Liebe*r Leser*in
Ich möchte dich, bevor du diese Geschichte liest, auf ein paar Dinge aufmerksam machen und dich danach bitten, genau zu überlegen, ob du diese Story wirklich lesen willst.
Dieses Buch enthält potenziell triggernde Inhalte. Diese schließen sexuellen Missbrauch, Gewalt, Blut, Erstickungsangst, Verfolgungsjagden, expliziten sexuellen Verkehr sowie psychische Belastungen wie Panikattacken mit ein.
Mir ist als Autorin zu jedem Zeitpunkt wichtig, dass du dich in meiner Welt fallenlassen kannst und wohlfühlst, ohne Angst zu haben, um die herausragende Story um Linnéa und Idris mit allen Sinnen zu genießen.
Control – Zoe Wees
Alive – Rüfüs de sol
Paradise - Meduza
Adagio in D minor – John Murphy (Soundtrack Sunshine)
Footprints – Sia
Underwater – Mika
Under Water – AVEC
Prisoner – Miley Cyrus, Dua Lipa
Pure shores – All Saints
No Air – Jordin Sparkes, Chris Brown
Escape – Enrique Iglesias
The Scienties – Coldplay
You can’t stop this girl - Bebe Rexha
After the landslide – Matt Simons
You are the reason – Calum Scott
We belong – Pat Benatar
Follow You – Imagine Dragon
Fix you - Coldplay
Dieses Buch möchte ich all den Menschen widmen,
die mich unterstützt und begleitet haben, sodass
dieses Projekt zu einem Roman werden konnte.
Obwohl es sich hier um eine Neuauflage handelt, waren es all
die Leser*innen und Blogger*innen, die mich dazu motiviert haben,
denn in meinen Augen hat diese Story Potenzial, vielen Menschen Lesefreude zu bereiten.
Vor allem folgende Personen sollen Erwähnung finden:
Meine Eltern, die mich in jeder Lebenslage unterstützen,
mein Lebenspartner, der mich nicht nur mit meiner Buchleidenschaft teilt, sondern mich motiviert, am Ball zu bleiben.
Ein Dank gebührt auch
Helmut Lutz und Daniel Papinski für ihre Unterstützung
bei biochemischen Fragen.
Bedanken möchte ich mich weiter bei Anna und Patrick, die mir bei meinen Recherchen zum Thema Gebärdensprache geholfen haben.
Was die wundervollen Illustrationen betrifft, bin ich so dankbar,
dass du, liebe Conny, das Buch bei dieser Neuauflage
zusätzlich kreativ begleitet hast.
Die Zusammenarbeit hat so viel Spaß gemacht!
Nicht zuletzt geht der Dank an Alexandra, meine Lektorin, ohne die
dieses Buch nie mit dieser Sorgfalt und Tiefe entstanden wäre und nicht zu vergessen Lena, Gina, Jenn und Stefan, die meiner Story noch den Feinschliff gegeben haben.
Ich durfte so viel lernen. J
Das Mondlicht lastete wie ein Fluch auf ihr. Das sonst so beruhigende und liebliche Geräusch des Meeres schien ihr diesmal keinen wohligen Mantel der Geborgenheit zu schenken. Sie fasste nochmals fester um den eisernen Griff des Baseballschlägers, der durch ihre schweißtriefenden Hände immer mehr der Schwerkraft entgegenglitt. Die Stütze und Sicherheit, die er ihr vermitteln sollte, wagten nicht, den Weg zu ihrem Geist zu finden. Nervosität machte sich in ihr breit und eine Gänsehaut kletterte ihren Nacken entlang. Sie spürte, wie ihre Zehen sich immer mehr im Sand vergruben.
Egal wie oft sie versuchte, ihre Angst herunterzuschlucken, ihr Mund blieb unangenehm trocken. Auch der laute Tumult hinter ihr, der noch vor ein paar Minuten in vollem Gange gewesen war, strahlte nun nur noch die ausgestorbenen Überreste eines feierlichen Ereignisses aus. Sie wusste, bei einem tatsächlichen Angriff konnte ihr niemand mehr helfen. Es würde zu spät sein, bevor auch nur jemand einen Schritt in ihre Richtung setzen konnte.
War es wirklich die richtige Idee gewesen, ausgerechnet an den Ort zurückzukehren, an dem sie beinahe ihr Leben gelassen hatte? Dort, wo ihr das todbringende Tabu auferlegt worden war?
Noch vor ein paar Stunden war sie felsenfest davon überzeugt gewesen. Selbst wenn es ein großes Risiko darstellte, nicht nur für sie … Aber vielleicht war genau ihr Erscheinen bei Vollmond an exakt dieser Stelle in ihrer Situation die einzige Möglichkeit, um sich Gehör zu verschaffen und Leben zu schützen. Jetziger Generationen und jener, die folgen sollten.
Unruhig biss sie sich auf die Unterlippe. Sie schloss kurz ihre Augen und versuchte sich zu sammeln. Die salzige Luft strömte in ihre Lungen und hinterließ in ihr ein heimisches Gefühl. Dabei war es so lange her …
Und da war der Moment … Er war gekommen. Blitzartig öffneten sich ihre Lider, nur um zu sehen, wie die eben noch glatte Oberfläche, auf der sich das Himmelszelt reflektierte, nun von einer Urgewalt unter dem Meer aufgewirbelt wurde.
Die Wellen tobten und peitschten bedrohliche Warnungen an ihre Ohren. Der Wind schien sich dem Geschehen anzupassen und sie konnte nicht anders, als nun den Griff des Baseballschlägers mit beiden Händen zu fassen und ihn demonstrativ vor sich zu halten. Sie nahm eine Abwehrhaltung ein und schärfte ihre Sinne auf das, was kommen sollte.
Als sich das Meer teilte und eine riesige Gestalt aus den Wassermassen emporstieg, musste sie ihren Kopf heben, um Auge in Auge mit dem möglichen Feind zu verharren. Trotz der Dunkelheit erkannte sie, dass das düstere menschenähnliche Wesen seine volle Aufmerksamkeit auf sie richtete und genau in diesem Moment verflogen jeglicher Mut und alle Selbstsicherheit. Dieser Blick, der unerbittlich auf ihr lag, zeugte von dem Wissen, wer sie war.
Sie hatte eindeutig zu hoch gepokert … Sie erkannte nicht sofort, mit wem sie es hatte aufnehmen wollen … Aber was noch viel schlimmer war – es existierte kein offizielles Wort dafür, was ER überhaupt war.
Sieben Monate zuvor …
Linnéa musste lautstark seufzen. Mit unruhigen Fingern rollte sie die rechte Kante des vor ihr befindlichen Zeitungsartikels ein, nur um die Blätter sogleich wieder auszurollen und zu glätten. Das darf nicht wahr sein!, entsprang ihr ein Gedanke. Erneut las sie den Abschnitt:
Das unheimliche Sterben der rosafarbenen Delfine
Die einstigen Maskottchen von Hongkong und eine der größten Touristenattraktionen der Millionenmetropole werden nun immer häufiger in den verschmutzten Gewässern vor der Stadt leblos aufgefunden. Zudem werden kaum noch Jungtiere gesichtet. Die bei Entdeckung vor drei Jahren gezählten 800 Meeressäuger, welche sich vorzugsweise vor der Mündung des Perlflusses tummeln, haben sich laut aktuellen Zählungen auf drastische 150 Tiere reduziert.
Meeresbiologen zufolge stecken mehrere Phänomene hinter dem Massensterben. Einerseits wurde in der Milch der chinesischen Delfinkälber eine hohe Konzentration an Gift gefunden, das von der Verschmutzung des Meeres stammt. Andererseits sei durch den ansteigenden Tourismus und die unüberschaubaren Massen an Schaulustigen die Anzahl von Bootsbetreibern gestiegen. Sie begleiten die willigen Kunden zu den anmutigen und verspielten Tieren, welche dadurch immer mehr in Bedrängnis geraten. Hierdurch wird die Wasserverschmutzung weiter forciert, warnen Experten.
Besonders erschütternd ist jedoch die Tatsache, dass selbsternannte Forscher die außergewöhnliche Rasse illegal fangen und untersuchen, um neue Erkenntnisse für die Wissenschaft und für die nächsten Generationen festzuhalten.
Vermutet wird hinter dieser Aktion jedoch pure Geldmacherei durch Exotensammler, die die letzten Exemplare ihr Eigen nennen wollen. Die Biologen empfehlen nun, den Tieren eine Atempause zu gönnen und schnellstmöglich verstärkte Schutzmaßnahmen umzusetzen. Seit ihrer Entdeckung und Bekanntmachung durch ein namhaftes Journal nimmt der Eingriff in die Natur überhand. Wenn die permanente Belagerung der ‚Fans’ nicht augenblicklich gestoppt werde, drohe der Rasse das Aussterben innerhalb weniger Monate …
Linnéa fuhr sich über ihre besorgt gerunzelte Stirn. Sie konnte sich erinnern, als ob es gerade erst gestern gewesen war, dass sie ihren Job beim Journal National Geographic begonnen und damals live miterlebt hatte, wie dieser Artikel bei ihnen über die Druckbänder gelaufen war.
Miles Finham, ein frischgeschlüpfter Journalist, war zu dieser Zeit in der Zeitungsbranche noch ein Nobody gewesen. Doch nach diesem einschlägigen Artikel hatte es niemanden hier im Büro gegeben, der ihm nicht gratuliert und freundschaftlich auf die Schulter geklopft hatte. Wie nervös Linnéa ihn zu diesem Zeitpunkt von der Ferne bewundert hatte. Alles schien sich nur um ihn zu drehen, jeder lächelte ihn an und hätte seine Seele verkauft, nur um behaupten zu können, dass DER Miles Finham heute zum Essen kommen würde oder dass DER Miles Finham höchstpersönlich die Fotos freigegeben hatte. Tja, es war nicht verwunderlich gewesen, dass er quasi über Nacht vom einfachen Journalisten zum Chefredakteur erhoben wurde.
Und sie selbst? Sie studierte damals Journalismus, war ausgebildete Fotografin und kreative ‚Halte-das-mal-kurz’. Aber jeder musste irgendwo beginnen. Doch jetzt, da sie endlich ihr Studium abgeschlossen hatte, hoffte – nein – betete sie, dass sie endlich eine Chance bekommen würde, einen Artikel zu verfassen, unter den sie wie Finham ihren Namen setzen konnte.
