Leseproben
by
Tauche ab in meine Welt
und bleib,
wenn sie dir gefällt!
Düsterer Fantasyroman, Freundschaft, Manipulation, übersinnliche Fähigkeiten, Verrat, Fluch,
erschienen Juli 2023
Als eBook, Taschenbuch und Hardcover in allen Onlineshops und Buchhandlungen erhältlich!
ISBN: 978-3-347-86864-9 (Softcover), ISBN: 978-3-347-86865-6 (Hardcover)
Klappentext:
Was, wenn dich jemand hören, sehen und fühlen lassen kann, wie er es möchte? Was, wenn er deine Realität bestimmt, nur um an sein Ziel zu gelangen?
Keiner ist ihm gewachsen. Nach Belieben manipuliert Kilian Menschen und vernebelt ihren Verstand. Er ist skrupellos, egoistisch, übernatürlich.
Doch seine Gier macht in unvorsichtig. Als er genau an die Person gerät, die man sich besser nicht zum Feind macht, nimmt seine Erfolgsstory ein jähes Ende. Es beginnt mit ihrem Erscheinen. Ein Lächeln, eine Unterhaltung und dann bricht die Hölle los. Seine dunkle Vergangenheit legt sich über ihn und droht, ihn zu verschlingen. Ihm verbleibt nur wenig Zeit.
Wird er über sich hinauswachsen oder an seinem Fluch zugrunde gehen?
Ein Fantasyroman, der zeigt, wie Ignoranz und rücksichtsloses Verhalten zum Bumerang werden können!
Der Lauf der Schusswaffe war auf ihre Schläfe gerichtet und ihre Stimme erstickte unter der übergroßen Pranke des Handlangers. Kilian sah in ihre verzweifelten, von Mascara verschmierten und mit Tränen gefüllten Augen. Ihr sich rasch hebender Brustkorb sprach Bände. Er wusste, sie würde erwarten, dass er auf das Anliegen des Trios einging, das sie beide in ihrer Gewalt hatte. Wie ein Häufchen Elend saß sie zwischen den sehnigen Beinen des jungen Helfers, gegeißelt durch ein stetiges Zittern, und fixierte Kilian, ohne ein einziges Mal zu blinzeln. Er selbst wurde von dem Bodybuilder unter ihnen in die Mangel genommen und war mit dem Anführer des Trupps konfrontiert.
Die kleine, wohl sonst so gemütliche Wohnung wirkte bedrohlich und düster, allein durch die Präsenz dieser finsteren Gestalten, deren Aura Kälte und Dunkelheit säte. Diese tödlich wirkende Stille wurde nur durch seinen eigenen gehetzten Herzschlag übertönt.
Trotz der scheinbar aussichtslosen Situation war Kilian nicht bereit, den Angreifern ihren Willen zu lassen. Zu oft war er bedrängt und unter Druck gesetzt worden. Außerdem kannte er seinen Wert. Daher hob er selbstbewusst sein Haupt, das bereits von den kassierten Schlägen dröhnte, und antwortete mit kontrollierter Stimme: »Das könnt ihr vergessen, ich werde nie wieder ein Ding mit euch drehen. Und was euer verschollenes Diebesgut angeht … Das interessiert mich nicht. Selbst Schuld, wenn ihr nicht auf eure –«
Ein gekonnter Fausthieb in die Magengegend, der ihm die Luft aus den Lungen presste, unterbrach seinen Redefluss jäh. Er krümmte sich nach vorn, der Schmerz explodierte in seiner Mitte und breitete sich im ganzen Körper aus. Speichel sammelte sich in seinem Mund und Tränen des Leides und der Wut traten ihm in die Augen, als er in sich zusammensackte und unsanft auf den Knien landete. Seine Hände blieben durch einen festen Griff hinter seinem Rücken fixiert. Seine Schulter meldete sich mit einem stechenden Schmerz – bei dem Zusammenbruch war sie fast ausgekugelt worden. Alles, was er noch zustande brachte, war ein unkontrolliertes Husten.
Er spürte, wie sich eine starke Männerhand in sein Haar krallte und seinen Kopf ungeduldig drehte; nun blickte er direkt in das Gesicht des Anführers, der nur wenige Zentimeter vor ihm lauerte und vor Wut kochte. »Kevin, ich warne dich. Verkauf mich nicht für blöd …« Der ukrainische Akzent schnitt die Worte in Einzelstücke und sein Atem war mit kaltem Zigarettenrauch durchdrungen. Kilian wollte die Zeit, als er noch bei seinem alten Namen gerufen worden war, nur verdrängen. Ihm blieb allerdings nichts anderes übrig, als in diese eiskalten Augen zu starren. Nicht der kleinste Hauch eines Zweifels, nicht die geringste Spur von Wankelmut war darin zu lesen. Nur schwer konnte Kilian kaschieren, wie groß seine Furcht war, die sekündlich anschwoll.
Ich muss hier raus – um jeden Preis, und das sofort!
Der Anführer schritt gelassen zu einer Kommode im Raum, auf der mehrere eingerahmte Fotos standen, und studierte diese konzentriert. Die transparenten, beigefarbenen Gardinen sandten gedämpftes Tageslicht über seinen Körper, sodass sich mystische Schatten um ihn wanden. Zielsicher griff der bullige Kerl nach einem der Silberrahmen, der das Bild eines schlafenden Kindes enthielt. Während der beinahe kahl rasierte Hüne seinen Blick auf dem festgehaltenen Moment ruhen ließ, fuhr er fort: »Ich würde sagen, wir kennen uns lange und gut genug, um zu wissen, dass deine Fähigkeiten dir einen leichten Zugang zu unserem Vorrat verschaffen könnten, und zwar jederzeit. Ich verstehe nicht, warum du das nötig hattest, wo wir doch eine – meines Erachtens – faire Aufteilung der Ware vereinbart hatten. Was hat dich also dazu bewogen, die Hand zu beißen, die dich füttert?« Ohne dass der Sprecher seine Finger von dem Foto löste, fixierte er Kilian mit einem Blick, der sich direkt in ihn hineinbohrte. Er war so stechend, dass man Mühe hatte, ihm nicht auszuweichen. Die stahlblauen Augen erinnerten zusammen mit der spitzen, langen Nase an das Antlitz eines Greifvogels.
Hinter sich vernahm er das gedämpfte Wimmern, was die Unruhe in seinem Inneren noch schürte.
»Mit Betonung auf deines Erachtens. Wenn ich dich erinnern darf, wärt ihr ohne mich nie ungesehen so nah an die Objekte herangekommen«, spuckte er dem Anführer verächtlich entgegen, als würde er keine Furcht kennen, selbst wenn ein nervöses Zucken durch seine Knie schnitt. Doch Kilian konnte hoch pokern, denn er wusste, der Anführer würde ihm niemals nach dem Leben trachten. Dafür schätzte er sein Talent viel zu sehr. In dieser Hinsicht war er als Wunderknabe unerreicht und es gab keinen auch nur annähernd vergleichbaren Ersatz für ihn. Womöglich war er, was seine Fähigkeiten betraf, sogar einzigartig auf dieser Welt.
Wutentbrannt schmetterte der Anführer den Bilderrahmen zu Boden. Das Glas zersprang in tausend Scherben und wurde im gesamten Zimmer verteilt. Die winzigen, glänzenden Splitter spiegelten Kilians erstickte Furcht wider, die bis in seine letzte Zelle vorgedrungen war.
»Du verdammtes Arschloch! Du lebst wohl gern gefährlich?!« Mit nur einem Satz war der grobschlächtige Typ bei der wimmernden Frau und packte sie am Genick. Schlagartig verstummte sie und ihre schreckgeweiteten Augen wurden allgegenwärtig.
Der junger Komplize, dessen Finger für gewöhnlich eher über die Tasten eines Computers flogen, war rasch aus dem Weg gesprungen. Nun hielt er die Waffe auf Kilian gerichtet, indes sein Boss die Frau mit nur einer Hand am Hals packte und anhob. Ihre Füße zappelten einige Zentimeter über dem Boden. »Wenn ich dir schon keine Loyalität eintrichtern kann, werde ich mich wohl nun an deiner Kleinen vergehen müssen. Mal sehen, wie dir das schmeckt, alter Kumpel!«
Kilian beobachtete, wie die Gegeißelte mit beiden Händen vehement gegen den Druck an ihrem Hals ankämpfte. Wieder suchte sie seinen Blick, doch diesmal stand neben der Verzweiflung noch ein großes Fragezeichen in ihren Augen.
»Tu – doch endlich – was!«, krächzte sie.
Er hatte einen kurzen Flashback, der ihn in einen Moment zurückwarf, in dem seine Fingerkuppen zärtlich über exakt diese weiche Haut an ihrem Hals geglitten waren. Eine Erinnerung, in der er kaum erwarten konnte, seine Lippen auf die ihren zu legen. Der unvergessliche Duft ihres Haares nach Vanille und der süßliche Geschmack, der sich ungehindert auf seiner Zunge entfaltet hatte, waren noch in diesem Augenblick wahrnehmbar. Allem voran dieser tiefe, innige Wunsch, dass sie ihm gehören sollte. Ihm allein, für immer.
Aber der zaghafte Traum zerplatzte, als hätte sich eine Ladung Eiswürfel in Tennisballgröße über ihm entladen. Kilian wurde brutal aus dieser längst verdrängt geglaubten Szene herauskatapultiert und sah die Situation, in der er sich befand, mit absoluter Klarheit.
