Cover

Impressum

© 2019

Alle Rechte vorbehalten

 

1. Auflage 2019

Forschungsskizzen: M. Giuliani, elyxeranova, Lea Strubreiter

 

Bei diesem Buch handelt es sich um die Komplettüberarbeitung des Werkes ‚Enujaptas Fluch‘ aus dem Jahr 2013! Es wurde mit Platz 1 für den Newcomerpreis 2013 im Genre Science-Fiction auf der Leserplattform Lovelybooks gekürt.

 

Dieses Buch enthält Passagen, die für Jugendliche unter 16 Jahren nicht geeignet sind!

 

Alle Personen und Namen innerhalb dieses Romans sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.

Dieses Dokument ist doppelt urheberrechtlich geschützt!

Danksagung

Dieses Werk war mein Debüt und es lag mir daher
am Herzen, ihm ein neues Gesicht, einen neuen Titel
und einen verbesserten Inhalt zu verpassen, um ihm
die beste Chance am großen Buchmarkt zu ermöglichen.


Taucht ab in meine farbenfrohe Welt, und lasst euch

in die Erzählung von Fabienne und Neyo entführen.

Mit diesem Roman möchte ich mich bei all meinen treuen
LeserInnen bedanken und bei all meinen Unterstützern

und Förderern. Ihr habt es möglich gemacht,
dass ‚Enujaptas Fluch’ neu erwacht ist.

DANKE!

Teil 1

Teil 1

1 | Schrei in der Dunkelheit

In den unendlichen Weiten des Universums war die Nokimis auf dem Weg nach Earth 3. In ihrem Inneren beherbergte das Raumschiff 500 Personen, davon fünfzig mit militärischer Ausbildung. Sie alle befanden sich in der Tiefschlafphase, um die sieben Lichtjahre Entfernung zu überbrücken, die sie von der Erde trennten. In der Stille glitt das Schiff dahin, während sich in seinem Steuerraum Probleme abzeichneten, die in keinem Notfallplan Erwähnung fanden.

 

 

Vage hörte er das pulsierende Pfeifen, das stetig intensiver wurde und sich in sein Gehör fraß. Bis zum jetzigen Moment konnte er sich und seine Umgebung noch nicht vollständig wahrnehmen. Er musste erst Kontakt zu seinem Körper, dessen Muskulatur und Sinnen knüpfen. Als er seine Gedanken ordnete und das erste Mal seit Monaten wieder die Augen öffnete, wurde ihm schlagartig übel. Obwohl Hamlock dies nun schon zum fünften Mal durchmachte, konnte er sich einfach nicht an diesen Zustand gewöhnen. Er schaffte es gerade rechtzeitig, die transparente Schutzklappe seiner Schlafkabine mit einem unsicheren Knopfdruck zu öffnen, bevor er kopfüber von der Liege fiel und nur seine Hände ihn vor einem direkten Sturz auf sein Gesicht schützen konnten. Dann ging es los: der Schüttelfrost, das Würgen, das Gefühl der Atemnot. Er schnappte rasch nach dem Plastikbehälter neben sich am Boden, um zu entleeren, was nicht da war. Sein Magen hatte seit sechs Monaten keine Nahrung mehr zu sich genommen, was den Würgereiz jedoch nicht im Geringsten reduzierte. Der Behälter stand pro forma da … wie stets.

Hamlock wischte sich mit dem Handrücken die Schweißperlen vom Gesicht und fragte sich, ob er so furchtbar aussah, wie er sich fühlte. Mit gerade einmal sechsunddreißig Jahren kam er sich wie ein Mittfünfziger auf Entzug vor. Er richtete sich langsam auf, um seine Muskeln nicht zu erschrecken oder den Kreislauf zu überfordern. Zwar wurden in der Tiefschlafphase regelmäßig Elektroimpulse durch seinen Körper geschossen, um den Muskelabbau zu verhindern, trotzdem musste sein Gehirn erst wieder alle Verbindungen reaktivieren.

Er stabilisierte sich auf der Liege und blickte um sich. Bei dem pfeifenden Geräusch musste es sich um das Frühwarnsystem handeln, an das sein Biorhythmus in der Tiefschlafkabine gekoppelt war. Irgendetwas hatte den Computer veranlasst, ihn frühzeitig aufzuwecken.

 

 

Das fehlte ihm gerade noch. Als er im Kontrollraum mit der Überwachung und Bestätigung der neuen Koordinaten beschäftigt war, musste er im Augenwinkel auf dem Monitor zum Tiefschlaflabor 3 feststellen, dass Bewegungen im Raum zu vernehmen waren. Zügig trat Trevor an den Bildschirm heran, der diese Bereiche mit je sechs bis zehn Passagieren überwachte. Ein Bildausschnitt pulsierte rot, was unerwartete Ereignisse kennzeichnete. Er holte das verkleinerte Bild mittels Antippen des Displays heran und betrachtete den gezoomten Raumausschnitt näher.

Verdammt! Wie ist das möglich?, fluchte er still in sich hinein. Eine Tiefschlafkabine stand sperrangelweit offen und eine männliche Person stützte sich auf die Liege. Major Trevor Charnsten riss die Augen weit auf. Er musste schnell Plan B einleiten, denn wenn ihn sein Sehvermögen nicht täuschte, sah er Lieutenant Colonel Hamlock höchstpersönlich, der gerade dabei war, sich zu regenerieren. Er würde anschließend sicherlich checken, warum das Frühwarnsystem im Raumschiff angeschlagen hatte.

 

 

Auf wackligen Beinen schritt Hamlock zum Spind direkt neben seiner geöffneten Kabine, sein Gleichgewichtssinn streikte. Auf dem schwarzen Bedienfeld gab er nach zweimaligem Versuch den Sicherheitscode ein, der das Fach automatisch entriegelte und ihm den Zugriff auf eine Garnitur frischer Uniform sowie auf ein komprimiertes Steuerpult für den Hauptcomputer freigab. Da das Alarmsystem gelb blinkte, wusste Hamlock, dass es sich hier um keine dringende Situation handelte und kleidete sich zunächst an, während er die Einträge des Logbuches studierte.

Aber was ist das? Die Aufzeichnungen zeigten ihm das Annähern eines Meteoritenschwarms an, was auf ihn bedrohlicher wirkte, als eine gelbe Alarmphase signalisieren sollte. Hamlock versuchte, sich auf den Bildschirm zu konzentrieren, da seine Augen tränten. Er klickte auf die Flugkoordinaten, denn die geplante Route sah keine Überquerung von Meteoritenlaufbahnen vor. Natürlich konnte bei einer Risikoplanung nicht jede Eventualität mit berücksichtigt werden. Da es sich hier bereits um die zweite Besiedlung eines Planeten handelte und die Menschheit auf jahrzehntelange Erfahrungen in der Raumfahrt zurückblicken konnte, erschien ihm der Vorfall jedoch höchst verdächtig.

Als er sich die aktuelle Lage des Schiffs in Richtung des galaktischen Südpols näher ansah und die Route von der Erde mit seinem Finger auf dem Monitor verfolgte, musste er kurz hart schlucken. Nokimis war nicht mehr auf Kurs. Sie hatte sich zwölf Grad von der ursprünglichen Route verschoben und steuerte ausgerechnet auf ein Wurmloch zu!

Wie konnte das passieren? Hamlock war sowohl durch seine militärische als auch seine Flugausbildung für die gelbe Warnstufe vorgesehen, doch dieser Fall wäre eher etwas für den Captain des Schiffs gewesen. Vor allem benötigten sein Körper und Geist gewiss mehr Zeit, um wieder 100% zu geben. Dennoch musste er eingreifen und funktionieren, denn es könnte womöglich zu lange dauern, seinen Vorgesetzten ebenfalls aufzuwecken.

Als Hamlock gerade im Begriff war, sich auf den Fersenabsatz umzudrehen, um im Laufschritt zur Kommandozentrale zu gelangen, wurde er plötzlich von hinten gepackt und fand sich in dem gekonnten Würgegriff eines starken Mannes wieder.

„Na, mein Freundchen. Mir scheint, du bist früher wach, als dir gut tut!”, zischte eine vertraute Stimme ihm ins Ohr. Hamlock umklammerte den Unterarm seines Peinigers und war bemüht, sich mehr Luft zu verschaffen. Sein Kopf ratterte und er ging die Optionen durch. Doch seine Kräfte waren nicht vollends zurückgekehrt, sodass er auf ein anderes Repertoire an Verteidigungsmethoden umsteigen musste. Mit voller Wucht trieb er den Ellenbogen in die Magengegend seines Kontrahenten und zeitgleich trat er ihm auf einen Fuß, sich wohl bewusst, dass dies bei Kampfschuhen mit integrierter Schutzkappe vergebens sein konnte. Zumindest hatte er sich so kurz Luft verschaffen können: „Verdammt, was soll das?”

Der Griff schloss sich blitzschnell erneut um Hamlocks Kehle, zum Glück verhalf ihm das Adrenalin in seinen Venen zu mehr Klarheit. Nach der Größe des Angreifers und der Muskelmasse, die auf dem zupackenden Arm hervorquoll, zu urteilen, tippte er auf ein militärisches Mitglied der Besatzung. Hamlock setzte zurück und konzentrierte seine gesamte Kraft auf einen Hieb des Hinterkopfes in das Gesicht seines Angreifers. Dieser ließ instinktiv los und rieb sich seine hoffentlich blutende Nase. Hamlock wirbelte zu schnell herum und musste sich an der Wand stabilisieren. Er traute seinen Augen nicht, als er sich in Angriffsposition stellte: es war Major Trevor Charnsten, der ihm gegenüberstand. ­Sein direkt untergeordneter Leiter der Spezialeinheiten dieser Mission. Daher war ihm also die Stimme bekannt gewesen. „Trevor, was ist in dich gefahren? All die Jahre, die wir zusammengearbeitet …!”

 

Fabienne vernahm Stimmen. Wie ein Echo in einem leeren Raum, erst leise und dann wie der Schall immer lauter. Es war dunkel, oder lag es daran, dass ihre Augenlider geschlossen waren? Sie konnte es nicht ausmachen, doch ein ungutes Gefühl von Enge und Beklommenheit kroch in ihr empor. Erst jetzt realisierte sie eine warme, weiche Unterlage, auf der sie gebettet war.

Wo bin ich? Schluckbeschwerden machten sich bemerkbar, da ihr Hals so trocken war, als hätte sie unendlich lange nicht mehr geschluckt, und da waren sie wieder – diese Stimmen.

 

Trevor sah auf seine Handflächen hinab, die mit Blut verschmiert waren, und Wut brodelte in ihm empor. Er war größer als Hamlock und wog mit Gewissheit um die zwanzig Kilo mehr als dieser.

Verdammt, mit seinen Mitte Dreißig ist er praktisch ein Kind, und gerade er wurde mir in der Hierarchie vorgezogen? Ausgerechnet dieses Häufchen Elend?

Hasserfüllt sprang Trevor auf seinen Vorgesetzten und wollte ihn erneut unter Kontrolle bringen. All seine Bemühungen, und nur dafür, um schlussendlich dienstlich übergangen zu werden? Deswegen hatte er sich nicht nach der Militärakademie in die Spezialeinheit der Armee gequält. Immerhin war er für den Einsatz in China zum jüngsten 2nd Lieutenant aller Zeiten ernannt worden, was ihn jedoch sein rechtes Bein gekostet hatte. Er musste fortan mit einem bionischen Ersatzteil vorliebnehmen.

Mit dreiundvierzig Jahren durfte es nicht zu viel verlangt sein, seinen rechtmäßigen Posten zu beanspruchen. Vor allem, da er bereits bei der Besiedelung von Earth 2 eine tragende Rolle gespielt hatte. Und wo war Hamlock da gewesen? Kein Hahn hatte nach dem Neuling gekräht!

„Du hast etwas, was dir nicht zusteht! Etwas, was man dir nur in den Arsch geschoben hat, wofür du aber keine Leistungen vorweisen kannst!”, schrie Trevor ihn an, als er Hamlock durch das gesamte Tiefschlaflabor schob und gegen die nächste solide Wand donnerte.

„Ich weiß nicht, was du meinst, Trevor?!”, erwiderte dieser schockiert.

„Ach, tu nicht so, du Pussy! Du weißt so gut wie ich, dass du nur zum Lieutenant Colonel berufen wurdest, weil dein lieber Daddy im Gremium was zu sagen hat – nichts weiter!”