Plötzlich durchfuhr ein schnalzendes Geräusch aus direkter Nähe ihre Ruhe. Linnéa zuckte unweigerlich zusammen. Als sie sich zur Ursache umdrehte, erblickte sie das verschmitzte Lächeln von Sam. Wild gestikulierte ihr Arbeitskollege vor ihrem Gesicht und tippte mit weit aufgerissenen Augen auf den Zeitungsausschnitt. Nein, es war kein Pantomimenrätsel. Es war die Art und Weise, wie Sam und sie sich unterhielten, doch selbst nach einem halben Jahr Zusammenarbeit konnte sie kaum Zeichen der Gebärdensprache behalten. Ständig verwechselte sie sie, was schon peinlich genug für eine kreative Seele wie sie war. Und fluchen half auch nicht, denn Sam konnte sehr wohl hören.
Linnéa sah ihn wieder mit diesem verwirrten Blick an, den Sam mittlerweile sehr reizvoll an ihr fand. Wie lange wollte Linnéa noch in diese Zeitung starren, die sie noch kein einziges Mal umgeblättert hatte? Noch dazu zogen ihre Stirnfalten Furchen, die ein Bauer nicht tiefer hätte ziehen können. Was beschäftigte sie so intensiv?
„Oh, du meinst das? Das ist ein Artikel über das Aussterben der rosa Delfine … Irgendwie schlägt mir das etwas auf den Magen“, erläuterte sie und lehnte sich in ihrem schwarzen Drehsessel zurück. Sie hatte erneut diese Lümmelstellung eingenommen, bei der sie ein Bein barfuß auf der Sitzfläche im Schneidersitz abgelegt hatte und der Fuß des anderen am Boden nur halb in ihrem Schuh stand und nervös damit kippte. Sam musste unweigerlich schmunzeln, weil er niemanden kannte, für den diese Position bequem sein konnte, außer ihrer Wenigkeit. Zudem war Linnéas langes rotblondes Haar vom Sesselbezug elektrisiert, was noch einen Komikpunkt draufsetzte. Sam konnte nicht anders, als kurz eine Hand auf seinen Mund zu legen, um seine Belustigung zu kaschieren.
„Nicht schon wieder! Ich bin geladen, nicht wahr?“ Hektisch führte sie ihre Hände über ihre Haarsträhnen und versuchte doch tatsächlich, sie glatt zu streichen. Sie sah in diesem Moment aus wie ein Gemälde: ihr schneeweißer Teint, die glänzende Haarpracht, welche ihr rundes Gesicht schmeichelnd umrahmte und weich bis über ihre Schultern fiel und diese grünen Augen, die einen an den Frühling auf einer Blumenwiese erinnerten. Eigentlich passte dieser Anblick nicht in diese spärliche Umgebung eines Großraumbüros, in dem jeder geschäftliche Lebensraum gerade vier Quadratmeter betrug und durch schmale Aufstellwände getrennt wurde.
„Ich weiß, was du jetzt denkst.” Linnéa sah ihn mit klimpernden Wimpern an. Sam setzte wieder diesen wissenden Blick auf und verschränkte die Arme vor sich. Sie wusste nur zu gut, wie er es hasste, wenn sie immer schon übersetzte, was er sagen wollte, bevor er überhaupt die Gelegenheit dazu bekam. Er hatte es als stummer Mitarbeiter im Büro nicht gerade leicht und war wohl als Grafiker nur deswegen eingestellt worden, weil er einerseits ein begnadetes Talent besaß und andererseits in die ‚Quote der geistig oder/und körperlich eingeschränkten Personen’ zählte. Eine Firma, die als sozial gelten wollte und etwas auf sich hielt, versuchte auf Biegen und Brechen diese Quote einzuhalten und dem Väterchen Staat damit Gehorsam zu heucheln. Niemand würde es jedoch Sam offen unterstellen, vor allem, da er wirklich gut in seinem Job war. Und schließlich hätte auch Linnéa es gehasst, mit der Frauenquote in Verbindung gebracht zu werden.
Wie viele andere war auch sie in Bezug auf Sam oft zu ungeduldig und versuchte zu raten, bevor sie sich bemühte, seine Zeichen zu deuten: „Eigentlich sollte es mich ja nicht kümmern. Jeden Tag sterben irgendwo auf diesem Planeten Tiere oder Pflanzen aus und wir versuchen nur das Beste, um der Leserschaft die Natur und ihre Wunder näherzubringen. Mehr aber auch nicht … Wenn Finham den Artikel damals nicht so pompös herausgebracht hätte, wäre es ein anderer glorreicher Name, der unter dem Artikel gestanden hätte. Aber leider eben nicht meiner.“ Linnéa drehte sich wieder zu ihrem grauen Schreibtisch, der mit Dokumenten und Papieren übersät war und schob den Zeitungsausschnitt in die Ablage für ‚Sonstiges’.
Sam nahm einen Block gelber Post-Its von ihrem Schreibtischaufsatz und begann zu schreiben. Sie rollte näher zu ihm hin, um die Nachricht abzulesen. Dabei kam sie nicht darum herum, erneut auf seine extravaganten Ohren zu schielen. Er versuchte sie zwar geschickt unter seiner kastanienbraunen Mähne zu verstecken, aber zwischen den leicht rötlich glänzenden Wellen kam sein kleines Rätsel zum Vorschein. Sam war eigentlich der Typ Mann, der Frauen feuchte Träume verpasste. Alles war so perfekt und auch seine Kleidung gekonnt inszeniert. Die Hemden mit doppeltem Stehkragen, aus feinem Material, mit oftmals aufwendigem Muster, waren sein Markenzeichen und lagen wie seine Designerjeans locker auf dem athletischen Körper. Das dunkelbraun gelockte Haar wirkte stets wie frisch vom Friseur. Auch sein schmales Gesicht mit markanten Wangenknochen, die schön geschwungenen Lippen, die sich von seinem recht blassen Teint abhoben, konnten von Göttergenen abstammen, aber die Ohren … Ja, die Ohren waren sein Schönheitsmakel. Zumindest empfand er dies so. Sie waren nicht oval nach oben gekehrt, sondern gingen schmal verlaufend nach hinten, und auch die typische Ohrkrümmung der Muscheln war nicht erkennbar, sondern … Plötzlich traf sie ein leicht zorniger Blick und Sam sortierte seine Haarpracht genau auf ihre Seite, um ihre Aufmerksamkeit anschließend mit einem lautstarken Klopfen auf seine Nachricht zu richten:
„Oh-oh, stimmt. Das wird Ärger geben“, prustete sie heraus, bevor ihr hektischer Blick über ihren Schreibtisch fuhr und sie zwischen dem Chaos nach einem beigefarbenen Kuvert griff. Dann sprang sie auf und hinterließ Sam nur noch einen Windstoß samt Luftkuss.
Linnéa befand sich vor der Bürotür von niemand Geringerem als Matthew Bannet, dem Herausgeber des National Geographic in London. Sein Büro war ihr gut bekannt, was wohl auch daran lag, dass Bannet seine gerade einmal zweiundvierzig Mitarbeiter gut im Griff hatte, gern mitten im Geschehen war und nicht nur den strategischen Teil sowie die Finanzen übernahm. Sie stand also nicht zum ersten Mal hier.
Nervös zupfte sie an ihrer weißen Bluse und stellte sicher, dass alle Knöpfe geschlossen waren. Dann das gewohnte Prozedere: Augen kurz schließen, tief durchatmen und auf in den Kampf.
Kaum hatte sie die Tür nach seinem bestimmenden „Ja“ geöffnet, lag schon sein prüfender Blick auf ihr. Bannet war ein Mann, der gerade seinen fünfundfünfzigsten Geburtstag hinter sich gebracht und diesen mit einem größeren Wohlstandsbauch zelebriert hatte. Sein schokobrauner Teint war im hohen Alter noch geplagt von Akne und alte Narben zeigten ihren Sieg auf der bereits betagten Landschaft. Nur sein gekräuseltes schwarzes Haar blieb ihm bis auf kleine Geheimratsecken und vereinzelte weißen Ausreißern erhalten. Aber auch seine Büroausstattung schien sein Alter zu tragen: nach Holz duftende Mahagonimöbel, beigefarbene Wände und viele Dekoaccessoires, die an die 70er erinnerten. Nervös faltete Linnéa die Hände im Schoß und ließ den Blick über die Klassiker wie signierte Baseballschläger und 1:20 Automodelle von verschiedensten Chevys gleiten. Schummriges Licht schien durch die Lamellen der Fensterjalousien und zeichneten Linien auf diese Sammlung. Unübersehbar waren auch die Fotos an der Pinnwand von den ersten Ausgaben nach Gründung der Zeitung, deren Ecken bereits vergilbt waren. Nur das kleine schwarze Ying-Yang-Schälchen mit weißem Sand, Rechen und Steinen auf seinem Schreibtisch passte in die heutige Zeit.
„So, Ms. Samson, wie sieht es nun mit meinen Fotos aus?“, grummelte er sie an und warf einen eisernen Blick über seine Lesebrille, die bereits auf die Spitze seiner Nase gerutscht war. Dabei schien es für Linnéa unumgänglich, ihr Augenmerk auf den blühenden Pickel direkt auf seiner Nasenspitze zu richten. Sie schluckte kurz und ihre Finger spielten nervös mit dem beigefarbenen Umschlag. Mr. Bannet saß in einem riesigen schwarzen Ledersessel hinter seinem gewaltigen Schreibtisch und tippte ungeduldig mit den Fingern darauf.
„Es ist mir wirklich unerklärlich, Mr. Bannet, normalerweise passiert mir so etwas nicht. Immerhin habe ich schon öfters Fotos mit Aquarien geschossen und auch Sam Shark konnte die Qualität nicht hineinzaubern, aber ich hätte hier ein paar Ersatzbilder.“ Mit leicht zitternden Fingern hielt sie ihm das Kuvert entgegen, als ob sie bereits seine Reaktion erahnte.
„Ms. Samson, wie lange sind Sie schon hier?“, fragte er in ruhigem Ton und erhob sich nun aus seinem Chefsessel, der von hauchzarten Rissen gezeichnet war. Er trug eine dieser grässlichen Cordhosen, diesmal in Beige, und ein braunes Seidenhemd mit goldenem orientalischen Muster, welches total überladen wirkte. Wohl wieder ein Versuch, Sam den Rang als bestangezogener Mitarbeiter streitig zu machen.