Jegliche Emotionen waren wie weggespült. »Töte sie, sie bedeutet mir nichts.«
Drei Wochen zuvor
Buffalo, New York, Vereinigte Staaten
Kilian betrachtete sein Spiegelbild, während er sich sein sündhaft teures Oberteil zuknöpfte. Seine Hemden waren immer dunkel gehalten, um die große Tätowierung in Form von Flügeln am Rücken zu kaschieren – ein Überbleibsel einer längst vergangenen Realität. Er beäugte penibel die gemusterten Innenseiten des Kragens sowie der Knopfleiste und fädelte seine goldenen Manschetten durch die Knopflöcher an den Handgelenken. Das Marineblau harmonierte perfekt mit dem weinrot-weiß gestreiften Design. Ein wenig musste er schmunzeln in Anbetracht dessen, dass er noch vor sieben Jahren in zerrissenen Jeans und verblichenen T-Shirts die Highschool besucht hatte. Die Worte seines Vaters hallten ihm unentwegt in den Ohren: »Aus dir wird niemals etwas werden! Du bist und bleibst ein Taugenichts!« Vor allem der Ausdruck, der seinem Ernährer bei diesen geringschätzenden Worten ins Gesicht geschrieben stand, hatte sich in seiner Gehirnrinde festgesetzt wie ein Bazillus. Egal wie gut seine Noten gewesen oder wie herausragend seine Arbeiten in dessen Tischlerei auch abgeliefert worden wären, es hätte nie gereicht, um in der Gunst seines Vaters zu steigen. Und obwohl es nicht mehr schmerzen sollte, tat es das noch immer.
Kilian schob den schwarzen Ledergürtel mit dem silbernen Emblem einer Nobelmarke durch die Hosenführung, während er an seine Schulzeit dachte. An all die Mitschüler, die hinter ihm getuschelt und ihm Streiche gespielt hatten, nur um ihn in Schwierigkeiten zu bringen. Jedes Mal hatte er den Kopf hinhalten und die Strafen dafür kassieren müssen. Sei es von seiner Lehrerin, dem Rektor oder gar seinem Vater. Und das scheinbar nur, weil er durch seine Andersartigkeit das perfekte Opfer abgegeben hatte. Vielleicht auch, da er ohne Mutter aufgewachsen war, da diese im Kindbett qualvoll verstorben war. Sie konnte zu diesen Geschehnissen keine Meinung mehr abgeben, selbst wenn Kilian sich einredete, dass wenigstens sie zu ihm gestanden hätte.
Noch immer fragte er sich insgeheim, woran es lag, dass er keinen Anschluss gefunden hatte. War es seine unscheinbare, zierliche Statur gewesen, die sich mittlerweile als recht athletisch und vorzeigbar präsentierte? Oder war es die Zweifarbigkeit seiner Augen, die blasse Haut, sein zurückhaltendes Wesen? Ob dieses Grübeln, von dem er sich nie ganz befreien konnte, irgendwann zu einem Resultat führen würde, war fraglich und im Endeffekt konnte es ihm egal sein – scheißegal. Doch sein Gemüt gab ihm keine Ruhe.
Er griff nach dem schwarzen, maßgeschneiderten Blazer und zog ihn sich über, während er sein Antlitz fixierte. Sein Friseur hatte wieder gute Arbeit geleistet. Sowohl die seitlichen Partien als auch sein Hinterkopf waren sehr kurz gehalten, wogegen sein Deckhaar die leichte Lockenpracht zum Vorschein brachte, die er locker gewachst in Form stylte. Die schwarzen Strähnen bildeten einen starken Kontrast zu seinem Gesicht, obwohl er mittlerweile regelmäßig mit der Sonnenbank nachhalf. Noch vor wenigen Wochen hatte er blond gefärbtes, schulterlanges Haar getragen, das einfach zu auffällig gewesen war. Inzwischen war er das Verreisen und Hineinschlüpfen in neue Rollen gewohnt und sogar meisterhaft darin geworden. Zumindest hatte es ihn diesmal nicht so weit in die Fremde verschlagen wie sonst.
In Gedanken versunken fuhr er sich über den Dreitagebart und zog die Einladung nochmals aus der Innentasche seines Blazers. Auf edlem Pergament war in goldenen Lettern sein Name festgehalten:
Karl Dearing
Ein Name, den er wie so viele andere in jedem neuen Lebensabschnitt angenommen hatte. Jedes Mal, wenn er sich eine neue Persönlichkeit kreierte, war es wie ein Neuanfang nach einer kleinen, mittleren oder großen Katastrophe. Eine Existenz, die er im Keim erstickte, um wie eine Pflanze von Neuem durch die Erdkruste zu brechen und ebenmäßig die Blätter zu entfalten.
Kilian zerknüllte das exquisite Papier in der Hand. Unter diesem Namen konnte er leider nicht mehr auftreten, immerhin lief seine aktuelle Wohnung unter Keith Rolands. Diesmal hatte er die Initialen K und R gewählt – von dem Anfangsbuchstaben seines Vornamens hatte er sich allerdings nie trennen können.
Kilian schritt fertig gekleidet zur imposanten Glasfront seines Penthouses im einundzwanzigsten Stockwerk und betrachtete seine neue Heimatstadt. Die Sonne schickte die letzten Strahlen über den Eriesee in Buffalo und ließ das Farbenspiel des Himmels auf der glatten Wasseroberfläche tanzen. Durch die fast rahmenlosen Fenster entstand der Eindruck, als würde er direkt danebenstehen und die kühle Brise des beginnenden Frühlings inhalieren können.
Melancholisch strich er über das weiche Material seines Hemdes. Er liebte diesen Ausblick und die Tatsache, dass er jenen Ort zur Niederlassung erwählt hatte, der in Amerika am weitesten von seinem Geburtsort entfernt lag. Eigentlich hatte er alles, was er sich je erträumt hatte: Geld, Zugang zu den wichtigsten Veranstaltungen, Freizeit, um sich sportlich zu verausgaben, interessierte Geschäftspartner sowie Investoren, ausreichend Sex mit außergewöhnlichen Schönheiten … Und dennoch wollte all das, was er sich sein Leben lang ersehnt hatte und was ihm seinen Erfolg deutlich vor Augen führte, die unerbittliche Leere in seinem Inneren nicht füllen. Diese Einsicht ließ Gevatter Kälte die Finger gierig nach ihm ausstrecken. Sie fuhren seinen Rücken hinab und verursachten ihm Gänsehaut. Ein eindeutiges Zeichen, dass es Zeit war, aufzubrechen und diesem Gefühl der Einsamkeit zu entrinnen.
Rasch schnappte er sich seine Rolex, die auf dem mondänen Beistelltisch im Wohnzimmer lag, und verließ eiligen Schrittes sein exklusives Appartement.
Kilian spazierte die Perry Street entlang und erfreute sich an den Auren der Menschen um sich herum, berührte und inhalierte sie. Es benötigte nur den Bruchteil einer Sekunde, um das beklommene Gefühl abzustreifen und sich wieder in seinem Metier zu fühlen. Das war eindeutig seine Welt – inmitten der unbeteiligten Individuen, die alle nur ihr Ziel im Auge hatten und hektisch darauf zusteuerten. Unbekannte Gesichter, alle mit ihren ganz persönlichen Träumen und Ängsten, einzigartigen Geschichten und Schicksalen, die sie geprägt hatten. Nur wenige unter ihnen schlenderten gemächlich und genossen die angebrochene Nacht, in der die Lichter der Stadt funkelten, die die Dunkelheit zurückdrängten. Eine kühle Brise zog durch die Gassen. Ein Hauch Glamour hing in der Luft, der ihm von den Pärchen entgegenwehte, die sich zum Ausgehen in Schale geworfen hatten und so wie er auf einen feuchtfröhlichen Abend aus waren.
Kilian musste schmunzeln, denn dieses innere Kitzeln kam wieder zum Vorschein. Das Verbotene war einfach zu verlockend und selbst wenn er wusste, dass dies nicht der richtige Ort dafür war, gab er der Versuchung nach. Es war unvermeidbar, der Reiz war zu groß. Er richtete den Blick auf eine der schick gekleideten Damen, die ihm entgegenkamen, und fixierte sie. Wie gewohnt schien es ihr unmöglich, ihre Augen von seinen zu lösen. Er konzentrierte sich auf ihre Umgebung, ohne den Fokus zu verlieren, und ließ die Konturen um sie herum verschwimmen. Er tauchte sie in eine andere Dimension, sodass ihre Wahrnehmung getrübt wurde. Nun war er es, der steuerte, was sie sah. Diese Gabe hatte er mittlerweile so perfektioniert, dass es bei ihm kaum noch Kopfschmerzen oder gar Nasenbluten hervorrief. Vor allem, wenn es sich nur um die Manipulation einer einzigen Person handelte. Durch die Fähigkeit, die Realität auszudehnen und in die Wahrnehmung eines Menschen Dinge zu schieben, die eigentlich nicht da waren – oder etwas verschwinden zu lassen, was eindeutig eben noch greifbar schien – konnte er wie ein Zauberer Wunder kreieren. Daher war es nachvollziehbar, dass die hübsche Blondine plötzlich die Lider ungläubig aufriss, ihr Unterkiefer aufklappte, sie wie von der Tarantel gestochen auf ihn zustürmte und aufkreischte: »O mein Gott! Tom Cruise! Ich fasse es nicht! Ich, ich, ich war schon immer ein großer Fan. Darf ich bitte ein Autogramm haben?« Ihre Begleiterinnen rümpften die Nasen und verstanden die Welt nicht mehr. Sie sahen auch nicht, was er seinem Opfer in dieser nur für sie kreierten Realität suggerierte. Sie sahen nur einen durchschnittlichen, wenn auch adrett gekleideten Nobody vor sich.
Kilian schloss genüsslich die Augen und sog das Bouquet aus Düften, das jedem Mann die Sinne geraubt hätte, tief ein und fühlte den warmen, wohl geformten Körper der jungen Schönheit, die sich dicht an ihn geschmiegt hatte. Als er die Lider wieder öffnete, sah er, wie sie ihn anhimmelte und ihm ein strahlendes Lächeln schenkte. Genau das fütterte eben jene Sucht, der Kilian eindeutig erlegen war. Er holte sich das, was ihm die Gesellschaft, seine Umgebung und seine angeblichen Freunde sowie die eigene Familie verweigerten: Aufmerksamkeit. Aufmerksamkeit, die ihm seines Erachtens zustand, und das en masse.
Er zog schmunzelnd einen Mundwinkel in die Höhe, während er lässig sein Haar zurückstrich. Galant zückte er einen Montblanc-Füller aus seinem Blazer und raunte süffisant: »Wo möchte die Lady es denn haben?«
»Brittany, bist du völlig durchgeknallt? Das ist überhaupt nicht Tom Cruise!«, fauchte eine ihrer Freundinnen, die sich in ihren Ellenbogen einhakte und sie peinlich berührt von ihm wegzog.