 

  Hamlock starrte in diese wütende Fratze, die an einen Horrorstreifen erinnerte. Die stahlblauen Augen, der irre Ausdruck, kombiniert mit der blutverschmierten Nase hätten eine gute Basis für Albträume abgegeben. Hamlock hielt Trevor an den Handgelenken fest und drehte seinen gesamten Körper nach links, was ihn aus der fixierten Situation löste, und trat ihm gegen das rechte Knie. Das war, wie sich sogleich herausstellte, für ihn schmerzlicher als für den Major. Dieser grinste ihn nur hämisch an und nahm ihm den sicheren Stand mit einem geschwungenen Tritt seiner bionischen Prothese. Hamlock fing sich mit beiden Handflächen am Boden auf und rollte zur Seite, bevor das synthetische Bein ihm den Garaus machen konnte. Doch Trevor war eindeutig schneller, und hievte ihn an seiner Jacke wieder hoch, um ihn an sich heranzuziehen: „Deine glorreichen Zeiten sind ab sofort vorbei! Denn was wird wohl in deinen Akten stehen, wenn man herausfindet, dass du die Koordinaten bewusst manipuliert hast, um die Bevölkerung von Earth 3 zu verzögern?”

„Du verdammtes Arschloch! Wie in Gottes Namen willst du mich mit so einer schwachsinnigen Idee in Verbindung bringen?!” Als Hamlock ihn dann triumphierend anlachte, brannte offenbar eine Sicherung bei Trevor durch und er schlug ihm mit der Faust direkt ins Gesicht.

„Tja, mein lieber Lieutenant, jemand wird Unterlagen in deinem Besitz finden, die der Widerstandsbewegung `Blue Terror’ zuzuschreiben sind. Wie soll ich es positiv ausdrücken …“, Sarkasmus triefte zwischen seinen Worten hervor, „… du wirst nicht mehr zu dem Vorwurf Stellung nehmen können. Ich lass mir von dir nicht meinen rechtmäßigen Platz wegnehmen!”

Plötzlich gab es einen dumpfen Knall und eine Druckwelle katapultierte beide Körper wie Fliegengewichte durch die Luft.

 

  Der laute Knall war es, der Fabienne letztendlich aus der Dunkelheit riss. Sie erkannte nun, dass es kein Albtraum war, der ihr Platzangst im eigenen Körper verursacht hatte. Ein lauter Alarm startete und tauchte das Tiefschlaflabor in ein bedrohliches Rot. Mit aufgerissenen Augen blickte sie sich um, um sich Klarheit zu verschaffen. Fabienne konnte außerhalb der Kabine nichts erkennen, obwohl sie großteils transparent war. Die Sirene dröhnte laut, sodass sie glaubte, ihr Trommelfell würde platzen und die Notbeleuchtung flackerte im Akkord zum Alarm. Plötzlich spürte Fabienne warme Flüssigkeit in die Kabine eindringen, als Tropfen mitten auf ihrem Gesicht landeten. Panisch fuhr sie sich über die Haut, da sie nicht wusste, ob es sich um Öl, oder schlimmer, eine chemische Lösung handelte. Auch kleine Gegenstände auf ihrem Gesicht ertastete sie. Beim Blick auf ihre zitternden Finger konnte sie nur eine dunkle Brühe wahrnehmen, die undefinierbar roch, worauf Panik in ihr hochkroch. Als sie intuitiv nach oben sah, musste sie feststellen, dass der Austritt der Flüssigkeit nicht mechanischen Ursprungs war. Sie blickte ausgerechnet in die toten Augen eines ranghohen Offiziers – nämlich Johnson Hamlock – dessen Schädel durch das Glas gebrochen und schwer verwundet worden war. Sein Gesicht erkannte sie deshalb, weil der Kopf der Crew in den Übersiedlungsunterlagen an oberster Stelle eingeordnet gewesen war.

Hamlocks starrer Blick durchbohrte Fabienne förmlich und enthielt den stummen Vorwurf, dass sie nicht eingeschritten war – doch wobei? Die Bruchstelle ließ gerade mal seinem Gesicht Zugang zu ihrem Schlafbereich, der, wie sie nun feststellte, mit etlichen Scherben übersät war. Als sich weitere Tropfen auf seiner blassen Nase sammelten und ihr ins Antlitz fielen, musste sie dem Impuls freien Lauf lassen und schrie ihre Verzweiflung in die ungekannte Zukunft.

2 | Unbeherrschte Flugroute

Trevor öffnete seine Augen und orientierte sich. Eine kurze Bewusstlosigkeit musste ihn übermannt haben, denn um ihn herum war das Chaos ausgebrochen. Er versuchte, rasch Hamlock auszumachen, um eine mögliche Gegenattacke abwehren zu können. Doch als er sich vom Boden aufraffte, stellte er fest, dass er sich diesbezüglich keine Sorgen mehr machen musste. Der leblose Körper des Lieutenant Colonel lag auf einer Schlafkabine, deren Oberfläche von seinem eigenen Blut getränkt war. Der Alarm war ausgelöst worden, und das pulsierende, rote Licht im Schlaflabor untermalte die Szenerie auf unheimliche Art.

Trevor lief die Zeit davon. Das Sicherheitssystem leitete im Falle einer undefinierten Störung automatisch die Aufwachphase mittels hochdosierten Aufputschmitteln ein. Dies betraf dann die gesamte Crew, um sicherzustellen, dass die Autofunktionen an Bord rasch von Menschen übernommen wurden. Als Trevor ein starkes Rütteln aus dem Gleichgewicht brachte und er sich an der nächsten Wand stabilisierte, musste er schmerzgepeinigt feststellen, dass beim Sturz sein linker Arm ausgerenkt worden war.

Die Unruhe, die er unter seinen Füßen spürte, und die instabile Lage des Schiffs, ließen keine guten Schlussfolgerungen zu. Es schien als hätte die Nokimis durch eine Kollision mit einem Meteoriten merkliche Schäden davongetragen. Nun blieb Trevor nichts anderes übrig, als den Kurs wieder zu korrigieren, um noch als Held eine tragende Rolle zu bekommen, bevor sein Schwindel auffliegen konnte. Als Trevor die Kommandozentrale ansteuern wollte, vernahm er neben dem lauten Alarmsignal Schreie, die weiblicher Natur waren.

Wie ist das möglich? So schnell kann niemand aufgewacht sein. Vorsichtig schritt er an die Schlafkabine heran, aus der die Schreie herrührten und musste mit Entsetzen feststellen, dass sie exakt aus jener kamen, auf der Hamlock gelandet war. Die verzweifelte Person schlug bereits mit Fäusten gegen die stark lädierte Abdeckung.

Verdammt!

Trevor las den Status am Fußende der Kabine ab und stellte sicher, dass er dabei nicht in Sichtweite der Insassin geriet:

`Fabienne Lagrais, Zivilistin, Mindcreator, Geb.: 17.03.2252, Autun/Frankreich.’

Er drückte auf die Historie, um herauszufinden, warum sie bereits wach war.

„Hallo, ist da jemand?! Ich brauche dringend Hilfe, und wie es aussieht, bin ich nicht die Einzige!”, rief sie und schlug dann in ein verwirrtes Wimmern um. Trevor trat lautlos einen Schritt zurück und konnte im Augenwinkel noch den Grund ihres frühzeitigen Erwachens ablesen: `Unidentified medical incident; security wake-up started automatically at 7:17pm’.

 

Trevor rannte, so schnell es die unruhige Fluglage zuließ, durch den Korridor zur Kommandozentrale. Er hielt seinen linken Arm fest, da das unkontrollierte Schwingen ihm beinahe Tränen in die Augen trieb. Die Tatsache, dass eine Zivilistin vielleicht etwas von dem Kampf mitbekommen hatte, bereitete ihm Kopfzerbrechen. Wie lange war sie bereits aufnahmefähig gewesen? Die Aufwachphase war vor zwei Stunden eingeleitet worden. Leider fehlte ihm die Zeit, ihre physischen Scans durchzusehen, die die erhöhte Herzfrequenz vor dem Aufwachen oder während der Auseinandersetzung mit Hamlock preisgegeben hätten, falls sie sie miterlebt haben sollte. Warum musste alles so verdammt schief gehen?

Als der Major in der Kommandozentrale ankam, befand sich die Nokimis bereits mitten im Meteoritenschwarm. Es war ein unsagbares Wunder, dass es bis zu diesem Zeitpunkt keine weitere Kollision gegeben hatte. Was Trevor jedoch viel mehr Sorgen bereitete, war, dass was er direkt vor sich sah …

 

 

Fabienne versuchte vergebens, den Auslöser zur Öffnung der Schlafkabine zu betätigen, aber durch den Sturz von Hamlock dürfte der Mechanismus blockiert worden sein. Sie rief verzweifelt um Hilfe und es schien ihr schier unausweichlich, dem starren Blick des Toten über sich zu entgehen. Der Alarm, der leblose Körper über ihr, ... das alles deutete auf größere Probleme hin, als ihr lieb waren.

Werde ich es überhaupt lebend aus dieser Kabine schaffen?

 

 

Trevor machte sich hektisch am Schaltpult zu schaffen, um die Koordinaten zu ändern und die Fluggeschwindigkeit zu drosseln. Ein Unterfangen, welches sich als sehr schwierig erwies, da das Schiff wie von epileptischen Anfällen getrieben wurde und er sich nicht mit der rechten Hand festhalten und gleichzeitig das Pult bedienen konnte. Immer öfter musste er seinen Blick ins All richten, wo die Bedrohung in Schwarz näher rückte.

Verflucht! Warum reagierte das Schiff nicht? Er musste sich in diesem Moment eingestehen, dass er mit Dingen spielte, von denen er keine Ahnung hatte. Er war ein Soldat, kein Pilot und vor ihm lag der Schlund eines Wurmloches, welches das Schiff anzog wie ein Staubpartikel im All. Die Nokimis wurde immer schneller und die Turbulenzen häuften sich. Trevor spürte, wie sich das Blut in seinem Kopf sammelte beim Versuch, dem Computer neue Anweisungen zu geben. Die Meldungen, die das System zurück schmiss, schienen Hieroglyphen zu sein, die ihn nur noch mehr aus dem Konzept brachten. Schweißperlen liefen ihm über das Gesicht, bis er zuletzt aufgab.

Er richtete sich auf und sah dem Übel direkt ins Auge. Es war zu spät, dabei hatte er in seinem Leben nie die weiße Fahne gehisst. Er stand vor dem Unheil, das er initiiert hatte, obwohl alles anders hätte verlaufen sollen.

Bevor Trevor sich in der Kommandozentrale auf dem Captainsstuhl festschnallen konnte, wurde das Schiff von einer weiteren Turbulenz erfasst und er erneut durch den Raum katapultiert. Das Letzte, an das er sich erinnern konnte, waren die unendlichen Weiten von tiefschwarzem Nichts.

3 | Böses Erwachen

 

Captain Stevens wusste, der Aufprall würde unausweichlich sein. Ihm war übel von der automatischen Aufputschmedikation, die ihm in die Venen gepresst worden war, um die Aufwachphase zu beschleunigen. Er unterdrückte bereits zum dritten Mal den Würgeimpuls auf dem Weg von seiner Schlafkabine zum Steuerpult. Dabei befand diese sich direkt neben der Kommandozentrale.

Machtlos musste Stevens den Eintritt der Nokimis in eine ihm unbekannte Atmosphäre mit ansehen. Das Einzige, das er noch verhindern konnte, war, dass das Raumschiff auf dem Boden in tausende Einzelteile zerschmetterte. Er betätigte daher den Hubantrieb, um die Nase des Flugkörpers aufzurichten und die frontale Kollision abzuwenden. Doch das Schiff ließ sich nur schwer manövrieren. Er lief zur manuellen Steuerung,  probierte, den Hebel mit aller Macht nach unten zu drücken und scheiterte. Als er sich zur Glasfront des Schiffes wandte, die ihn von der neuen Atmosphäre trennte, schaute er sich nach möglichen Landeflächen um und schätzte ab, wie viel Zeit ihm bis zur Bruchlandung bleiben würde. Dabei glitt sein Blick über einen leblosen Körper im Schaltraum hinweg.

 

Trevor spürte einen Schlag im Gesicht. Dann vernahm er Schreie.

