© 2022 Celeste Ealain
Alle Rechte vorbehalten
Umschlaggestaltung: © Alexander Kopainski, www.kopainski.com
Korrektorat/Lektorat: Zoë Glod, Dr. Alexandra Sept, www.stift-und-papier.webnode.com
Portrait: © Peter Berger, www.peterberger.at
ISBN: 978-3-347-36743-2 (Softcover)
ISBN: 978-3-347-43105-8 (Hardcover)
Exemplare mit handgefertigtem Buchschnitt und passenden Goodies findest du in meinem Onlinestore auf www.celeste-ealain.com/shop
Verlag & Druck: tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg
Dieser Roman enthält Passagen, die für Jugendliche unter 16 Jahren nicht geeignet sind.
Alle Personen und Namen innerhalb dieses Romans sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.
Dieses Dokument ist doppelt urheberrechtlich geschützt!
Playlist
Cindy Lauper – Time after time
Zola Jesus – Wiseblood
Huey Lewis and the News – Hip to be square
3 Doors Down – Let me be myself
Beck and bat for lashes – Let’s get lost
David Bowie – As the world falls down
The Gratest Showman – Never be enough
Madonna – Hey you
Alex Band – Tonight
Birdy – Skinny Love
Ivy Quainoo – Do you like what you see?
Hurts – Blood, tears and gold
Sofia Karlberg – Berlin
The Script – The man who can’t be moved
College and electric youth – A real hero
James Arthur – Impossible
Nine inch nails – Every day is exactly the same
Massive attack – Teardrop
Dank ergeht an Joyce Huber, die mich auf die Idee gebracht hat.
Es bedurfte die Expertise exakt jener erlesenen Gruppe, der Andrej angehört, um dem Protagonisten dieses Buches gerecht werden zu können. Daher möchte ich mich hier für eure Zeit, Geduld und die Aufnahme in euren bunten Kreis bedanken.
Ich habe sehr viel gelernt. Mitunter auch über mich selbst.
Des Weiteren will ich meinen tollen TestleserInnen danken,
der dazugewonnenen Bloggerschaft und den LeserInnen.
Nicht zu vergessen Josi Gottwald und Ralf Günther!
Ohne euch hätte der Roman niemals so viel Tiefe und Authentizität erhalten.
Und dieses Buch ist für euch: jene LeserInnen, die mehr suchen
als eine sanfte Berieselung. Nämlich Charaktere, die einen zum Grübeln verleiten, Rätsel, die gelöst werden müssen, und Gefühle, die zuvor nicht zu erahnen waren.
Taucht ab in meine Welt und bleibt, wenn sie euch gefällt.
Zuletzt möchte ich den besten Menschen in meinem Leben danken: Meinen Eltern!
Danke für das Genie und Chaos, das ihr in mir geboren habt.
Ich bin stolz darauf, eure Tochter zu sein und eure Kreativität,
euer großes Herz und eure Gefühle mit in die Welt zu tragen.
Ich hoffe, ich werde dem, was ihr mich gelehrt habt, stets gerecht.
Ich liebe euch!
„Wir hätten das niemals tun sollen! Wir sind zu weit gegangen!“ Sein Bruder stieß kleine Speicheltropfen beim Sprechen aus und fuhr sich hektisch durchs Haar, während er orientierungslos neben ihm hin und her schritt.
So panisch hatte er ihn nie zuvor erlebt. Daher packte er ihn beim Arm und zerrte ihn in Deckung. Nun kauerten sie an einer Häuserwand direkt am Anfang einer Gasse mit unregelmäßigen Pflastersteinen. Sie wagten es nicht, um die Ecke zu blicken, stattdessen lauschten sie mit flacher Atmung jedem sich nähernden Geräusch. Nur der Lichtkegel einer Straßenlaterne über ihnen zeichnete ihre Umrisse in die Dunkelheit. Die ungeplante Flucht ließ ihren Atem in Nebelspiralen vor den Mündern aufsteigen.
Es war ein beklemmender Anblick, seinen jüngeren Bruder so aufgelöst und verzweifelt zu sehen. Er musste ihn um jeden Preis beruhigen, damit sie nicht aus Unachtsamkeit gefasst werden würden. Ein falscher Schritt und ihre Flucht würde nicht mehr unentdeckt bleiben. Daher presste er ihm seine Handflächen auf die Schläfen, um sich seiner Aufmerksamkeit gewiss zu sein. Die Augen, in die er blickte, hatten exakt die gleiche Farbe wie jene ihrer Mutter. Schockiert starrte sein Bruder ihn an, der Angstschweiß schien ihm aus allen Poren zu dringen.
„Psst! Wenn wir jetzt nicht Ruhe bewahren, landen wir in einer kalten Zelle, die denselben Charme wie diese Gosse hat.“ Er sah ihn wütend an, da es bitterer Ernst war. Sein kleiner Bruder musste sich wieder in den Griff bekommen.
Hinter ihnen war zuerst ein Fiepsen, dann hastiges Trippeln von kleinen Pfoten zu vernehmen. Er wollte sich nicht einmal umdrehen, um die Realität seiner dunkelsten Fantasien bestätigt zu sehen. Ihm graute bereits davor. Gepaart mit dem Gestank von Abfall, der nicht den Weg in den Mülleimer gefunden hatte, war die drohende Zukunft allzu real geworden.
„Hast du mich verstanden oder willst du die da hinten als neue Zellenkollegen begrüßen?“ Er löste langsam die Hände vom Kopf seines Bruders, der zitterte wie Espenlaub. Hastig nickte dieser, doch erneut begannen stille Tränen zu fließen. Mehr als ein tiefes Seufzen fiel ihm bei dem Anblick nicht ein.
„Er könnte sterben und du weißt das. Wir haben, was wir wollten. Lass uns Hilfe holen. Noch ist es nicht zu spät“, flüsterte sein Bruder mit glasigen Augen. Doch ihm war dieses mögliche Ende durchaus bewusst. Unbeeindruckt langte er nach dem Seesack am Boden und schwang ihn sich mit einem klirrenden Geräusch über seine Schultern. Dann blickte er die dunkle Gasse entlang und sog das Bild einer ganz anderen Zukunft ein. Dort lag der Fluchtweg, ein winziger Schritt weiter zur Unabhängigkeit und zum Gleichgewicht. Voller Zuversicht zog er nun einen Mundwinkel in die Höhe und musste seinen kleinen Bruder nicht einmal ansehen, als er sagte: „Weißt du, für die Gerechtigkeit im Leben muss man manchmal eben selbst Sorge tragen.“
Der Winter hatte angeklopft und die milden Temperaturen waren kälteren gewichen, als Andrej wie jeden Morgen den Antiquitätenladen betrat. Er schritt am Verkaufstresen vorbei, begrüßte Sebastiano mit einem flüchtigen Nicken und stahl mit seinem Blick das Datum von der dort aufliegenden Zeitung: Montag, 1. Dezember 1997.