Andere Passanten kicherten unverhohlen, gingen aber rasch wieder ihren gewohnten Weg, da die interessante Szene frühzeitig aufgelöst worden war.
Kilian feixte in sich hinein. Auch wenn er diesen Augenblick mit der blonden Schönheit genossen hatte, störte es ihn kein bisschen, dass die Ladys weitergezogen waren – im Gegenteil. Dafür hatte niemand sein eigentliches Ziel erkannt, welches nun sicher in der seidenen Innentasche seines Blazers verwahrt war. Die offenbar gut betuchte Dame hatte nämlich ein sehr ansehnliches, goldenes Brillantarmband am linken Armgelenk getragen, das er ihr – so abgelenkt, wie sie gewesen war – mühelos hatte abnehmen können, ohne dass irgendjemand davon Wind bekommen hatte. Und dies, obwohl er es genau genommen nicht nötig hatte, denn er hatte Geld ohne Ende. Dennoch war es immer ein mächtiges, überwältigendes Gefühl, Menschen, die ihn kaum wahrnahmen, hinters Licht zu führen. In dem Punkt konnte er froh sein, dass er keiner jener Männer war, die eindeutig im Gedächtnis blieben, weil sie auffallend anders oder atemberaubend schön waren. Womöglich hatte die Schöpfung diesen kleinen Makel durch die ihm geschenkte Gabe wettmachen wollen. Warum sollte er diese dann nicht gnadenlos nutzen?
Portland, Bundesstaat Oregon
»Na? Studierst du zum hundertsten Mal die Shadow-Akte? Wenn das der Boss sieht, rastet er aus – und du weißt das«, scherzte Stan, als er hinter Liam zu seinem Schreibtisch ging und sich mit seinem stattlichen Wohlstandsbauch dahinter einfädelte.
»Und weiter?«, zog Liam seinen Kumpel auf. Das Thema hatte einfach schon einen megalangen Bart.
»Ich meine nur, immerhin haben wir genug mit dem Raubüberfall von gestern in der Key-Bank zu schaffen. Warum hast du es dann nötig, Fälle hervorzukramen, die über fünf Jahre zurückliegen?« Stan runzelte die Stirn. »Manchmal muss man es darauf beruhen lassen, dass man nicht jede Akte schließen kann. Mann Liam, dein Ehrgeiz in allen Ehren, aber dieser Egotrip wird uns nur weiteren Ärger einhandeln. Außerdem sind die Einbrüche und Diebstähle passiert, lang bevor du bei uns bei der Oregon State Police aufgetaucht bist – also woher rührt diese Besessenheit?«
Liam kratzte sich mit einem Bleistift am Hinterkopf und runzelte die Stirn. Seine Finger strichen wehmütig über die kleinen Notizen, die ausgebleichten Post-its und die abgegriffenen Fotos, die sich in der Akte befanden. Wie sollte er es erklären, das Gefühl, etwas Essenzielles nicht erkannt zu haben? Eine Gewissheit, die einen in den Wahnsinn trieb, da der Instinkt ganz leise flüsterte: »Sieh’ genau hin, es ist direkt vor deinen Augen … Es ist nicht so, wie es scheint.« Und egal, wie lange diese Verbrechen vergangen waren, sie hatten drei Jahre angedauert und sich von Albany bis nach Portland verteilt. Sie trugen alle das gleiche Muster: Die Beteiligten hinterließen keine Spuren außer Notizen voller Hohn, mit denen sie sich über die lokale Polizei lustig machten. Warum ausgerechnet diese Fälle ihm seit Anbeginn seiner Arbeit als Polizeibeamter keine Ruhe ließen, konnte er sich selbst nicht so recht erklären. Dieser Stapel an Dokumenten und Beweisstücken ließ ihn nicht mehr los, als wäre darin eine imaginäre Schrift verborgen, die ihm einbläuen wollte: Wenn diese Verbrechen gelöst werden können, dann nur von dir.
»Tja, du hast recht. Ich werde mich nicht lang damit aufhalten. Ein kurzer Vergleich der Handschrift mit den Notizen, die ich aus Los Angeles habe, kann allerdings nicht schaden, meinst du nicht?«
Stan wurde offenbar hellhörig. »Du konntest tatsächlich Kopien aus den Akten der L.A.-Cops herauslocken? Wie hast du das denn angestellt – etwa blankgezogen?«
Liam blickte zu seinem leicht rundlichen Kollegen, der sich bereits das dritte Croissant reinstopfte, obwohl die Frühstückszeit schon längst vorüber war. Ungalant wischte er sich die fettigen Überreste auf den Fingern beiläufig an seinem verfilzten, dünnen Pulli ab. Die rostfarbenen Haare standen ihm zu Berge, wobei nicht zu beurteilen war, ob sie nur so aussahen, weil er sie die letzten Tage nicht gewaschen oder weil er sie heute Morgen genau so neu in Form gebracht hatte. Das Schmatzen durchbrach die Stille und Liam musste schmunzeln.
»So in etwa. Ich nehme einfach an, dass sie sich endlich haben weichklopfen lassen, immerhin konnten sie die Fälle bisher auch nicht abschließen. Vielleicht nehmen sie an, dass, obwohl diese Einbrüche nicht dem Einsatzbereich von Oregon unterliegen, ich ihnen auf die Sprünge helfen könnte. Reiner Nachbarschaftsdienst sozusagen.« Liam formte Anführungszeichen in die Luft, da Los Angeles alles andere als ums Eck lag, und zwinkerte Stan verschmitzt zu.
Sein Kollege massierte sich genüsslich den Bauch, aber die Neugierde stand ihm eindeutig ins Gesicht geschrieben. »Na, spuck’s schon aus, sind die Schriften identisch?«
Liam nahm die beiden Beweisstücke aus der Mappe und rollte mit dem Bürostuhl zur Tischplatte seines Kollegen, um die Blätter vor ihm zu platzieren. »Ta-da!«
Stan scannte die filigrane Handschrift auf den Zetteln. Das geschulte Auge verglich penibel die Führung, das Absetzen des Stiftes, die Schnörkel der Hs und Gs sowie die Größe und den Abstand der Buchstaben, bis sich seine Pupillen weiteten.
»O Mann … Da gibt es wirklich keinen Zweifel! Du bist ein absolutes Genie! Nun können die Kollegen einpacken und wir übernehmen deren Bude.« Theatralisch fuchtelte er mit den Händen herum. »Jetzt, wo wir das endlich geklärt haben, können wir uns ja mit dem kleinen Aktenhaufen da drüben beschäftigen.« Mit einer grazilen Handbewegung wies er auf den Dokumentenberg, der auf Liams Schreibtisch nur mit Mühe Balance halten konnte. Der Sarkasmus war fett oben drauf geschmiert und die vereinzelten Sonnenstrahlen, die durch die Lamellen des Bürofensters zärtlich über das Papier strichen, machten es nicht besser.
»Sehr witzig. Es ist immer schön, mit dir zu philosophieren, Stan. Aber danke, ich hab’ den Wink mit dem Zaunpfahl verstanden.« Liam zog die Augenbrauen zusammen und schüttelte den Kopf. Langsam rollte er zu seinem Arbeitsplatz zurück und nahm es seinem Kumpel dennoch nicht übel, denn irgendwann musste wirklich Schluss mit dem Thema sein. Das wusste selbst er.
Im Nebenbüro läutete das Telefon und erinnerte Liam daran, wie Alessia ihn heute Morgen erneut am Hörer gefangen gehalten hatte. Nervös rieb er sich sein linkes Ohrläppchen.
Wann werde ich sie nur endlich überwunden haben?
»Stell dir vor, wen ich heute wieder dran hatte …«, setzte Liam an.
Stan grunzte und blätterte in einer seiner Akten, ohne zu ihm aufzublicken. »Da brauche ich nicht lange zu raten. Entweder ist es eine deiner Liebschaften, der du wie immer klarmachen musstest, dass du keine ernsten Absichten hegst, oder deine Exfrau, die dich erneut um Geld anschnorrt. Ich vermute ja Letzteres.«
Liam strich sich sein hellblaues Diensthemd an der Brust glatt und ging gedanklich nochmal ihre Worte durch. Jedes Mal, wenn er ihre Stimme hörte, löste sie die alte Sehnsucht in ihm aus, als wären die empfindlichen Härchen in seinem Gehörgang nur darauf gepolt. Ungebrochen hatte Alessia diese Macht über ihn, ein Umstand, den er abgrundtief hasste. Einerseits hatte sie ihn so bitter enttäuscht, ihn all seiner Träume beraubt. Andererseits machte er sich nach ihrem Absturz nun vermehrt Vorwürfe und Sorgen. Doch er hatte sich gegen sie entschieden und je eher sie das verstand und von ihm abließ, umso leichter würde es für sie beide werden. Obwohl er tief in seinem Innern noch Gefühle für sie hegte, wollte er nichts mehr mit ihr zu tun haben und endlich mit diesem Kapitel abschließen, um vielleicht ein neues beginnen zu können. Er wäre bereit, nach vorn zu blicken und einer neuen zukunftsträchtigen Partnerschaft eine Chance zu geben. Doch sie ließ ihn schlichtweg nicht zur Ruhe kommen.
»Bingo, Alessia hat angerufen – diesmal ausnahmsweise einmal nicht wegen Kohle. Stolz hat sie mir verkündet, dass sie das Sorgerecht nun vollständig zurückbekommt. Sie muss zwar weiterhin zur Therapie gehen und sich regelmäßig auf Kontrollbesuche einstellen, aber sie macht eindeutig Fortschritte.«
Diesmal lag mehr Ernst in Stans Stimme, als er ihn mit gütiger Miene anstierte. »Das freut mich ehrlich für dich, Mann. Es wurde aber auch Zeit. Ich meine, vielleicht schaffst du endlich den Absprung. Du hast so verdammt viele Frauen am Start, dass es schade wäre, wenn du den goldenen Ring nicht erneut verteilst. Würde ich so aussehen, befände ich mich längst bei der Kinderplanung.«
Bei dieser Aussage konnte Liam nur auflachen und schüttelte den Kopf, woraufhin er einen Radiergummi mit vollem Karacho ins Genick geschossen bekam.