Was war das? War er noch am Leben oder sollte das die Hölle sein? Willkommen zu Hause – wie ironisch! Als ihn ein weiterer Schlag traf, öffnete er impulsiv die Augen und blickte auf Captain Stevens, der wild mit den Armen umher fuchtelte und ihn anbrüllte. Alles dröhnte, als Trevor sich an den Kopf griff und eine Platzwunde auf der Stirn ertastete, als wäre er aufgrund seiner Nase und des Arms nicht bereits lädiert genug gewesen.

Die Rufe des Captains waren zwar laut, aber völlig dumpf und unverständlich. Trevor schüttelte den Kopf, um wieder Klarheit in seine Sinne zu bringen – und siehe da – es wurde besser. Er folgte dem ausgestreckten Arm von Stevens, der an der Wand auf einen Hebel deutete. Der Captain lief hin und machte in seine Richtung rudernde Bewegungen. Erst dann verstand der Major die Gestik.

Trevor rappelte sich auf, schritt leicht benommen zur manuellen Schaltung und presste gleichzeitig mit Stevens den Hebel hinab. Nach der Anstrengung ließ der Major sich an der Wand zu Boden gleiten und erkannte durch das Aussichtsfenster unendlich grüne Wälder und einen zartvioletten Horizont mit zwei Sonnen.

Das ist alles andere, nur nicht Earth 3!

 

  Captain Stevens schaffte es kurz vor dem fatalen Aufprall, die Neigung Nokimis’ Nasenspitze so günstig wie möglich zu stellen, um den geringstmöglichen Schaden zu erleiden. Danach zog er Major Charnsten hoch und verschaffte ihm, wie auch sich selbst, einen gesicherten Stuhl, genau dort, wo das Schauspiel der Landung am besten zu beobachten wäre. Hoffentlich sollte es nicht das Letzte sein, was sie zu sehen bekommen würden.

 

 

„Können Sie mich hören?” Einatmen … ausatmen … einatmen … ausatmen. „Können Sie mir ein Zeichen geben, sofern Sie bei Bewusstsein sind?”

Etwas strich über ihr Gesicht und dann folgte grelles Licht im linken Auge. Was bedeuten musste, dass sie noch am Leben war. Fabienne pumpte wieder Gefühl in ihren Körper und bewegte vorsichtig die Finger. Es funktioniert!

War alles nur ein verfluchter Albtraum gewesen und sie würde gleich ihre Lider öffnen? Aber was war genau passiert? Sie erinnerte sich nur an den lauten Alarm, das rote Licht und die Angst, die sie begleitet hatte. Die Panik … jedoch kam ihr alles nur wie Bruchteile eines Traumes vor.

Als Fabienne schließlich die Augen öffnete, lehnte vor ihr, wie erhofft, eine nach medizintechnischem Dienst aussehende Person, die sie freundlich begrüßte. Doch als sie ihren Blick durch den Raum wandern ließ, musste sie feststellen, dass es wohl kein Traum gewesen sein konnte.

 

 

„Ich möchte wissen, was genau passiert ist. Verstehen Sie mich nicht falsch, wir können alle von Glück reden, dass Sie zur rechten Zeit am rechten Ort waren, aber es erscheint mir trotzdem höchst merkwürdig. Wie ist es möglich, dass Sie wach waren und sich ausgerechnet in der Kommandozentrale befunden haben, als sich das Schiff im Sturzflug auf P71 befand? Eine außerordentliche Begleitung durch einen ranghöheren Militäroffizier war während der Reise nicht geplant”, stellte der Captain in zur Rede.

Stevens befand sich mit verschränkten Armen und breitem Stand ihm gegenüber und musterte ihn – was Trevor abgrundtief hasste. In Anbetracht der Tatsache, dass ohne ihn der Hebel nie hätte betätigt werden können und sie nun alle im Himmelchor Lieder trällern würden, machte ihn diese Ansprache wütend.

„Wie ich bereits mehrmals geschildert habe, wurde ich ohne ersichtlichen Grund wach. Da war der Alarm bereits eingeschaltet. Als ich mir einen Überblick verschaffen wollte, ist mir Lieutenant Colonel Hamlock im Vorraum zur Kommandozentrale in die Arme gelaufen und hat mich tätlich angegriffen.”

„Sie meinen, einfach so? Was hat er zu Ihnen gesagt?” Stevens bedachte ihn mit einem misstrauischen Ausdruck und blickte dann kurz schräg hinter sich, wo der weibliche Co-Captain stand. Trevor ließ seine Blicke über ihren zierlichen Körper streifen. Es war schwer für ihn, sie als Respektsperson anzusehen.

„Also?”, wurde Trevor erneut zu einer Antwort aufgefordert.

„Den Grund für seinen Angriff kenne ich nicht, doch er konnte mich nur kurz überwältigen, da ich nicht mit ihm gerechnet hatte. Er stammelte etwas von `Warum ich schon munter sei, und dies nicht sein Plan gewesen wäre‘. Dann kam diese große Erschütterung, die uns trennte. Ich lief los zur Kommandozentrale und das ist das Letzte, woran ich mich erinnern kann, Sir!” Es fiel ihm schwer, dem Captain keinen verächtlichen Blick zuzuwerfen. Er war sich nicht sicher, wie viele Daten noch aus der Kommandozentrale oder dem Schlaflabor zu entnehmen waren und seine Geschichte bestätigen oder als Lüge deklarieren könnten. Aber er musste selbstsicher wirken, denn jede Schwäche konnte wahrgenommen werden und er war trainiert darauf, diese Gefühlsausdrücke nicht nach außen durchklingen zu lassen. Und allem Anschein nach ging sein Plan auf, denn der Captain wandte sich an seine Stellvertreterin und nickte ihr zu, bevor er den Verhörraum verließ.

 

„Sie können von Glück sprechen, dass die Startmodi zum Aufwachprogramm sowie die physischen Scans der Schlafkabinen unlesbar sind. Auch Hamlock wird seit dem Aufprall vermisst, somit sind alle möglichen Zeugen für die Szenerie aus dem Weg geschafft. Aber glauben Sie mir, ich werde Sie im Auge behalten, Major Charnsten!” Co-Captain Condoleezza Sanchez lehnte mit beiden Händen auf dem Tisch vor ihm, um bewusst Sicherheit in ihrem Auftreten zu signalisieren. Da sie jung, weiblich und dies ihr interstellarer Jungfernflug war, wurde sie ohnehin nur belächelt. Der Major zog die rechte Augenbraue hoch und erwiderte: „Gern geschehen!”, als er aufstand und sie mit eineinhalb Köpfen überragte. Condoleezza schluckte hart und konnte sich mit einem Räuspern wieder fangen: „Was meinen Sie damit?”

„Ich habe doch gerne Ihren Arsch und den aller anderen auf diesem Schiff gerettet, nur um jetzt als Staatsfeind Nummer Eins geahndet zu werden.” Der Major hatte das Wort Sarkasmus buchstäblich auf seiner Stirn stehen und sie wusste nicht, was sie ihm entgegnen sollte. Bevor ihr etwas Spontanes, Eloquentes einfallen konnte, war er schon humpelnden Schrittes und erhobenen Hauptes aus dem Raum stolziert.

 

 

Fabienne befand sich in einem umfunktionierten Lagerraum, da offenbar viele Verletzte versorgt werden mussten und die medizinischen Quartiere nicht für solch eine Ansammlung ausgelegt waren. Es roch nach scharfem Desinfektionsmittel und verbrannter Haut, eine Kombination, die einen automatisch durch den Mund atmen ließ.

Sie blickte sich um und erschrak, als sie die aneinander gereihten Matten entdeckte, die nicht enden wollten. Darauf bewusstlose Passagiere, die durch ihre Kleidung der Zugehörigkeit an Board zu identifizieren waren: Zivilisten, Crewmitglieder des Flugteams und militärisches Personal. Daneben teils verbundene Verletzte, die sich vor Schmerz wanden oder sich in die Bewusstlosigkeit stöhnten. Es war ein furchtbarer Anblick.

Was Fabienne bis dato mitbekommen hatte, war, dass aus unerfindlichen Gründen das Schiff auf einem unbekannten Planeten, der einfallslos P71 getauft wurde, notgelandet war. Merkwürdigerweise lagen dessen Koordinaten weit weg von ihrem ursprünglichen Ziel.

An sich war Fabienne nicht schwer verletzt. Ein paar Schnittwunden, ein geprelltes Knie, da sie bei den Turbulenzen in ihrer Kabine gegen das Schutzglas gedonnert war. Zu schaffen machte ihr nur der Umstand, dass ihre Schilddrüse eine enorme Überfunktion aufwies. Es war ein Wunder, dass sie nicht früher aus der Tiefschlafphase geholt und ein Arzt frühzeitig alarmiert worden war, um sie zu behandeln. Nun hatte sie alle nötigen Medikationen zur Stabilisierung eingenommen. Es hatte wohl an einer Überreaktion auf all die Infusionen gelegen, die während des Transports notwendig waren.

Fabienne richtete sich auf ihrer Notfallmatte auf und musste feststellen, dass das medizinische Personal um sie herum noch immer Kämpfe gegen die Zeit ausfocht. So viele verletzte Menschen an einem Ort. Daher fasste sie den Entschluss, dass es Patienten gab, die die Matte nötiger hatten, und stand vorsichtig auf. Als sie an ihrer Kleidung herabblickte, erkannte sie blutige, verkohlte und zerrissene Stellen, die sie zu sehr an den Absturz erinnerten. Sie musste unbedingt da raus und sich bequeme Jeans und ein Shirt besorgen. Doch als sie beim Aufstehen beinahe das Gleichgewicht verlor, fühlte sie stützende Hände an ihren Oberarmen und wandte sich der vermeintlichen Rettung zu.

„Hi! Also du bist das?”

Fabienne blickte in ein fast schneeweißes Gesicht, das mit Sommersprossen versehen war, wie Zimt auf einem Grießbrei. Gekoppelt mit strahlend blauen Augen und einem Grinsen, welches nur von den Ohren gebremst wurde. „Mein Name ist Marissa Klarkson, und du musst die aus Tiefschlaflabor 3 sein.”

Fabienne starrte die junge Frau fassungslos an: „Ähm, ja … ich lag in 3, aber ich verstehe nicht. Woher kennst du mich?”

„Genau genommen kenne ich dich NOCH nicht, aber zumindest habe ich mitbekommen, wie du hier reingetragen wurdest und man getuschelt hat, dass sie gerade dabei waren, dich aus den Trümmern zu bergen, als die Decke eingestürzt ist. Tja, wie soll ich es sagen, du bist die einzige Überlebende aus diesem Raum.” Der Ernst war in ihr quietschfideles Naturell eingekehrt und Fabienne realisierte erst nach ein paar Sekunden, was sie gehört hatte: „Oh mein Gott, das ist ja furchtbar!”

„Du hast verdammtes Glück gehabt. Und? Verrätst du mir nun deinen Namen?”, erkundigte sich diese Marissa, abermals mit einem breiten Lächeln zwischen der rot gelockten Mähne, die ihr Gesicht zum Leuchten brachte.

4 | Das Unbekannte vor der Tür

 

Statusbericht Nokimis, 26/09/2278

Anzahl ziviler Opfer: 32

Anzahl militärische Opfer: 4

Energiereserven zu 70% vorhanden

Schäden: Antriebsleitungen 22%

Frontverschalung 42%

Linke Seitenverschalung 33%

Hubantrieb 72%

Hauptgenerator 7%, Stabilisatoren 68%

Steuerung 38%, vollständiger Ausfall der Navigation

Lager- und Zweit-Räume 12%

Kommunikation zum Heimatplaneten vollständig abgebrochen

Verlust an Proviant 21%, Sauerstoffreserve 88%

 

„Danke für den Bericht, 1st Lieutenant. Gibt es schon Rückmeldungen, wie es da draußen aussieht?” Captain Stevens sah gebannt auf den Statusbericht, der von der Technikabteilung innerhalb von vierundzwanzig Stunden seit der Notlandung verfasst worden war.

„Das Einsatzteam wartet auf die Prüfungen aus dem Labor. Sie sind leider noch nicht freigegeben.”

Stevens sah den 1st Lieutenant an und richtete dann die Aufmerksamkeit auf Co-Captain Sanchez, die neben ihm stand. „Stellen Sie mir eine Verbindung zum Labor her. Ich möchte wissen, was da draußen auf uns lauern könnte.”