„Drei Jahre, Sir.“ Vor ihren Augen schob er beide Hände in die Hosentaschen und fing an, von seinen Fußballen zu den Fersen vor und zurückzurollen. Diese schaukelnde Bewegung bedeutete nichts Gutes.
„Das war eine rein rhetorische Frage, Ms. Samson. Also drei Jahre … Könnten Sie sich daran erinnern, dass ich mich jemals von Ihnen mit irgendwelchen Fotoersatzen habe abspeisen lassen?“ Plötzlich wurde der Tonfall unkontrollierter, die Ruhe war aus seiner Stimme gewichen: „Verdammt noch mal, Sie sind Absolventin einer der begehrtesten Universitäten im Land. Angeblich eine der besten Fotografinnen, wenn es um die Meinung der Kollegenschaft geht, aber Sie haben keine Disziplin, keinen Pfeffer im Arsch und null Engagement! Wie zum Teufel soll ich Sie jemals an einen Artikel ranlassen, wenn Sie sich schon vor den einfachsten Aufgaben drücken?“ Linnéa schluckte. Die Tirade hatte gesessen.
„Ich weiß, ich kann das besser, Sir, es tut mir leid …“, stammelte sie und wollte sich für diese Unsicherheit am liebsten selbst in den Allerwertesten treten. Es fiel ihr schwer, seinem Blick standzuhalten, so sehr schämte und ärgerte sie sich zugleich über ihr unprofessionelles Verhalten. Doch ihr privates Tief zog noch immer an ihrer Konzentration und sie neigte mehr zur Schusseligkeit. Für gewöhnlich kontrollierte sie die Fotos bereits bevor sie den Shootingort verließ. Im schummrigen Licht des abgedunkelten Aquarienraumes war allerdings kaum etwas zu erkennen gewesen und danach hatte sie es einfach vergessen, weil sie es eilig hatte, zu ihrer Therapeutin zu kommen.
Linnéa war siebenundzwanzig Jahre alt und kein unsicherer Teenager mehr. Sie musste diesem Druck standhalten. Doch als ein ernüchternder Faustschlag von Bannet auf seinen Oldtimerschreibtisch ihrem Gedankengang ein Ende setzte, war die aufkeimende Selbstmotivation im Rückgrat wieder erstickt.
„Das will ich hoffen. So und nun werden Sie Ihren kleinen Arsch zur Tür rausbewegen und morgen erst im Büro erscheinen, wenn Sie neue Fotos aus dem Sea Life haben. Und ich rate Ihnen, dass es die Besten sind, die meine Augen je gesehen haben.“ Kein einziges Zwinkern war zu sehen. Seine Worte waren so deutlich und sein Blick so bestimmend, dass Linnéa nichts darauf erwidern konnte. Sie hatte auf ganzer Linie versagt. Es war eine einfache Aufgabe gewesen. Wenn sie so weitermachte, konnte sie sich die Chancen auf eine eigene Story abschminken.
„Ja, Sir“, flüsterte sie mehr zu sich selbst.
„Und lassen Sie den Scheiß mit dem ‚Sir’, wir sind hier nicht bei der Army! Glauben Sie mir, die würden nicht so zimperlich mit Ihnen umgehen. Sie kennen mich gut genug, um zu wissen, dass ich Engagement und Ehrgeiz sehr wohl schätze und auszeichne und daher erwarte ich in meinem kleinen Team von jedem Einzelnen nicht nur Perfektionismus, sondern ‚Bannetismus’! Überraschen Sie mich mal zur Abwechslung und zeigen Sie mir, dass Sie mehr wollen als … ein paar Shoots und das mit jeder Faser ihres Körpers.“
Linnéa glaubte, in diesen Worten etwas Motivation und Hoffnung zu vernehmen, setzte ein zögerliches Lächeln auf und nickte. Als er mit ausgestreckter Hand und Zeigefinger auf die Tür wies, drehte sie sich um, um den Ort des Schreckens zu verlassen.
„Und, Samson …“, mit fragendem Blick wandte sich Linnéa ihm nochmals zu, „die Fotos werden Sie in Ihrer Freizeit nachholen, verstanden?“ Er sah sie ein letztes Mal mahnend an, dann hatte Bannet sich wieder seiner Ying-Yang-Schale gewidmet und zeichnete Muster in den Sand, als hätte dieses Gespräch zwischen Ihnen niemals stattgefunden. Er hatte sie bereits aus seinem Bewusstsein verbannt.
Sam beobachtete, wie Linnéa mit eingezogenem Haupt das Büro vom Chef verließ und die Tür so behutsam schloss, als ob sie eine Eierschale wäre, die jederzeit zerbrechen könnte. Keine Sekunde später sprintete sie Richtung Damentoilette. Schon wieder. Es war ihm schleierhaft, wie es so weit kommen konnte. Kollegen hatten ihm erzählt, dass sie früher eine fröhliche, quirlige junge Frau gewesen war. Voller Ambitionen und kreativer Eingebungen. Schade, dass er das nicht miterleben durfte.
Wahrscheinlich war es eine dumme Idee, da es ihn nichts anging und es ihr womöglich unangenehm war, so gesehen zu werden, aber aus irgendeinem Grund führten seine Beine ihn zur Damentoilette, welche er so selbstverständlich öffnete, als ob das Piktogramm eines Mannes auf der Eingangstür befestigt wäre.
Der Raum wirkte beengend und kalt. Dunkelgrüne dünne Wände unterteilten den ohnehin schon kleinen Raum weiter und grenzten den Waschbereich so von den vier Toilettenabteilen ab. Die Luft hing förmlich an der Decke. Seine empfindliche Nase sagte ihm, dass dies kein Ort zum Verweilen war, aber da musste er durch. Und da stand sie. Linnéa stützte sich auf das Waschbecken und kämpfte mit den Tränen. Sie war so mit sich selbst beschäftigt, dass sie ihn offenbar noch nicht bemerkt hatte.
Obwohl sie schätzungsweise 1,75 m groß war, wirkte sie in Sams Augen in diesem Moment unscheinbar und klein. Dabei zeigten die enge schwarze Jeans, ihre Kurven und ihre Intelligenz genug Potenzial, um mit erhobenem Haupt durchs Leben zu schreiten.
Linnéa war wütend. Wütend auf ihr Versagen, wütend auf ihre Unfähigkeit und wütend auf ihre Unsicherheit. Sie konnte sich selbst nicht ausstehen. Sie wollte diesen Zustand nicht, wollte kein Häufchen Elend sein. Das war nicht sie! Wie konnte ihr ehemals so perfektes Leben nur derart aus den Fugen geraten? Fast spürte sie, wie der goldene fragile Schmuck an ihrem linken Ringfinger zu glühen schien. Die Hitze fraß sich in ihre Haut und sie begann mit ihrem rechten Daumen das Geschmiede schneller zu drehen. Ihr Verlobungsring wurde immer präsenter und grub sich regelrecht in ihren Finger. Alles nur Illusion, das passierte nur in ihrem Kopf und das Resultat daraus hatte allein sie zu verantworten. Sie wusste, dass es nur eine Person gab, die dem ein Ende setzen und sie aus dem Sumpf der Selbstzweifel und des Selbstmitleides herausziehen konnte – allein sie selbst.
Als sie ihre Aufmerksamkeit auf den Spiegel vor sich richtete, um das Chaos, das ihre verflossene Wimperntusche in ihrem Gesicht hinterlassen hatte, zu beseitigen, musste sie feststellen, dass sie nicht allein war.
„Sam, verdammt, du hast mich erschreckt! Was willst du hier? Ich wusste nicht, dass du auch noch blind bist.“
Sam war klar, dass ihr Sarkasmus eigentlich nur ein Ausdruck ihrer aussichtslosen Lage, ihrer Wut und Hilflosigkeit war. Ein verwundeter Löwe, der kurz die Krallen wetzte. Das machte ihm nichts aus. Als genetisch stummer Mensch hatte er sich ein dickes Fell bezüglich Beleidigungen und Gelächter wachsen lassen. Er nahm es meistens mit Humor oder ignorierte es, wenn andere versuchten, ihn zu verletzen. Bei Linnéa war er sich sogar sicher, dass es insgeheim ein Hilfeschrei war. Sie gehörte zu den Menschen, die nach außen hin keine Schwäche zeigen wollten, aber deren Welt schon beim leichtesten Rütteln zusammenzufallen drohte. Zumindest zurzeit. Aber um das sicher sagen zu können, kannte er sie nicht lange genug.
Sam hatte keine Berührungsängste, vor allem, wenn jemand offenbar Trost vertragen konnte. Daher schritt er dicht an Linnéa heran und deutete ihr über den Spiegel, dass sie ihn ansehen sollte. Sie krallte sich noch immer an das Porzellanbecken, was ihn dazu veranlasste, seine Hände auf ihre Schultern zu legen und sie zu sich zu drehen.
„Ich will nicht, dass du das mit ansiehst. Es ist schon peinlich genug, wegen so einer Lappalie überzureagieren“, schniefte sie und richtete ihre Augen auf den Boden. Ihre Finger nestelten nervös an den Blusenspitzen, die sie außerhalb der Hose trug.
Es war lästig, wenn man sich nicht bemerkbar machen konnte und daher schnalzte er mit der Zunge, um ihre Aufmerksamkeit zu erhaschen. Und … Sie sah wirklich zerstört aus, als sie seinen Blick erwiderte. Er konnte nur leicht den Kopf schütteln, mit den Daumen unter ihren Augen die schwarzen Schlieren wegwischen und versuchen, sie auf andere Gedanken zu bringen. Er setzte sein unwiderstehliches Lächeln auf und bedeutete ihr mit seinen Händen, ob sie mit ihm auf den Feierabend anstoßen wolle. Immerhin würde ein Cocktail oder Ähnliches sie vielleicht vergessen lassen, was gerade im Büro des Chefs passiert war.
„Das ist wirklich lieb, Sam, aber Bannet hat mir noch einen Job aufgebrummt, den ich heute auf jeden Fall erledigen muss.“
Linnéa, tu das nicht! Du setzt falsche Signale, er könnte das missverstehen, mahnte sie sich selbst. Sie biss sich auf die Unterlippe und vermochte es trotzdem nicht zurückzuhalten: „Aber wenn du willst, könntest du mich ja begleiten, dann würde es mir vielleicht nicht wie Arbeit vorkommen?“ Sie sah ihn flehend an, obwohl ihr Instinkt erneut aufschrie, dass es keine gute Idee war. Weder für ihn noch für sie, denn sie hatte kein Interesse an Sam, absolut kein Interesse an irgendjemandem. Außerdem arbeiteten sie zusammen und ein Ausrutscher würde alles viel schwieriger gestalten.