»Hey, was gibt es da zu lachen? Ich meine das bitterernst!«
Kilian betrat die heiligen Hallen des Seneca Buffalo Creek Casinos und sofort übermannte ihn die typische Geräuschkulisse vom mechanischen Klicken der einarmigen Banditen, dem Rattern der Rouletteräder sowie den Gesprächen und dem Gelächter der Besucher. Hier in diesem weitläufigen Saal fühlte er sich zu Hause und er blühte auf. Die Spielautomaten waren glänzend poliert und die Mitarbeiter leuchteten in rubinroter und royalblauer Montur um die Wette. Mittig im Empfangsbereich prangte sogar eine von innen beleuchtete Skulptur, die einem lebhaften Tornado nachempfunden war. Dekadenz, so weit das Auge reichte.
Obwohl das Etablissement gediegen und extravagant in der Ausstattung war und die Geschäftsleitung sich bemühte, nur der Upper Class Zutritt zu gewähren, tummelten sich auch Touristen und Menschen, die aussahen, als würden sie hier nicht hergehören, an diesem Ort. Kilian störten diese unliebsamen Besucher hingegen kein bisschen. So konnte er mit Leichtigkeit neue Opfer ausmachen, die seinem Spiel nicht misstrauisch gegenüberstanden.
Er betrat den prunkvollen Hauptsaal, der am Boden mit hellgrauem Marmor ausgelegt war. Die ringsherum an den Wänden angebrachten Spiegel ließen die Halle nochmal größer erscheinen, nur die vergoldeten Säulen im griechischen Stil unterbrachen die Weite. Von der Decke hingen ausladende Kronleuchter, die bunte Reflexionen im Raum verstreuten. Er konnte nicht anders, ein breites Grinsen wanderte über sein Gesicht. Hier war er eindeutig richtig.
Schlängelnd spazierte er zwischen den üppig mit Schmuck behängten Damen, die ihre Dekolletés reizvoll zur Schau stellten, vorbei und beobachtete, wie die galanten Herren mit ihren Pokerchips herumwarfen und diese großzügig an die Croupiers verteilten. Kilians spürte dieses Kribbeln in sich und es juckte ihn förmlich in den Fingern. Voller Vorfreude rieb er sich wie ein Kind die Handflächen und gesellte sich an den ersten Roulettetisch, der ihm unter die Augen kam. Wie ein Adler inspizierte er die Ecken, in denen sich die Überwachungskameras befanden, und wusste, dass die mechanischen Hilfen seine einzigen Feinde waren. Sie zu täuschen, war nahezu unmöglich – mit Betonung auf nahezu. Denn er brauchte nur andere falsch spielen, sie ihre Jetons übersehen oder ihre Einsätze vergessen lassen. Wenn er besonders geschickt war, entschuldigten sie sich sogar bei ihm, da sie glaubten, aus Versehen zu seinem Stapel Spielmarken gegriffen zu haben. Diesen Trick nutzte er jedoch zur Sicherheit nur mit unbesetzten Farben des Plastikgeldes.
Kilian verschob die Ebenen in der Dimension so, dass alle um den Tisch versammelten Personen manipuliert wurden und sie somit in seiner Welt agierten. Diese Manipulation bedeutete höchste Konzentration für ihn, doch sobald die Kameras etwas Merkwürdiges erkennen würden, wäre er bereits über alle Berge. Zusätzlich legte er einen Hauch von Nebel um seine Statur, sodass seine Gesichtszüge und die Kleidung nur schwer auszumachen waren. Selbst mit Bildbearbeitung, Schärfen und Kontrastveränderungen hatten die Beobachter keine Chance. Und diese Macht in sich ruhen zu haben, war so ein verdammt überwältigendes Gefühl, dass er davon nicht genug bekommen konnte. An der Dimensionsblase vorbeischlendernde Personen bekamen von dieser von ihm hervorgebrachten Illusion nichts mit. Sie erkannten nur spielende Menschen, nichts, das Aufmerksamkeit erregte.
In diesem Kokon, den er geschaffen hatte, bewegten sich alle wie in Zeitlupe, was ihm selbst die Möglichkeit gab, besonders schnell zu handeln. Für ihn wirkten die Menschen außerhalb dieser eigens kreierten Blase wie in Rauch gehüllte, farblose Marionetten. Während es in seinem Reich merklich für ihn abkühlte und er das Gefühl hatte, als würde die Zeit an ihm nagen, wurde ihm in Erinnerung gerufen, dass er diese Magie nicht ewig aufrechthalten konnte. Denn sie erforderte sehr viel Energie, Konzentration und einen klaren Kopf. Schon allein kurze Nervosität oder Unsicherheit aufkommen zu lassen, konnte alles zunichtemachen. Er konnte sich keine Fehler leisten.
Doch sein Ehrgeiz trieb ihn voran, er wollte die Grenzen seiner Fähigkeiten um jeden Preis ausreizen. Kilian war stolz darauf, schon lange unentdeckt sein Talent weiterentwickeln und perfektionieren zu können. Lediglich sein Vater hatte ihn eines Tages ertappt. Ein Tag, der sich wie ein Brandmal auf seiner Seele verewigt hatte. Rasch schob er den Gedanken beiseite, denn er verlangte ihm zu viel seiner Aufmerksamkeit ab, die er brauchte, um die Täuschung aufrecht zu halten.
Aus dem Augenwinkel erblickte er eine schwarz gekleidete Frau grazil an den Roulettetisch treten. Irgendetwas an ihr war sonderbar. Sie schritt schneller als die anderen in seiner kreierten Welt. Ihre Haut strahlte in edler Blässe und ihr pechschwarzes, gelocktes Haar reichte bis zu ihrem Gesäß. Die seitlichen Partien wurden in Strähnen nach hinten gehalten und ließen rote Extentions hervortreten, die ihr etwas mädchenhaft Verspieltes verliehen. Was im Gegensatz zu ihrer Präsenz stand. Ihr sinnlicher Schmollmund war durch feuerroten Lippenstift hervorgehoben und lenkte von ihrer auffälligen Augenfärbung und der Tätowierung im Gesicht ab. Erst wenn man genau hinsah, konnte man erkennen, dass sie eine dunkelbraune und eine graue Iris besaß. Durch deren schwarze Umrandung erschien die hellere Augenfarbe so stechend, dass ihm das Herz für einen Schlag aussetzte, da solch eine bedrohende Kälte davon ausging. Die verschnörkelte Zeichnung umschmeichelte ihr linkes Auge – Signa, die wie aus einer uralten, längst vergessenen Zeit entsprungen wirkten und dort für die Ewigkeit hinterlassen worden waren.
Diese Frau zog jeden in ihren Bann und als hätte sie seine Gedanken abgefangen, starrte sie ihn plötzlich durchdringend an. Ihr Blick schien bis tief in seine Seele abzutauchen, was ihm alles andere als willkommen war.
Kilian schluckte geräuschvoll.
Kann sie mich tatsächlich sehen – als das, was ich bin?
Er schloss die Lider und schüttelte diese Eingebung ab wie Ungeziefer.
Das ist unmöglich, du bildest dir das nur ein, Kilian – jetzt reiß dich zusammen!
Als er seine Augen wieder öffnete, legte die aufsehenerregende Schönheit, die Kleidung aus schwarzer Spitze und Seide trug, ihre Jetons auf die rote Dreiundzwanzig des Tableaus und schenkte ihm aus dem Augenwinkel ein kleines Zwinkern. Sein Herz machte einen Satz. Kilian ertappte sich dabei, wie sich seine Atmung beschleunigte und die Handflächen zu schwitzen begannen. Er schüttelte sich innerlich. Statt sich betören zu lassen, wollte er sich lieber auf die Manipulation seiner Umgebung konzentrieren. Daher wandte er sich einer rechts neben ihm stehenden Mitspielerin zu und veranlasste sie – im Glauben, es handele sich lediglich um fünfzig Dollar –, eine beachtliche Menge Jetons auf das Square 10/11/13/14 zu legen. Allein für sie ließ er diese exakte Position aufleuchten, um einen Wink des Schicksals vorzutäuschen. Es sollte eine unwiderstehliche Botschaft darstellen, ihre Münzen genau dort zu hinterlassen. Jene Spieler als Gewinnquellen zu nutzen, die ihm am nächsten standen, hatte sich bisher bewehrt. Und so wählte er auch den Herrn zu seiner Linken und suggerierte ihm, seinen Einsatz auf Schwarz zu platzieren – und zwar gleich zwei gestapelte Säulen, wobei er die zweite umgehend aus seiner Wahrnehmung strich und ihn somit zuerst verunsicherte und ihn dann vergessen ließ, dass sie jemals dagewesen war. Ein lohnender, doppelter Handstreich, der das genüssliche Kribbeln in ihm noch steigerte.
Schließlich war das klickernde Geräusch der Metallkugel zu vernehmen, die der Croupier gegen die Drehrichtung in das Rouletterad geworfen hatte. »Rien ne va plus.«
Gebannt starrten alle Augenpaare am Tisch auf die tanzende Kugel und hofften, sie würde es sich exakt auf ihrer Zahl bequem machen. Verheißungsvoll fing sie an zu springen und schien sich in letzter Sekunde auf der roten Dreiundzwanzig betten zu wollen, was Kilian natürlich nicht zulassen konnte. Einen doppelten Verlust wollte er auf keinen Fall hinnehmen. Daher verschob er die Ebene und veranlasste die Kugel dazu, für alle sichtbar auf der schwarzen Zehn zu landen. Außer für die Dame zu seiner Rechten, die sich ihres Gewinns ja nicht bewusstwerden durfte. Enttäuscht senkte sie den Blick, um wenigstens nicht mit anzusehen, wie ihre Jetons von der gierigen Bank einkassiert werden würden. Mit einem charmanten Lächeln ließ es sich Kilian nicht nehmen, zu kommentieren: »Vielleicht klappt’s ja beim nächsten Mal.«
Sie wandte sich ihm zu. Und als wäre nichts gewesen, himmelte sie ihn mit ihren moosgrünen Augen an, ein vielversprechendes Schmunzeln huschte über ihr Gesicht. »Das hoffe ich doch.«
Während Kilian sich an ihrem Gewinn bediente und den doppelten Einsatz von Schwarz abräumte, bot er ihr zum Trost noch an: »Wenn Sie Lust haben, tausche ich schnell meine Jetons und dann lasse ich Ihnen einen traumhaften Cocktail zur Aufheiterung servieren.«
Die elegante Blondine schien ihr Verlust gar nicht mehr zu interessieren, was nicht zuletzt daran liegen könnte, dass er seine Gesichtszüge auf jene Merkmale geändert hatte, die laut Ergebnissen verschiedener Attraktivitätsstudien für die Frauenwelt am reizvollsten wirkten sollten. Mit braunem Teint, hellerem Augenweiß, einem schmalen Gesicht, vollen Lippen, klar konturierten Augenbrauen sowie hohen Wangenknochen stand er vor ihr und setzte einen verheißungsvollen Ausdruck auf. Von seinem Äußeren ganz eingenommen, ließ sie sich bezirzen. Noch hatte sie ja nicht mitbekommen, wie groß ihr Verlust tatsächlich ausfiel.