„Ja, Captain. Wird erledigt.” Sanchez ging zur Hauptschaltung der Meldezentrale und stellte Kontakt zum Labor her: „An das Team Labor Beta: Der Captain wünscht, Sie zu sprechen. Gibt es schon Zwischenergebnisse über die Auswertungen der Atmosphäre?”

„Hier Labor Beta. Derzeit verfügen wir über folgende Analyseergebnisse: Der Sauerstoffgehalt beträgt 30%, die Außentemperatur untertags um die 32 und nachts 21 Grad. Bisher können wir keine Auskünfte über die Gezeiten und saisonale Schwankungen liefern …“

Steven unterbrach die Erläuterungen: „Gut, was haben wir noch? Gibt es giftige Substanzen in der Luft, wie sieht es mit der Luftfeuchtigkeit aus?”

„Wir haben es hier mit einem tropischen Klima zu tun, mit einer durchschnittlichen Luftfeuchtigkeit von 85%. Durch die sich überschneidenden Sonnenauf- und untergänge können wir einen Tagesrhythmus von etwa 18 Stunden einschätzen, wobei zwei Drittel Tageslicht spenden.”

„Kann der andere Rhythmus negative Auswirkungen auf uns haben, oder können wir uns diesem ungehindert anpassen?”

„Es sollte kein Problem sein. Eventuell werden zwischenzeitlich Schlafphasen eingebaut werden müssen.”

Captain Stevens sog in Ruhe die Informationen auf: „Gut, bei der Reparatur des Schiffs werden wir ohnehin in Schichten arbeiten. Ich möchte so schnell wie möglich abflugbereit sein. Wir wissen nicht, welche Gefahren hier auf uns lauern könnten oder wie unberechenbar diese Umgebung ist.” Der Captain blickte zu Sanchez, die wie gebannt auf das Mikrofon starrte. Was ihn an ihr faszinierte und auch der Grund war, warum er ausgerechnet sie an Bord als Co-Captain geholt hatte, war, dass sie bei allen intellektuellen Tests überdurchschnittlich abgeschlossen hatte. Er konnte ihr förmlich von der Nase ablesen, dass ihr Gehirn ratterte und sie alle Eventualitäten und Wahrscheinlichkeiten durchging.

„Was beschäftigt Sie?”, fragte Stevens prompt.

„Wenn ich etwas ausführen dürfte, Captain. Sofern keine weiteren giftigen Substanzen in der Luft auszumachen sind, könnten wir sogar mit der richtigen Medikation draußen ohne Atemmasken vorankommen und so unsere Luftreserven sparen. Da wir noch keine Meldung haben, ob eine Reparatur möglich …”

„Sanchez, davon gehen wir aus”, betonte Stevens, da er der Meinung war, dass nur Optimismus sie weiterbringen würde.

„Natürlich Sir, aber wir wissen nicht, wie lange wir ausharren müssen und wir benötigen mindestens 35% der Sauerstoffreserven für den Rückflug, sofern wir exakt die gleiche Route nehmen können.”

„Wobei wir gar nicht sagen können, wie weit die Reise uns noch führt, solange die Schiffsnavigation nicht funktionstüchtig ist.” Nachdenklich kaute Captain Stevens an seinem Daumennagel und sah ins Leere, bevor er sich wieder dem Mikro zuwandte: „Wie sieht es nun mit der Luft aus? Könnte Co-Captain Sanchez mit ihrer Vermutung recht haben?”

 

 

Major Trevor Charnsten stand in der Ladeluke des umfunktionierten Lagerraumes und beobachtete sowohl das geschäftige Treiben des medizinischen Personals, als auch das Verhalten jener Passagiere, die sich als Unterstützung zur Betreuung freiwillig gemeldet hatten. Er wusste, dass sie hier irgendwo war, aber er hatte keinen blassen Schimmer, wie sie aussah. Fakt war, dass sie mit sechsundzwanzig Jahren recht jung war und mit dem Berufsbild als Mindcreator nicht gerade die erste Wahl für die Bevölkerung von Earth 3 darstellte.

Trevor zog die Schärpe des Stützverbandes zurecht, die seinen linken Arm nach dem Einrenken schonen sollte. Zum Glück war seine Nase nicht gebrochen, wodurch er bald wieder beschwerdefrei atmen konnte.

Fabienne Lagrais, wo steckst du bloß, und was hast du wirklich mitbekommen?, hallten die Fragen durch seinen Kopf. Konnte sie Zeugin des Handgemenges mit Hamlock geworden sein und ihn letztendlich als Schuldigen für das ganze Schlamassel outen?

 

 

„Captain? Die Untersuchungsergebnisse liegen uns vor. Die Zusammensetzung des Gasgemisches in der Atmosphäre lässt auf keine uns bekannten giftigen Stoffe schließen. Mit Betonung auf `uns bekannten Stoffen‘. Der Luftdruck liegt bei 0,5 bar, also unter unserem. Des Weiteren haben wir die Atmosphäre auf Viren, Bakterien und natürlich auf Anzeichen anderer Mikroorganismen getestet. Auch hier Fehlanzeige, was nichts bedeuten muss. Ich würde aus Sicherheitsgründen vorschlagen, den militärischen Außentrupp mit Schutzkleidung und Atemmasken auszustatten und weitere Proben zu nehmen. Sollte es keine sichtbaren Veränderungen oder Probleme geben, stimme ich der Aussage von Co-Captain Sanchez zu, dass wir, um Sauerstoff zu sparen, auf Wintax-Tabletten umsteigen. Sie sind einmal täglich fällig und werden dem Lorrain-Smith-Effekt vorbeugen.”

„Können Sie mir das näher erläutern?” Doch bevor Stevens eine Antwort vom Labor erhielt, kam diese prompt von Sanchez: „Der Lorrain-Smith-Effekt stellt die langsame Vergiftung der Lunge durch einen zu hohen Sauerstoffgehalt in der Luft dar. Da wir hier noch dazu einen niedrigeren Luftdruck haben, ist es ein schleichender Tod.” Ihr Blick wirkte abgeklärt und ruhig und Stevens wünschte, er könnte die Sache ebenso nüchtern betrachten.

 

 

„Der Captain will nicht gestört werden, Sir!”

„Für Sie immer noch General Eisenhauer! Und ich schätze, den Captain wird nicht kalt lassen, was ich gefunden habe, also machen Sie Platz!” Der General blickte tief in die Augen des Co-Captains, einer zierlichen Person von gerade mal 1,65 m und wahrscheinlich dreißig Jahren. Ihre blauen Pupillen, die sich von ihrer bronzefarbenen Haut abhoben und so gar nicht zu ihrem rabenschwarzen, leicht gelockten Haar passen wollten, kennzeichneten sie recht eindeutig als Halbblut. Doch sie spielte das Spiel `Wer-länger-anstarren-kann-ohne-zu-Blinzeln‘ ausgesprochen gut.

„Was soll die Unruhe?“ Captain Stevens trat durch die Schiebetür. „Ah, General! Kommen Sie doch rein! Sanchez, Sie können die Krallen wieder einziehen.” Der Blick von Sanchez ließ kurz Funken zu, bevor sie ihn zu Boden richtete und den General in die Kommandozentrale einließ.

„Es trifft sich gut, dass Sie persönlich kommen. Ich wollte Sie ohnehin über unsere weitere Vorgehensweise informieren”, startete Stevens, während er sich wieder zur restlichen Crew gesellte, auf seinem Stuhl Platz nahm und dem General deutete, es ihm gleich zu tun. Doch dieser verharrte mit den Armen im Kreuz vor ihm: „Darf ich Sie vorher in eigener Sache sprechen, bevor wir weitere Instruktionen durchgehen?”

„Aber natürlich General, legen Sie los.”

Ohne zu zögern erwiderte er: „Alleine.”

Stevens Augen analysierten ihn einen Moment lang. „Okay. Folgen Sie mir in den Schaltraum nebenan, da können wir ungestört reden.” Als sie losgingen, sah Eisenhauer im Augenwinkel, wie Stevens Sanchez ein Zeichen gab, ihnen zu folgen. Sie schien ohnehin ständig an seinen Fersen zu kleben, was die Geheimhaltung nicht gerade einfach gestaltete. Als die Tür hinter ihnen ins Schloss fiel, wiederholte Eisenhauer sich: „Ich sagte ausdrücklich alleine.” Er traute dem Frauenzimmer nicht über den Weg.

„Tja, General, da wir uns hier auf unbekanntem Terrain befinden und wir nicht wissen, was auf uns zukommt, möchte ich sicherstellen, dass der Co-Captain über alle Abläufe bei unserer Wiederaufnahme der Mission unterrichtet ist. Nur so kann ich sicher sein, dass die Befehle in meinem Sinne fortgeführt werden, wenn ich einmal nicht in der Lage bin, zeitnah auf Situationen zu reagieren.”

Eisenhauer konnte sehen, wie Sanchez zufrieden einen Mundwinkel nach oben zog und ihr Ego förmlich wuchs.

„Gut, dann soll es wohl so sein”, seufzte Eisenhauer.

5 | Gesucht - Gefunden

 

Oft schickte das Schicksal Unterstützung, mit der man tatsächlich nicht rechnete. So kam es, dass auch Trevor seine Chance nutzte, als er zwei medizinische Mitarbeiter beobachtete, die eine elektronische Passagierliste nach Verletzungsgrad führten und die Anwesenheit abhakten. Genau diese Liste wurde für ein paar Minuten unbeaufsichtigt auf einem kleinen Beistelltisch abgelegt. Zeit genug für ihn, um die Akte von Miss Lagrais zu öffnen, die womöglich ein Foto von ihr preisgab.

Bingo! Da war es und wenn die Realität hielt, was das Foto versprach, dann handelte es sich um eine grazile, blonde Schönheit mit einer Größe von 1,78 m. Ihr leicht gelocktes Haar wand sich über ihre Schultern. An der Kante ihres linken Wangenknochens war sie durch eine kleine Narbe gezeichnet.

„Na also, du kannst ja wohl in diesem Raum nicht so schwer zu finden sein”, murmelte er. Trevor legte die Akte wieder beiseite und schlenderte in die Mitte des Raumes, wo er eine gute Position hatte, um sie auszumachen. Dabei überlegte er, wie er sie in ein Gespräch verwickeln könnte, in dem er ihr ablas, was sie zum Zeitpunkt des Absturzes miterlebt hatte, ohne ihr Misstrauen zu wecken. Es würde kein leichtes Unterfangen werden und er müsste viel Charme dafür einsetzen, was ihn nicht das erste Mal an sein Ziel bringen würde, denn er kannte seine Wirkung auf die Damenwelt.

„Major Charnsten?” Trevor zuckte kurz und als er sich umdrehte, liefen ihm zwei Offiziere entgegen, die in voller Montur und Bewaffnung vor ihm haltmachten und salutierten.

„Ja? Werde ich zu einem Einsatz gebeten oder zu einem weiteren Verhör?” Trevor war bemüht, das Gift in seinen Worten runterzufahren.

„Sie werden im Besprechungsraum des Captains erwartet, Sir!”, flötete einer der Offiziere, der noch grün hinter den Ohren wirkte.

Trevor blickte sich nochmals um, bevor er sich den beiden anschloss: „Gut, dann sollten wir ihn nicht warten lassen.”

 

 

Fabienne konnte es nicht fassen, wie gut sie sich mit Marissa verstand. An sich hatte sie vorgehabt, den Raum und all die stöhnenden, verletzten Menschen hinter sich zu lassen und sich woanders nützlich zu machen. Doch ihre neu ernannte Freundin hatte sich bereit erklärt, freiwillig die Verwundeten zu betreuen, und somit das medizinische Team zu entlasten. Zuerst ging Fabienne nur neugierig mit, hielt da oder dort eine Verbandsrolle, holte eine Schere und ehe sie sich versah, war sie auch schon mittendrin. Dabei hatte sie eine Antipathie gegen alles, was Krankenhausflair besaß, und obwohl sie Spritzen nicht ausstehen konnte, machte ihr dies alles in der Gesellschaft von Marissa nichts aus. Denn diese Frau redete und redete und brachte sie mit ihrer Frohnatur auf andere Gedanken. Genau, was Fabienne im Augenblick brauchte – Ablenkung.

Plötzlich tönten Rufe durch die Menge und Fabienne drehte sich zu ihrem Ursprung um. Zwei militärisch gekleidete Männer schienen einen ranghöheren Offizier abzuholen, der mitten zwischen den Matten stand. Als sie zu dritt an ihr vorbeigingen, blieb sein Blick merkwürdigerweise an ihr haften.