Warum muss er auch ausgerechnet so nett sein? Dabei hatte er ihr nie Avancen gemacht … generell keine Annäherungsversuche gestartet, wenn man die Schultermassagen ab und an nicht mitzählte.
Linnéa beobachtete Sams Schreibbewegungen auf dem Spiegel, welche mit seinem Zeigefinger spurlos Buchstaben formten:
„Zum Sea Life-Aquarium, nicht weit vom Büro entfernt. Was meinst du?“ Linnéa konnte nicht verhindern, dass bereits eine hoffnungsvolle Euphorie in ihrer Frage mitschwang.
Sam dachte über die ‚angeblich größte Ansammlung an nautischen Unterwasserwesen in ganz Europa’ nach, damit warb das Sea Life. Riesige Salzwasseraquarien als Lebensraum für Haie, Wale, Rochen, bunte Fische samt Korallenlandschaften, alle festgehalten hinter gläsernen Mauern. Alles sah bildschön und zu perfekt aus. Nein, Zoos und dergleichen waren nichts für ihn. Er bevorzugte die Natur ohne Grenzen. Die Entscheidung fiel ihm schwer, denn er wollte sie nicht enttäuschen, doch das kam für ihn absolut nicht infrage. In ihre strahlenden grünen Augen zu blicken, die noch immer Tränen trugen und hofften, ein „Ja“ zu erhalten, machte es nicht besser. Er legte seine Hände auf ihre Oberarme, strich mehrere Male auf und ab und studierte ihr Gesicht. Die kleine Stupsnase, die leichten Sommersprossen, die ihr eine niedliche Nuance verliehen, wobei er tief in ihren Augen etwas erahnen konnte, Stärke und Zügellosigkeit, die hoffentlich eines Tages wieder die Oberhand gewinnen würden.
Linnéa blickte tief in seine Augen. Sie wusste, dass er farbige Kontaktlinsen trug. So eine Farbe konnte die Natur nicht kreieren, selbst wenn sie tief in die Trickkiste griff. Sie waren rehbraun und nach außen hin endete die Iris in einem satten Schwarz. Die Regenbogenhaut war mit oliv- und bernsteinfarbenen Sprenkeln versehen, welche seine Augen in allen Facetten zur Geltung kommen ließen. Wie verdammt eitel er sein musste, um sie zu tragen. Doch als er seinen Kopf verneinend schüttelte, verpuffte die Traumblase und die Realität regnete erneut auf sie herab. Ein bitterer Geschmack machte sich auf ihrer Zunge breit und sie atmete hörbar aus. Zwar sah Linnéa noch, wie Sam ihr als Gegenvorschlag mittels Zeichensprache unterbreitete, ob sie nicht anschließend einen trinken gehen könnten, dennoch bremste es die ausbreitende Enttäuschung nicht. Der Ring auf ihrem Finger wurde erneut schwer wie Blei und frischte die Erinnerung auf.
„Tut mir leid, Sam … ich kann heute nicht.“ Sie holte ein bisschen weiter aus, als sie in sein fragendes Gesicht blickte und er die Schultern samt Händen hochzog. „Heute ist es genau ein Jahr her. Du verstehst bestimmt, dass mir da nicht nach feiern ist.“ Noch bevor sich weitere Tränen ankündigen konnten, schob sie sich an Sam vorbei aus der Damentoilette.
Die junge Frau hielt sich ihren verbundenen Arm und humpelte so schnell sie ihre Beine tragen konnten, durch diese schier unendlich scheinende Behausung. Seltsame, kalte graue Wände grenzten ihre Flucht ein. Diese nicht enden wollenden Vertiefungen in den Böden, um von einer Ebene in die nächste zu gelangen, machten ihr Angst. Es erinnerte sie an das Gehäuse einer Schnecke, nur mit der Tatsache, dass diese Umgebung nicht rund, sondern eckig war. Generell war ihr alles, was sie gerade sah, völlig fremd, unerklärlich und die Eindrücke überforderten ihren Geist. Auch dieser intensiv beißende Geruch war so weit entfernt von den fruchtigen, salzigen oder floralen Düften, die ihre Nase zu schätzen gelernt hatte. Sie blickte sich immer wieder um, in der Hoffnung, nicht entdeckt zu werden.
Ihr Atem hallte in ihrem Kopf und das Blut konnte den Sauerstoff offenbar nicht rasch genug transportieren, da sie sich an einem glänzenden kalten Gerüst, das sich im Zentrum dieser Schnecke zum Festhalten anbot, festklammern musste, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Das kühle Material gab ihr die Gewissheit, dass sie noch am Leben war, trotz der Kollision mit diesem harten Objekt, das rasend schnell auf sie zugekommen war und das sie noch nie zuvor gesehen hatte. Dabei hatte sie sich da noch in der freien Natur befunden, als diese grellen Augen sie erfasst hatten. Schlagartig war alles pechschwarz geworden und sie war allein in diesem piependen Höllenraum aufgewacht, ohne ihre gewohnte Kleidung. Stattdessen trug sie etwas Material am Leibe, das am Rücken frei war.
Sie vernahm Stimmen und Geräusche aus den Gängen, die in jeder Ebene nur durch eine verschlossene Öffnung getrennt zu sein schienen. Wie sie dorthin gelangen konnte, blieb ihr allerdings verborgen. Die Zeichen auf dem grünen Hintergrund direkt über einer dieser Öffnungen konnte sie nicht identifizieren, doch sie wusste eines mit Gewissheit: Sie hätte niemals hier landen dürfen. Nun war sie so weit gekommen, aber durch diesen Fehler konnten sie sie finden. Sie würden sie jagen, um sie für ihren Verrat zu bestrafen. Und sicher würde sie nicht lebend aus den Fängen ihres Volkes entlassen werden.
Als Linnéa gerade den Schlüssel zu ihrer 65-Quadratmeter Wohnung umdrehte, versuchte sie ihre Eindrücke aus dem Sea Life-Aquarium so lange wie möglich festzuhalten, bevor die seelenlosen Räume sie an diesem gottlosen Tag wieder in das Hier und Jetzt befördern würden.
Diese herrlichen Blautöne, die sanften Urriesen und die flinken knallbunten Fische – es war wie ein kleines Paradies. Vor allem die unsagbare Ruhe, die diese Welt auf sie übertrug. Sie liebte das Wasser und ihre Bewohner. Die fließenden Bewegungen der stromlinienförmigen Wesen, die sich ihren eigenen Rhythmus kreierten. Und diese Farben … Farben, die man an Land nur in tropischen Blumengärten oder karibischen Gegenden vorfand, wo der Tourismus noch nicht zu sehr in die Natur eingegriffen hatte. Unweigerlich musste sie wieder an die rosa Delfine denken, die ihr Fachjournal vielleicht auf dem Gewissen hatte. Linnéa schüttelte den Gedanken ab, streifte sich die Schuhe von den Füßen und legte ihr Kameraequipment sowie ihre Handtasche zu Boden. Schnurstracks steuerte sie auf das Wohnzimmer zu und ließ sich auf ihre Couch fallen. In diesem Moment wollte sie nichts fühlen, nichts denken und sich nur an den zarten Geräuschen des Wassers festhalten, die durch die Glaswände der Aquarien gedrungen waren. Einen Hoffnungsschimmer gab es zumindest: Die neuen Fotos waren eindeutig Meisterwerke, was ihr hoffentlich einen angenehmen Schlaf ermöglichen würde.
Linnéa kuschelte sich in ein weiches Kissen und sah sich in ihrem Heim um. Sie hatte einen 42-Zoll Flachbild-Fernseher, cremefarbene Sitzmöbel und dunkelrote Vorhänge, die durch ihre Transparenz reine Zierde darstellten. Die offen geschnittene Wohnküche war modern und mit Liebe eingerichtet worden. Daher wusste sie nicht, weshalb ihr diese Wohnung trostlos und karg vorkam. Sie verfügte über Bilder, stilvolle und bunte Accessoires und trotzdem hatte sie in der Wohnung das Gefühl, als ob es eine hallende, unendlich große Höhle sei – unbelebt und leer. Selbst die frisch gewaschene Wäsche auf der Wäschespinne, die achtlos in ein Eck gepfercht war, und der automatische Sprühduft mit ätherischen Ölen auf der Kommode im Eingangsbereich brachten keine Wohnlichkeit hinein. Dabei lebte Linnéa bereits seit zehn Monaten hier. Sollte sie sich nun einen Hund zulegen, um diese Trübsinnigkeit und Einsamkeit zu überwinden?
Ein neuer Mann als Trostpflaster? Nur über meine Leiche!
Ihr Verlobungsring drückte ihren Finger in genugtuender Manier. Er war das Mahnmal für sie geworden. Nie wieder wollte sie sich so von ihren Gefühlen lenken lassen. Nie hätte sie es für möglich gehalten, von der Liebe ihres Lebens ausgerechnet mit dem Mittelpunkt ihres Lebens betrogen zu werden. Ihre neue Familie durch ihre eigene Familie zu verlieren … Wie viel Verrat konnte ein Mensch ertragen? Als wiederholt Wut, Hass und Trauer über sie herfielen, stieß sie mit voller Kraft ihren kleinen Beistelltisch mit beiden Füßen um. Das Geschirr vom Vorabend verteilte sich auf dem cremefarbenen Teppich und eine halbvolle Flasche Rotwein tat den Rest. Linnéa konnte bei dem Anblick nur laut fluchen, erhob sich, um stampfend in der Küche Putzmittel und Lappen zu besorgen und ihrem selbstkreierten Chaos abzuhelfen. Aber auch diese Ablenkung von ihrem Gedankenkarussell vermochte ihr Gemüt nicht zu besänftigen. Toby war Grund genug, der Männerwelt den Rücken zu kehren und sich einzig und allein auf ihren Job zu konzentrieren. Ein Jahr war die Trennung bereits her, doch sie hatte sich derart in ihr Gedächtnis gebrannt, dass sich ihr Zustand noch immer nicht gebessert hatte. Im Gegenteil, im Job ging es immer mehr bergab. Niemand wusste, dass sie zweimal die Woche in psychotherapeutischer Behandlung war. Niemand wusste, dass sie einen Selbstverteidigungskurs belegt hatte, um den Druck abzubauen und es ahnte auch niemand, dass sie sich noch heute fast jede Nacht in den Schlaf weinte. Sie war am Ende ihrer Kräfte. Exakt vor einem Jahr … sie hatte Toby vertraut und auch ihrer Schwester, die für sie wie eine Ersatzmutter gewesen war.
