Von Anbeginn der Zeit gab es Licht und Schatten, um die Menschheit zu führen und zu leiten. Aus dem Licht entsprangen die Helfer, die den Menschen auf seinem Weg geleiteten und darauf hielten, während die Dunkelheit danach trachtete, ihm Hindernisse in den Weg zu legen, um ihn vom rechten Pfad abzubringen. Doch Licht und Schatten wurden es leid, diese Aufgabe zu tätigen, und nutzten die schwarzen Schafe der Gesellschaft, um ihre Arbeit zu übernehmen. Jeder Mensch, der zu Lebzeiten das Schicksal eines anderen für immer zerstört, soll hundert Jahre dafür büßen. Als Wegbegleiter auf Erden muss er künftig sicherstellen, dass Schicksale sich erfüllen. Fortan wird dieses Werkzeug des Lichts „Schicksalsträger“ genannt, und bei jedem weiteren Misslingen wird die Frist seiner Strafe auf Erden um weitere fünf Jahre verlängert. Doch sein Fluch wird zusätzlich begleitet von den Abkömmlingen der gefallenen Seelen – den schwarzen Rächern. Jeder Mensch, der sein Schicksal nicht besiegeln konnte, wird nach dem Tod niemals ruhen, bis zu dem Tag, bis er jenen Schicksalsträger gefunden hat, der verantwortlich ist für sein unendliches Leben und Leid im Zwielicht.
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Kilea konnte ihr Glück nicht fassen. Sie hatte ihre vorletzte Prüfung in Psychologie bestanden, nun fehlte nur noch ein mündlicher Test in einem halben Jahr und ihre vierzigseitige Abschlussarbeit und sie hätte ihre Ausbildung in nur vier Jahren bravourös absolviert! Das übertraf sogar ihre kühnsten Träume. Sie hatte alle Mühe, nicht vor Freude loszulachen, als sie wie eine Irre über die Treppen der Hauptuniversität hechtete. Ich muss das unbedingt Christin erzählen, die ist sicher ebenfalls völlig aus dem Häuschen! Mit jedem Schritt ihrer Ballerinas sprangen die gedrehten, braunen Locken so quietschfidel im Takt wie ihr Herz, sodass es auch zu spät war zu bremsen, als sie mit vollem Karacho gegen eine Mauer aus Muskeln prallte. Ein Klischee, mit dem sie im Alltag nie gerechnet hätte.
„Autsch!“, entfloh es ihr, als sich bereits all ihre penibel sortierten Unterlagen und Skripte über die Stufen verteilten. Kilea stand nur deshalb aufrecht, weil die bewegliche Mauer zum Auffangnetz mutiert war. So rasch diese Arme sich zeitgerecht um sie gezogen hatten, um sie zu stabilisieren, so schnell waren sie auch wieder verschwunden und hinterließen nur warme Druckstellen des Schutzes, der eben noch da gewesen war. Wie automatisch wollte Kilea sich zu Boden hocken, um ihre heißgeliebten Studienunterlagen fein säuberlich zu sortieren, als ihr Gegenüber offenbar dasselbe im Sinn hatte und sie diesmal ihren Kopf gegen seinen stieß.
„Autsch – ich schätze, wir sollten uns das nächste Mal wohl vorher absprechen“, witzelte eine sympathisch wirkende Männerstimme, als Kilea aufblickte und in rehbraune Augen starrte. Sie rieb sich gedankenverloren die schmerzende Stelle an der Stirn, als sie den Schalk in den Pupillen ihres Gegenübers glänzen sah. Sie musste unweigerlich schmunzeln, denn kein Zusammenstoß auf Erden hätte ihr heute die Laune verderben können. Der junge Mann, der wie sie hockte und ihre Unterlagen einsammelte, hatte hellbraunes, langes Deckhaar und jenes am Hinterkopf und Nacken schien bereits nach einer erneuten Gleichsetzung zum Wortlaut „Haarschnitt“ zu schreien. Etwas verwegen machten ihn sein Dreitagebart und die ersten zwei geöffneten Hemdknöpfe. Nicht zu vergessen der hochgeklappte Hemdkragen, sowie die aufgekrempelten Hemdärmel. Seine Kleidung wirkte überraschend modern und gut kombiniert, was Kilea insgeheim sehr am anderen Geschlecht reizte. Dennoch schaffte sie es nicht, ihren Mund zu öffnen, und konnte ihn nur belustigt anlächeln.
„Eine sprachlose Frau? Ist das ein verstecktes Kompliment?“, kam erneut ein charmanter Versuch, sie zum Sprechen zu verleiten. Doch plötzlich hatte Kilea Lust nach der Rolle des stillen Geheimnisses, nahm ihm seinen eingesammelten Stapel aus der Hand und zwinkerte ihm kokett zu, um sich geschickt an ihm vorbeizuschlängeln. Sie ließ es sich dennoch nicht nehmen, sich beim Verlassen durch das erhabene Haupttor der Universität nochmals zu ihm umzudrehen und ihn anzulächeln. Und ihr Verdacht, dass er ihr noch immer nachstarrte, bestätigte sich.