Kennt er mich oder warum starrte er so? Als er den rechten Mundwinkel hochzog und ihr zuzwinkerte, musste sie kurz grinsen. Gleichzeitig schlug ihr Marissa mit dem Ellenbogen in die Rippen: „Na, das nenne ich Anziehungskraft! Kennt ihr euch etwa?”

„Nein, zumindest nicht, dass ich wüsste. Er fällt ohnehin nicht in mein Beuteschema.” Fabienne massierte sich unbewusst die Rippen, konzentrierte sich aber dann wieder auf den Notfallkoffer vor sich, um nach den geforderten Pflastern zu suchen. Dennoch war es schwer, nicht auf das schelmische Grinsen von Marissa einzugehen.

„Genau, deshalb auch deine gesunde Gesichtsfarbe”, zog sie Fabienne auf und erneut landete ihr Ellenbogen an der empfindlichen Stelle. Und alles, was Fabienne blieb, war auf kindische Weise die Zunge raus zu strecken.

 

 

Major Charnsten sah eine Front vor sich, die aus Captain Stevens, Co-Captain Sanchez und General Eisenhauer bestand. Alle drei standen im Besprechungsraum vor ihm – mit verschränkten Armen und unlesbaren Mienen. Eine Situation, die ihn nervös machte.

„Captain, Sie haben nach mir verlangt?” Trevor fühlte sein Herz fest gegen die Brust schlagen, als Eisenhauer die Szene auflöste: „Major Trevor Charnsten, ich bin mir nicht sicher, ob Ihnen bewusst ist, warum Sie hier her beordert wurden. Haben Sie eine Ahnung oder möchten Sie uns vielleicht etwas sagen?”

Oh, oh, das klingt eindeutig nicht gut.

General Eisenhauer war der oberste Befehlshaber der militärischen Einheit an Bord und mit seinen einundfünfzig Jahren stand er dem Captain als erfahrener Berater zur Seite. Er war womöglich der Auslöser für dieses unangenehme Tête-à-Tête.

„General, ich schätze, ich werde den ersten Expeditionstrupp auf P71 mit einer Ladung ADS-Waffen und Schienengewehren begleiten, Sir. Sie werden mich trotz der Vorwürfe als fähig anerkennen, sodass ich mich weiterhin als nützlicher Teil des militärischen Trupps auszeichnen kann, Sir!” Trevor stand stramm, bis auf seinen eingehängten Arm und er wusste, er pokerte hoch, indem er den Scheinheiligen spielte, aber nur so konnte er weiterhin bei seiner Geschichte bleiben.

Als sich plötzlich ein kleines Lächeln im Gesicht von Eisenhauer abzeichnete, ließ die Anspannung in Trevors Körper sofort nach. „Guter Mann! Sie haben richtig geraten. Aber ich habe Ihnen noch viel mehr zu unterbreiten. Sie sind hiermit nicht nur zum Lieutenant Colonel befördert und führen den Außentrupp an, nein, Sie bekommen in diesem Raum auch unsere geschätzte Achtung und Aufmerksamkeit.”

Wie bitte?

„Sir, ich bitte um Erklärung.” Trevor blickte abwechselnd den Anwesenden in die Augen.

Habe ich etwas verpasst oder stehe ich auf der Leitung? Und wie war das noch gleich – ich bin befördert worden?

Unbewusst griff er nach seiner Kette, die ein kleines Medaillon hielt. Darin war sein ganzer Stolz verborgen. Sein Schatz, für den er Ruhm und Ehre mit nach Hause bringen wollte.

„Lieutenant Colonel Charnsten, wir sind bei der Suche nach dem Verbleib von Johnson Hamlock auf folgende Unterlagen gestoßen.”

Trevor musste vor Erleichterung die Augen schließen, als er sah, wie Eisenhauer ihm die von ihm selbst untergejubelten Unterlagen der Widerstandsbewegung `Blue Terror’ vor die Augen hielt. Er hatte in weiser Voraussicht gehandelt, als er ihm die Unterlagen in den Spind gelegt hatte, während Hamlock über der Schaltfläche gebrütet hatte.

Gott sei Dank, der Plan ist aufgegangen.

„So wie es aussieht, haben Sie Hamlock gerade dabei erwischt, wie er die Flugkoordinaten manipuliert hat, weshalb er Sie auch angriff. Vielleicht war sein Plan, uns alle ins Jenseits zu befördern. Immerhin sieht diese Widerstandsbewegung die menschliche Rasse als Virus, das jeden Planeten zerstört, auf dem es sich niederlässt. Nicht nur, dass Sie Hamlocks Plan vereitelt haben, Sie haben auch noch bei der Umschaltung auf manuelle Steuerung den ausschlaggebenden Einsatz gezeigt. Ohne Sie, Lieutenant Colonel Charnsten, würden wir wohl alle nicht hier stehen.”

Impulsiv führte Trevor das Medaillon zu seinen Lippen und drückte zärtlich einen Kuss darauf.

Marsha, mein Baby. Du wirst stolz auf mich sein.

6 | Der erste Schritt auf P71

 

Statusbericht Nokimis, 29/09/2278

Überlebende Passagiere: 418 Zivilisten, 46 militärische Mitarbeiter

Geschätzte Zeit für Teststart des Antriebes: 5 Wochen.

Einsatzplan für Schichtarbeit liegt vor.

Unterstützung durch nichttechnisch ausgebildetes Personal ist ausschlaggebend für die zeitgerechte Umsetzung des Reparaturplanes.

 

Berichtergebnisse des Expeditionstrupps:

Keine Lebensformen gesichtet; Bodenproben enthalten Mikroorganismen;

Wasservorkommen gesichtet, die Flüssigkeit kann jedoch vom Körper nicht aufgenommen werden. Das Labor sucht nach Lösungen. Weitere Tests des Gasgemisches in der Luft lassen eine Atmung, bei vorausgesetzter Einnahme von Wintax, zu. Essbar wirkende Früchte wurden für weitere Tests ins Labor gebracht. Bis zum aktuellen Zeitpunkt wurden jedoch keine nahrhaften Substanzen lokalisiert.

Bis auf die Erkundungstrupps mit militärischer Begleitung ist es keinem Passagier erlaubt, das Schiff zu verlassen.

Aufgabenverteilung an die Passagiere zur Wartung, Ausspeisung, Überwachung und Versorgung der Verletzten ist erfolgt.

 

„Was gibt es, Sanchez?” Captain Stevens war in die Statusberichte vertieft und musste sich immer wieder die Augenlider reiben. Er war übermüdet und hatte die letzten drei Tage kaum geschlafen. Wenn er in den Spiegel blickte, sah er bereits die ersten Barthaare kreuz und quer sprießen, und dunkle Schatten hatten es sich unter seinen Augen bequem gemacht. Aber er konnte im Moment nicht an Ruhe und süße Träume denken. Er wollte sich einfach sicher sein, dass er nichts Wichtiges ausließ, alle Punkte genau vorausplante, denn immerhin waren da 464 Personen, für die er die Verantwortung trug. Die Last lag schwer auf seinen Schultern, denn dies war eine Notsituation. Nichts, was man auf einem Flugsimulator üben und nichts, was man einschlägig in einem Seminar auf der Air Force Academy durchgehen konnte. Nun zählte der gesunde Menschenverstand und daher baute er insgeheim sehr auf Sanchez. Er hatte das Gefühl, dass einfach nichts schiefgehen konnte, wenn sie alle Züge auf dem Schachbrett mitverfolgen würde – es war ein Vier-Augen-Prinzip.

„Captain, das technische Personal kann nur beschränkt arbeiten. Die Außenhülle muss von innen und außen gleichzeitig repariert werden und sie kommen nicht überall ungehindert hin. Wenn wir aber Stützen bauen und den Rumpf horizontal aufrichten, könnten mehr Arbeiter gleichzeitig tätig werden und wir würden zügig vorankommen.”

Stevens las viel Hoffnung und Wissen in Sanchez’ Augen ab, und als ihre Worte langsam einsickerten, erkannte er, dass sie recht hatte.

 

 

Fabienne rutschte nervös auf dem Sitz hin und her. Der Captain hatte sie alle zum ersten Mal zusammengerufen, um ihnen einen Statusbericht und weitere Vorgehensweisen zu unterbreiten.

Wo ist Marissa bloß? So sehr sie diese auch schätzte, nach den gemeinsamen drei Tagen musste sie eingestehen, dass die Frohnatur eine ganz große Schwäche besaß – und zwar fürs andere Geschlecht. Sie ließ keine Gelegenheit aus, um zu flirten und Bekanntschaften zu schließen. Einmal schreckte sie sogar nicht davor zurück, einen Patienten, der über ein gebrochenes Bein klagte und den halben Kopf bandagiert trug, direkt anzubaggern. Aber wenn man über diesen Makel hinwegsah, war sie wohl auf dem besten Weg, nach Chandra ihre neue beste Freundin zu werden. Bei dem Gedanken musste Fabienne schwer schlucken, denn wenn alles böse enden sollte, würde sie Chandra auf Earth 3 niemals wiedersehen. Dabei war sie diejenige gewesen, die sie zu der Übersiedlung von der Erde auf den neuen Planeten überredet hatte. Denn Fabienne befand sich das erste Mal auf einem Missionsschiff. Genau genommen das erste Mal überhaupt außerhalb der heimischen Atmosphäre, nur um Chandra nach Earth 3 nachzufolgen.

Fabienne konzentrierte sich wieder aufs Hier und Jetzt. Nun saß sie hier im Demoraum und sah sich in der sterilen Umgebung um. Die Wände weiß, die Decke weiß und – was für eine Überraschung – der Boden ebenfalls weiß. Solche Aufträge hätte sie gewiss nicht angenommen, selbst wenn sie nur mentale Welten erschuf, so etwas schmerzte ihre kreativen Augen. Dann kam endlich Marissa um die Ecke und gesellte sich zu ihr auf die – weiße – Bank. Langsam füllten sich die Reihen mit jenen, die unverletzt geblieben waren und jenen, die bereits wieder aufrecht oder mit Gehhilfen teilnehmen konnten. Letztendlich waren zwölf Schwerverletzte und einunddreißig leicht verletzte Passagiere von der Kollision gezeichnet, während zwei noch um ihr Leben kämpften. Eine Bilanz, die in vielen der Gesichter eingebrannt war.

 

„Und? Was, glaubst du, hat er zu verkünden?” Marissa saß so dicht bei ihr, dass man glaubte, sie wollte auf ihrem Schoß Platz nehmen, doch so war sie nun mal. Einfach alles andere als scheu und auch ohne Berührungsängste.

„Ich schätze, er wird seine Strategie geändert haben. Vielleicht geht die Reparatur nicht so voran, wie sie sollte. Mal sehen”, antwortete Fabienne, in Gedanken versunken.

„Oh. Mein. Gott! Schau, wer sich da zu uns durchkämpft? Ich glaub es einfach nicht! Sieh dir bloß seine Oberarme an!”, keuchte ihre Freundin.

Fabienne drehte sich in besagte Richtung und betrachtete die Person, die Marissa so zum Schwärmen brachte. Sie musste feststellen, dass der große, muskulöse Offizier, der ihr letztens einen Blick zugeworfen hatte, dabei war, sich in ihrer Reihe an den sitzenden Leuten entlang zu arbeiten, und … Es war schwer, an ihm vorbeizuschauen. Er trug ein hautenges, schwarzes V-Shirt und eine typisch gescheckte Militärhose, die sich bei jedem Schritt spannte. Er war ein Koloss, der wohl Wassermelonen mit seinem Bizeps zum Bersten bringen konnte. Als er sie entdeckte, zögerte er keine Sekunde, die noch freie Sitzlücke direkt neben ihr zu füllen. Fabienne konnte spüren, wie die Bank merklich einsank und schlagartig die Temperatur in diesem Raum anstieg. Schlimmer noch, blieben ihre Blicke ungeniert aneinander hängen, als könnte es nicht offensichtlicher sein, dass er diesen Platz bewusst gewählt hatte. Fabienne fehlten die Worte.

„Hi, ich bin Marissa und das ist Fabienne.” Marissas ausgestreckte Hand landete fast in Fabiennes Gesicht, als sie sich an ihr vorbei lehnte, um dem Koloss mit vollster Aufmerksamkeit die Hand zu reichen.