An der Anordnung der Schmuckstücke unter der Verkaufstheke hatte sich seit Freitag nichts verändert, während Andrej sofort erkannte, dass der Inhalt der abgeschlossenen Vitrinen im restlichen Verkaufsraum, in denen die wertvolleren Antiquitäten aufbewahrt wurden, neu geordnet war. Rasch schritt er über die magische Grenze in sein Reich, wo er sich sofort entspannter fühlte. Dieser ganz spezielle Ort – sein Zimmer – befand sich am linken Ende des Verkaufsraumes. Für Andrej war es jener Bereich, in dem er von all den Dingen umringt wurde, die er liebte. Langsam ging er an den verstaubten Regalen entlang, die zum Teil schon aus der Wandver-ankerung hingen, da die Dinge darauf sich immer dichter drängten. Mit der linken Hand strich er liebevoll über die einzelnen Wunder, um ihnen auf seine eigene Art und Weise „Buongiorno“ zu sagen. Darunter befand sich eine uralte Kasse, die mit filigranen goldenen Verzierungen geschmückt war und bei der die Ziffern und Eingabebefehle auf runden Tasten angebracht waren. Daneben standen eine unscheinbare Tischlampe aus Kupfer und grünem Glas und eine traditionelle Nähmaschine der Firma Singer, die eigentlich auf einen Metalltisch montiert gehörte. Nicht zu vergessen die kleine Leuchte, die durch ihre tropfenförmigen Kristallbehänge winzige Lichtpunkte in allen Farben verstreute – und das lediglich mit Hilfe der ersten Sonnenstrahlen, die hoch oben durch das schmale Fenster des Raumes eintraten und diesen Zauber bewirkten.
Andrej war zufrieden. Für ihn enthielt der Anblick seines Bereiches alles, was er sich wünschen konnte: Funktionalität, Berechenbarkeit, Geborgenheit. Er war gespannt auf die heutigen Abenteuer, die sein Job für ihn bereithielt. Denn er reparierte leidenschaftlich gerne. Und zwar alles, was ihm zwischen die Finger kam.
Andrej schritt zu seinem Schreibtisch und knipste die Tischlampe an. Dann zog er einen kleinen Stoffsack aus seiner Umhängetasche, aus der jener goldene Wecker zum Vorschein kam, der ihm gestern Nacht mehrere Stunden Schlaf gestohlen hatte. Laut Besitzer hatten vor Sebastiano zwei Geschäftsführer nur noch die Entsorgung dafür angeboten. Andrej konnte über diese Unfähigkeit nur den Kopf schütteln, denn nichts ging über die Anreihung von Zahnrädern, um einem starren Metallkonstrukt Leben einzuhauchen. Andrej konnte sich noch daran erinnern, wie sein Vater ihm vor Jahren die erste Taschenuhr vor die Nase gehalten hatte, das Gehäuse für ihn öffnete, nur, um ihm die Mechanik der kleinen Zahnräder und Schrauben zu erklären. Es war ein bedeutsamer Augenblick für Andrej gewesen, der sein Leben verändern sollte. Von diesem Zeitpunkt an hatte sich sein Drang entwickelt, mechanisch betriebene oder elektronisch unterstützte Objekte in ihre Einzelteile zu zerlegen, um jede Funktion des noch so unscheinbaren Teils zu ergründen. Nichts war vor Andrej sicher, alles musste berührt und verstanden werden.
Plötzlich schallte Sebastianos Stimme hinter ihm: „Signora Riolta hat sich heute wieder angekündigt, Andrej. Sie hat diesmal ihre Schmuckkiste durchstöbert, um alle Armbanduhren zu finden, die den Geist aufgegeben haben. Also mach dich auf etwas gefasst!“ Er war der Besitzer des Antiquitätenladens – somit sein Chef – und nicht zuletzt Andrejs einziger atmender Freund. Und er stand gerade sehr nah an der Türschwelle. Zu nah. Alarmiert blickte Andrej auf die markante Linie zwischen seinem Raum und dem Verkaufsbereich. Diese Trennung zweier Welten war für Andrej allgegenwärtig und ließ langsam Schweiß an seinen Händen entstehen. Andrej konnte fühlen, wie der Druck in seinem Kopf zunahm und eine Ader an seiner Schläfe bedrohlich zu pochen begann. Für Sebastiano war es lediglich eine Türschwelle zum Durchgang in einen anderen Raum. Eine Tür hing schon lange nicht mehr im Rahmen, denn Andrej hatte darauf bestanden, sie entfernen zu lassen. Sein Chef hatte sich damals zwar lautstark aufgeregt, es letztlich jedoch akzeptiert. Aber für Andrej war diese Linie viel mehr. Nicht einfach der direkte Übergang des dunkelbraunen Parkettbodens, der den edlen Verkaufsraum begrenzte, zu den hellen Dielen in seinem Bereich, es war der Unterschied zwischen MEINS und NICHT MEINS – selbst wenn es sich nur um eine simple Linie von 80 Zentimetern handelte.
„Andrej? Könntest du mir in die Augen sehen, per favore?“
Andrej bemühte sich, seinen Blick in Richtung der Stimme zu lenken, trotz der magischen Anziehungskraft der Linie am Boden. Ihm war erklärt worden, dass Augenkontakt wichtig wäre, um seinem Gegenüber Respekt zu zollen und ihm das Gefühl zu geben, dass man wachsam zuhörte.
Sebastiano war 42 Jahre alt und im Ort als Casanova bekannt. Andrej konnte damit zwar nichts anfangen, aber er wusste, dass es mehr beinhalten musste als ausgedehnte Gespräche mit der weiblichen Kundschaft oder die Frauenzeitschriften unter dem Tresen, in denen alle Damen ihre Unterwäsche verloren hatten. Sebastiano versteckte die Magazine immer, sobald jemand in den Laden kam, doch Andrej war sehr aufmerksam. Aufmerksamer als andere Menschen – zumindest, wenn es um Details ging. In diesem Augenblick konnte er erkennen, dass das grün-blau-weiß karierte Hemd von Sebastiano zwar neu war, aber die Nähte unsauber verarbeitet waren. Die dunkelblauen Hosenträger trugen den Schriftzug „Cavalli“ und der Kaffeefleck von letzter Woche war nur halbherzig aus der Jeans gewaschen worden. Auch die ersten kahlen Stellen in seiner glänzenden Lockenpracht, die Sebastiano sich eitel züchtete, waren Andrej nicht neu.
Selbst Andrejs Gehör war exzeptionell. Er hörte das Tropfen der Kaffeemaschine im Verkaufsraum und das Knarzen der Dielen, sobald Sebastiano oder ein Kunde auch nur das Gewicht von einem auf das andere Bein verlagerte. Jedes Geräusch, jede Staubflocke, jedes noch so kleine Detail war so präsent für Andrej, dass er die Menschen um sich herum übersehen konnte.
„Signora Riolta wird voraussichtlich Uhren der Marken Pierre Cardin, Cerruti, Dolce & Gabbana, Armani, Bulgari und Gucci vorbeibringen“, erklärte Andrej monoton. „Sie trägt ausschließlich diesen Schmuck und es gibt keine Uhr, deren Gehäuse ich noch nicht in den Händen gehalten habe. Die Signora sollte wissen, dass der Austausch der Batterien unseren Fertigkeiten nicht gerecht wird. Mehr als die Zeit zu stoppen, wie schnell ich sie diesmal wechseln kann, kann ich daraus nicht gewinnen.“
Sebastiano lehnte sich gegen den Türrahmen, was Andrej wieder zusammenzucken ließ. Sein einziger atmender Freund seufzte laut und fuhr sich durchs Haar. „Ich weiß, was du sagen willst, Andrej. Wir sind kein Uhrmacher- oder Juweliergeschäft. Aber sieh es doch positiv: Die Menschen hier im Ort lieben dich. Jeder in Tivoli weiß: Wenn es etwas zu reparieren gibt – egal, wie filigran oder heikel es auch sein mag –, gibt es nur einen einzigen Künstler in der Stadt, der das fertigbringt. Und das bist ohne Zweifel du. Du schaffst es sogar, die Dichtungen der Uhren zu retten, obwohl mir deren Austausch mehr als die Batterien einbringen würde. Das schafft sonst niemand.“ Sebastiano runzelte die Stirn und deutete mit seinem rechten Zeigefinger auf ihn. Andrej verkrampfte, als dieser Arm zu weit in sein Reich eindrang. Sebastiano musste es eigentlich besser wissen… Aber er schien es zu spüren, denn im nächsten Moment zog er sich zurück und nahm einen Schritt Abstand.