Nein! Du wirst da nicht noch mal hingehen! Wie oft noch? Es hat sich nichts geändert und die Bilder von damals bringen dich nicht weiter!, schallte es durch ihre Gehirnwindungen. Doch die warmen Tränen wollten und wollten nicht aufhören auf ihren Händen zu landen, während sie kraftlos versuchte, die Scherben, Speisereste und den Wein aus dem Fransenteppich zu bekommen – vergeblich.
Sie hatte sich selbst geschworen, keinen Mann mehr an sich ranzulassen, zumindest keine tiefgründigen Gefühle mehr für jemanden zu entwickeln und vor allem … hatte sie keine Schwester mehr.
Die Bilder wirbelten durch ihren Kopf, zehrten an ihren Nerven und als die Decke drohte, auf sie herabzustürzen, textete Linnéa Sam, dass sie sich ihm doch anschließen würde, falls er noch vorhatte, in die Stammbar zu gehen. Nur ein paar Augenblicke danach kam die erlösende Antwort. Sie frischte sich kurz auf und keine 15 Verschönerungsminuten später war sie auch schon auf dem Weg ins Nachtleben.
Sam hatte sich an seinen Lieblingstisch gesetzt. Eigentlich war er nicht der Typ, der gern in laute, stinkende Kneipen ging. Obwohl er in einer Metropole wohnte, war er im Herzen ein Naturmensch geblieben und erfüllte nur seine Aufgabe. Er wusste, dass er seine Arbeit gut machte und das war alles, was zählte.
Das pulsierende Licht und die kleine Tanzfläche machten es für ihn schwer, sich zu verständigen, wohl aber verhalf ihm sein Äußeres, viel Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Auch wenn es einen bitteren Beigeschmack für ihn hatte, genoss er es. Nicht selten führte seine Stummheit beim ersten Kontakt zu einer Abwehrhaltung der Damen und das verletzte sein Ego etwas. Für ihn war es keine Behinderung. Er wollte auch kein Mitleid oder übertriebene Gesten aus Angst, er wäre minderbemittelt und würde nichts verstehen. Das war so unerotisch, dass es schon wieder uninteressant wurde. Aber darüber wollte er sich an diesem Tag keine Gedanken machen, denn er hatte heute Abend eine Mission: Linnéa etwas aufzuheitern. Das Angenehme war, ihr musste er nichts beweisen oder etwas vorspielen und so konnte es ein schöner Ausklang eines anstrengenden Arbeitstages werden.
Linnéa bestellte noch beim Vorbeigehen an der Bar einen Mojito und schlenderte mit einem aufgesetzten Lächeln zu Sam, der sich den besten Platz gesichert hatte. Von dem Tisch hinten in der Ecke konnte man einen grandiosen Überblick über das Geschehen an der Bar genießen. Sie scannte kurz sein Outfit. Er trug blaue Jeans, die ruhig etwas enger hätten sein können und ein knalltürkises langärmliges Hemd mit passenden karierten Stoffstellen am Innenrand des Kragens sowie an den umgelegten Ärmeln. Die sicher sündhaft teure schöne weiße Uhr und die für ihn typischen breiten Lederbänder an den Handgelenken rundeten seinen metrosexuellen Stil ab. Tja, es war schwer, ihm die Show zu stehlen. Wieder fragte sie sich, warum er keine Freundin hatte, sie mussten doch bei ihm Schlange stehen. Erneut schlich sich der Gedanke in ihren Kopf, dass er vom anderen Ufer sein könnte – aber das wäre schlichtweg ein Verbrechen an der Frauenwelt. Nichtsdestotrotz wirkte er nicht wie ein Jäger und Sammler … Außer er tat dies subtiler, damit er diese geheimnisvolle und unerreichbare Aura bewahren konnte.
Sam sah Linnéa durch die Flut an Farbblitzen auf ihn zukommen. Sie trug ausnahmsweise einmal einen Jeansrock und eine bunte luftige Tunika. Erst als sie direkt vor ihm zum Stehen kam und ihm einen Kuss auf die Wange drückte, wurden ihm ihre geschwollenen Augen bewusst, die sie durch dezentes Schminken versucht hatte, zu überdecken. Plötzlich war er sich nicht mehr so sicher, ob er sie wirklich ablenken konnte oder ob der Abend letztendlich in einem Desaster enden würde.
Durch das halbdunkle Licht war es ihm kaum möglich, ihr Zeichen zu geben. Doch im Laufe des Abends schienen sich seine Befürchtungen zu bewahrheiten, jegliches Gespräch war ohnehin fruchtlos. Linnéa trank eindeutig mehr Alkohol, als sie vertrug. Dabei war erst Donnerstag und sie musste noch den bevorstehenden Arbeitstag durchstehen. Bannet duldete verkaterte Mitarbeiter gar nicht.
Sam war gerade damit beschäftigt, das letzte bestellte Glas wieder zurückzuordern, als Linnéa sich mit den Resten des aktuellen Drinks vollschüttete und ihn gleich mit traf. Als er das kühle Malheur noch in sein Hosenbein einsickern sah, musste er seufzen.
Warum hab ich ihr das nur angeboten? Sam fischte nach Servietten aus dem Spender, der mitten auf dem Tisch stand und begann, sich damit abzutrocknen. So gern er sie auch mochte, aber nun wurde es mühsam.
„Komm Sam, lass uns tanzen, das is’ mein Lieblingssong!“, brüllte sie in seine empfindlichen Ohren, als ob diese durch die elektronische Musik nicht ohnehin schon genug Druck standhalten mussten. Er bedeutete ihr, dass er kein Tänzer sei, doch entweder verstand sie ihn nicht oder ignorierte es einfach. Sie packte ihn am Handgelenk und zog ihn gnadenlos mit sich. Für so viel Alkohol hatte sie sich erstaunlich gut im Griff, zudem war sie stärker, als er ihr zugetraut hätte.
Linnéa war schwummrig. Sie spürte, dass der Alkohol bereits die Kontrolle über ihre Motorik übernommen hatte. Zum Glück trug sie Ballerinas, sonst hätte ihr Gang sie bestimmt verraten. Sams Abneigung zu lauter Musik und dem Tanzen war ihr nicht entgangen, aber sie hätte alles getan, um diese Gedanken und Bilder aus ihrem Kopf zu bekommen, die sie seit einem Jahr quälten: Der Augenblick, als sie zufällig ein Foto im Internet fand, wo Toby und ihre Schwester im Hintergrund wild knutschten; dann der Moment, als sie ihnen eine Falle stellte … die damalige gemeinsame Wohnung betrat … die schleichenden Schritte ins Schlafzimmer … das vorsichtige Öffnen der Tür … und der Zeitpunkt, als ihre Schwester lautstark auf den Hüften ihres Verlobten ritt und er sie anstachelte, ihm mehr zu geben. Mehr, als sie selbst es vermochte? So oft hatte sie sich das seitdem gefragt.
Linnéa blinzelte die lästige Feuchtigkeit in ihren Augen in die Flucht und hatte das Ziel, die Tanzfläche, mit Sam erreicht, der sich noch immer vehement wehrte.
„Bitte, Sam! Nur das eine Mal – dafür schulde ich dir etwas. Versprochen.“ Sie sah plötzlich eine Veränderung in seinen Augen aufblitzen. Scheinbar konnte er ihrem Hundeblick nicht widerstehen, seufzte kurz, um sich anschließend mit ihr im Rhythmus zu bewegen. Sie musste schnell feststellen, warum er nicht tanzen wollte. Sie hatte nie zuvor jemanden mit so einem mangelnden Taktgefühl gesehen. Eigentlich musste man ihm Hausverbot geben oder eine saftige Ohrfeige dafür, dass er die Illusion des perfekten Adonis mit nur einem Hüftschwung zunichtemachte. Wie war das bloß möglich? Obwohl sie das überhaupt nicht interessieren sollte, fragte sie sich, wie ein Mann, der solche stockenden unbeholfenen Bewegungen machte, wohl im Bett einen Rhythmus hinkriegen sollte.
Nach nur einem Lied machte der DJ dem Leiden von Sam ein Ende und legte ein langsames Stück auf. Doch diese Aktion schien auch irgendwie fehl am Platz zu sein. Sam und sie standen sich gegenüber wie zwei Teenager, die nicht wussten, was nun zu tun sei.
Schlimmer konnte es ohnehin nicht mehr kommen, also löste Sam seine Starre und trat zu ihr, nur um sich wieder seiner 1,95 m bewusst zu werden. Er brauchte keine Worte und sie würde gewiss nicht Nein sagen, daher nahm er ihre Hände in Tanzschulform und lehnte sich näher an sie. Sie roch fantastisch nach exotischen Blumen, obwohl er kein Freund von Parfüm war. Er spürte ihren Alkoholkonsum, ihre Unsicherheit oder machte er sie etwa nervös? Ihr Körper bebte ganz leicht und ihre Finger waren nur zögerlich in seinen Händen zu spüren.
Das war einfach viel zu schön, viel zu vertraut. In Linnéa kam eine Sehnsucht aus den tiefsten dunkelsten Ecken hervorgekrochen, wo sie sie einbetoniert, hinter einer Tür fest versperrt und den Schlüssel weit weggeschmissen hatte. Wie verräterisch der eigene Körper sein konnte. Sams Haut war kühl, trotz der Tatsache, dass sie gerade in dieser stickig schwülen Bar das Tanzbein zusammen geschwungen hatten. Er fixierte sie mit diesen einzigartigen Augen. Wie verführerisch nun der Gedanke wurde, ihre eigens angelegten Fesseln zu sprengen und sich treiben zu lassen. Einfach nur ein paar Sekunden das Gefühl zu haben, lebendig zu sein, nicht allein zu sein. Ohne Sorgen, Trauer oder Schmerz zu existieren. Urplötzlich entstand der Drang, ihm näher sein zu wollen, also ließ Linnéa die spießige Position hinter sich, um ihre Arme um seinen Nacken zu schließen, doch Sam hielt sie davon ab, indem er diese nahm und galant um seine Taille legte.