„Es freut mich, ich heiße Trevor Charnsten, für andere Lieutenant Colonel, aber bei so reizenden Ladys wie euch können wir die Förmlichkeiten beiseite legen, nicht wahr?” Er erwiderte den Händedruck, zwinkerte Marissa zu und sein braun gebranntes Gesicht zog mehrere Furchen, als sein breites, weißes Lächeln wieder zum Vorschein kam. Fabienne schätzte ihn auf Mitte vierzig, wobei seine Statur beachtenswert war. Es schien kein Gramm Fett unter seiner Kleidung versteckt zu sein, und er dürfte mehr trainieren als schlafen.

Oder er lebte von Proteintabletten. Aber vor allem die Art und Weise, wie er sie anstarrte, machte sie überaus nervös.

 

Stevens ging in den Demoraum, der mittlerweile schon gut besucht war. Kaum blieb er direkt vor der Menschenmenge stehen, wurde es schlagartig ruhig, denn jeder wollte hören, wie ihre Chancen standen. Sanchez folgte ihm und blieb einige Meter neben ihm stehen, gefolgt von Eisenhauer.

„Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Passagiere! Für alle, die mich vor der Mission nicht hinreichend im Netz analysiert haben – ich bin Angus Stevens und als Captain dafür verantwortlich, dass Sie alle sicher und möglichst rasch wieder auf gewohntem Boden stehen.” Er nutzte die Atempause, um den Worten mehr Kraft zu verleihen. „Damit wir dieses Ziel erreichen, ist es unumgänglich, dass wir alle gemeinsam an einem Strang ziehen, jeder Einzelne von Ihnen seine Aufgabe kennt und somit die Reparaturen entweder persönlich oder indirekt unterstützt.” Als Stevens die erste fragende Hand erspähte, lenkte er sofort ein: „Ich weiß, es gibt viele Fragen, doch im Moment ist nicht die Zeit für lange Reden. Ich ersuche alle um etwas Geduld, oder in dringenden Angelegenheiten nach diesem Treffen mit den Mitgliedern meiner Crew Kontakt aufzunehmen. Danke für Ihr Verständnis. Gut, wo waren wir … Fakt ist, dass wir uns auf einem nicht identifizierten Planeten befinden. Erste Untersuchungen haben ergeben, dass die Luft außerhalb des Schiffs Sauerstoff liefert, aber nur unter Einnahme von speziellen Tabletten verträglich ist, die Sie alle rationiert von unserem medizinischen Team erhalten werden. Es hat sich herausgestellt, dass wir die Reparaturen frühzeitig auch parallel außen starten müssen, um unseren Zeitplan einhalten zu können. Das heißt, jeder von Ihnen wird eine zugeordnete Aufgabe erhalten und muss diese zeitweise auch außerhalb des Schiffs verrichten.”

Plötzlich kam Unruhe in die Menge und Fragen über Fragen wurden laut herausposaunt. Die Unsicherheit dampfte nahezu aus allen Poren der Zuschauer.

„RRUUHHEEE! Der Captain ist nicht fertig mit seinen Ausführungen!” Selbst Stevens musste sich ans Ohr fassen bei dieser Lautstärke, die der General an den Tag gelegt hatte. Die Jahre als Ausbilder auf der Militärakademie konnte man ihm nicht absprechen, denn sofort waren nur noch geschockte, stille Gesichter in der Menge zu vernehmen.

„Wir werden draußen ein Camp errichten, welches rund um die Uhr von militärischen Mitgliedern bewacht wird. Keiner – ich wiederhole – absolut keiner hat sich ohne Erlaubnis aus dem Camp zu entfernen! Ist das klar?! Jeder wird den Anweisungen des militärischen Personals Folge leisten und in seiner Schicht die Aufgaben, die gestellt sind – sei es vom medizinischen oder technischen Personal oder von der Küche – ausführen. Es ist irrelevant, welchem Beruf Sie bisher nachgegangen sind. Solange wir hier sind, sind wir ein Team – eine Einheit. Denn nur wenn selbst das schwächste Mitglied mithilft, werden wir alle gemeinsam die Nokimis besteigen und P71 Lebewohl sagen.”

Stevens ließ seine Worte im Raum verhallen, die Spannung war zum Greifen nahe. „Und noch etwas. Finger weg von Flüssigkeiten und essbar aussehenden Früchten. Wir wissen nicht, wie unser Organismus darauf reagiert. Selbst Wasser stellt laut Labor ein Problem dar. Doch bevor die `Wir-sind-nicht-alleine-Anhänger‘ unter Ihnen unglücklich werden: Wir haben bis jetzt keine Anzeichen für außerirdisches Leben, außer den Pflanzen, feststellen können. Die Wahrscheinlichkeit, dass früher oder später ein Einheimischer bei uns anklopft, ist aber gegeben. Sollten Sie auch nur den kleinsten Verdacht hegen, etwas gesehen zu haben, was Ihnen wie eine fremde Lebensform vorkommt, dann ist es Ihre Pflicht, dies sofort zu melden!” Der Captain ließ seinen Blick über die Menge gleiten, um sicherzugehen, dass jeder seine Worte ernst nahm.

„Gut, das war’s von meiner Seite. Ich hoffe, ich habe mich verständlich ausgedrückt und es ist Ihnen klar, dass ich hier keine Grundsatzdiskussion zulassen werde, denn uns läuft die Zeit davon. Es geht hier um unser aller Leben und unsere Zukunft. Rufen Sie sich das in Erinnerung, wenn Sie gerade dabei sein sollten, alles hinzuschmeißen und Unruhe in der Gemeinschaft zu säen. Ich danke für Ihr Verständnis und Ihre Unterstützung. Bei weiteren Fragen wenden Sie sich bitte an meine Crew.”

7 | Persönlichkeiten, ganz persönlich

 

„Genial! Endlich können wir raus! Ich kann’s kaum erwarten, ein paar Erdproben und Steine mitzunehmen.” Marissa hatte förmlich Sterne in den Augen. Man sah ihr an, dass sie sich vollständig dem Beruf als Geologin und Paläontologin verschrieben hatte. Als sich die Reihen langsam auflösten und Fabienne noch immer über das Gesagte nachdachte, merkte sie, dass neben Marissa auch ihr männlicher Sitznachbar noch anwesend war.

„Und bist du genau so aufgeregt nach draußen zu kommen wie deine Freundin?” Charnsten sah sie an und schien auf ihre Körpersprache zu achten, als würde er sie analysieren, was ihr unangenehm war.

„Tja, ich frage mich das auch gerade. Streng genommen gehöre ich zu den Menschen, die zwar Abenteuern nicht abgeneigt sind, diese jedoch lieber in einem Demoraum erleben und somit auf Nummer sicher gehen.”

„Du meinst also eine Illusion, die von einer Software erzeugt wird? Wie soll das jemals der Realität nahekommen?” Und da war er wieder, dieser forsche Blick.

„Ah, ein Skeptiker?” Fabienne fühlte sich herausgefordert, denn wenn sie sich irgendwo auskannte, dann in ihrem Job.

„Oh oh, Trevor, ich kann nur sagen: Vorsicht! Bei diesem Thema ist Fabienne etwas empfindlich – sie ist Mindcreator.” Marissa lehnte sich an Fabienne vorbei und warf Charnsten einen verführerischen Blick zu. „Aber ich weiß, was du meinst, eine programmierte Berührung in einer künstlichen Umgebung kann sich nie wie eine echte anfühlen.” Marissa unterstrich ihre Worte mit einem charmanten, breiten Lächeln und klimpernden Wimpern, sodass Fabienne in diesem Augenblick das Gefühl hatte, nur das fünfte Rad am Wagen zu sein.

 

Marissas Augen leuchteten ihn regelrecht an, während Fabienne eher distanziert auftrat. Trevor wollte die Frau mit dem französischen Namen gewissermaßen in ein Gespräch verwickeln, ihr Vertrauen gewinnen, um schlussendlich die entscheidenden Fragen zu stellen. Denn eins war klar, sie hatte ihn nicht erkannt, was er bei der demolierten Schlafkabine auch nicht für allzu wahrscheinlich gehalten hatte. Aber wie sah es sonst aus? Denn selbst, wenn Fabienne ihn nicht direkt gesehen hatte, war es möglich, dass sie unbewusst Stimmen vernommen oder Gesprächsinhalte zwischen ihm und Hamlock aufgeschnappt hatte. Durch den Absturz war schwer zu urteilen, ob sie sich noch an alles genau erinnern konnte oder erst nach und nach Erinnerungsfetzen wieder auftauchen würden. Selbst seine Stimme könnte in ihr früher oder später Erinnerungen wachrufen.

Doch diese Marissa war wie eine Klette und unterbrach jede Möglichkeit, ihrer Freundin näherzukommen. Aber durch die bewusste Provokation Fabiennes Egos, wandte sie sich ihm nun endlich zu: „Also ich kann dir aus eigener Erfahrung sagen, dass wir bei der Software alle Sinne ansprechen. Immerhin war es stets das Ziel der Mindcreatoren, allen Menschen Erlebnisse zu ermöglichen, die entweder für sie in der Realität nicht mehr erschwinglich oder gar nicht mehr möglich sind, da die Erde fast nur noch aus verbauten, zerstörten und verschmutzten Teilen besteht. Das heißt, in meinen Kreationen riechst du den Ozean, du schmeckst das Salz in der Luft, du hörst die Wellen rauschen und du fühlst die kühle Brise auf deiner Haut, sodass du Gänsehaut verspürst. Wenn nicht, dann hat der Mindcreator das Programm nicht korrekt geschrieben!”

Ah, ist da etwa Emotionalität gepaart mit Ehrgeiz herauszuhören? Trevor musste innerlich lächeln. Er erkannte in dem bildhübschen Gesicht eine ruhende Kämpfernatur, die sich nur zurückhielt.

Wie sagt man so schön – stille Wasser sind tief.

Fabienne begann, ihn zu interessieren, und er sprang auf den Zug auf: „Und du bist solch ein Mindcreator, der all diese Dinge berücksichtigt?”

„Ich würde sagen, dass ich meine Aufgabe mehr als gut erfülle. Immerhin bin ich zwei Mal von Softwarefirmen abgeworben worden und wurde mit einigen Auszeichnungen bedacht. Der Erfolg gibt mir also recht.”

Trevor musste über ihre straffen Schultern und ihr stolz gehobenes Kinn schmunzeln. „Und für welche Zielgruppe sind deine Programme gedacht?” Trevor wandte sich mehr zu ihr hin und neigte den Kopf, was ihr das Gefühl geben sollte, dass ihn das Thema wirklich interessierte. Wie verhofft zeigte es Wirkung, denn plötzlich schien sich Marissa als Störfaktor zu fühlen und zog sich leise zurück.

 

„Tja, ich würde sagen, für Menschen, die die Wälder, Länder und Kulturen nicht sehen konnten, wie sie vor Jahren in voller Pracht ausgesehen haben. Für jene, die niemals die Chance hatten, auf Wellen zu reiten oder heute ausgestorbene Tiere live zu erleben. Die die eigene Stadt in ihrem Leben nie verlassen haben. Für Verrückte, die sich mit ihrem Chef prügeln wollen oder eine traumhafte Nacht mit einer unerreichbaren, exotischen Schönheit verbringen möchten. Und einfach für all jene, die der japanischen Sprache mächtig werden wollen, ohne die Zeit in Seminarräumen abzusitzen.” Fabienne merkte, wie sie wieder in ihre Welt abdriftete.

„Aber sag mir, hast du all diese Dinge, die du elektronisch erschaffst, selbst schon gesehen, gerochen, gespürt und gehört?” Seine stahlblauen Augen bohrten sich förmlich in sie und sie wurde unsicher.

Auf was will er hinaus? Schweiß drang durch ihre Handflächen, sodass Fabienne sie kaum merkbar an ihrer Hose abrieb. „Natürlich nicht, wie soll das gehen?”

„Wie willst du also von etwas Ahnung haben und jemand anderem die Illusion davon schenken, was du es selbst nie erlebt hast?”

Fabienne war geplättet. Diese Frage hatte ihr noch nie jemand gestellt. Sie wusste, dass es viele gab, die sich vehement gegen die elektronische Ausweitung im täglichen Leben sträubten. Aber das soeben war sehr direkt gewesen.

„Ich kann es einfach, weil ich gut bin! Ich lese viel, versuche so oft wie möglich Eindrücke aufzunehmen, mit Menschen zu sprechen, die diese Erfahrungen wirklich selbst gemacht haben und außerdem …” Fabienne klopfte sich auf den Nacken „… habe ich einen Datenchip, mit einer riesigen Datenbank an Geräuschen, Düften, Bilder und beschriebenen Gefühlen stets dabei.”

