verabschiedet und er hat mir noch hinterher gewunken. Dann bin ich reingegangen und habe nach Mum gesucht." "Wo war sie?", fragte Marie Lerch mit sichtlichem Interesse. "Im Garten. Kirschen reinholen. Ich habe mich noch gewundert, warum sie mitten in der Nacht Kirschen pflückt, aber sie meinte, sie hätte einfach mal Appetit darauf gehabt. Es war auch nur eine Hand voll." "Achso, danke", meinte sie und verabschiedete sich. Ich hob die Hand und legte mich auf mein Bett.
Zwei Wochen hatte ich in dieser seltsamen Starre angehalten und mein Leben ziemlich vernachlässigt. Ich kam mir vor, wie eine dieser sechzig-jährigen Ehefrauen, die ihren supergeliebten Ehemann verloren hatten. Mum brachte mir jeden Tag mein Essen. Sie wirkte glücklich. Es klingelte. Mum war bei Klaus, also musste ich wohl oder übel zur Tür gehen. Ich rappelte mich auf. Vor der Tür stand Marie Lerch mit einigen Kollegen. "Hallo Pia, ist deine Mutter da?", fragte sie. "Nein, die ist bei ihrem Freund. Wieso?", antwortete ich. "Wir haben hier einen Durchsuchungsbeschluss. Deine Mutter ist die einzige Tatverdächtige. Wir haben einen Haftbefehl vorliegen." Mir stockte der Atem. Frau Lerchs Kollegen waren schon dabei, das Haus auseinander zu nehmen. "Ich würde mir gerne mal euren Schuppen ansehen." Ich nickte. "Ich gehe wieder rein. Sagen Sie mir Bescheid, wenn sie fertig sind." Sie ging über die Terasse nach draußen. Ich schleppte mich nach oben in mein Zimmer und schlief sofort ein, nachdem ich mich aufs Bett gelegt hatte. Ein Klopfen riss mich aus einem wirren Traum. Tim. Ich sah ihn vor mir - tot. "Darf ich reinkommen?", fragte Marie Lerch. Ich erkannte sie schon an ihrer Stimme. "Meinetwegen." "Dankeschön. Pia, wir haben deine Mutter festgenommen. Sie hat vermutlich Tim erschlagen." Sie machte eine lange Pause. "Wir warten jetzt noch auf ihr Geständnis, aber auf der Tatwaffe, einem Spaten aus eurem Schuppen, sind nur ihre Fingerabdrücke. Wenn sie gesteht, ist die Haftstrafe nicht zu lang..." Ich unterbrach sie. "Was hat sie denn für ein Motiv? Ich meine, warum sollte sie meinen Freund umbringen?" Ich schluchzte auf. "Jetzt beruhige dich doch erst mal. Sie war vielleicht eifersüchtig." "Aber wenn sie eifersüchtig auf mich war, wieso bringt sie dann Tim um?" "Nicht eifersüchtig auf dich - eifersüchtig auf Tim. Tim hat dich ihr weggenommen und du hast nicht mehr so viel Zeit mit ihr verbracht." Ich überlegte. Ja, es gab genug Anzeichen. Die Shoppingtour beispielsweise. Mum hatte mich die ganze Zeit hintergangen. "Kann ich sie sehen? Vielleicht bringe ich sie zu einem Geständnis! Ich weiß, wie ich das machen kann." Frau Lerch schien zu überlegen. "Okay. Wir können es ja wenigstens versuchen. Aber wenn es nicht funktioniert, dann musst du akzeptieren, dass deine Mutter womöglich viel länger ins Gefängnis kommt als wenn sie es gestanden hätte und dass das auf gar keinen Fall deine Schuld ist." Sie sagte das ruhig und langsam, so als ob sie es erst mal selbst verarbeiten musste, um zu verstehen. Zusammen gingen wir zu ihrem Wagen.
Marie Lerch drückte die Tür zu ihrem Büro auf. "Frau Hellmann, Ihre Tochter, Pia ist da. Sie möchte gerne mit Ihnen reden. Ist das okay für Sie?" Ich sah, dass Mum nickte und ging in den Raum. "Hey Süße, ich kann dir das alles erklären." "Nein, du kannst mir gar nichts erklären! Du hast meinen Freund ermordet! Warum?" Ich merkte, dass sie blass wurde. "Ich war das nicht!" "Jaja! Du kapierst nicht, dass Frau Lerch dir den Mord nachgewiesen hat! Wie konnte ich nur denken, dass du mich wieder mehr magst und endlich die Scheidung vergessen hast. Nein, du hast mir alles nur vorgespielt, um mich von Tim wegzubekommen! Ich hasse dich!" Ich schrie. Und weinte. "Pia, ich wollte das doch nicht, aber ich liebe dich und da kommt irgendein dahergelaufener Typ aus dem Ghettoviertel und nimmt dich mir weg! Das wollte ich rückgängig machen, aber als ich gemerkt habe, dass das nicht funktioniert, ist mir klar geworden, dass ich ihn aus dem Weg schaffen musste. Ich habe es für dich getan." "Nein! Du hast das nicht für mich getan! Du hast nur an dich gedacht, wie immer! Du bist eine egoistische Kuh!" "Es tut mir so Leid." "Das brauch es nicht! Es ist nämlich einfach nicht zu entschuldigen, den Freund der eigenen Tochter umzubrigen! Mit dir bin ich fertig!", schrie ich ihr ins Gesicht und rannte aus dem Zimmer. "Danke, Pia. Ich weiß, dass dir das jetzt sehr schwer gefallen ist, aber deine Mutter wird ihre gerechte Strafe bekommen. Wir haben das alles aufgenommen. Deine Mutter wird ins Gefängnis kommen. Vielleicht schreibst du ihr ja mal Briefe oder besuchst sie. Das würde ihr sicher viel Kraft geben", sagte Frau Lerch ruhig. "Nein, sie ist das Allerletzte!" "Du kannst das ja noch mal überdenken. Erst mal müssen wir Verwandte von dir finden, die bereit sind, dich aufzunehmen." "Ich habe keine Verwandten, außer meinem Vater, aber der wohnt ja in Stuttgart und ich möchte gerne hier wohnen bleiben. Vielleicht kann ich bei Mary bleiben." Wieso fiel mir gerade jetzt Mary ein? "Ich kann ja mal ihre Eltern anrufen, aber erst müssen wir das mit deinem Vater klären. Er ist dein Erziehungsberechtigter."
Drei Wochen später saß ich gerade bei der Psychologin, an die mich Frau Burg vermittelt hatte. Sie half mir, die letzten Wochen zu verarbeiten. Ich wohnte jetzt bei Mary und ihrer Familie, die mich sehr freundlich aufgenommen hatte. Zu Klara bestand nach wie vor Kontakt, auch wenn nichts so werden würde, wie vorher. Meine Mutter saß im Knast und das war gut so. Sie hatte mir schon mindestens dreizehn Briefe geschrieben. Aber ich hatte auf keinen geantwortet. Wieso auch? Sie existierte nicht mehr in meinem Leben. Sie hatte meine erste große Liebe umgebracht und ich sah sie nur noch als brutale Mörderin. Ohne sie wäre mein Leben das beste der Welt gewesen. "An was denkst du, Pia?" "An mein Leben und daran, wie toll es gewesen wäre, wenn ich meine Mutter nie kennengelernt hätte."
Tag der Veröffentlichung: 26.10.2011
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