Andrej wusste nicht, ob es nun angebracht war, etwas zu äußern. Er tat sich grundsätzlich schwer damit, zu erkennen, was die Außenwelt von ihm erwartete. Er hatte nicht viel mit Menschen zu tun, doch seiner Auffassung nach war Sebastianos Erklärung nichts hinzuzufügen. Daher schwieg Andrej, wandte ihm den Rücken zu und setzte sich auf seinen grünen Plastikstuhl.
„Sollen wir dir nicht endlich einen neuen Stuhl besorgen? Ich habe Angst, dass er trotz deines Fliegengewichts eines Tages unter deinem Hintern einbricht.“ Andrej hörte das Knarzen seines Stuhls und Sebastianos Lachen, aber er fand es nicht lustig.
„Dieser Stuhl gehört zu meinem Zimmer. Nichts verlässt es kaputt und nichts Neues betritt es.“
Andrej hörte nur ein lautes Schnauben, konnte es aber nicht einordnen. Hatte er etwas Falsches gesagt? Letztendlich war es auch unbedeutend. Er musste reparieren.
Als die Türglocke läutete, wusste Andrej, dass ein neuer Kunde den Laden betreten hatte. Für gewöhnlich musste ihn das nicht interessieren, es sei denn, jemand verirrte sich mit einer Lieferung oder einer Reparatur in sein Kämmerchen. Ansonsten lauschte er zwar beiläufig dem einen oder anderen Wort, das sich trotz Distanz in seine Ohrmuschel verirrte, konzentrierte sich aber auf die Pinzette in der Hand, sowie den Blick durch das Vergrößerungsglas. Sein Werkzeug und er waren ein eingespieltes Team. Alle Schraubenzieher, Zangen und Scheren lagen parallel zueinander ausgerichtet auf einem Filztuch. Fachzeit-schriften oder Sachliteratur benötigte er kaum, allein sein Verstand und seine Augen erklärten ihm, wie die Dinge in sich funktionierten. Mit Hilfe der sensiblen Finger konnte Andrej die Ursache von Blockaden mobiler Glieder ertasten und sein feines Gehör erkannte, wenn die fehlerhafte Bewegung eines Teils ein Kratzen oder Scheuern in der Mechanik erzeugte. Außerdem bekam er zusätzliche Hilfe: Sein Freund Ben, der ganz spezielle Kompass, stand ihm ebenfalls zur Seite und hauchte ihm Ideen und Vorschläge ein, selbst wenn Andrej sie nicht hören wollte. Nicht selten reagierten Menschen verwirrt, weil Andrej Gespräche mit Ben führte.
„Ich weiß selbst, dass das Zahnrad hier fehl am Platz ist, aber es ist als Einziges übriggeblieben und muss noch wo hineinpassen.“ Andrej konnte förmlich hören, wie der kupferfarbene Kompass motzte: Gleich neben den kleinen Kreuzschrauben. Sieh’ doch hin! Dabei tat er seit zwanzig Minuten nichts anderes. Es ließ Andrej keine Ruhe. So etwas passierte ihm sonst nie. Seine Finger verkrampften sich bereits, die Nase hinterließ fettige Abdrücke auf dem Vergrößerungsglas, das mit einem Schwenkarm auf dem Holztisch angebracht war und ihm für filigrane Arbeiten die Augen schonte.
Weiter rechts!, kam erneut der aufdringliche Rat von Ben und machte Andrej wütend, denn schließlich war er der Maestro im Reparieren und Ben war nur das einzige Schmuckstück in diesem Laden, das nicht funktionierte und zugleich niemals funktions-tüchtig gemacht werden würde. Also wie sollte ausgerechnet er ein guter Ratgeber in Sachen Reparatur sein? Andrej verband mit diesem metallenen Helfer etwas ganz Anderes. Etwas Wertvolles. Der Kompass war das letzte Geschenk gewesen, das sein Vater ihm gemacht hatte, bevor er mit seiner Mutter auf so tragische Weise bei einem Autounfall aus dem Leben gerissen wurde. Sein Vater hatte ihn damals gebeten, mit der Fehlerbehebung der willkürlich rotierenden Kompassnadel bis zu seiner Rückkehr am Abend zu warten. Doch er kam nie wieder. Und daher war es bei diesem ehrenvollen Versprechen geblieben.
„Andrej? Kommst du mal?“, ertönte Sebastianos Stimme in hohem Ton aus dem Verkaufsraum. Und Andrej wusste, dass er einen Kunden beeindrucken wollte und es somit zügig gehen musste. Dabei hasste er es, sein Reich zu verlassen. Ihm waren andere Menschen unangenehm: Wie sie ihn ansahen, ihn musterten und meist auch nicht verstanden.
„Ah, da ist er ja. Darf ich Ihnen meinen begabten Mitarbeiter Andrej vorstellen? Es gibt nichts, was er nicht reparieren kann. Wenn Sie also gar nicht mehr weiterwissen, dann sind Sie bei ihm genau richtig.“ Sebastianos Lächeln wirkte bereits angestrengt. Andrej kam sich bei diesen Werbemaßnahmen immer wie beim Basar vor und hatte das Gefühl, in sich zusammenzuschrumpfen. Bei dieser Art Präsentation starrten und analysierten die Kunden ihn sogar noch intensiver als ohne diese Anpreisung.
Vergiss nicht: in die Augen sehen! Such dir einen Punkt auf dem Nasenrücken, sollte es dir schwerfallen! Das wirkt aufmerksam und höflich!,hörte er Ben in seinem Kopf befehlen.
„Ja, ich weiß“, rutschte Andrej heraus, was wohl so rüberkam, als würde er dem Kunden die Antwort vorwegnehmen, obwohl es ganz anders gedacht war. Sebastiano strafte ihn, während sein Grinsen erstarrt blieb. Indes wurde Andrej von dem Signore gemustert. Die kleine viereckige Lesebrille formte übergroße Augen und verwirrte Andrej, also besann er sich auf Bens Rat und fixierte die Falte zwischen den Augen. Dennoch war ihm nicht verborgen geblieben, dass der Kunde vornehm gekleidet war. Maßanfertigung, denn der Anzug passte perfekt. Die Manschettenknöpfe schienen neu und auf seine Armbanduhr abgestimmt zu sein. Das smaragd-grüne Halstuch war symmetrisch in den dunkelbraunen Pullover gesteckt und der gepflegte Bart gewiss von einem Friseur per Hand geformt. Mehr musste er über den Kunden nicht wissen.
„Gut, dann werde ich meine Kostbarkeit in Ihre geschickten Hände legen, wenn Sie es tatsächlich repa…“, begann der Mann mit leicht erhobenem Kopf.
„Ich kann alles reparieren … Signore“, schoss es aus Andrej, der sich nicht beherrschen konnte.
Sebastiano fing an, künstlich zu lachen und tätschelte ihm die Schulter, was Andrej verkrampfen ließ. Kurz vergaß er zu atmen, da es ihm unangenehm war, berührt zu werden. Er war es auch nicht gewohnt. Bewusst versuchte er, sich an die Benimmregeln im Kontakt mit Menschen zu erinnern und wagte schließlich ein vor-sichtiges Lächeln. Gut, das sieht zuversichtlich und bestätigend aus, Andrej.
Der Mann lehnte sich über die Glasvitrine, die zwischen ihnen stand, wodurch Andrej seine Konzentration von dem Nasenrücken auf die sich nähernde Hand lenken musste. Wie aus der Balance gebracht, klammerte er sich an die Kante der Vitrine auf seiner Seite, als er sah, wie der Kunde ihm Sicht auf ein in ein Seidentuch gewickeltes Objekt gewährte. Neugier durchströmte Andrej, seine Finger begannen zu zucken, obwohl sie sich an die Vitrine krallten.