„Ah, beschriebene Gefühle also?” Charnsten sah sie mit einer hochgezogenen Braue skeptisch an, als wäre es sein Ziel, sie bewusst aus der Reserve zu locken. Fabienne stellte fest, dass er trotz seiner Freundlichkeit Strenge ausstrahlte, was wohl an der leicht verbogenen Nase lag, die vermutlich mehrfach gebrochen worden war, und der militärischen Stehfrisur. Sein braunes Haar war meliert, da sich die ersten grauen Strähnen durchsetzen konnten.

„Gut, Mr. Charnsten …”

„Wir waren doch beim DU”, warf er gleich ein.

„Okaayy, wie sieht es denn bei dir aus, Trevor? Auf welche spektakulären Erlebnisse kannst du zurückgreifen? Welche, die du tatsächlich erlebt hast und nicht aus einer Maschine stammen?”

Ball zurück, dachte sie sich. Mal sehen, wie er kontert.

Sie sah, wie sein Blick sich von ihr abwandte und er wahrscheinlich unbewusst zu einem silbernen Medaillon griff, das er um seinen Hals trug. Sein Profil sah nachdenklich aus, als wäre er geistig in seine Vergangenheit abgetaucht, die nicht immer heiter gewesen war.

 

Nun musste Trevor die Katze langsam aus dem Sack lassen. Wenn er verhindern wollte, dass sie seinen direkten Fragen misstrauisch begegnete, musste er ihr ein wenig seiner Privatsphäre schenken. Keine Frau konnte einer einsamen, traurigen Geschichte widerstehen. Er kannte die Reaktionen nur zu gut, denn nicht nur einmal hatte er diesen Trumpf ausgespielt, um zu zeigen, dass hinter der harten Schale ein weicher Kern verborgen lag.

„Ich weiß, was es heißt, Menschen sterben zu sehen; unfähig herumzustehen, weil man nur drei von zwanzig Menschen gleichzeitig helfen konnte; in tote Augen zu blicken, deren Augenlider man schließt, weil die Zeit fehlt, den Kameraden mitzunehmen. Mir ist auch nicht fremd, Freunde und Kollegen zurückzulassen, da der Befehl anders lautet.” Er spürte förmlich, wie Fabiennes Härte und triumphierende Haltung einsackten wie ein ausgelassener Luftballon. Es wirkt!

„Das ist ja furchtbar. Es … das tut mir wahnsinnig leid“, flüsterte sie. Doch er sprach einfach weiter mit Blick geradeaus und ließ die Bilder vor seinem inneren Auge Revue passieren. „Ich werde nie vergessen, wie verbrannte Haut riecht und verkohlte Leichen aussehen. Und ich kann stets hören, wie Schreie aus purer Angst klingen, die einem bis unter die Haut gehen und ich weiß auch, was es bedeutet, jegliche Gefühle auszusperren, um zu tun, was nötig ist, um ein Land zu beschützen. Nicht zuletzt kann ich auf die Erinnerung zurückgreifen, für sein Land eine Gliedmaße amputiert zu bekommen.” Er konnte aus den Augenwinkeln vernehmen, wie Fabienne sich geschockt die Hand vor den offenen Mund hielt und erstarrte. Er suchte wieder ihren Blick und nahm feuchte Pupillen wahr.

Als sie nun seinen Blick erwiderte, schüttelte sie leicht ihren Kopf, als ob die Bilder in ihrem Kopf zu lebhaft wurden.

„Na, hast du diese Dinge bereits auf deinem Chip?“, flüsterte Trevor bestimmend, doch sie konnte nichts darauf erwidern. „Mach dir nichts daraus, ich schätze, diese Software schreibt wohl ein Mindcreator, der auf ein anderes Fachgebiet spezialisiert ist, nicht wahr?”

Sie nickte ihm wortlos zu und ließ ihre Hände in ihren Schoß gleiten. Im Gespräch hatte sie sich ihm direkt zugewandt und wortwörtlich kapituliert.

Gut so! Selbst ihre breiten Schultern hingen nun unsicher herab, was ihn nicht davon abhielt, seine Blicke tiefer gleiten zu lassen. Sie hatte eine Wespentaille und lange, sehnige Schenkel, die in enge Jeans gehüllt waren. Ihr wohlgeformter Busen hob und senkte sich unter dem weißen T-Shirt mit buntem Print. Sie dürfte regelmäßig trainieren, obwohl sie ihre Freizeit wohl eher in ihrer elektronischen Welt genoss. Er bemühte sich, wieder auf den Punkt zu kommen und sah ihr in ihre leuchtend grünen Augen.

„Aber hast du nicht auch schöne Erlebnisse in all der Zeit mit dir nehmen können?”, wisperte Fabienne, als hoffte sie, die Gerechtigkeit hätte eine Balance in sein Leben gebracht. Es schien fast, als ob sie dem Impuls widerstand, ihn trösten zu wollen. Er war einfach verdammt gut und brauchte streng genommen weder ihren noch irgendeinen Trost. Er stand über all diesen Dingen. Es ist mein Job, nichts weiter.

„Natürlich!”, setzte er mit einem breiten Lächeln an: „Ich weiß, wie es sich anfühlt, sein eigenes Kind in den Armen zu halten, obwohl es erst seit ein paar Sekunden atmet. Ich kenne die emotionale Regung, wenn sich kleine Finger um die eigenen wickeln und strahlend große Augen sagen `Ich hab dich lieb, Daddy!‘” Er hielt Fabienne zur Untermalung der Erinnerungen sein geöffnetes Amulett entgegen.

„Ist das deine Tochter?”, erkundigte sie sich und wirkte gerührt. Auf dem Foto hatte die Kleine leicht gelocktes Haar, das ihr wild zu Berge stand und jeden zum Schmelzen brachte.

„Ja, das ist Marsha. Da war sie gerade vier Jahre alt.”

„Wie alt ist sie denn heute?”, sprang ihm flott entgegen, sodass er nur gedehnt langsam seine Lunge entleeren konnte.

„Ich würde sagen, das ist eine Geschichte, die ein anderes Mal erzählt werden sollte.”

In Fabiennes Gesicht zeichneten sich ein schlechtes Gewissen und Schuldgefühle ab, und er tat sich schwer, weiterhin die Mitleidstour vorzutäuschen. Das Ganze bekam eine falsche Richtung.

„Tut mir leid, ich wollte dir nicht zu nahe treten. Sie ist bildhübsch … ich meine, deine Tochter”, hauchte Fabienne.

„Danke.” Trevor fühlte sich siegessicher. Er hatte ihr Vertrauen gewonnen. Ab sofort würde sie ihm alles abkaufen und ihm auf jegliche Fragen antworten, ohne daran zu zweifeln, wie er darauf kam.

 

 

„Dann bleibt uns nichts anderes übrig. Ich wollte das zwar verhindern, aber Not macht erfinderisch.” Captain Stevens sah den Leiter der technischen Abteilung an. „Gehen Sie da raus und schlachten Sie aus diesem Dickicht heraus, was Sie brauchen, um die Stützen und Geländer für die Reparatur zu bauen. Bitte ermahnen Sie jedoch Ihr Personal, darauf zu achten, wie die Umwelt reagiert. Vielleicht sind die Bäume keine Bäume – was wissen wir schon?” Stevens konnte seine Verunsicherung nicht unterdrücken, doch der Techniker nickte nur knapp und verließ die Kommandozentrale. Als Stevens ihn dabei beobachtete, wie er hinter der automatischen Schiebetür verschwand, überkam ihn ein ungutes Gefühl.

Hoffentlich ist es richtig, die Leute in den Dschungel zu schicken. Als würde ihm sein Gewissen auf die Schulter klopfen, meldete sich Sanchez zu Wort: „Sir, ich weiß nicht, ob das die richtige Strategie ist. Vielleicht sollten wir die Stützen besser mit ausgedienten Möbelstücken oder gebrochenen Stahlträgern des Schiffes konstruieren. Ich weiß nicht warum, aber meine Sirenen schlagen Alarm.”

„Ich weiß, Sanchez, doch bis wir alles aus der Nokimis ausgeschlachtet und gebrauchsfertig haben, sind wieder Tage vergangen. Ich schätze, wir müssen in den sauren Apfel beißen. Außerdem ist ein militärischer Trupp stets dabei.” Stevens und Sanchez sahen gleichzeitig gespannt zur Frontscheibe der Zentrale hinaus. Eine der beiden Sonnen ging gerade auf und der Dschungel war in eine dicke Nebelbank gehüllt wie auf einem Bild des Regenwaldes am Amazonas, der gerne auf Werbeplakaten für Mindsoftware genutzt wurde. Es war merkwürdig ruhig, als ob die Natur da draußen sie genauso neugierig und vorsichtig beobachtete.

8 | Das Camp

 

Da stand sie nun. Vor ihr vier Schleusen, die sie von der Welt da draußen trennten. Noch nie in ihrem Leben atmete sie so bewusst Sauerstoff ein und aus wie in diesem Augenblick. Fabienne hatte nass geschwitzte Handflächen, sie musste ständig schlucken, und nachdem sie bereits drei Mal auf der Toilette gewesen war, fiel ihr auch keine Ausrede mehr ein, ihren ersten auswärtigen Dienst weiter hinauszuzögern. Sie war stocksteif vor Nervosität und alle Alarmglocken in ihr spielten verrückt.

Das kann einfach nicht richtig sein. Wie konnte das Labor nach ein paar Tests einschätzen, dass durch das Einatmen der Gaszusammensetzung auf diesem Planeten inklusive Einnahme von Tabletten keine langfristigen Schäden entstehen konnten? Da es früher oder später alle traf und sie nicht die Einzige war, die Faxen machte, war sie wieder beruhigt. Auch ihre blonde Mähne schien sich zu weigern, da ihr die leichten Locken stets zurück ins Gesicht fielen. Fabienne zog die Strähnen bereits so stramm hinter die Ohren, dass diese abstanden.

Als sie gerade eine Labormitarbeiterin an sich vorbeihuschen sah, konnte sie dem Impuls nicht widerstehen, sie anzusprechen: „Entschuldigen Sie Miss, darf ich Sie etwas fragen?” Die junge Dame drehte sich genervt um, als hätte sie bereits beim Vorbeigehen geahnt, was kommen sollte. Womöglich wurde diese Frage häufiger an sie herangetragen. „Ja, ich bin mir sicher, dass Sie da ungehindert rausgehen können.”

„Ähm – gut, dass Sie hellsehen können, aber ich wollte erfahren, wie es möglich ist, die Inhalte eines Gasgemisches zu analysieren und hundertprozentig einschätzen zu können, wenn es die Menschheit zum allerersten Mal unter der Lupe hat?” Fabienne war aufgebracht, denn sie hatte das Gefühl, die Mitarbeiterin wollte sie nur abwürgen.

„Sehen Sie, wir haben unser Wissen auf Earth 2 festigen können und die meisten Stoffe sind im Universum gleich. Immerhin hat jedes Periodensystem seine Grenzen, glauben Sie mir.” Als die Mitarbeiterin mit den Augen zu rollen begann, war Fabienne kein bisschen verunsichert. Sie stellte keck die nächste Frage in den Raum: „Aber ist es nicht so, dass bei der ersten Bevölkerungswelle auf Earth 2 über fünfhundert Menschen schlagartig gestorben sind, weil sich eine Substanz in der Lunge festgesetzt hat, die die Menschen ersticken ließ?” Das aufgesetzte Lächeln der Mitarbeiterin war schlagartig verflogen.

„Die Substanz, von der Sie sprechen, gibt es auch auf der Erde. Es kam zu einer unerwünschten Reaktion der im menschlichen Organismus lebenden Bakterien mit der bekannten Substanz. Diese Ausnahmesituation hätte eindeutig vorhergesehen werden müssen. Es war menschliches Versagen.”

Fabienne musste schnauben: „Danke, das tröstet mich nun ungemein, da die Entscheidung, hier ungeschützt rauszugehen, ebenfalls von Menschen getroffen wurde.”

„Miss, ich glaube, wir kommen hier nicht weiter. Wenn Sie uns kein Vertrauen schenken wollen, beantragen Sie beim Captain eine Sondergenehmigung für eine Sauerstoffmaske.” Und genauso hastig, wie die Mitarbeiterin vorher an Fabienne vorbeigeschritten war, war sie schon in der Schleuse nach draußen verschwunden, die Fabienne nun auch passieren musste, wenn sie rechtzeitig zur Schicht erscheinen wollte.