Okay, das war wohl eindeutig eine Abfuhr – oder etwa nicht? Enttäuschung machte sich in ihr breit. Trotzdem fühlte sich sein gestählter Körper verdammt gut an ihrem an und sie verfluchte Sam, dass er so unendlich attraktiv ihren Vorsätzen und Prinzipien ein Beinchen stellte. Zudem roch er so unwiderstehlich nach Minze, Meer und Zedernholz, dass sie am liebsten mit ihrer Nase an seiner blanken Haut entlang gestrichen wäre, nur, um ihre aufkeimenden erotischen Fantasien zu füttern. Denn diese Zurückhaltung und Vernunft stachelte den Jagdtrieb in ihr zusätzlich an. Sie war der Meinung, eigentlich nicht hübsch genug zu sein und daher nicht in sein Beuteschema zu passen, doch der Alkohol … Ja, der liebe Alkohol wollte exakt in diesem Moment wieder das Licht der Welt erobern. Linnéa riss sich von Sam los und stürmte gerade noch rechtzeitig in die Toilette, bevor sie sich den ganzen Abend durch den Kopf gehen ließ.
Fantastisch. Einfach fantastisch. Sam saß auf dem Rücksitz eines Taxis und seine halb weggetretene Arbeitskollegin lag in seinem Schoß. Das war einfach nicht gut für ihn. Er war ihr zu nahegekommen. Dies war weder für ihn noch für sie eine gute Idee. Trotzdem gebot es die Freundschaft, dass er sie heil nach Hause brachte. Der morgige Kater würde ihr schon genug Sorgen bereiten, wenn sie wieder zur Besinnung kam.
Sam kramte den Schlüssel aus Linnéas Tasche, die sie ihm entgegenstreckte und öffnete die Wohnungstür. Als sie gerade dabei war, erneut über ihre eigenen Füße zu stolpern, fing er sie auf und beschloss, sie direkt ins Bett zu bringen. In voller Montur, verstand sich!
„Es tut mir so leid, Sam. Ich wollte dir keine Schwierigkeiten machen. Wirklich nicht.“ Wieder kullerten Tränen über ihr total gezeichnetes Gesicht. Tränen hatten ein modernes Portrait aus ihrem Make-up gefertigt. Er bugsierte sie ins Bett, doch sie richtete sich schlagartig erneut auf, um sich mühsam ihres Rockes und der Tunika zu entledigen, während Sam nur der Atem stockte. Wenigstens die Unterwäsche behielt sie an. Nach gefühlten Stunden lag sie dann endlich eingekuschelt unter der Decke. „Du wirst sicher nie, nie, nie mehr mit mir ausgehen, stimmt’s?“, flüsterte sie. Sam lehnte sich übers Bett und strich ihr eine rotblonde Strähne aus dem Gesicht. Diese Nacht hatte optische und auch geruchsintensive Spuren an ihr hinterlassen. Er schüttelte nur den Kopf und holte sein Handy aus der Tasche. Er tippte einen Text vor ihren Augen, damit sie es vom leuchtenden Display ablesen konnte:
Ein Schluchzen kam als Antwort und er reichte ihr die Kleenexbox, welche auf ihrem Nachtkästchen platziert war. Seinem Urteil nach war sie oft im Gebrauch, so abgenutzt sahen die gemusterten Ecken des bunten Kartons aus.
„Ich bin so blind gewesen. Stell dir vor, ich wollte unbedingt heiraten und Kinder mit ihm haben. Und er? Er hat allem zugestimmt, mir einen Verlobungsring geschenkt, dabei hatte er bereits ein Verhältnis mit meiner Schwester. Wenn ich es nicht zuvor entdeckt hätte, hätten wir geheiratet. Ich … ich …“ Linnéa rotzte lautstark in das Taschentuch und es war ein furchtbarer Anblick. Sam schüttelte den Kopf und streichelte ihr sanft über ihre Haarpracht. Er wusste, dass es nichts gab, um ihr wieder einen anderen Blick auf das Leben zu geben. Sie war wie in einer Spirale gefangen, obwohl sie einfach nur aus dem Karussell aussteigen wollte.
Er brachte Linnéa noch ein großes Glas Wasser aus der kleinen Kochzeile und bestand darauf, dass sie es vor seinen Augen vollständig leerte, bevor er ihre Wohnung verließ.
Dieser Abend ließ Sam lang nicht mehr los und er dachte angestrengt über ihre Worte nach.
Linnéa beobachtete ihre große Schwester in der Küche, die ihren neuen Eltern beim Frühstück machen half. Wie die drei Jahre Ältere ihre selbst ernannte neue Mutter anhimmelte … Linnéa wusste warum. Nachdem ihre Eltern vor zwei Jahren bei einem Autounfall gestorben waren, war Linnéa dankbar, dass sie ihre Schwester hatte, die so viel mehr Kraft und Mut hatte als sie selbst. Sie verließ sich auf ihre Schwester, denn sie selbst war unfähig, aus ihrer tiefen Zurückgezogenheit auszubrechen. Und wenn die Ältere keinen kühlen Kopf bewahrt hätte, wären es wohl mehr als nur zwei Jahre in den Fängen der lieblosen Ordensschwestern, die das Heim betreuten, gewesen. Linnéa fiel es schwer, ihre Schwester loszulassen. Sie war in der Zeit ihre Mutter gewesen, DER Mensch, zu dem sie aufgeblickt hatte, der einzige Mensch, den sie noch hatte. Doch in diesem Moment, als ihre Schwester so in ihrem pinken Kleidchen strahlte und ihre langen, blonden Locken bei jedem Sprung zum Esstisch wie in Zeitlupe wippten, hatte sie nahezu Angst, sie nun teilen zu müssen. Als die großen blauen Kinderaugen die ihren trafen, wusste sie selbst mit ihren acht Jahren, dass nur eine Intention in ihrer Schwester verborgen lag. Sie wollte das perfekte Kind für die neuen Eltern sein, um sicherzugehen, dass sie nicht erneut ins furchtbare Heim mussten. Sie tat dies ausschließlich für sie beide, weil sie ihr geschworen hatte, sie von dort rauszuholen. Linnéa liebte sie dafür und eine Träne rollte über ihre Wange. Sie war so dankbar, dass sie sich hatten.
Linnéa fuhr aus ihrem Albtraum hoch, nur um sich im nächsten Augenblick selbst zu verfluchen. Ein stechender Schmerz bahnte sich von den Schläfen ausgehend durch ihren Kopf, als ob glühende Stricknadeln gewaltsam ihren Weg in den Schädel fänden. Mit Mühe schaffte sie es, ihren Hals zu recken und einen Blick auf die digitale Uhr neben sich zu werfen. Schmerzvoll seufzte sie und setzte sich langsam auf. Eigentlich sollte sie aus dem Bett springen und sich beeilen, doch ihre Gliedmaßen schienen ein Eigenleben entwickelt zu haben. Ihr trockener Mund und der fürchterliche Geschmack in ihrem Rachen überzeugten sie dann, in den ersten Gang zu schalten.
Drei Tassen Kaffee später und der Einsatz des Notfallprogramms halfen ihr, das Büro nur geschlagene drei Minuten zu spät zu betreten. Es gab keinen Zweifel, dass man ihr die durchzechte Nacht ansehen würde. Zumindest die Wirkung der Kopfschmerztabletten setzte langsam ein, sodass vielleicht in einer Stunde der physisch anwesende Modus auf einen psychisch anwesenden erweitert werden konnte.
Linnéa hetzte in Richtung Schreibtisch, als sie ausgerechnet Miles Finham über den Haufen rannte. Genervt zupfte er sein faltenloses Hemd zurecht und strich sich durchs zurückgegelte Haar, als hätte sie es gewagt, seinen geschniegelten Look zu zerstören. Dabei war bei seinem feinen braunen Haar ohnehin Hopfen und Malz verloren. Lange würde er es nicht mehr halten können. Außerdem hatte er es mit seinem penetranten Eau de Cologne übertrieben, denn Linnéa schmeckte es sogar auf der Zungenspitze, obwohl sie es nur inhaliert hatte.
Miles Finham sah sie mit pochenden Adern am Hals an, als ob er sie fressen wollte und sie löste sich schnell von seinem Blick, begleitet mit einem gehauchten „Entschuldigung“. Als sie gerade am Büro vom Chef vorbeisprintete, öffnete sich, wie durch ein schlechtes Omen, die Tür und Bannet strafte sie wieder mit diesem starren Blick.
„Samson, in mein Büro! Wir müssen reden.“
Linnéa schluckte ihren Frosch beiseite und rief ihren Kater zur Ordnung, um bei dem kleinen Zoo ein Lächeln auf Befehl zu geben. Und es wirkte.
Sie hielt einen Sicherheitsabstand zu Bannet, da sie sich im Unklaren war, ob man ihre Fahne – trotz des mehrfachen Zähneputzens – vielleicht mit einer feinen Nase bemerken würde. Dann fielen ihr die neuen Schnappschüsse ein und sie holte ihren Datenstick hervor.
„Setzen Sie sich doch“, wies er sie höflich an, während er selbst Platz nahm, seine Ellbogen auf die Schreibunterlage lehnte und die Hände in Betposition faltete.
Kurz kam wieder Leben in ihre müden Gehirnwindungen: „Ach ja, bevor ich es vergesse: Die neuen Fotos aus dem Sea Life-Aquarium sind grandios geworden, Mr. Bannet.“ Ohne den Blick von dem elektronischen Speicher zu lösen, positionierte sie ihn direkt auf seiner Unterlage. Doch als sie wieder ihre Aufmerksamkeit auf ihr Gegenüber richtete, brachte ihr dieser noch immer eine versteinerte Miene entgegen. Es war so trügerisch still wie vor einem angesagten Sturm. Linnéa konnte nur das gleichmäßige Ticken der Wanduhr in Bannets Büro vernehmen, welches sie durch den Widerhall erneut an ihre Kopfschmerzen erinnerte. Was denn noch?, brach ihre Ungeduld aus ihr heraus, doch sie konnte sich gerade noch zusammenreißen, die Worte nicht laut auszusprechen.
„Ob sie grandios sind, werde wohl ICH entscheiden, aber darum habe ich Sie nicht in mein Büro zitiert, Ms. Samson.“
„Sondern?“, rutschte es ihr aus ihrem losen Mundwerk. Verdammt!