Kilian ließ seinen Blick über ihre Kurven gleiten und blieb an ihren verführerischen Lippen hängen. Er mochte ihr anregendes Parfüm und diese langen Wimpern, die ihn regelrecht anklimperten. Er hoffte, es wäre keine weitere Manipulation nötig und sie verfiele ihm, mit allem, was er ihr augenblicklich zu bieten hatte. Ein vielsagendes Schmunzeln und ein angebotener Ellenbogen nach der hohen Kunst der Gentlemen sollten ein Übriges tun.
»Es wäre mir eine Ehre, bei so einem galanten Kavalier.« Ihr strahlendes Lächeln brachte ihre brillantweißen Zähne zum Vorschein.
Na, geht doch – das wird noch eine heiße Nacht werden.
Kilian schickte die attraktive Eroberung voraus zur Bar, während er sich bei der Ausgabestelle für die Umwandlung seiner Jetons in Bares einreihte. Er spürte bereits die Gier in sich aufsteigen, endlich das druckfrische Papier zwischen den Fingern zu spüren, den Duft des Geldes einzuatmen und auf sich wirken zu lassen. Es war regelrecht berauscht, sodass er nicht mitbekam, wie sich ihm jemand von der Seite näherte.
»Einen netten Trick hast du da drauf. Wirklich beachtlich, selbst für mich, muss ich gestehen.«
Kilian zuckte erschrocken zusammen, als er sich nach links wandte und die geheimnisvolle Schönheit vom Roulettetisch nur einen halben Meter entfernt vor ihm stand. Ihre dunkle Stimme hallte in seinem Kopf noch nach, während er sie wachsam musterte.
Ihre seidene Korsage glänzte durch die funkelnden Kristalle der Deckenbeleuchtung und sie führte in aller Ruhe ihre Zigarettenspitze, die wie ein Zauberstab auf ihn wirkte, an die Lippen. Wie in Zeitlupe nahm Kilian wahr, wie sie inhalierte und anschließend verschnörkelte Rauchschwaden ausblies, die kurz rot glühten und an sich windende Schlangen erinnerten.
Wer qualmte heutzutage noch mit so einer Verlängerung? Ich halluziniere, eindeutig! Oder bin ich in meiner eigenen Dimension hängengeblieben und meine Fantasie geht gerade mit mir durch?
Verunsichert zupfte Kilian seinen Hemdkragen zurecht und zauberte sein Showlächeln auf die Lippen.
»Ich bitte höflichst um Entschuldigung, verehrte Dame, aber ich bin zutiefst verwirrt. Darf ich fragen, wovon Sie sprechen?«
Ihre Augen fixierten ihn. Nicht das kleinste Blinzeln oder Zucken in ihrem Gesicht verwies auf Unsicherheit. Stattdessen wagte sie einen weiteren Schritt auf ihn zu. Ihre Hände waren in schwarze Seidenhandschuhe gehüllt – die rechte stemmte sie lässig-elegant in die Taille, mit ihrer linken begann sie, die Verlängerung gelangweilt zwischen den Fingern zu rollen. Unerklärlicherweise jagte dieser eindringliche Ausdruck Kilian eine Gänsehaut über den Rücken. Irgendetwas stimmte mit der fremdartigen Schönheit nicht, deren Haut aus Porzellan zu sein schien.
»Ich werde es einfacher für dich formulieren, damit wir uns richtig verstehen.« Die Drohung schwang in jeder Silbe mit, während sie sich mit Blicken duellierten.
Urplötzlich fragte er sich, ob diese Tätowierung um ihr linkes Auge insgeheim eine stille Warnung à la Leg dich bloß nicht mit mir an darstellen sollte. Andererseits waren es genau jene Situationen, die Kilian anstachelten, dagegenzuhalten. Er war lange genug von seinem Umfeld herumgeschubst worden. Diesen Lebensabschnitt hatte er, wie so viele andere, hinter sich gelassen und würde ihn hier und jetzt gewiss nicht wieder aus der Versenkung holen. Sicher nicht!
»Andere magst du täuschen – mich aber nicht. Du wirst mir meinen Gewinn von 1.750 Dollar überreichen, ich werde dich nicht enttarnen und alles ist gut. Wir können getrennte Wege gehen …«, flüsterte sie ihm in einem unmissverständlichen Ton zu, was seinen Gaumen schlagartig trocken werden ließ.
Betont selbstsicher strich sich Kilian seinen Haarschopf zurück – obwohl ihm alles andere als wohl in seiner Haut war –, rieb sich dann in gewohnter Manier die Handflächen und verabschiedete die überbetonte Höflichkeit aus seinem Wortschatz.
»Schätzchen, nicht böse sein, ich habe für solche Kindereien keine Zeit. Es tut mir ausgesprochen leid, dass du verloren hast und glaubst, es nun an mir auslassen zu müssen. Aber um ehrlich zu sein …«, Kilian runzelte wie ein reumütiger Hund die Stirn und Zynismus sprach ihm aus jeder Pore, »… tangiert mich das nur peripher. Also nimm deine Voodoo-Püppchen und deine Kreuze und belästige jemanden, bei dem das zieht.«
Kilian war Meister in diesem Spiel und stolz darauf, dass er seine Augen ebenfalls ohne zu zwinkern auf die circa einen Kopf kleinere Person richten konnte. Ihn interessierten die lodernden Flammen, die man in ihrem Inneren erahnen konnte, kein bisschen. Denn wenn sie weiter herumzicken würde, könnte er ihr ein paar Ratten ins Dekolleté schummeln, die sein Problem für ihn beseitigten. Schon allein der Gedanke daran brachte ihn genüsslich zum Schmunzeln.
Sie zog ihre Mundwinkel nach oben, jedoch nicht, um zu lächeln. »Ich warne dich …«
Obwohl seine Alarmglocken anschlugen und jede Zelle seines Körpers Adrenalin ausschüttete, lachte Kilian lautstark auf. Als sie ihn daraufhin verdutzt mit schief gelegtem Kopf ansah, hatte er das Gefühl, einen ersten Sieg errungen zu haben – ein selbstgerechter Lachkrampf entrang sich seiner Brust. Wem wollte sie etwas vormachen, nachdem er höchstpersönlich die Kunst der Verschleierung, Manipulation und Einschüchterung auf ein neues Niveau katapultiert hatte?
»Du hast es nicht anders gewollt …«, waren die letzten Worte, die Kilian zu Ohren bekam, als die Gothicprinzessin, ohne jegliche Emotion im Gesicht zu zeigen, ihren rechten Seidenhandschuh auszog und ihm unvorbereitet ihre kühle Handfläche auf die Wange legte.
Wie ein gellender Schrei fuhr eine Hitzewelle durch ihn und entlud Krämpfe in jede Muskelfaser seines Körpers. Sein Magen fiel in sich zusammen und seine Lunge schrumpfte wie ein Luftballon, aus dem die letzte Luft entwichen war. Nicht das winzigste Sauerstoffmolekül fand darin noch Platz. Er verlor die Kontrolle über all seine Sinne, als ein heller Blitz ihm das Augenlicht stahl. Übelkeit und ein lähmender Schmerz setzten schlagartig ein, sodass jeglicher Widerstand zwecklos wurde. Kilian konnte sich nur noch dieser Urgewalt hingeben, um von der Welle aus Leid davongetragen zu werden … in ein tiefschwarzes Nichts.
Albany, Oregon
Alessia saß in ihrer spärlichen Küche am kleinen Frühstückstisch, dessen weiße Lackierung bereits stellenweise abbröckelte, und las die Tageszeitung. Durch das geöffnete Fenster drang der morgendliche Gesang der Vögel und das war für sie die schönste Musik, die sie sich vorstellen konnte. Es war einer dieser bewölkten Tage, an denen sich das Wetter nicht so richtig entschließen konnte, was es denn nun werden wollte: sonnig, bedeckt oder doch ein leichtes Nieseln?
Mit kleinen Schlucken nippte sie an ihrem Milchkaffee, der längst kalt war, während sie die Neuigkeiten und den Klatsch und Tratsch gierig in sich aufnahm. Sie war ziemlich am Ende angelangt, die Witze hatte sie gelesen und die Rätsel gelöst. Noch immer hing der Duft von frisch gemachtem Toast in der Luft, den sie so liebte. Selbst wenn er etwas angebrannt war, konnte sie nicht genug davon bekommen.
Gedankenverloren schraubte sie das Marmeladenglas zu, indes ihr Blick über die Todesanzeigen glitt und sie innehielt. Als sie den Namen William Burrow las, rutschte ihr vor Schreck das Glas aus der Hand und fiel zu Boden. Der Knall des aufschlagenden Gefäßes, das wundersamerweise heil geblieben war, hallte durch die spartanisch eingerichtete Wohnung. Erleichtert, dass sie diesmal kein Desaster vom Boden aufwischen musste, klaubte sie den Unruhestifter auf und hob prüfend den Blick. Nun hieß es bloß Daumendrücken, dass Pascal von dem Krach nicht munter geworden war und der Morgen noch ein klein wenig länger ihr allein gehörte. Sie brauchte die Ruhe, denn als alleinerziehende Mutter und bei all dem, was sie die letzten vier Jahre durchgemacht hatte, waren ihr Energiehaushalt und Nervenkostüm stark beansprucht worden.