Augen zu und durch, dachte Fabienne. Was bleibt mir anderes übrig? Zum Captain zu gehen für eine Sondergenehmigung kam nicht infrage. Sie wollte so wenig aus der Reihe tanzen wie möglich, denn immerhin war sie nur über Beziehungen an Bord gekommen und nicht wegen Spezialkenntnissen, wie alle anderen auf diesem Schiff. Das war eindeutig unangenehm genug. Vor allem die Tatsache, dass sie sich hier in dem Umfeld mit anderen unterhalten musste und sich nicht so leicht aus der Affäre ziehen konnte, wenn es darum ging, was ihr Beruf war und ihre künftige Aufgabe auf Earth 3 sein sollte. Sie hatte nämlich keine.

Sie holte tief Luft, als würde das einen Unterschied machen und schritt durch die letzte Schleuse. Im ersten Moment wurde Fabienne nur geblendet. Zwei Sonnen am Himmel, der in verschiedenen violetten Nuancen wie ein gerührter Fruchtjoghurt wirkte. Weiße Wolken zierten die unendlichen Weiten, genau so, wie es sie früher auf der Erde gegeben hatte. Als sie dann zu Boden sah, entdeckte sie rotbraunen Sand, der fein, aber stabil unter ihrem Gewicht knirschte. Nachdem Oben und Unten inspiziert waren, kam das Geradeaus. Die Aussicht war atemberaubend und genau bei diesem Stichwort ertappte Fabienne sich dabei, dass sie ihre Lippen fest zusammengepresst hatte und die Luft anhielt. Sie hatte noch immer keinen einzigen Atemzug getan, daher nahm sie allen Mut zusammen, entkrampfte ihre Finger und ließ es zu. Die Luft wurde über ihre Nase in die Lunge gesaugt und weitläufig in dem Kreislauf ihrer Adern im Körper verteilt – jetzt gab es kein Zurück mehr.

 

 

Da stolzierte er wieder. Kaum hatte er die Beförderung erhalten, strotzte er nur so vor Ego. Oder besser gesagt – noch mehr. Condoleezza sah Lieutenant Colonel Charnsten zielsicher an ihr vorbeischreiten. Zuerst glaubte sie, er würde sie weiterhin wie Luft behandeln, aber nur eine Sekunde später drehte er sich zu ihr und fuchtelte mit ausgestrecktem Finger in ihre Richtung: „Ich schätze, da ist wohl eine Entschuldigung fällig, nicht wahr?”

Sie biss sich auf die Unterlippe, denn in Wahrheit hatte sie nur Lust, ihn anzuschnauzen. Sie mochte ihn noch immer kein bisschen, zumal sie das Gefühl nicht loswurde, er wäre eine verdammt fiese, falsche Ratte. Doch solange sie es nicht beweisen konnte …

„Lieutenant Colonel, Sir, ich darf Sie für Ihre Beförderung natürlich beglückwünschen und mich für meine nicht nachweisbaren Behauptungen entschuldigen.” Condoleezza bemühte sich, es echt wirken zu lassen, obwohl allein ihre Unsicherheit in der Stimme sie verriet.

„Das ging runter wie Öl, Co-Captain. Es geht ja, wenn Sie wollen.”

Wenn er ihr nun noch dieses verdammte Grinsen entgegenbrachte und vielleicht ein Zwinkern, dann würde sie explodieren und über ihn herfallen.

Bestimmt! Und da war es: das Lächeln, das Zwinkern und ihre Reaktion – Null!

 

 

„Irgendwie finde ich das lustig. Ich meine, wer hätte das gedacht? Noch vor einer Woche waren wir im Tiefschlaf und hätten uns wahrscheinlich auf normalem Weg gar nicht kennengelernt und jetzt? Jetzt räumen wir ein Zelt ein, in dem wir zusammenwohnen wie in einer Wohngemeinschaft – ist das nicht völlig irre?” Marissa schmiss ihr ein Kissen entgegen, um ihre Aufmerksamkeit zu erzwingen. Doch Fabienne stand am Eingang ihres Zeltes und konnte nur staunen, staunen und nochmals staunen. Es ist beeindruckend!

„Hast du so was schon einmal gesehen? Ich meine WIRKLICH gesehen, mit deinen eigenen Augen?”

„Was meinst du? Einen Wald oder besser gesagt einen Dschungel? Ja, schon ein paar Mal. Du weißt doch, durch meinen Job komme ich viel herum. Aber ich muss gestehen, selbst auf Earth 2 habe ich noch nicht solche Urwaldriesen gesehen.”

Marissa stand neben ihr und sie bewunderten beide die Bäume, deren Äste so weit in den zartvioletten Himmel ragten, dass sie die Baumwipfel nicht sehen konnten.

„Ich würde so gerne dort hineingehen und die Oberfläche der Bäume berühren; riechen, ob sie an Holz erinnern und ob der Boden unter einem knistert wie Herbstlaub.”

„Aber, hallo! Da ist wohl die Abenteurerin in dir wach geworden”, zog sie Marissa amüsiert auf.

„Ich meine ja nur. Wie oft bekommt man die Chance, auf einem fremden Planeten zu stranden?”, murmelte Fabienne.

„Wahrscheinlich genauso oft wie auf einer einsamen Insel mit lauter heißen Männern.”

Fabienne musste auf diese Bemerkung hin lachen. Schließlich konzentrierte sie sich wieder auf die Bäume. Ihr Zelt war nur zehn Meter vom Dschungel entfernt und der Reiz, rüberzugehen und einen grauen Baum, der in violette, netzartige Adern gehüllt war, aus der Nähe zu betrachten, war verführerisch groß.

 

 

Condoleezza stand neben der Einstiegsschleuse des Schiffs und beobachtete, wie reihenweise Äste und Stämme von ernannten Hilfsarbeitern herangetragen wurden. Die Urwaldriesen zu fällen war schwieriger gewesen als zunächst gedacht, da das Holz viel härter ausfiel und die netzartigen Verbindungen an der Oberfläche der Bäume eine Schutzhülle darstellten, die über die Wurzeln hinweg fortlief. Condoleezzas Blick verfolgte das rätselhafte Gewebe bis zu den Blättern. Auch diese besaßen die Struktur, als würde der Lebenssaft wie über Adern eines menschlichen Körpers verteilt werden. Nur mit dem Unterschied, dass kein Pulsieren oder Pochen zu vernehmen war.

Ist es womöglich ein Parasit, ein trittbrettfahrender Organismus?, rätselte sie.

Als gerade ein Laborassistent an ihr vorbeilief, hielt sie ihn mit einem geschickten Griff am Oberarm fest: „Entschuldigen Sie, hat sich jemand diese violetten Tentakel auf den Bäumen unter dem Mikroskop näher angesehen?”

Er nickte hektisch und fixierte sie mit geweiteten Augen: „Soviel ich weiß, ja. Wie es aussieht, ist dieses Gewebe in allen Strukturen des Planeten vorzufinden. Sogar im Erdreich! Es verbindet alle Pflanzen mit dem Boden und auch untereinander.” Der Assistent wirkte geschmeichelt, da er es genoss, von jemandem als Informationsquelle genutzt zu werden.

„Und hat man herausgefunden, wozu diese Verbindungen dienen?”, bohrte Condoleezza weiter.

„So ganz sicher sind sich die Wissenschaftler nicht, aber eines wissen sie mit Bestimmtheit: Es ist keine ausschließliche Nahrungsversorgung, dafür sind zu viele Nervenbahnen in der Struktur gefunden worden.”

In Condoleezzas Kopf begann es zu rattern. „Aha. Danke, Sie können wegtreten.” Das alles schrie nach Vorsicht.

 

 

Eigentlich war Fabienne in einer halben Stunde zum Kochdienst mit Marissa eingeteilt, aber die Neugier war einfach zu groß. Sie schlich hinter ihr Zelt, welches als letztes in dem halbmondförmigen Verlauf stand, zum nächstgelegenen Stamm und verharrte kurz. Sie blickte sich um. Keiner schien sie zu beobachten und auch kein alarmierendes Geräusch war zu vernehmen. Doch dann konnte Fabienne ihre Finger kaum im Zaum halten. Ganz langsam führte sie ihre Handfläche in Richtung Oberfläche des Urriesen, dessen Stamm nicht mit tiefen Furchen in der Rinde versehen war wie auf der Erde. Im Gegenteil, er war völlig glatt. Fabienne wusste, wie unvernünftig es war, diese Erfahrung ohne einen Schutzhandschuh zu tätigen, aber sie konnte der Versuchung einfach nicht widerstehen. Endlich war der Augenblick gekommen und ihre Haut berührte das fremde Gewächs. Die Oberfläche fühlte sich kühl und spiegelglatt an, bis auf die netzartigen Verstrebungen, die sie an das Muster einer Giraffe erinnerten. Sie waren leicht erhaben und es hatte den Anschein, als wären sie wärmer als der Rest.

Aber vielleicht bilde ich mir das nur ein.

Ein breites Grinsen spielte auf ihrem Gesicht, denn es war schier atemberaubend. Und ja, irgendwie hatte Trevors und Marissas Meinung so gesehen ihre Richtigkeit. Dieses Gefühl elektronisch zu erzeugen wäre beinahe ein unmögliches Glanzstück. Aber wer sagte denn, jetzt, wo sie es selbst erleben durfte, dass sie dieses Geschenk nicht für andere festhalten konnte?

Als Fabienne nun beide Handflächen über den Baum streichen ließ, blieb sie an einer feuchten Stelle kleben und zog sie instinktiv zurück. Sie sah sich interessiert die Ursache an, bei der es sich um Flüssigkeit handelte, deren Austrittsstelle ein abgesägter Aststumpf war. Das Netz war an mehreren Stellen unterbrochen worden und … blutet diese Vegetation etwa? Fabienne sah sich die violetten Rückstände auf ihrem Finger an und wischte sie angewidert an ihrer Hose ab. Harz hatte eindeutig eine andere Textur. Nochmals streckte sie ihre Kuppen in Richtung des abgesägten Astes …

„Das würde ich an deiner Stelle besser sein lassen. Du willst doch nicht, dass ich dich melde, oder?”

Fabienne erschrak, sprang panisch zur Seite und landete direkt auf Trevors Fuß. „Oh, Sh… Sorry. Das wollte ich nicht!”, japste sie ihm entgegen.

„Dein Fliegengewicht habe ich nicht einmal gespürt. Trotzdem, du hast hier nichts verloren, also mach mir keine Schwierigkeiten, okay?” Mit hochgezogenen Augenbrauen und amüsiertem Ausdruck blinzelte Trevor sie an.

„Du wirst mich doch nicht verpfeifen, oder?” Fabienne ärgerte sich innerlich, ertappt worden zu sein, denn in ihr schrie das Gewissen: Hab ich’s dir nicht gesagt?!

Trevor nahm ihr Kinn plötzlich zwischen zwei Finger und blickte ihr tief in die Augen, was sie perplex erstarren ließ. Wann hatte sie ihm Anzeichen gegeben, dass er sie ungehindert jederzeit anfassen durfte? Doch seine Größe und merkwürdigerweise auch diese Montur waren respekteinflößend.

„Dieser kleine Ausflug bleibt ein Geheimnis zwischen uns beiden. Keine Sorge, du kannst mir vertrauen.” Er zwinkerte ihr zu und ließ dann von ihr ab, als sei nichts geschehen und diese Art Annäherung nicht erwähnenswert. Fabienne stieg hastig an ihm vorbei, um der unliebsamen Situation zu entrinnen, als Trevor sie abrupt am Unterarm festhielt: „Ach ja, was weißt du eigentlich von der ganzen Geschichte unseres Absturzes? Wo warst du zu dieser Zeit?” Fabienne kam der abrupte Themenwechsel merkwürdig vor. Sie drehte sich auf dem Fersenabsatz um und visierte ihn skeptisch an.

„Wow, du siehst mich gerade an, als würde ich dir vorwerfen, dass du etwas

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Celeste Ealain
Bildmaterialien: Celeste Ealain, Marie Graßhoff
Cover: Celeste Ealain, Marie Graßhoff
Lektorat: Zoe Glod
Tag der Veröffentlichung: 20.11.2019
ISBN: 978-3-7487-3085-9

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