„Weißt du, was das ist, mein Junge?“, kam die Frage des Kunden, als würde er meterweit weg von Andrej stehen. Alle nannten ihn Junge, da niemand ihn auf fünfundzwanzig Jahre schätzte. Andrej konnte auch nicht erkennen, ob hier ein Hauch von Überheblichkeit aus diesen Worten strömte, weil der Kunde ihm diese Aufgabe nicht zutraute. Doch Andrejs Gehirn schaltete alle externen Einflüsse aus und ließ die Bilder seines Verstandes einen Namen für den Gegenstand vor sich kreieren. Er bestand aus einer Unterkonstruktion aus rotem Kirschholz, die wie eine handflächengroße Box aussah und auf der goldfarbene Spulen und schwarze Schrauben angebracht waren. Montierte Funktionskippen und filigrane Golddrähte dienten dazu, Befehle weiterzuleiten und ein kleines Messfeld hinter Glas sollte die Antwort liefern auf …
„Es ist ein Prototyp frühzeitlicher Drahtloskommunikation und wurde im 19. Jahrhundert als kombinierter Radiodetektor und Morsecode-Entzifferer entwickelt“, erklärte Andrej ohne einen Funken Zweifel.
In dem Verkaufsraum wurde es so still, dass das Ticken aller Pendeluhren überdeutlich zu hören war. Sebastiano neben ihm hielt den Atem an, der Kunde wagte es nicht zu blinzeln und gab so seine Überraschung über diese Antwort preis.
„Diese Antiquität wird für 5 bis 8 Millionen Lira auf dem freien Markt gehandelt und ist sehr selten zu sehen, Signore“, ergänzte Andrej trocken, ohne ihm in die Augen zu blicken. Er ließ von der Vitrine ab und verschränkte die Hände vor seinem Körper. Du siehst wieder stocksteif aus!, ertönte es von Ben, aber Andrej wusste nicht, wie er dies ändern sollte.
Mit einem Mal kam eine Regung in sein Gegenüber. Ein Mundwinkel zog sich nach oben und die Augen bekamen eine andere Note.
„Ich bin beeindruckt. Es sind exakt 7,8 Millionen Lira gewesen. Und wenn ich das richtig einschätze, sind Sie tatsächlich der Experte, der den verbogenen Schalter wieder in die korrekte Position bringen kann, ohne ihn abzubrechen.“ Mit dieser Meldung machte der Kunde Anstalten, den Prototyp zu überreichen, was für Andrej bedeutete, seine Hände auszustrecken und die Antiquität behutsam zu übernehmen. Beim Gedanken daran stieg ihm Schweiß aus den Poren, hilfesuchend starrte er zu Sebastiano. Doch sein Chef schloss die Augen, wie um leise ein Ave Maria zu beten.
Andrej, sag ihm, er soll es vor dir abstellen! Schnell, du wirkst wieder merkwürdig!, schrie Ben in seinem Kopf alarmiert, sodass Andrej zusammenzuckte.
„K… könnten … Per favore, vor mir abstellen, Signore“, kam nun seine Rückmeldung stotternd und etwas lauter, wodurch Andrej unter dem Tresen einen Tritt von Sebastiano kassierte. Andrej verstand die Welt nicht mehr. Was hatte er diesmal falsch gemacht?
Der Kunde zog die Augenbrauen hoch, folgte aber dann zögerlich der Bitte und stellte die Kostbarkeit vor ihm ab, sodass Andrej den Prototyp sachte in Empfang nehmen konnte. Er hatte es geschafft und war erleichtert, direkten Kontakt vermieden zu haben. Schon allein der Gedanke machte ihn krank. Und egal, wie oft Sebastiano ihn ermahnen würde, Andrej wurde kotzübel dabei und er konnte sich nicht überwinden. Und nun? Sein Soll war getan. Um nichts auf der Welt wollte er den Preisverhandlungen weiter beiwohnen, weswegen er sich ohne sich umzublicken auf den Weg in sein Zimmer machte, um emsig ans Werk zu gehen. Nur dumpf hörte er das Seufzen von Sebastiano und entschuldigende Worte, die er an den Kunden richtete.
„Ich freue mich schon so wahnsinnig darauf. Ich kann es kaum erwarten, davor Platz zu nehmen, die Finger das erste Mal die Tasten berühren zu lassen und den Atem anzuhalten, nur, um den magischen Ton in meinem Zimmer hallen zu hören. Es wird ein epischer Augenblick sein.“ Chiara hatte ihre Lider geschlossen und lebte in dieser Fantasie, versuchte zu fühlen, zu ertasten und zu lauschen, so gut ihre Vorstellungskraft es vermochte.
Sie saß mit ihrer besten Freundin auf dem Balkon der Villa und genoss die kühle Brise des Winters bei einem gemeinsamen Tee.
„Und du hast es dir tatsächlich in schneeweißem Lack aus-gesucht?“, wollte Cecilia ungläubig wissen. „Ein schneeweißes Klavier?“
„Genau genommen ist es ein Flügel, aber ja, er ist weiß. Ich habe wirklich lang darüber nachgedacht und mir ist bewusst, dass mein altes Piano nicht kaputt ist, doch als ich den Flügel im Schauraum testen durfte, war es einfach Schicksal. Der Klang hat mir Gänsehaut beschafft, berauschte mich und es gab keinen Zweifel, dass ich bereit für einen Wechsel war. Außerdem habe ich eisern für die Fazioli gespart.“
Cecilia verrührte den Honig in ihren Früchtetee, dessen angenehmer Duft zu Chiara herüber strömte.
„Du bist verrückt, für ein Musikinstrument so viel Geld auszugeben!“ Cecilia schüttelte lachend den Kopf. „Ich kenne dich sonst bescheidener.“
„Es liegt wohl auch daran, dass es hier nicht um Geld geht, sondern um einen Traum. Seit ich denken kann, mache ich Musik, spiele mir die Finger wund, weil meine Ohren einfach nicht genug davon bekommen können.“ Chiara schwelgte in Gedanken und musste schmunzeln. „Mein Vater hat mir das Piano zum zehnten Geburtstag gekauft. Meine Eltern haben es damals als gute Idee empfunden, um mich von der schwierigen Zeit abzulenken. Musik schien die beste Medizin für mich zu sein. Womöglich haben sie den Entschluss spätestens dann bereut, als die Nachbarn regelmäßig die Tür einrannten, weil sie wütend darüber waren, dass ich es mit den Tageszeiten zum Üben nicht so genau genommen hatte.“ Chiara lachte bei dem Gedanken, da sie in ihren Erinnerungen mit einem Ohr an der Wohnzimmertür hing, als ihr Vater die Nachbarn hatte besänftigen müssen. Sie würde nie vergessen, wie er den Kopf geschüttelt hatte, als er ihr selbsternanntes Musikzimmer betreten und sie ihn mit ihren Rehaugen angesehen hatte. Er hatte ihr nie lang böse sein können.
„Außerdem ist es ein Gebrauchter und er muss noch gestimmt und poliert werden. Also streng genommen ein Schnäppchen“, versuchte sie zu relativieren. Sie sah Cecilia an, die gerade die Tasse wieder absetzte und mit einem hochgezogenen Mundwinkel schmunzelte. Die Augen ihrer Freundin leuchteten, so wie ihr schokobraunes Haar, das durch ihre aktuelle Tönung rot schimmerte.
„Und wann wird er geliefert?“, wollte Cecilia wissen.