Betont leise stellte sie das Marmeladenglas zurück auf den Tisch und horchte mit angehaltenem Atem auf die Geräusche in der Wohnung. Stille, selbst aus Pascals Zimmer war nicht die kleinste Unruhe zu vernehmen.
Zum Glück!
Sie zog die Todesanzeigen näher zu sich heran. Das dünne Papier in ihrer Hand vibrierte, solch eine Anspannung durchlief sie.
Das darf nicht wahr sein! Kilians Vater ist vor zwei Tagen verstorben.
Noch diese Woche sollte das Begräbnis in Albany stattfinden. Sie blickte auf und ein Zeitfenster aus Erinnerungen öffnete sich. Dieses Lachen, das so eindringlich zu hören gewesen war, als sie jünger waren und das glorreiche Trio heimlich die Schule geschwänzt hatte, drängte sich in ihr Gedächtnis. Kilian, Liam und sie selbst waren für lange Zeit unzertrennlich gewesen. Ein eingeschworenes Team, das zueinanderstand, komme, was da wolle. Jeder von den dreien hatte einen Makel – sie ihre indianischen Wurzeln, Kilian seine zweifarbigen Augen sowie seine magere Statur und Liam seine Lernschwäche –, der sie zusammen-geschweißt hatte. Was sie mit Spickzetteln und Nachhilfe vollbrachte, hatte Liam mit Fäusten ausgeglichen. Kilian hingegen zog Prüfungsergebnisse aus dem Hut oder ließ Mitschüler auffliegen, wenn sie sie wegen ihrer Herkunft anfeindeten. Erst als die zarten Knospen der Liebe zwischen Liam und ihr aufgekeimt waren und sie sich mehr und mehr zur Erkundung dieser neuen Gefühle zurückgezogen hatten, geriet die innige Freundschaft in Schieflage.
Insgeheim hatte sie sie gespürt, diese stille Anklage, sich merklich ausgegrenzt und vernachlässigt zu fühlen, selbst wenn Kilian immer beteuert hatte, dass es ihm nichts ausmache und er es verstehen könne. Doch Alessia hatte seinen Worten damals geglaubt und den stillen Zeichen seines Kummers nie genügend Aufmerksamkeit geschenkt, andernfalls hätte sie die Katastrophe vielleicht kommen sehen. Immerhin hatte Kilian sonst niemanden und ohne die Einheit des Trios wurde er wieder gehänselt und verprügelt wie vor ihrer Gemeinschaft. Wie sagte man so schön? Liebe macht bekanntlich blind – und Alessia war niemals zuvor so glücklich gewesen wie zu dieser Zeit.
Liam und sie planten ihre Zukunft zusammen und sprachen von einem gemeinsamen Haus, Kindern und darüber, welche Ausbildungsstätte am nächsten lag, auf dass sie nicht so weit voneinander getrennt sein mussten. Immer mehr und mehr trat Kilian in den Hintergrund, denn selbst wenn sie etwas mit ihm unternommen hatten, gab es nur ihre Themen, ihre Berührungen, ihre Küsse …
Ein dicker Kloß steckte urplötzlich in Alessias Hals und Tränen brachen sich Bahn. Rasch schob sie ihre rechte Hand vor den Mund, sodass kein Ton der Trauer entweichen konnte. Sie setzte sich. Plötzlich war sie wieder da, diese Dunkelheit, dieser tiefe seelische Schmerz, der so oft bei ihr anklopfte und um Einlass bat. Sie konnte einfach nicht vergessen, dass mit dieser Freundschaft in Wahrheit ihr tiefer Fall begonnen hatte. Ihr Leben hätte heute so anders aussehen können …
Bitte … bitte nicht schon wieder. Ich kann nicht mehr.
Das Atmen wollte ihr nicht gelingen, selbst als die bunten Bilder der Vergangenheit vor ihrem inneren Auge verblassten. Alessia sprang auf. Sie brauchte dringend eine Abkühlung. Also schritt sie zur Spüle und ließ kaltes Wasser aus dem Wasserhahn rinnen, um ihre Finger zu erfrischen und den Puls unter der zarten Haut der Handgelenke zu beruhigen. Der Gedanke, dass eine einzige Beruhigungstablette sie wieder in die richtige Bahn lenken könnte, keimte in ihr auf. Nur eine klitzekleine Pille würde schon nicht schaden … Mehrmals wusch sie sich ihr überhitztes Gesicht, als könnte sie all den Kummer im Nu wegwaschen und damit den neuerlichen Drang zur Droge.
»Mama? Geht es dir gut?« Wieder durchfuhr sie ein Schock und sie wirbelte herum. Erst die kindliche Stimme und die Kulleraugen ihres fünfeinhalb Jahre alten Sohnes brachten sie zur Besinnung. Sie fühlte sich, als wäre sie auf frischer Tat ertappt worden. Er war noch so klein und dennoch war die Besorgnis um sie immerwährend in seinem Antlitz abzulesen. Selbst in diesem zarten Alter war er so aufmerksam und sensibel, dass es nahezu beängstigend war.
Wundert es dich? Immerhin hat er dich vor knapp zwei Jahren bewusstlos mit weißem Schaum vor dem Mund auf dem Boden gefunden!
Die mentale Ohrfeige saß und beförderte einen Funken Disziplin ans Tageslicht. Mit aller Kraft, die sie aufbringen konnte, brachte sie ein klägliches Lächeln zustande. »Alles in Ordnung, mein Honigkuchen. Hab’ ich dich geweckt? Das wollte ich nicht.«
Sorgenvoll strich sie ihm über das Haar und setzte ihm liebevoll einen Kuss auf die Stirn. »Aber sieh her, ich habe Toast gemacht. Hast du Hunger?«
Alessia konnte nicht vermeiden, dass etwas Wehmut in ihrer Stimme mitschwang, doch sie bemühte sich um Besserung. Es hatte lange genug gedauert, dass das Jugendamt und ihre Mutter ihr uneingeschränkten Umgang mit ihrem eigenen Kind zugestanden hatten. Und er war alles, was sie noch hatte – ihr Sonnenschein und der Mittelpunkt in ihrem Leben. Sie musste es ab sofort richtig machen und die Monate des Umzugs, in denen ihr Sohn aus seinen Gewohnheiten gerissen worden war und verschiedene Ängste hatte ausstehen müssen, wiedergutmachen. Er sollte in einem wohlbehüteten Umfeld groß werden können. Sie wollte alles Negative hinter sich lassen und von Neuem beginnen – für ihn, aber auch für sich selbst. Das war sie ihnen beiden schuldig.
Pascal signalisierte mit einem Nicken, dass er etwas Essbarem nicht abgeneigt war. Deshalb ging sie zum Tisch, schob seinen Kindersessel zur Seite und lud ihn mit theatralischen Armbewegungen ein, sich zu setzen, woraufhin er freudig zu glucksen begann.
Noch die Kurve gekriegt!
Gleich machte sie sich daran, einen Teller für ihn anzurichten, auf dem sie Gesundes und Leckeres in Form eines Clowngesichts anordnete – alles schön in mundgerecht großen Häppchen, in der Hoffnung, er würde nicht nur die Leckereien verschlingen, sondern auch die verkappten Nährstoffhelden. Während Alessia einen Apfel zerkleinerte, zwang sich ihr die Frage auf, ob Kilian beim Begräbnis erscheinen würde. Immerhin war William Burrow sein Vater gewesen. Selbst wenn sie nicht im Guten auseinandergegangen waren, musste er doch so viel Anstand besitzen, um hier aufzukreuzen und ihm die letzte Ehre zu erweisen. Schließlich handelte es sich bei ihm um seinen einzigen nahen Verwandten.
Unweigerlich überlegte sie, ob sie ein Wiedersehen mit Kilian nun erhoffte oder doch eher fürchtete. Würde bei einer Begegnung alles wieder hochkommen?
Sie erwischte sich bei einem besonders boshaften Gedanken: Der einzige Grund, warum er womöglich hier aufkreuzen würde, war jener, zu erfahren, was er vererbt bekommen hatte. Sein Vater mochte zwar einen heruntergekommenen Eindruck gemacht haben, aber insgeheim war er vermögend und hatte zu Lebzeiten so viel erwirtschaftet, wie er nur konnte. Nicht umsonst hatte er einen sehr erfolgreichen und über die Grenzen der Region hinaus renommierten Tischlereibetrieb hinterlassen. Gewinne mussten gewiss regelmäßig eingetrudelt sein – zumindest wurde dies so unters Volk gestreut.
Kilian hatte bei seinem Vater das Handwerk erlernt, bevor er in einer Nacht- und Nebelaktion Albany verlassen hatte. Wohlgemerkt ohne auch nur eine Nachricht zu hinterlassen. Er hatte sich von niemandem verabschiedet und auch sonst keine Andeutung über sein Vorhaben wegzugehen geäußert – dennoch wollte nicht einer an höhere Gewalt glauben. Selbst wenn William Burrow offen über seinen einzigen Sohn gelästert und behauptet hatte, dass er die Satansbrut eigenhändig rausgeschmissen habe.
Alessia spekulierte allerdings, ob in Wahrheit nicht ein völlig anderes Ereignis der Auslöser war, der ihn zur Flucht gedrängt hatte. Ein Ereignis, dem auch sie beigewohnt hatte und das der Grund dafür war, warum sie Kilian nie im Leben verzeihen würde. Er war die Wurzel allen Übels und hatte ihre Träume für immer zerstört, hatte ihr alles genommen, was ihr jemals wichtig gewesen war. Dafür hatte er ihr etwas hinterlassen, das sie niemals vergessen lassen würde. Erneut wollte die Trauer sich in ihr hochkämpfen.
Wann hört das endlich auf?