Kann dieser Tag überhaupt besser werden?
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„Wie du siehst, hat es begonnen“, erklärte ihm der blonde Hüne und zeigte durch eine Halle am Universitätscampus, in der sich etliche Studenten tummelten. Hohe Decken, verzierte Fresken und Rundbögen zeugten von einem uralten Gebäude.
„Also, ich sehe gar nichts. Was meinst du?“, fragte Demian genervt, der erneut rasch von der idyllischen, nächtlichen Szenerie „verschwunden“ war, um mitten in diesem Gewusel zu „erscheinen“, und dem von diesem Vorgang noch immer eine Gänsehaut an seinem Körper nachhallte. „Ich verstehe nicht, was das soll. Könntest du endlich Klartext sprechen?“ Vergeblich versuchte er, die Beobachtungen des Übermenschen zu stören, indem er mit seiner Hand vor dessen Augen auf und ab fuchtelte.
„Wenn du deinen Blick nicht auf das Wesentliche richtest, kann ich dir nicht weiterhelfen und dein Weg ins Verderben ist besiegelt.“
Demians Atem raste und seine Wut quoll gerade über, denn wenn ihm niemand EXAKT sagte, was hier von ihm verlangt wurde, würde er durchdrehen. Noch dazu war seine Existenz noch immer ein leeres Blatt Papier und er fühlte sich wie jemand, der auf Zwang versuchte sich den Interpreten eines Radiohits wieder einfallen zu lassen. Nur mit dem Unterschied, dass es um seine Person und das zugehörige Leben, samt Erinnerungen und Erfahrungen ging und nicht um ein paar simpel aneinandergereihte Musiknoten.
Plötzlich setzte sich der Hüne in Bewegung und wie durch Zauberhand gingen die Menschen zur Seite, um ihm Platz zu schaffen, schienen ihm jedoch keine Aufmerksamkeit zu schenken. Demian seinerseits versuchte durch die Menge voranzukommen und wurde nur von jedem Einzelnen hart angerempelt. Ein gereiztes „Pass doch auf!“ bis zu „Hast du keine Augen im Kopf!“ wurden ihm entgegengeschleudert, während er probierte, der lebenden Fackel zu folgen. Er selbst verkniff sich ein Fluchen nur mit Mühe, als er den Riesen, viel zu spät erkennend, mit voller Wucht rammte.
Erneut hob dieser seine Hand zu einer jungen Studentin, die am gusseisernen Haupttor der Universität ein letztes Mal kehrtmachte und ein bezauberndes Lächeln preisgab. Sie hatte leuchtend große Augen, umspielt mit vollen Wimpern, die es einem schwer machten, sie nicht im Gedächtnis zu behalten. Mit einem Fingerschnipp des Hünen wurde ein glänzender Faden zwischen ihr und dem Treppenaufgang in der Mitte der hell marmorierten Halle gezogen, wo ein junger Mann stand, der ihr offenbar nachsah. Von dieser Position aus konnte Demian dessen Gesichtsausdruck jedoch nicht deuten.
„Das ist dein Ziel Demian. Das ist Kilea, und das Schicksalsband hat die beiden bereits getroffen und zieht sie zusammen. Du musst es verhindern.“
Demian sah ungläubig zwischen den Zweien hin und her, bis diese Kilea hinter dem Tor verschwand und der glänzende Faden erlosch. „Aber ich verstehe nicht. Wenn sie offenkundig füreinander bestimmt sind, warum soll ich dazwischenfunken? Und vor allem, weshalb soll ausgerechnet ich das tun? Und wie kommt es, dass dich keiner sieht? Was geht mich das alles an?“ Er hob resignierend die Schultern, denn der verwirrte Zustand wollte sich einfach nicht lichten.
Diesmal blickte das leuchtende Geschöpf mit diesen stets bewegten Iriden zu ihm hinab, ohne auch nur eine Miene zu verziehen. „So viele Fragen, die deine Zeit stehlen, Demian. Aber so viel sei dir gesagt. Du lebst im Zwielicht, um eine Prüfung zu bestehen. Entscheide daher weise jeden Schritt, den du setzt. Es wird kein Zurück mehr für dich geben. Und ob diese zwei Menschen füreinander bestimmt sind, lass meine Sorge sein, denn ich bin der Schicksalsträger. Ich wache über die Wege, die die Menschen ans Ziel führen, bevor sie ihren letzten Atemzug setzen und ihre Aufgabe damit erfüllen. Es ist eine große Bürde und Verantwortung, und ich kann dir versichern, sie wird dir auferlegt, solltest du scheitern. Du wirst keine Ruhe mehr finden, solange du das Leid durch falsche Schicksale nicht bekämpfst.“
Demian stieß die angestaute Luft aus seinen Lungen. Soll das ein dummer Scherz sein? „Und was, wenn ich darauf pfeife und dir kein verdammtes Wort glaube, das aus deinem Mund kommt?“, flüsterte Demian, der seine Lider zu bedrohlichen Schlitzen geformt hatte. Ihm war nicht entgangen, dass sich seine eigenen Hände zu Fäusten geballt hatten. Er hatte vor, sein Leben selbst zu bestimmen, und wollte daher nicht zulassen, dass er wie ein Lakai herumkommandiert werden würde. ER war sein eigener Meister und sagte, wo es langging. Sonst NIEMAND!