„Mir ist aus sicherer und sehr vertrauenswürdiger Quelle zu Ohren gekommen, dass Sie sich nach einem neuen Job umsehen“, erzählte Matthew Bannet in einem beiläufigen Ton.
Linnéa stockte der Atem. Sie konnte nicht anders, als sich unter dem Tisch einmal fest zu kneifen, um sicherzugehen, dass sie nicht noch immer träumte. „Sir, ich meine, Mr. Bannet …“, stammelte sie zu ihrer Verteidigung.
„Lassen Sie mich ausreden!“
Ihr Mund verschloss sich, als habe er selbst manuell nachgeholfen, doch der Schrecken war ihr ins Gesicht geschrieben.
Wer erzählt so etwas?
Sam studierte eine Anzeige im Lokalteil der Tageszeitung:
Patientin verließ in Nacht- und Nebelaktion das Greenwich Hospital, nachdem sie tags zuvor von einem Auto angefahren worden war. Bei den Untersuchungen kam eine schwere Vererbungskrankheit zum Vorschein. Die Bevölkerung wird gebeten, bei der Ergreifung der jungen Frau Hilfestellung zu leisten, da sie schwer traumatisiert ist. Für sachdienliche Hinweise kontaktieren Sie bitte folgende Nummer …
Er betrachtete das angehängte Schwarz-Weiß-Foto. Das Mädchen, oder die junge Frau, hatte langes dunkles Haar und ein sehr rundes Gesicht. Die Augen waren bemerkenswert groß und auffallend hell. Sie hoben sich von ihrer Gesichtsfarbe kaum ab, sofern man dies bei den Grauabstufungen sagen konnte. Instinktiv öffnete er seinen Internet Explorer und suchte nach weiteren Nachrichten zu diesem Fall und dem aussagekräftigen Blick der Frau. Und Bingo – sogar ein Farbfoto – und es war tatsächlich so wie vermutet. Die Augen waren in einem Jadeton und von einer dunkleren Umrandung der Iris eingeschlossen. Aber dieser Ausdruck: leicht erschrocken oder ängstlich – ihre Augen sprachen Bände …
„Sam, hast DU etwas damit zu tun?“, erklang eine Stimme, die nach mehr Sauerstoff schnappte. Linnéa postierte ihre beiden Arme abrupt auf seinen Schreibtisch und sah ihn mit stechendem Blick an.
Sam lehnte sich in seinem Drehsessel zurück und sein rechter Zeigefinger formte ein Fragezeichen in der Luft, während seine Lippen ein „Was“ imitierten.
„Sam?“ Linnéa zog seinen Namen in die Länge und fixierte ihn, doch in seinen Augen war nichts zu lesen, auch die Mundwinkel zuckten nicht verräterisch. Dabei wusste sie nicht, was sie von der ganzen Aktion halten sollte oder etwa doch? „Irgendjemand hat Bannet zugeflüstert, dass ich gerade Bewerbungsschreiben und Lebensläufe an andere Zeitungen abschicke, weil ich hier unglücklich wäre. Der- oder Diejenige soll behauptet haben, dass ich bereits sehr vielversprechende Gespräche geführt hätte und nur gehen will, weil ich nach drei Jahren noch keinen Artikel schreiben, geschweige denn, mitbetreuen durfte. Ist denn das zu fassen?“ Ungläubig musste sie ihren Kopf schütteln und massierte anschließend ihre Stirn. Die durchzechte Nacht machte sich erneut bemerkbar. Als Linnéa wieder aufblickte, hielt ihr Sam ein Post-It entgegen:
Sie las seine Nachricht, aber sein Gesichtsausdruck passte einfach nicht zum Inhalt, den er vermittelte. Sie könnte schwören, dass seine Mundwinkel schwer beherrscht wurden, um ja nicht verdächtig zu einem Grinsen zu mutieren. Nun neigte sie ihren Kopf und ihre Augen wurden zu vernichtenden Schlitzen.
„Er hat mir doch tatsächlich den Auftrag gegeben, mit Miles Finham – DEM Miles Finham – auf eine einsame Insel in Französisch-Polynesien zu fliegen, um dort von einer Ansammlung von Frauen zu berichten, die außerhalb der Zivilisation leben. Er meinte allen Ernstes, dass er mir diese Chance geben möchte, um ihm zu beweisen, dass ich es drauf habe. Wenn ich es verbocken sollte, könne ich noch immer zur Konkurrenz ausweichen – ist das nicht unglaublich? Und du hast wirklich nichts damit zu tun?“
Sam war immer schon gut im Verstecken von Emotionen gewesen und gerade in diesem Augenblick war er dankbar für dieses Talent. Linnéa zappelte wie ein Fisch an der Angel aus Verzweiflung, wie es zu dieser 180-Grad-Wendung in ihrem Leben gekommen war. Als er schließlich erlösend seinen linken Mundwinkel hochzog, wurden auch ihre Augen so groß wie die eines Fisches. Wenn er Stimmbänder hätte, würde ihm wohl nun ein herzhaftes Gelächter entweichen, doch er hatte es sich angewöhnt, mit allen Fingern auf die Tischkante zu trommeln, um sein Lachen samt Lächeln kundzutun, was er sogleich in die Tat umsetzte.
„Das ist nicht dein Ernst? Weißt du eigentlich, wie verrückt das war? Das hätte völlig nach hinten losgehen können!“ Mit drohendem Finger versuchte sie ihm doch tatsächlich, den Ernst der Lage zu verdeutlichen und wirkte dabei wie eine Lehrerin. Er war sich sicher gewesen, dass es klappen würde. Dafür war seine Menschenkenntnis einfach zu gut. Doch in der nächsten Sekunde wurde ihr Grinsen so ausladend, wie er es bei ihr nie zuvor gesehen hatte, höchstens auf alten Fotos der Weihnachtsfeiern im Büro. Etwas zu ungestüm schlangen sich ihre Arme um ihn und nahmen ihm fast die Luft zum Atmen. Nur mit Mühe schaffte er es, ihre klettenartigen Finger von sich zu lösen, jedoch nicht ohne zusätzlich einen Kuss auf die Wange zu kassieren. Sie war so euphorisch, dass sie nun vor seinen Knien am Boden hockte, sich auf seinen Oberschenkeln abstützte und ihn anstrahlte, während die Köpfe der Kollegen sich bereits tuschelnd in ihre Richtung neigten. Sam wurde plötzlich bewusst, wie das gerade rüberkam. Er deutete ihr eine Auszeit und schrieb eine neue Nachricht:
Eine Drehung ihres Kopfes reichte, um ihr ein hochrotes Gesicht zu zaubern. Sam musste erneut seine Hand vor den grinsenden Mund schieben, denn er fand das eigentlich niedlich.
Bitte lass mich im Boden versinken!, flehte Linnéa ans Universum, bis ihr wieder einfiel, woher ihre Euphorie gekommen war. Schlagartig war ihr schnurzpiepegal, was die anderen gerade dachten, denn ihr Leben vollführte soeben einen U-Turn. Nichts würde es jetzt noch geben, was ihr im Weg stand, weder Toby, noch ihre Schwester oder irgendwelche verdammten Erinnerungen. Sie wusste, dass nicht viel zwischen ihr und ihrem neuen gesetzten Ich stand und das war eindeutig ein Zeichen nach vorne zu schauen.
„Sam, ich weiß nicht, wie ich mich dafür bedanken soll. Wir kennen uns zwar noch nicht so lange – aber dich schickt der Himmel. Eines verspreche ich dir: Ab jetzt werde ich wieder sein, wer ich tatsächlich bin. Kein heulendes Etwas, das sich in Bars lächerlich macht. Ich werde so einen verdammt guten Artikel schreiben, dass er in Erinnerung bleibt. Und du hast das ermöglicht … warum auch immer.“
Sie musste ihm nicht danken. Noch konnte man ja nicht sagen, ob sie diese Reise wirklich glücklich machen würde. Doch Sam beobachtete diese kleinen Grübchen, die sich durch ihr Lachen bildeten, sah, wie ihre Sommersprossen zu tanzen begannen und ihre Augen glänzten, als ob sie poliert worden waren. Es versetzte ihm einen Stich ins Herz, denn vielleicht war es eine Fehlentscheidung. Doch er redete sich selbst ein: Ich habe das Richtige getan. Das ist alles, was zählt.
Völlig überdreht flitzte Linnéa durch ihre Wohnung, um alle nötigen Utensilien für die Reise einzupacken. Es waren gerade einmal drei Tage seit dieser freudigen Botschaft vergangen und Linnéa schien es, als ob ihr Leben wieder lebenswert werden würde. Sie hatte bereits die psychotherapeutischen Termine der nächsten drei Wochen abgesagt, die sich augenblicklich lediglich wie Pflichttermine anfühlten, auf die sie getrost verzichten konnte. Sie hatte die Neuigkeit gleich ihrer Freundin Mira erzählt, die nach Perth ausgewandert war, um der Liebe ihres Lebens zu folgen. Geschlagene dreißig Minuten hatte sie sie am Telefon über den grandiosen Auftrag vollgetextet, dass sie ein neues Kapitel aufgeschlagen hatte und es die erste Nacht gewesen war, in der sie wieder so richtig hatte durchschlafen können. Zu guter Letzt hatte die Therapeutin recht behalten: Mit der richtigen Einstellung war alles zu schaffen und die hatte sie jetzt.
Zur Feier des Tages hatte sie sich sogar zwei Kunststoffpflanzen zugelegt, die auch lange Abwesenheiten überleben würden. Sie waren Ausdruck für ihren verheißungsvollen neuen Lebensstil. Denn wenn sie sich diesmal wirklich anstrengen würde, könnte sie in Zukunft vielleicht mehr Artikel im Ausland an Land ziehen. Freudestrahlend ließ sie sich mit ihrem Lieblingsbuch auf die Couch fallen. Es war ein 100-Seiten-Bildband über die exotischsten Plätze der Welt. Vor Vorfreude zitterten ihre Finger, als sie zu den Inseln von Französisch-Polynesien blätterte. Unendliches Meer, das in den verschiedensten Türkistönen gefächert war. Automatisch stellte sie sich die Rufe von Möwen vor, schmeckte das Salz auf den Lippen, bekam Gänsehaut von den Sonnenstrahlen, die ihr über die Haut streichen würden und roch die Exotik pur. Eine Insel nach der anderen studierte sie auf den glänzenden Fotos. Selbst recht hohe Berge, die mit leuchtendem Grün überzogen waren wie eine zweite Haut, kamen zum Vorschein. Palmen pflasterten die schneeweißen feinsandigen Strände, bunte Korallenriffe zogen ihr Netzwerk unter dem klaren Wasser – Linnéa konnte nicht anders, als zu schwärmen. Sie war noch nie so weit weg gewesen, außer auf einem Shoppingtrip nach New York, aber streng genommen zählte der nicht.