Rasch besann sie sich darauf zu funktionieren, denn die letzten Paprikastreifen für Pascals Frühstücksteller sprangen nicht von allein an Ort und Stelle. Mit einem breiten, aufgesetzten Lächeln stellte sie ihre Kreation vor ihrem Sohn ab, der sie mit großen Augen anhimmelte. Liebevoll strich sie dem Kleinen durch die braunen Locken und fuhr ihm mit dem Zeigefinger über die Wange, was ihn noch mehr strahlen ließ. Wie sie so in seinen bildhübschen Augen versank, musste sie dennoch einen Kloß herunterwürgen, da diese einzigartigen Iriden sie an den größten Fehler ihres Lebens erinnerten.
Buffalo, New York
Kilian richtete sich ruckartig auf. Als ob er dem Ertrinken soeben entronnen wäre, schnappte er nach mehr Sauerstoff für seine Lunge, welche die Menge kaum verarbeiten konnte. Panisch wollte er von der Unterlage aufspringen – worauf auch immer er gebettet war – und nur seinem Fluchtinstinkt folgen. Die Angst saß in jedem Knochen, Angst vor diesem Schmerz, dem grellen Licht und der Gewissheit, sein letztes Stündchen habe geschlagen. Erst als seine Ohren einen schrillen Alarm ausmachten, wurde ihm bewusst, dass sein Ausbruch nicht unentdeckt bleiben würde. Er blickte sich um und erst jetzt konnten seine Augen die Informationen seiner Umgebung an sein Gehirn weiterleiten. Es sah aus, als befände er sich in einem Krankenhaus, also nicht im Casino oder gar vor dem Himmelstor mit Engelsgesang. Und das nervenaufreibende Piepsen war kein Alarm, sondern ging von einem Monitor aus, von dessen Kabeln er sich unbewusst losgerissen hatte.
Er tastete seinen Brustkorb ab und dieser hob und senkte sich wie es sein sollte. Kilian war somit am Leben und seine Kleidung, die nicht seine eigene war, war schweißdurchtränkt. Rasch löste er die Dioden, die an seiner Haut klebten, und lauschte, ob sich bereits unwillkommener Besuch ankündigte. Keine Sekunde später stürmte eine Krankenschwester in sein Zimmer und kam mit aufgerissenen Augen auf ihn zu. Sie schüttelte aufgeregt den Kopf.
»Mr Rolands, Sie jagen mir einen Heidenschreck ein! Zuerst sind Sie drei Tage nicht ansprechbar, liegen da wie im Koma – und nun reißen Sie alle Kabel ab. So, ich schalte das Gepiepe erst mal aus. Jetzt beruhigen Sie sich, damit ich Ihren Blutdruck messen und Sie untersuchen kann.«
Bevor er protestieren und erklären konnte, dass er Kilian Burrow heiße, rief er sich wieder in Erinnerung, dass er einen Ausweis mit sich spazieren trug, der auf den Namen Keith Rolands ausgestellt war. Noch dazu sollte er eigentlich seinen Geburtsnamen weit hinter sich gelassen haben. Viel zu lange war er nicht genutzt worden und verstaubte unter einem mentalen Spinnennetz aus unliebsamen Erinnerungen.
Dennoch mussten weitere Puzzleteile zusammengesetzt werden. Er verstand die Welt nicht mehr – was war da passiert? Diese merkwürdige, dunkelhaarige Schönheit … Was hatte sie bloß mit ihm gemacht?
»Wo bin ich und wie bin ich hierhergekommen?«, brachte er nur mühsam hervor und seine eigene Stimme erschien ihm fremd.
Seine Zunge war pelzig belegt und sein Mund ausgetrocknet. Die Krankenschwester, auf deren Namensschild Ms Stacy Watson abzulesen war, beäugte weiterhin seine Pulsmanschette.
»In Ihrer Krankenakte steht, dass Sie vor drei Tagen nach einem Kollaps im Seneca Buffalo Creek Casino in die Notaufnahme eingeliefert wurden. Sie befinden sich übrigens im Buffalo General Medical Center und standen die letzten Tage unter Überwachung.« Der Druck an seinem Oberarm ließ nach. »Hm, ihr Blutdruck ist noch immer etwas erhöht. Muss wohl die Aufregung sein …«
»Aber, was fehlt mir denn?«, unterbrach er sie ungeduldig und suchte in ihrem Blick nach irgendetwas, was ihm Aufschluss geben konnte. Immerhin waren drei Tage Bewusstlosigkeit nicht unbedingt wenig und sollte ihm seine Gabe nun einen Hirnschaden oder Tumor eingebracht haben, dann wollte er es jetzt sofort erfahren. Er war kein Mann für Nachrichten durch die Blume.
»Tut mir leid, da müssen Sie sich direkt beim Arzt erkundigen. Ich darf Ihnen dazu nichts sagen«, erklärte sie knapp und machte Anstalten zu gehen.
Kilian packte rasch ihr Handgelenk. Um ihr keine Angst einzuflößen, bettete er sie in eine Dimension, in der beruhigende Klänge einer Panflöte zu hören waren, und lächelte sie unschuldig an. Er ließ Wärme über sie gleiten, trotz der Kälte, die ihn selbst durchströmte. Eine Suggestion der Freundschaft sollte sie glauben lassen, er sei bereits über Monate auf der Station und sie hätten häufiger miteinander geplaudert. Und wie immer zeigte es Wirkung, da sie ihn nun vertrauensvoll anlächelte und ihm keck mit ihrer anderen Hand auf seine Finger, die sie festsetzten, klopfte. Kilian ließ daher vorsichtig von ihr ab und hielt sie nur mit seinem Blick gefangen.
»Du bist mir einer der liebsten Patienten hier, das muss ich dir lassen«, erwiderte sie schäkernd. »Auch wenn du ein bisschen vergesslich bist.« Sie lachte auf. »Dir kann man einfach keine Bitte abschlagen. Das müssen dir die Ärzte nach deinem langen Aufenthalt hier doch schon längst gesagt haben.« Sie atmete schwer aus. »Also gut – deine ersten Blutwerte sind beängstigend gewesen: erhöhte Blutsenkung, jegliche Mangelerscheinungen, eine reduzierte Anzahl von roten Blutkörperchen. Sogar deine Schilddrüsen- und Hormonwerte spielten verrückt. Die Parameter haben sich widersprochen und die Ärzte wussten nicht, wo sie ansetzen sollten. Um eine Fehlanalyse auszuschließen, haben sie eine zweite Probe entnommen. Es zeigte sich, dass dein Zustand sich zu stabilisieren schien, was gröbere Schäden ausschloss. Trotzdem behielten wir deine Ergebnisse im Auge, bis sie nicht mehr verdächtig waren.«
Die Schwester strich die Bettdecke glatt und stopfte eine Ecke des Lakens wieder unter die Matratze.
»Und, mein Lieber, dies war bereits nach achtundvierzig Stunden der Fall. Trotz allem wolltest du lange nicht aus dieser Bewusstseinsstörung aufwachen. Es stellte ein Mysterium für uns dar. Daher ist es natürlich eine Freude, dich eben … ich meine vor … ähm …«
Offenbar bemerkte sie zu viele Widersprüche und geriet ins Stocken. Er musste sie erneut ablenken.
»Liebe Stacy, heißt das also, dass ich geheilt bin?« Er setzte sein verführerisches Lächeln auf. »Und meine überaus hübsche Krankenschwester nun nicht mehr um mich haben kann? Oder muss ich noch zu weiteren Untersuchungen und kann so länger deine Gesellschaft genießen?« Kilian packte all seinen Charme aus und zwinkerte ihr zu, während er diesmal nach ihrer Hand griff, um diese liebevoll zu streicheln. Sie wurde rot und blickte ihn verunsichert durch ihre langen Wimpern an.
»Ich muss gestehen, dass du leider kerngesund bist … Noch einen Tag zur Beobachtung – dann wirst du wohl entlassen werden, wenn der Arzt grünes Licht gibt«, ließ sie mit einem Seufzen fallen.
Perfekt, so lange werde ich allerdings nicht warten.
Raffiniert zauberte Kilian eine männliche Stimme in ihr Ohr, die sie zu sich rief und somit aus dem Zimmer lockte. Diensteifrig wie sie war, verließ Schwester Stacy das Krankenzimmer.
Puh – endlich.
Die Manipulation war ihm ungemein schwergefallen und er merkte erst jetzt, dass er völlig erschöpft war. Dennoch konnte ihn nichts mehr in diesen nüchternen weißen, mit dem Geruch nach Desinfektionsmitteln erfüllten Räumen halten. Er wollte um jeden Preis hier raus und frische Luft einatmen. Nicht erst seit diesem Aufenthalt verabscheute er Krankenhäuser, die eine innere Beklommenheit und das Gefühl, dass etwas mit einem nicht stimmte, heraufbeschworen. Zumeist fühlte man sich in einer Klinik automatisch kränker, als man tatsächlich war. Daher sah er keinen Grund darin, länger hier auszuharren.
Kilian schob sich aus dem Bett, ließ seinem Kreislauf einen Moment, um sich zu stabilisieren, und durchsuchte anschließend die nahestehenden Schränke nach seiner Kleidung.
Ungeduldig zog er den Anzug an. Er musste hier raus, bevor mehr Fragen zu seiner Person oder seinem Gesundheitszustand entstünden. Es reichte, dass die Krankenhausleitung eine horrende Summe von seiner Krankenversicherung fordern würde.
Als Kilian im Aufzug zu seinem Penthouse stand, blickte ihm aus der Spiegelwand ein Gesicht entgegen, das ihm glich und dennoch anders aussah. Misstrauisch lehnte er sich näher an die Spiegelfläche und traute seiner Wahrnehmung kaum. Wo waren denn über Nacht diese kleinen Fältchen in den Augenwinkeln hergekommen? Verunsichert strich er sich sein leicht gewelltes Haar aus dem Blickfeld und war schlagartig perplex …
Sind das Geheimratsecken? Die hatte ich doch vorher nicht – oder doch? Mit fünfundzwanzig? Nein, nein – nein, so hatte das nie ausgesehen!
Kilian runzelte die Stirn und beäugte sich von allen Seiten. Er reckte das Kinn und versuchte unter wildester Gesichtsakrobatik weitere Absonderlichkeiten ausfindig zu machen. Der Liftboy schielte zu ihm herüber und seinem Gesichtsausdruck war deutlich anzumerken, was er davon hielt.
