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Es ist nichts wie es scheint


Ich sitze auf meiner Fensterbank und schaue nach draußen. Ich sehe die Jahreszeiten an mir vorbei laufen. Ganz langsam. Ich nehme jedes Detail in mich auf, doch ich sehe nichts Schönes. Ich sehe alles, doch es regt sich nichts in mir. Nicht das Aufblühen oder die satten Farben der Pflanzen, nicht das Glitzern des Schnees und auch nicht die Farbenvielfalt eines Waldes im Herbst. Meine Mutter ruft nach mir. Ich nehme mir meinen Koffer und gehe nach unten. Da stehen sie. Meine Mutter, mein Vater, mein Bruder, Steffi meine beste Freundin und Jannik mein Freund. Alle haben Tränen in den Augen. Sind traurig, dass es so weit kommen musste und ihr Blicke flehen um Vergebung. Nur ich bin nicht traurig. Ich bin wütend. Unsagbar wütend auf alle, auf die ganze Welt! Wieso? Wieso konnten sie mich nicht einfach in Ruhe lassen? Ich spüre wie mir die Tränen in die Augen stiegen, verdränge sie und verabschiede mich schnell von allen. Dann ist es soweit. Hr. Jahnsen kommt ins Haus, nimmt meinen Koffer und bringt in ins Auto. Als er zurückkommt, versichert er allen noch einmal, dass alles gut werden würde. Sie nicken nur und ihre Blicke zeigen mir, dass sie es wirklich glauben wollen. Nur ich weiß, dass nichts wieder so werden würde wie früher. Er kommt auf mich zu, da sage ich: „Gehen sie schon mal vor. Ich habe noch etwas vergessen.“ Ich warte bis er im Wagen sitzt und gehe langsam nach oben zurück in mein Zimmer. Ich gehe in meinen Schrank und nehme eine Schachtel aus der hintersten Ecke meines Schrankes. Ich mache sie auf und spüre die Anspannung, die seit Wochen auf mir lastet, verschwinden. Seit dieses Anrufs.
Ich kam gerade vom Volleyballtraining, als ich meine Mutter weinend im Wintergarten sitzen sehe. Ich gehe zu ihr und frage sie, was los sei. Da bemerke ich erst den Haufen Messer und Scheren in der Mitte des Raumes. Ich zucke zusammen und frage sie, woher sie das alles hat und wofür sie es braucht. Da sieht sie mich an und ich sehe Wut in ihren Augen aufflackern. „Was ich damit möchte? Das fragst du mich?“ Ich sehe ihren vollkommen verwirrten und enttäuschten Blick und spüre zum ersten Mal Schuldgefühle in mir aufkeimen. „Mama. Ich…ich wollte….es war…du kannst das einfach nicht verstehen!“ „Genau das kann ich nicht! Wieso hast du mir denn nichts gesagt? Du weißt doch wir können über alles reden. Wir hätten uns auch professionelle Hilfe holen können?“ „ Professionelle Hilfe? Wofür denn? Meinst du ich hätte ein Problem? Ich sagte doch. Es waren alles nur Fahrradunfälle!“ Damit war das Thema für mich vorbei und ich rannte nach oben in mein Zimmer. Als ich mich ins Bett legte bemerkte ich erst, dass mein Zimmer leer geräumt worden ist. Meine Mutter hatte alles mitgenommen? Ich rannte nach unten und wollte meine Mutter zur Rede stellen, als ich einen großgewachsenen Mann in einem Anzug sah. Ich wollte gerade wieder in mein Zimmer, als mein Vater sagte: „Ah, da ist sie ja! Schätzchen kommst du mal kurz?“ Zögernd ging ich in die Küche und setzte mich ans andere Ende des Tisches. Der Mann stellte sich als Hr. Jahnsen vor und sagte, er sei Psychiater. Ich wollte gerade die Küche verlassen, als mich der Blick meiner Mutter festhielt. Ich hörte mir an, was Hr. Jahnsen zusagen hatte, doch realisieren konnte ich es noch nicht. Sie denken ich bin gestört! Nachdem Hr. Jahnsen gegangen war, wollten meine Eltern noch mit mir reden, doch ich fragte nur eine Frage, die mich schon den ganzen Tag quälte. „Wer hat es euch erzählt?“ Meine Eltern tauschten Blicke und mein Vater sagte: „Das ist doch egal, wir wollen dir nur helfen.“ „Wer?“ Meine Mutter schaute schuldbewusst und sagte: „Steffi.“ Ich zuckte zusammen und ging nach oben in mein Zimmer.
Dann fing es an Hr. Jahnsen kam immer öfter zu uns nach Hause und wollte mit mir reden. Ich erzählte ihm von meinem Leben, erzählte ihm aber nie die Wahrheit. Irgendwann sollte ich alle zwei Tage nach der Schule zu Hr. Jahnsen nach Hause gehen und wir redeten dort. Doch dann meinte er irgendwann, dass das alles keinen Sinn habe. Eine Woche lang hatte ich kein Gespräch mehr mit ihm und dann erzählten mir meine Eltern von ihrem Vorhaben. Sie wollten, dass ich in eine Psychiatrie gehe. Die ganze Zeit über habe ich nicht aufgehört mich selbst zu verletzten, sondern verschlimmerte es sogar. Ich tat es täglich und war einmal kurz vor einem Selbstmordversuch, doch Jannik fand mich. Doch aufgehört habe ich nie. Als ich von dem Vorhaben meiner Eltern erfuhr, war ich weder geschockt noch geängstigt. Ich war nur wütend. Wütend auf Steffi und auf alle anderen.

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Tag der Veröffentlichung: 11.03.2012

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