„Das ist noch ungewiss, aber ich zähle die Tage.“ Chiara bedauerte, dass das keineswegs eine Übertreibung war. Sie hätte so gerne die Melodien in ihrem Kopf zu Papier gebracht und mit diesen klaren Tönen, die ihr bis ins Blut drangen, den lieben langen Tag rauf und runter gespielt. Denn in Wahrheit war Chiara alles andere als ausgelastet. Kein Wunder auch. Die meiste Zeit verbrachte sie damit, sie totzuschlagen. Dabei fühlte sie sich zu so viel mehr berufen …
„Und deine Mutter? Wie geht es ihr?“, kam die Frage aller Fragen.
Mit diesen Worten verrauchten die Erinnerungen und das brillante Bild des schneeweißen Flügels, der sich in ihr Zimmer so wunderbar einfügen würde. Chiara blickte sich um, betrachtete die Gartenanlage um die Villa, die liebevoll gepflegten Beete und Sträucher, lauschte dem Plätschern des kleinen Teiches, in dem eine nackte Steinfigur als Springbrunnen thronte. Ihre Mutter hatte aus dem Vorgarten eine Wohlfühloase kreiert.
„Sie ist überdreht und geschäftig – ständig unter Strom. Ich frage mich, wann sie endlich zur Ruhe kommt. Dabei hatte ich gedacht, sobald sie die Geschäftsleitung ihrer Juwelierläden abgibt, wird es einfacher. Aber sie wird sich nicht endlos ablenken können und verdrängen, was passiert ist. Immerhin ist es zehn Jahre her, also eine Ewigkeit! Ich mache mir wirklich Sorgen. Ich kann mich nicht mehr daran erinnern, wann ich sie das letzte Mal glücklich und zufrieden gesehen habe.“ Ein starker Druck umfing ihr Herz wie kalte Klauen, die sie warnten. Chiara atmete konzentriert aus, um sich zu sammeln und sah zu ihrer Freundin, deren Gesichts-ausdruck so viel Mitgefühl in sich trug. Verständnisvoll legte Cecilia eine Hand auf ihre, die nervös mit dem Löffel am Tisch spielte.
„Gib ihr Zeit, Chiara. Sie wird wieder einen Ruhepol finden, du wirst sehen. Viel wichtiger ist: Wie kommst du damit klar, was damals passiert ist?“
Als die Türglocke erneut ertönte, musste Andrej nicht auf die Uhr sehen, um zu wissen, dass sein Nonno mit einem Nachmittagssnack vorbeigekommen war. Dies tat er ein- bis zweimal die Woche, um mit Sebastiano zu plaudern. Wobei Andrej nicht dumm war und wusste, dass es eher darum ging, nach dem Rechten zu sehen und hinter seinem Rücken zu erfragen, ob er Schwierigkeiten gemacht hatte. Dabei sah er sich als erwachsenen Mann. Ihm war bewusst, dass er nicht komplett selbständig schien, doch Andrej war bereit, auf eigenen Beinen zu stehen und wollte auch so behandelt werden.
Ein Blick reichte aus, um in Sebastianos Gesicht die Unzufriedenheit abzulesen. Begleitet von einem lauten Seufzen lud er Sergei ein, da er wohl wusste, dass dieser wie gewöhnlich auch für ihn einen kleinen Nachmittagssnack besorgt hatte. Sergei hielt mit einer Hand die Tür fest, um mit der zweiten den Rollstuhl zu bewegen und so über die Erhöhung in den Laden zu rollen. Ihm machte dies nichts aus. Die Behinderung hatte seine Arme zu starken Muskelsträngen geformt, die den lieben langen Tag das Gehen für ihn übernahmen.
Kaum hatte sich die Tür hinter seinem Rücken geschlossen, konnte er bereits den Kaffee riechen, den Sebastiano auf dem elektrischen Kochfeld hinter dem Tresen warmhielt. Dieser füllte zwei Tassen, stellte eine auf der Glasvitrine vor Sergeis Nase ab und setzte sich dann auf seinen kleinen Hocker hinter dem Verkaufs-tresen.
„Chlopez[1], ich hab Sandwiches für dich mitgebracht. Koch-schinken, Salat und geräucherter Käse. Genau so, wie du sie am liebsten hast!“, rief Sergei seinem Enkel um die Ecke zu und legte das in Zellophan gepackte Essen auf die Vitrine. Mehr als das Geräusch eines über den Boden scharrenden Stuhls aus dem benachbarten Raum kam jedoch nicht als Antwort zurück.
„Was hat er wieder angestellt?“, war die erste Frage, die Sergei rausrutschte, als er Sebastianos angestrengten Blick analysierte.
„Nichts, was mir neu wäre. Ich schätze, ich kann nur einfach nicht in ihn hineinblicken. Manchmal habe ich das Gefühl, er öffnet sich und es wird besser. Doch dann kommen Aktionen, als wären die Kunden das schlimmste Übel für ihn. Versteh’ mich nicht falsch, per favore! Ich schätze seine Arbeit hier, aber ich weiß nicht, wie es weitergehen soll. Als Stellvertreter könnte ich ihn hier nie allein lassen. Und einen weiteren Mitarbeiter kann ich mir nicht leisten.“
Sergei nippte an dem heißen Kaffee und wusste, dass Sebastiano im Zwiespalt lag. Einerseits fühlte er sich verantwortlich für Andrej und seit dem Tod dessen Vaters auch gezwungen, ihm die Unterstützung und Ausbildung zu ermöglichen, die sein bester Freund Pjetre ihm nicht mehr hatte zukommen lassen können. Zudem – da musste Sergei ehrlich sein – kaum jemand würde Andrej mit seinen Tics und Eigenheiten einen gut bezahlten Job geben. Andererseits zerfraß die Situation Sebastiano von innen, denn seine Beziehungen zu Frauen krachten meist bereits nach wenigen Monaten zusammen, da es ihm an Freizeit mangelte. Zudem hatte er sich seit Jahren keinen Urlaub mehr genommen. Natürlich wusste Sergei, dass Sebastiano ehrgeizig war und die Selbstständigkeit schon lange vor Pjetres Tod angestrebt hatte. Doch Sebastiano schien müde und ausgelaugt vom aktuellen Zustand.
„Ich kann mich nur wiederholen, Sebastiano. Ich könnte mich stellvertretend um den Verkauf kümmern und dafür sorgen, dass Andrej keine Kunden vergrault. Sieh es doch einmal als Experiment. Fahr für ein verlängertes Wochenende weg, um den Kopf freizubekommen und schauen wir, was passiert. Denn sollte einmal eine Notsituation eintreten, würde dir nur die Wahl bleiben, den Laden für längere Zeit zu schließen. Nur wenn du es jetzt ausprobierst, weißt du, was auf dich zukommt und ob du auf Andrej zählen kannst. Keiner kann es vorhersehen, vielleicht wächst er sogar an dieser Herausforderung.“ Sergei versuchte, mit sanfter Stimme Mut zu machen, doch Sebastianos schüttelnder Kopf deutete Zweifel an.
„Ich weiß, du meinst es gut. Es könnte aber auch völlig nach hinten losgehen und er verjagt mir die besten Kunden, die ich über die letzten Jahre mühsam binden konnte. Du weißt selbst, wie schwer es war, endlich schwarze Zahlen zu schreiben. Ich will den Laden nicht aufgeben, Sergei.“
Unvorbereitet platzte Andrej in das Gespräch, langte nach dem Sandwich, wickelte es aus, um in der nächsten Sekunde herzhaft reinzubeißen. „Ich kann euch übrigens hören und mein Verstand funktioniert einwandfrei, selbst wenn ihr mich als sozial inkompetent einstuft“, ließ er sie mit vollem Mund wissen und machte sich erneut auf den Weg in sein Reich.
Sebastiano musste grinsen und sah Sergei an, der es ihm gleich-tat.