Okay – dreh jetzt nicht durch! Du bist nur übermüdet. Immerhin hast du drei Tage mit verrückten Blutwerten im Koma gelegen, nur weil dich diese Lady in Black für einen Augenblick berührt hat! Genau so war es und nicht anders.
Mit einem Pling öffnete sich die Tür des Lifts, als er in der einundzwanzigsten Etage stehen blieb. Der Liftboy schritt hastig beiseite und nickte Kilian mit einer betont eifrigen Geste zum Abschied, nicht ohne ihn noch einmal eines missbilligenden Blicks zu würdigen.
Vigo hörte Siek am PC fluchen und richtete seine ungeteilte Aufmerksamkeit auf ihn. Ihre Spelunke in Portland war heruntergekommen und alles andere als einladend. Zu dritt teilten sie sich eine Wohnung, die gerade einmal groß genug für einen gewesen wäre. Sie lag im Nordwestbezirk der Stadt, nicht weit vom Industriegebiet entfernt. Muffig roch es und alles Lüften konnte nichts daran ändern, denn es waren Igors Ausdünstungen, die für diesen Mief sorgten. Jede freie Minute stählte er seinen Leib – mit der Körperpflege hingegen nahm er es nicht so genau. Womöglich waren aber auch die verfluchten Eiweißshakes an dem Gestank Schuld. Jeden Tag kippte er dieses Zeug in sich hinein, obwohl es bei dem Kraftprotz gar nichts mehr ausrichten konnte, weil es keine Fläche mehr gab, wo sich weitere Muskeln ansetzen könnten.
»Was gibt’s denn, Siek? Hast du Neuigkeiten von unserem Kumpel?«, fragte Vigo beiläufig und erhob sich aus dem viel zu weichen, abgetakelten Sofa, dessen Nähte an verschiedenen Stellen aufgeplatzt waren. Den Fernseher ließ er unbeachtet laufen, die Talkshow war für ihn ohnehin mehr Geräuschkulisse als tatsächlich von Interesse. Träge schritt er in die offene Küche, das Glanzstück der Unterkunft. Dort hockte Siek in seinen Laptop vertieft auf einem Barhocker an der Theke, dem Ort, an dem er die meiste Zeit verbrachte. Nur hier durfte der Vierundzwanzigjährige, der ständig einen Glimmstängel im Mundwinkel hängen hatte, seiner Sucht frönen. Regelmäßig rastete Igor deshalb völlig aus, denn er war entschlossener Zigarettenverweigerer und lebte mit zwei Kettenrauchern unter einem Dach. Um etwas Frieden in die Wohngemeinschaft zu bringen, hatten sie sich darauf geeinigt, die Küche als Raucherzone festzulegen und die Fenster vierundzwanzig Stunden am Tag sperrangelweit geöffnet zu halten. Doch dieses Thema brachte die Gemüter immer wieder zum Brodeln, denn weder der muskelfütternde Igor noch der auf Lungenkrebs hinarbeitende Siek wollten sich wirklich in Toleranz üben.
Der junge, wasserstoffblonde Hacker mit Irokesenschnitt löste nicht eine Sekunde den Blick von seinem Lieblingsspielzeug. Er tippte so schnell, dass einem allein beim Zusehen schon schlecht wurde. Mit seinen Computerfähigkeiten rang der Jungspund Vigo äußersten Respekt ab, zudem schätzte er ihn für seinen unermüdlichen Einsatz, wenn es darum ging, neue Coups, wertvolle Gegenstände oder gesuchte Personen ausfindig zu machen.
»Bingo, da ist die Ratte! Nun haben wir seit langem wieder eine Spur«, brüllte Siek übermütig, sodass Vigo kurz zusammenzuckte. Offenbar war der Jüngling so in seine Arbeit vertieft, dass er Vigo nicht hatte kommen hören. »Oh – sorry, da steckst du«, nuschelte der Computerfreak und ließ den Glimmstängel dabei wild im Mundwinkel tanzen. Glühende Asche rieselte auf die bereits geschädigte Arbeitsplatte und Vigo schnaufte, weil es wieder an ihm hängen bleiben würde, die Theke zu säubern. Obwohl ein ordentlicher Nackenklatscher sicher wirkungsvoller gewesen wäre, räusperte Vigo sich lediglich, um seinen Mitbewohner auf seine Unachtsamkeit hinzuweisen, und versuchte, aus den verschiedenen Textfenstern, die gleichzeitig auf dem Bildschirm geöffnet waren, schlau zu werden.
»Und was sehen wir da?«, fragte er skeptisch – für ihn war alles, was er sah, kryptisch.
Siek deutete auf eine Krankenakte auf dem linken Bildschirmrand, die den Namen Keith Rolands trug. »Ich verwette meinen Arsch, dass das Kevin ist. Selbes Geburtsdatum und dieselbe Blutgruppe – so selten wie die ist, kann das kein Zufall sein.«
Aus dem Wohnzimmer war lautes Schnaufen zu hören. Nicht einmal solche Neuigkeiten hielten Igor davon ab, seinen Körper mit Liegestützen und sonstige Leibesertüchtigungen zu trimmen.
Vigo stöhnte lautstark auf. Dann wanderte sein Blick wieder auf den Bildschirm und studierte abermals die geöffneten Fenster darauf. Er massierte sich sein geschorenes Haupt. Beinahe hätte er seine bereits derangierten Nägel noch kürzer genagt, doch im letzten Moment konnte er dem Impuls widerstehen.
»Wie willst du nur mit dem Datum und der Blutgruppe ausmachen, dass das ausgerechnet Kevin ist? Die Akte stammt aus dem Bundesstaat New York – das ist fast am anderen Ende der Welt. Kannst du mir das mal erklären, du Schlaumeier?«
Siek wandte sich langsam zu ihm um und Vigo konnte deutlich in seinem Gesicht ablesen, wie er sich über diese Äußerung ärgerte. Mit einer Mimik, die verraten sollte, dass er es nicht böse gemeint hatte, versuchte er Siek milde zu stimmen. Der Grünschnabel war auch ohne Blutsverwandtschaft wie ein Sohn für ihn, selbst wenn in dessen Adern Armyblut floss und seine Disziplin oftmals zu wünschen übrig ließ. Während der Nerd, ganz in der Manier eines verwöhnten Söhnchens aus reichem Hause, beschlossen hatte, lieber die Schule an den Nagel zu hängen und als Punk Anarchie an die Wände zu kritzeln, war Vigo selbst in einer mittelgroßen Stadt der Ukraine dahinvegetiert und froh darüber, noch alle Gliedmaßen zu besitzen.
»Ganz einfach, Boss, weil ausgerechnet dieser Keith Rolands einen Flug für morgen nach Albany in Oregon gebucht hat. Klingelt es da bei dir?«
Vigo war abermals beeindruckt, denn der kleine Klugscheißer hatte mehr Grips als er und Igor zusammen, daher verstand er meist nur Bahnhof. Dennoch musste er ihn nicht noch in dieser Überzeugung bestärken. Immer öfter übertrat er verbal die Grenze seiner Unantastbarkeit in diesem Team – und damit lebte der Computerfreak gefährlich, denn dies könnte ihn in einer unkontrollierten Sekunde selbst neben Vigo, der dieses überhebliche Getue hasste, das Leben kosten. Mit einem scharfen Blick, der eine eindeutige Warnung darstellte, sah er Siek an.
»Also die Stadt, wo Kevin angeblich her ist? Und das ist alles?«, erkundigte Vigo sich genervt und griff nach den Zigaretten in der hinteren Hosentasche seiner Jeans, um sein Gemüt zu beruhigen.
»Nei-en«, zog Siek das Wort unnötig in die Länge. »Es ist nicht nur die Stadt, in der er angeblich geboren wurde, sondern auch jene Stadt, wo ein William Burrow am Freitag beerdigt werden soll. Und damit du mir folgen kannst …« Diesmal vergrößerte er auf dem Bildschirm eine Todesanzeige parallel zu einer Hochzeitsurkunde. »Er war verheiratet mit einer gewissen Daisy Samples.«
Vigo fiel die Zigarette aus dem Mund, er konnte sie gerade noch auffangen, bevor sie zu Boden fiel.
»Bljad!«, fluchte er und steckt sich den Finger in den Mund, den er sich an der Glut verbrannt hatte. »Du meinst, das ist Kevin Samples’ Mutter? Er hat ihren Mädchennamen angenommen und geht nun auf das Begräbnis seines Vaters?« Eine innere Unruhe stieg in ihm auf, denn er hatte den Eindruck, zurück auf die Straße der Sieger zu gleiten.
»Sie hat genau an dem Tag einen Sohn geboren, an dem Kevin geboren ist. Hier steht zwar Kilian und nicht Kevin in der Geburtsurkunde, aber das muss ja nichts heißen. Vielleicht hat er den Namen geändert.« In Sieks Augen flackerte kurz Unsicherheit auf, womöglich aus Sorge, wie sein Gegenüber mit dieser Diskrepanz umgehen könnte. Doch rasch straffte er den Rücken. »Ich bin zwar nicht Sherlock, aber es gibt zu viele Indizien, die kein Zufall sein können. Immerhin liefen meine Programme auf Hochtouren, um solche Fakten zu finden, und ich hab’ alles verglichen. Ist ja nicht weit weg – lass uns zu dem Begräbnis fahren, vielleicht finden wir was.«
Vigo betrachtete den jungen Burschen und klopfte ihm zustimmend auf die sehnige Schulter. Er war stolz auf diesen Haufen Gehirnschmalz, der ihn seinem Ziel näher brachte.
Dystopie, SciFi, Fantasy, Liebe
Bestseller 2014 im Genre Science Fiction/Vampirromane
Als eBook und Taschenbuch in allen Onlineshops und Buchhandlungen
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Tag der Veröffentlichung: 25.07.2018
ISBN: 978-3-7438-7589-0
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
© 2018 Celeste Ealain
Alle Rechte vorbehalten
1. Auflage 2018
Umschlaggestaltung: © Celeste Ealain
Diese beworbenen Bücher enthalten Passagen, die für Jugendliche unter 16 Jahren nicht geeignet sind!
Alle Personen und Namen innerhalb dieses Romans sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.
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