Plötzlich schien die Zeit stillzustehen, jeder der herumwuselnden Personen verharrte in seiner Bewegung und ein Netzwerk aus etlichen goldenen Fäden explodierte zwischen ihnen, sodass Goldstaub in der Luft rieselte, während diese angsteinflößenden Engelsaugen auf Demian gerichtet waren. Sein Herz raste und er hatte Mühe, seine Angst nicht nach außen zu kehren. Unvorbereitet schnellten die Hände des Schicksalsträgers an seine Schläfen, und eine Flut an Bildern schoss durch seinen Geist. Er sah diese dunkelhaarige Frau namens Kilea, wie sie lachend auf einen Mann zulief, Demian empfand am eigenen Leibe, wie stark ihre Gefühle füreinander waren, wie intensiv ihre Berührungen ausfielen, bis es umschlug, der Mann mit boshafter Genauigkeit mit ihr spielte, sie verletzte, ihre Seele verstümmelte. Demian konnte den Schmerz in jede seiner Fasern eindringen spüren, wie ein Stromschlag, der ihn nicht mehr losließ. Seine Augäpfel drehten sich, er bekam Krämpfe und erneut spürte er Flüssigkeit aus seiner Nase laufen. Gerade, als er dabei war, um Gnade zu betteln, wurden die Bilder noch intensiver und schmerzhafter. Verlustängste, Trauer, Demütigung, Bloßstellung, ... Kileas brechendes Herz und die Erkenntnis, dass seelischer Schmerz um so viel schwerer wog als körperlicher und sie schlussendlich den Freitod wählte. Mit ihrer Erlösung schrie nun Demian seinen Kummer in die Welt, bis diese verfluchten Hände von ihm gewichen waren und er sich am Boden kauernd zwischen schimpfenden Fußpaaren wiederfand. Die Zeit war zurückgekehrt mit ihrer unbarmherzigen Klarheit. Die Beine liefen hektisch um ihn herum, keine der dazugehörigen Personen schien ihm aufhelfen zu wollen. Stattdessen rammte ihm einer lieblos ein Knie in die Seite und begleitete es mit einer wüsten Beschimpfung, als ob Demian den Fehler begangen hätte. Nur mit Mühe konnte er sich hochstemmen, so sehr zitterten seine Knie. Er suchte verunsichert die Umgebung ab und wischte sich beiläufig das Blut mit dem Handrücken aus dem Gesicht. Die bittere Note auf seinen Lippen ließ Gewissheit einrieseln, dass sich das alles viel zu real für einen bloßen Traum anfühlte. Doch von dem Schicksalsträger war weit und breit keine Spur mehr, der Goldstaub verblasste langsam, und als Demian an sich hinabsah, musste er peinlich berührt feststellen, dass er seine Hose ungewollt eingenässt hatte.
Diese Reihe sehe ich als die authentischste Fantasystory,
die ich jemals geschrieben habe.
Das Schicksal ist so mächtig und umgibt uns alle.
Ein Grund mehr, ihm eine Romanreihe zu widmen.
Für alle meine Fans, die so lange auf meine
Rückkehr gewartet haben.
Danke für eure Treue.
Mit einem tiefen Atemzug, als ob seine Lungen gerade noch mit eisigem Wasser gefüllt gewesen wären, kam er zu Bewusstsein und kämpfte hustend und röchelnd um Sauerstoff. Seine zitternden Finger verkrampften sich zu einer Faust, um sie beherzt gegen seinen Brustkorb zu schlagen, in dem sein Herz raste und herauszuspringen drohte. Endlich bekam er Luft, und ihm wurde bewusst, dass kein Wasser seinen Körper geflutet hatte, dass kein einziger Tropfen seine Kleidung tränkte und auch sein Haar nicht patschnass seinen Schädel bedeckte oder Striemen von Flüssigkeit ihren Weg über seine Stirn suchten. Erleichterung durchflutete ihn, als er sich kraftlos hinabbeugte und er seine Hände gegen die Knie stemmte. Er versuchte, seinen Puls
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Tag der Veröffentlichung: 27.09.2015
ISBN: 978-3-7396-4977-1
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