„Heißt das, du würdest dir zutrauen, den Laden ohne mich zu führen?“, fragte Sebastiano neugierig etwas lauter und spitzte die Ohren.
„Wenn es die Notwendigkeit erfordert, kann ich auch das meistern.“
„Sieh an, sieh an“, flüsterte Sergei und sah Sebastiano seine Augenbrauen überrascht heben.
„Vielleicht wird er doch eines Tages erwachsen und selbst-ständig“, erklärte Sergei stolz und nahm noch einen Schluck vom Kaffee.
„Komm schon, Andrej! Ich kann nicht jeden Tag wegen dir länger offenlassen, nur weil du dich nicht von deinen Lieblingen trennen kannst! Los! Nimm mit, woran auch immer du gerade arbeitest, wenn es unbedingt sein muss, aber ich will schließen!“, ertönte Sebastianos Stimme, begleitet von dem rhythmischen Trommeln seiner Finger auf dem Tresen. Andrej erahnte durch die lautere und tiefere Tonlage eine Gemütsregung. Sebastiano klang anders als bei einem normalen Gespräch, daher wusste er, dass es Handlungsbedarf gab. Rasch griff er nach dem Gehäuse des alten Fotoapparats und wollte es in seine vergilbte Filzhandtasche schieben, als er plötzlich etwas Absonderliches erblickte. Misstrauisch kippte und schwenkte er das Metall vor seinen Augen. Ausgerechnet an den frisch polierten Stellen der Oberfläche erschienen leuchtend rote Male. Zuerst kaum wahrnehmbar, doch dann wurden sie greller und waren nicht mehr zu leugnen. Wie feine Linien aus Lava geschrieben, glühten sie förmlich, als hätten sich menschliche Fingerabdrücke in das feste Material geschmort. Entgeistert ließ Andrej das Gehäuse auf den Tisch knallen und distanzierte sich von dem Ding aus der Hölle. Mit offenem Mund stand er da und sein Atem überschlug sich regelrecht, als seine Augen die Oberfläche des Objektes eingehend inspizierten und diese mit einem Mal makellos vorfanden. Wo sind sie hin?
„Ben? Hast du das gesehen?“, flüsterte er verunsichert und erhielt jedoch nur eine wütende Antwort von Sebastiano aus dem Verkaufsraum: „Andrej! Bring mich nicht dazu, in dein Zimmer zu kommen!“
Das hatte gesessen! Wie elektrisiert schnappte sich Andrej das Gehäuse schneller, als ihm lieb war, da er noch immer damit rechnete, sich daran zu verbrennen. Dann kehrte er die zweiunddreißig Einzelteile, die zum Innenleben gehörten, säuberlich in ein kleines rotes Seidentäschchen, welches man an der oberen Öffnung mit einem Band zuziehen konnte, und ließ es ebenfalls in die Tasche gleiten. Dabei wurde Andrej bewusst, dass seine Finger zitterten, so sehr war er von diesen wenigen unerklärlichen Sekunden aus der Bahn geworfen worden. Um es zu überspielen, besann er sich auf seine Routine-Handgriffe. Erstens: Nimm Ben mit. Er schnappte sich den kupferfarbenen Kompass, der seinen festen Platz auf dem Arbeitstisch hatte. Zweitens: Der Tisch muss tadellos zurückgelassen werden. Andrej fuhr das Möbelstück mit den Augen ab und nickte, um sich diesen Punkt als erledigt zu bestätigen. Drittens: Der Stuhl muss unter den Schreibtisch geschoben sein.
„Andrej! Was treibst du schon wieder?“
„Drittens!“, rief Andrej beiläufig und schob den Stuhl zurecht.
Viertens: Alle Gegenstände, die repariert sind, müssen in den Regalen auf der rechten Seite platziert sein und links kommen die Gegenstände hin, die noch zu richten sind. Jene, die derzeit nicht zum Verkauf stehen, gehören ins Regal direkt neben dem Türrahmen. Mit flinken Augen überprüfte Andrej diese Regel und bestätigte mit einem Nicken. Fünftens: Nimm deinen Mantel, den Schal und die Mütze und zieh dich an. Andrej ging zu den Kleiderhaken, die rechts vom Türrahmen montiert waren. Er fasste an seinen Kopf zur Schirmmütze, obwohl er wusste, dass er – zu Sebastianos Ärgernis und gegen die Regeln, die er jeden Morgen durchging – diese nie absetzte. Doch zumindest versuchte Andrej, es jeden Tag aufs Neue umzusetzen. Zügig schlüpfte er in den anthrazitfarbenen Mantel, schlang sich seinen giftgrünen Schal doppelt um den Hals, um sich an sechstens zu erinnern: Nimm deine Tasche und schalte das Licht aus.
Andrej schnappte sich die Tasche, die noch auf dem Arbeitstisch stand, knipste die Lampe aus und ging hastig in den Verkaufsraum in Richtung Sebastiano, der ihn mit gerunzelter Stirn ansah. Andrej wusste, dass dies ein Zeichen für Ärger sein konnte, sicher war er sich jedoch nie.
„Finito“, erklärte Andrej wie jeden Tag. Er schlich aus der Eingangstür hinaus und ging mit einem „A domani“ gleich weiter in Richtung Zuhause, ohne sich noch einmal nach Sebastiano umzudrehen.
Nach der Arbeit zu Hause angekommen, schritt Andrej zur Kleidergarderobe im Flur, fädelte seinen Schal wie immer auf den linken Haken, sodass die Enden waagrecht in einer Höhe endeten. Seine Augen zogen eine gerade Linie darunter, das Ergebnis beruhigte ihn. Dann hängte er den Mantel sorgsam an den Kleiderhaken direkt daneben und legte seine Schirmmütze exakt so auf die Ablage darüber, dass sie bündig mit dem Holz abschloss.
„Ich bin zu Hause“, kam Andrejs monotone Begrüßung wie jeden Abend. Sergei hatte damit gerechnet, dass es wieder spät werden würde. Die Porzellanuhr in der Küche zeigte 20:03 Uhr. Er schüttelte kurz den Kopf, musste aber gleichzeitig einen Mund-winkel hochziehen, denn in diesem Punkt war sein Enkel berechenbar wie keine andere Person.
Sergei lenkte seinen Rollstuhl am Esstisch entlang durch die Küche, um in den Flur zu gelangen, wo er Andrej mit unlesbarem Gesichtsausdruck vorfand.
„Was ist denn das für eine Begrüßung, Chlopez? Was hab ich dir beigebracht?“, forderte er ihn belustigt auf und kitzelte dadurch zuckende Mundwinkel bei Andrej hervor, der sich sichtlich Mühe gab, diese wie ein Lächeln aussehen zu lassen. Daher nahm Sergei den letzten Meter rollend in Richtung Andrej in Kauf, da er wusste, dass sein Enkel ihm von sich aus nicht näherkommen würde. Aber nicht, weil Andrej unhöflich oder dumm war, sondern da es ihm nicht bewusst war, dass ein kleiner Schritt nach vorne seinem Nonno entgegenkommen würde.