Da fiel ihr ein, sie musste unbedingt noch ihr wasserdichtes Gehäuse für die Kamera einpacken, denn erst dann war ihr Koffer vollständig. Linnéa hechtete zu ihren Vorzimmerschränken, öffnete den ersten und scannte den Inhalt. Keine Spur. Sie ging die Schubladen durch … Ausgerechnet in diesem Moment rief ihr wieder eine eiskalte imaginäre Dusche in Erinnerung, dass sie nicht über die Ereignisse hinweg war. Mit bebenden Fingern hielt sie den eingerahmten Artikel mit der Ehrung ihrer Schwester in der Hand, auf die sie noch vor einem Jahr so stolz gewesen war. Wie diese triumphierend lächelte, als sie die Auszeichnung für ihre Leistung entgegennahm, die womöglich in die Geschichte eingehen würde. Sie vermisste sie so sehr und trotzdem: dieses verdammte Lächeln. In ihrer Vorstellung fing dieses perfekte Antlitz zu brennen an und arbeitete sich über das Papier bis an den Rand des filigranen Zeitungspapiers. Linnéa spürte förmlich die Hitze das Glas durchdringen und ließ vor Schreck das Bild zu Boden fallen, wo es in tausend Scherben zerbrach.
innéa war stinksauer. Sie hatte sich die Zusammenarbeit mit DEM Miles Finham völlig anders vorgestellt. Seine Worte dröhnten noch immer in ihrem Kopf: „Bilden Sie sich bloß nichts ein, nur weil Ihnen Matthew ein Ticket für dieses Flugzeug spendiert hat. Letztendlich sind Sie nichts anderes als eine persönliche Assistentin für mich. Wenn ich spreche, ist bei Ihnen Funkstille, und wenn ich gehe, gehen Sie auch, wie mein zu Fleisch gewordener Schatten – und genau so sollen Sie sein. Mehr will ich von Ihnen weder sehen noch hören, haben Sie mich verstanden, Samson?“
Na toll, das fängt ja reizend an, schmollte Linnéa innerlich.
Wenigstens musste sie das selbsternannte Genie die nächsten Stunden nicht ertragen, denn er hatte seine Schlafmaske aufgesetzt und vor zwanzig Minuten die Proben für sein Sägekonzert begonnen. Gentleman wie er war, durfte sie nicht einmal am Fenster sitzen, obwohl er bereits angekündigt hatte, dass er den ganzen Flug über schlafen wollte.
Linnéa runzelte die Stirn und ließ sich die Eckdaten nochmals durch den Kopf gehen: Mit Air New Zealand, von London auf die Gambier Inseln/Flughafen Totegegie, an die 15.300 Kilometer, Zwischenlandung in Los Angeles mit dreistündigem Aufenthalt und schließlich nach Tahiti. Von dort ging es nach einer Stunde Wartezeit weiter. Insgesamt eine Reisezeit von über 22 Stunden. Es war für sie unvorstellbar, dass Tahiti noch immer 1.800 Kilometer von ihrem eigentlichen Ziel entfernt lag.
Wie sollte sie diese Zeit nur überbrücken? Sie kramte ihre Unterlagen zur Endstation ihrer Reise heraus und ging sie Punkt für Punkt durch. Doch auch das schien den Zeiger der Uhr nicht schneller drehen zu lassen. Als das Flugzeug von einem kurzen epileptischen Anfall getrieben wurde, leuchtete nicht zum ersten Mal das Anschnallzeichen auf und ihr Magen ließ sie wieder dasselbe Spiel spielen wie die letzten Male: Hielt sie es bis zur Toilette aus oder nicht? Bis jetzt hatte sie sich beruhigen und die Übelkeit zurückdrängen können, doch wenn es so weiterging, musste sie die Beine in die Hand nehmen. Ihr war nicht mehr bewusst gewesen, dass ihre Symptome so schlimm waren: Flugangst. Sie durfte nicht darüber nachdenken, dann wurde es besser. Ihre Fingerknöchel verfärbten sich durch das verkrampfte Festhalten des Kissens dennoch etwas weiß, deswegen beschloss sie, diesem zumindest für ein paar Minuten Ruhe zu gönnen, legte es in ihren Nacken und schloss die Augen.
Sie beobachtete ihre Schwester, wie sie leidenschaftlich eines ihrer Mangas zeichnete. Das waren die einzigen Motive, die sie so voller Hingabe malte und so meisterhaft wurden sie auch zu Papier gebracht. Linnéa hingegen schweifte zum wiederholten Mal von ihren Hausaufgaben ab, während ihre Blutsverwandte schon fertig gewesen war, bevor sie überhaupt zu Hause angekommen waren. Irgendwie empfand Linnéa das als etwas frustrierend. Warum tat sich ihre Schwester so verdammt leicht?
„Warum muss ich unbedingt wissen, wie die Fotosynthese funktioniert? Das ist so unglaublich anstrengend und noch dazu langweilig“, beschwerte Linnéa sich lautstark, mit dem Wissen, dass ihre große Schwester dann die Aufmerksamkeit auf sie richten würde. Schon lagen diese klugen hellen Augen auf ihr und ein wohlwissendes Lächeln huschte über ihr Gesicht. Im Gegensatz zu ihr hatte sie so viel von ihrer Mutter, dass es schon wehtat.
„Schau, Linnéa, in der Welt da draußen gibt es so viele unentdeckte Wunder, die nur darauf warten, von uns enträtselt zu werden. Stell dir mal vor, der Wissenschaftler Joseph Priestley hätte sich nicht mit der Fotosynthese auseinandergesetzt, dann würden wir heute nicht wissen, dass wir Sauerstoff durch Pflanzen gewinnen. Noch dazu hat er den Radiergummi erfunden, ohne den ich keine Mangas zeichnen könnte.“
Linnéa schüttelte nur ungläubig den Kopf: „Woher weißt du das bloß alles?“
„Tja, wie schon der Philosoph Francis Bacon immer gesagt hat: ‚Wissen ist Macht.’ Daher ist es wichtig, dass wir uns jedem Problem stellen und eine Lösung finden, alles Unentdeckte sichtbar machen und niemals aufhören, Fragen zu stellen.“
Linnéa sah sie mit geneigtem Kopf an. Sie bewunderte ihre Schwester, liebte sie unendlich und war so stolz, dass sie sie an ihrer Seite hatte: „Du bist wirklich unglaublich, weißt du das?“ Ihre Seelenverwandte strahlte sie an und neigte sich am Tisch zu ihr herüber, um sie fest in den Arm zu nehmen. Sie küsste sie auf die Stirn, wie ihre Mutter es zu tun gepflegt hatte, was sich so verdammt nach „zu Hause“ anfühlte.
„Nein, du bist unglaublich. Du bist ein kleines Wunder und ich liebe dich.“
„Aua!“, entfuhr es Linnéa und sie blinzelte. Orientierungslos sah sie sich um. Irgendjemand hatte ihr einen Hieb mit dem Ellbogen in die Rippen verpasst, der gesessen hatte.
„Na, Fräulein, schon wach? Wie wäre es, wenn Sie Ihren Hintern aus dem Sitz verfrachten und wie die anderen Passagiere das Flugzeug für die nächsten Flugwütigen freigeben?“, hörte sie Finhams charmante Stimme. So viel Sarkasmus in einer Person eingepflanzt – am liebsten hätte sie eine pfiffige Antwort gegeben, nur leider stand es mit Spontanität nicht gerade gut bei ihr. Ihr fiel die perfekte Retourkutsche meist erst Stunden später ein, wenn es dann höchstens noch als Stickarbeit auf einem Kissen interessant wäre. Daher fluchte sie in sich hinein und musste feststellen, dass die Leute neben ihr bereits vollbepackt mit Duty-Free-Tüten und kleinen Trolleys in Richtung Ausgangsluke schlurften. Sie atmete lautstark durch, um sich bei der nächsten Lücke im Gänsemarsch hineinzudrängen und an ihr Handgebäck heranzukommen. Finham hingegen lehnte lässig und leicht genervt gegen den Vordersitz und ließ Linnéa nicht aus den Augen. Er hatte einen Zahnstocher zwischen den Zähnen, der wie durch die grazilen Hände eines Dirigenten hin und her geführt wurde, was sie unheimlich nervös machte. Seine rehbraunen Pupillen wurden von dunklen Ringen ummantelt und die zerstörte Frisur? Tja, Linnéa beschloss, ihm lieber nichts zu sagen, vielleicht könnte zumindest dies noch amüsant für sie werden. Wenn sowohl Flugpersonal als auch Fluggäste gackern und ihn hinter gehobenen Händen schlecht ausrichten würden, könnte zumindest ihre Laune samt Kinn gehoben werden.
Als sie den stählernen Vogel durch die Luke verließen, wurden sie von grellem Sonnenschein begrüßt und der Duft von unbekannten Blumen stieg Linnéa in die Nase. Es roch so unglaublich frisch, dass sogar ihre Lunge überwältigt war. Dann kam ihnen noch eine Brise Meeressalz entgegen und ein Schlag von läppischen 24 Grad Celsius. Sie hatte sich das Paradies wärmer vorgestellt und merkte, dass das Spaghettitop sie doch etwas frösteln ließ. Womöglich hatte sie ihre Weste im Flugzeug doch zu früh weggepackt. Sie hatte sich für September etwas tropischere Grade gewünscht, andererseits war dadurch die Luftfeuchtigkeit erträglich.
„Was stehen Sie da so blöd rum und starren Löcher in die Luft?
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Celeste Ealain
Bildmaterialien: Jaqueline Kropmanns
Cover: Celeste Ealain, Jaqueline Kropmanns
Lektorat: Dr. Alexandra Sept
Korrektorat: Dr. Alexandra Sept, Stefan Plocknitzer, Jennyifer Klink
Satz: Celeste Ealain
Tag der Veröffentlichung: 13.10.2022
ISBN: 978-3-7554-2888-6
Alle Rechte vorbehalten