Andrej lehnte sich hinab, sodass Sergei ihn kurz umarmen und ihm einen Kuss an die Stirn setzen konnte. Sergei war klar, dass sein Enkel mit dem Kopf ganz woanders war. Womöglich überlegte er, ob er alle selbst auferlegten Regelpunkte fürs Nachhausekommen korrekt absolviert hatte oder ob er alles in seinem Zimmer vorfinden würde, was er zum Richten benötigte. Denn Feierabend war für Andrej eine Strafe. Wenn er nicht wunderliche Objekte ergründen und reparieren konnte, wurde er hektisch, ungeduldig und in Extremfällen sogar unberechenbar. Sergei wusste dies wie kein anderer, immerhin hatte er den Jungen die letzten neun Jahre großgezogen. Etwas anderes als Dinge zu reparieren, hatte sein Enkel nie mit sich anzufangen gewusst. Aber für Sergei war es in Ordnung. Andrej hatte es im Leben auch sonst schwer genug gehabt. Mit fünf Jahren zusammen mit seinen Großeltern und Eltern aus der Ukraine zu fliehen, war nicht leicht zu verkraften gewesen. Andrejs Vater hatte in Italien eine optimalere Existenz-grundlage vermutet und seine Mutter hatte zudem auf professionellere Ärzte gehofft, die Andrejs erste merkwürdige Anwandlungen besser begreifen würden. Es hätte jederzeit schiefgehen können. Dem nicht genug, waren Andrejs Eltern gestorben, als er sechzehn Jahre alt gewesen war. Das alles musste ihm den Boden unter den Füßen weggezogen haben.
„Roswitha hat für uns eingekauft und ich habe uns Spaghetti Bolognese gemacht, die du so liebst. Also, was hältst du davon, wenn du dich einmal nicht in dein Kämmerlein verkriechst und den Abend mit deinem alten Nonno gemeinsam am Esstisch verbringst?“ Sergei zwinkerte Andrej spielerisch zu und machte sich zugleich auf den Weg in die Küche, aus der bereits ein leckerer Geruch strömte.
Andrej war verunsichert. Er hatte noch die Kamera zu reparieren. Ein kleines Teil am Gehäuse war gebrochen und erforderte seine Lötkenntnisse. Zudem mussten die Drehspule geölt und die äußeren Metallteile poliert werden… Aber was, wenn wieder… Rasch verdrängte er den Gedanken.
„Andrej? Wo bleibst du?“
Wie ferngesteuert schritt er in die Küche, deren Boden durch schwarz-weiße kleine Fliesen geziert wurde, was Andrej immer an ein Schachbrett denken ließ. Die Wände waren rustikal in Holzpaneelen gehalten, genau wie die alte Küche. Der Esstisch reichte für sechs Personen und wirkte durch das dicke, schwere Holz unverwüstlich. Nur ein Bündel aus getrocknetem Lavendel schmückte den bereits gedeckten Tisch.
„Ist es unhöflich, jetzt ‚Nein’ zu sagen, Nonno?“ Andrej stellte diese Frage öfter, weil der Drang, nach oben in sein Zimmer zu gehen, einfach zu groß war.
Sergei füllte die Pasta auf die Teller und sah nicht zu ihm. Nur ein genüssliches „Mmh“, begleitete das Anrichten. Dann folgte die dünne Fleischsoße, deren Anblick bei Andrej ein nicht überhörbares Magengrummeln hervorrief.
Als Sergei sich umdrehte und ihn anlächelte, wusste Andrej, dass es nun seine Aufgabe war, die Teller zu transportieren. Kurz musste er auf das Schachbrett vor sich schielen, um nicht auf die Linien zu treten. Penibel darauf achtend, ließ er die Füße nur über die schwarzen Quadrate zur Arbeitsfläche huschen, übernahm die dampfenden Teller und stellte sie anschließend auf den Tisch.
„Siehst du, war gar nicht so schwer – und ja, wie du bereits weißt, wäre es unhöflich, einen alten einsamen Mann allein essen zu lassen. Also setz dich gefälligst hin.“
[1] ukrainisch für Junge
Mefuzio zählte das Geld erneut, schob anschließend die Papierschleife über das Bündel Zehntausender und heftete es sorgsam ab. Neben sich hörte er das Geräusch der Heftklammermaschine, die von Alonso genutzt wurde, um den gleichen Vorgang, wie am Fließband abzuschließen. Sie saßen in ihrer Absteige, weit entfernt von ihrem eigentlichen Zuhause, im vierten Stock eines verbarrikadierten, verlassenen Hauses im Randbezirk von Tivoli. Das Versteck war nur über das Abwasserrohr entlang der Fassade und durch das aufgebrochene Fenster erreichbar. Am Haupttor hing eine Räumungsklage, die nächsten Wochen würde hier niemand nach dem Rechten sehen.
Mefuzio stapelte die fertigen Bündel übereinander und wartete die Fertigstellung des letzten durch Alonso ab, um es zu übernehmen. Wortlos öffnete er die lose Parkettplanke unter sich und offenbarte dadurch die unzähligen Schätze, die sie darunter bereits gehortet hatten. Die Stapel an Geldscheinen wurden breiter, die Reihen schlossen auf. Dazwischen funkelten goldene Ketten, Ringe, extravagante Colliers mit Edelsteinen und andere kleine Wertgegenstände, die bisher auf dem Schwarzmarkt noch nicht den Besitzer wechseln konnten.
„Gut, wir haben die zehn Millionen Lira für Mamas neue Fenster auf dieser Seite und die sechshunderttausend für ihren Psychologen. Die Reserven wachsen gut; ich schätze, bald ist ihre Wohnung fertig renoviert und wir können die Möbel erneuern. Wer weiß, vielleicht ist es nicht mehr weit, alles hinter uns zu lassen und Mama endlich den Traum eines eigenen Hauses am Meer zu erfüllen.“ Mefuzio konnte die Augen von den Errungenschaften vor sich nicht abwenden. Am liebsten hätte er alles immer bei sich geführt – seine Angst, dass das Versteck eines Tages gefunden oder das Gebäude ohne Vorwarnung dem Erdboden gleichgemacht werden könnte, war einfach zu groß. Dennoch wusste er, wie riskant es wäre und dass er alles vermeiden musste, was den Verdacht auf sie lenken und beide für eine Ewigkeit hinter Gitter bringen konnte.
„Ein verdammt kitschiger Traum, aber du magst recht haben, Mama würde es gefallen. Fragt sich nur, wie du ihr weismachen willst, dass du als Lagerarbeiter bei einem Möbelkonzern so viel Geld gespart hast.“ Alonso sah ihn prüfend an und verstaute dabei die Papierschleifen, die Klammermaschine und die Schere im Rucksack neben sich.
„Lass das meine Sorge sein. Ich verklickere es ihr so plausibel, dass sie es mir abnehmen wird. Ich werde einfach sagen, dass ich eisern gespart und gut angelegt habe und der Rest über einen günstigen Kredit möglich wurde. Es reicht für gewöhnlich, wenn ich sie mit Begriffen wie Gewinnausschüttung und Dachfonds verwirre. So habe ich alle unsere Möbel gekauft.“ Mefuzio klemmte die Planke wieder im Boden ein und betrachtete seinen Bruder. Sein Haar war lang geworden und er bekam männlichere Gesichtszüge. Langsam wuchs er aus Mefuzios Fittichen heraus, bald würde er sich nichts mehr vormachen lassen. Es war nur eine Frage der Zeit, bis er darauf bestand, selbst Kontrolle über sein Leben zu erlangen und nicht länger in der Schuld seines älteren Bruders zu stehen. Immerhin war er 24 und hatte es so verdient.
„Tja, so wie du immer alle überzeugst und blind für die Wahrheit machst. Dieses Talent ist geradezu erschreckend“, erwiderte Alonso trocken und Mefuzio erkannte Verbitterung in seinem Blick. Die Bemerkung spielte auf ihn selbst an und er wusste, dass sein Bruder mit Überzeugung eigentlich Manipulation meinte und es nur netter verpacken wollte. Und er hatte recht. Menschen um den kleinen Finger zu wickeln und sogar davon zu überzeugen, dass der Himmel purpurn und nicht blau war, gehörten zu Mefuzios ganz speziellen Fähigkeiten.
„Willst du mir vielleicht etwas sagen?“, begann Mefuzio mit sanfter Stimme, um Alonso herauszufordern. Doch sein Bruder wandte den Blick von ihm ab, stemmte sich vom staubigen Boden hoch und klopfte sich den Schmutz von der Jeans. Etwas schien ihn zu drängen, von oben auf seinen großen Bruder herabzusehen.
„Du weißt schon, wie es gemeint war“, kam es beiläufig von ihm, während er seinen Rucksack zumachte und ihn über die Schultern warf. Als er die Schnallen festzog, sah Alonso ihn wieder an und dieser Ausdruck in den Augen schmerzte Mefuzio. Es fühlte sich so an, als ob er ihn für alles, was ihm die letzten Jahre widerfahren war, verantwortlich machen würde. Dabei wollte Mefuzio nur alles wieder ins rechte Lot bringen, was sein Vater zerstört und das Schicksal ihnen bei der Verteilung des Glücks vorenthalten hatte. Daher stand Mefuzio nun ebenfalls auf, um Alonso direkt gegenüberzustehen.
Alonso wechselte das Thema. „Willst du eigentlich noch immer Geld für eine Operation zur Seite legen?“ Diesmal hatte Mefuzio das Gefühl, dass sein Bruder ihn provozieren wollte. Vielleicht war es ein verspäteter Versuch, sich abzunabeln wie ein pubertierender Teenager oder sich gegen die Hand aufzulehnen, die ihn fütterte …
„Ich weiß nicht, wovon du sprichst. Bist du denn der Meinung, es wird eine benötigt?“ Mefuzio musste sich beherrschen, um nicht zynisch zu klingen. Ein Streit brachte sie beide nicht weiter. Er trat einen Schritt näher und bereitete sich darauf vor, seinem Bruder in Erinnerung zu rufen, wem er da gerade diese Frage stellte.
Und diese stille Drohung reichte aus, sodass Alonso merklich in seiner Selbstsicherheit schrumpfte und seine Stimme zitterte. „Ich habe es nicht böse gemeint, Mefuzio. Ich dachte nur, weil es zu Beginn immer ein Thema bei dir war. Jetzt müssten wir eigentlich genug Geld haben – egal für was – und könnten mit den Gaunereien aufhören. Findest du nicht?“ Versöhnlich legte Alonso eine Hand auf Mefuzios Schulter und nickte, als würde er Bestätigung suchen. Doch dieses Thema war schon so oft durchgekaut worden, dass Mefuzio es satt hatte.
Mit drohendem Zeigefinger erinnerte er seinen Bruder: „Senti! Das Leben ist ungerecht zu uns. Findest du nicht? Haben wir nicht auch ein wenig Glück verdient? Sieh uns nur an, wie wir rumlaufen, wie wir wohnen und das alles nur, weil Vater ein Monster war. Er hat uns täglich daran erinnert, wie wenig er von seiner Familie hielt und schlussendlich ließ er uns im Stich. Denk nur daran, wie es Mama ging! Was er ihr jahrelang angetan hat. Die seelischen Wunden kann kein Arzt dieser Welt jemals heilen. Also lenk’ nicht mit Dingen ab, die nicht mehr zu ändern sind. Immerhin erinnert mich der Spiegel täglich daran, was das Leben aus mir gemacht und wozu es mich gezwungen hat. Und dafür werde ich mich nicht entschuldigen. Hast du verstanden?“
Mefuzio merkte erst jetzt, dass die rechte Hand den Kragen seines Bruders gepackt hatte und Alonso beklommen versuchte, den Griff zu lösen. Wie elektrisiert ließ er von ihm ab.
„Okay. Ich habe es nur gut gemeint. Ich für meinen Teil bin für heute hier fertig. Immerhin wartet Giulia auf mich. Also dann, noch einen angenehmen Abend!“ Alonsos Lippen waren zu einer dünnen Linie gepresst, er strich sich sein Hemd glatt, schob es wieder in seine Jeans und warf Mefuzio einen kühlen Blick zu. Einerseits stand Mefuzio zu seinem Wort, andererseits hatte er genau diese Reaktion vermeiden wollen. Es war wichtig für ihn, dass sie als Familie zusammenhielten. Doch schon beim Klang von Giulias Namen war sein Plan, sich sanftmütiger zu verhalten, wie vergessen.
„Aspetta, du wirst erst gehen, wenn wir den nächsten Coup durchgesprochen haben. Hast du gehört? Sie will dich nur ausnutzen – glaub mir, Frauen sind reine Zeitverschwendung!“
Alonso wirkte nur milde beeindruckt und machte Anstalten zu gehen. Aber im Vorbeigehen musste er offenbar seine Gedanken mit Mefuzio teilen: „Nur, weil du abgebrüht und eiskalt geworden bist und sich ohnehin keine Frau für dich interessieren würde, muss das nicht für mich gelten.“
Außer sich vor Wut packte Mefuzio seinen Bruder am Ellbogen und holte zu einem Faustschlag aus. Sein gesamter Arm bebte vor Zorn und von der Energie, die sich entleeren wollte. Doch in letzter Sekunde hielt er inne, als er nicht einen Hauch von Furcht in Alonsos Gesicht lesen konnte. Eher lag Bestätigung in seinen Augen. Mach nur. Dann bist du nicht besser als unser Vater.
Langsam lösten sich Mefuzios Finger und er sah seinen Bruder stocksteif an. Er zitterte von seiner inneren Anspannung und atmete schwer, die Rechte war noch immer zur Faust geballt. Ihn mit ihrem Vater zu vergleichen war das Schlimmste, was Alonso tun konnte. Dafür wusste er einfach zu wenig.
„Ich respektiere und liebe dich für alles, was du getan hast, Mefuzio. Aber ich kann nicht ewig im Schatten unserer Vergangenheit leben. Und du solltest das auch nicht tun.“
Die Türglocke läutete, als Alonso die Türschwelle des Antiquitätenladens hinter sich brachte. Sebastiano hätte ihn beinahe nicht gesehen, da er hinter einem riesigen Karton versteckt war, den er mühselig vor sich herschleppte.
„Buongiorno, Sebastiano.“
„Buongiorno! Sehe ich da wieder Nachschub, Alonso?“, witzelte Sebastiano und beobachtete den jungen Tischler dabei, wie er den Karton vor der Theke zu Boden stellte. Neugierig warf Sebastiano einen Blick hinein, da die oberen Laschen geöffnet waren.
„Offenbar. Ich war wieder auf einer Menge Flohmärkten und habe günstige Teile bei Entrümpelungen bekommen. Ich bin gespannt, ob dein geschultes Auge ein paar Raritäten erkennt, die du mir vielleicht abkaufst.“ Alonso zog ein breites Lächeln, als würde er sich bereits siegessicher mit Geldscheinen hinausgehen sehen. Doch Sebastiano war gut in seinem Geschäft. In nur wenigen Sekunden konnte er unterscheiden, was für ihn lukrativ und was aufwändig zu reparieren war. Aber auch, was künftig nicht mal als Dekorationsgegenstand durchgehen würde. Doch mittlerweile war Alonso geübt darin, zu erkennen, welche Objekte sich zu ersteigern lohnten und welche nur für den Müll taugten.
So viel Sebastiano mitbekommen hatte, hatte der junge Tischler in seiner Freizeit nichts Besseres zu tun, als Gewinne aus Plunder zu generieren und vereinzelt auch selbstangefertigte handwerkliche Kreationen zu versteigern. Sein Meister war zwar nicht immer überzeugt von diesen Ergebnissen,
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Celeste Ealain
Bildmaterialien: Alexander Kopainski
Cover: Celeste Ealain, Alexander Kopainski
Lektorat: Zoë Glod
Korrektorat: Zoë Glod, Dr. Alexandra Sept
Tag der Veröffentlichung: 27.07.2021
ISBN: 978-3-7554-0900-7
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