Foto: C.Falk
Christian Fürchtegott Gellert
Der Blinde und der Lahme
Von ungefähr muß einen Blinden
Ein Lahmer auf der Straße finden,
Und jener hofft schon freudenvoll,
Daß ihn der andre leiten soll.
Dir, spricht der Lahme, beizustehn?
Ich armer Mann kann selbst nicht gehn;
Doch scheints, daß du zu einer Last
Noch sehr gesunde Schultern hast.
Entschließe dich, mich fortzutragen:
So will ich dir die Stege sagen:
So wird dein starker Fuß mein Bein,
Mein helles Auges deines sein.
Der Lahme hängt mit seiner Krücken
Sich auf des Blinden breiten Rücken.
Vereint wirkt also dieses Paar,
Was einzeln keinem möglich war.
Du hast das nicht, was andre haben,
Und andern mangeln deine Gaben;
Aus dieser Unvollkommenheit
Entspringet die Geselligkeit.
Wenn jenem nicht die Gabe fehlte,
Die die die Natur für mich erwählte:
So würd er nur für sich allein,
Und nicht für mich, bekümmert sein.
Beschwer die Götter nicht mit Klagen!
Der Vorteil, den sie dir versagen
Und jenem schenken, wird gemein,
Wir dürfen nur gesellig sein.
Prolog
Helga Siebecke
Ein schöner Gedanke, dass sich die damit schwer beeinträchtigten Menschen unter sich durch Nutzung der Ressourcen des anderen das Leben erleichtern könnten. Es ist das Naheliegende. Warum tun es die Gesunden nicht? Die Menschen können sich helfen, es gibt immer eine Möglichkeit, aber sie tun es nicht. Nicht genug, bei weitem nicht genug helfen sich die Menschen in der Not. Sie träumen davon, wenn sie in einer Zwangslage sind, dass Hilfe von außen kommt. Edel sei der Mensch, hilfreich und gut! Er ist weder das eine, noch das andere. Natürlich kommt es auch vor, dass einzelne Menschen sich untereinander helfen. Im kleinen Umfeld klappt es zuweilen, dass ein Blinder einen Lahmen über die Straße trägt. Im Großen sehe ich da nicht viel Hoffnung für ein solches Verhalten. Jeder sieht zu wie er seine Interessen zuerst durchsetzt.
Das liebe fremde Auge
Kannst Du Dir, lieber Leser, ein Land vorstellen, in dem ein Fahrrad Reichtum bedeutet, das höchste Glück? Du wirst mir antworten: nein. Und doch gibt es solche Plätze auf unserer vernarbten Erde.
Einer dieser Orte ist staubig und heiß. Hierher war der Reporter Hans Ulmen gereist, um von einer perfekt funktionierenden Lebensgemeinschaft zu berichten, in der Jeder für den Anderen da ist. Egoismus ist hier ein Fremdwort, oder besser: Es existiert noch nicht einmal ein Wort dafür in ihrer Sprache; und so sind diese Menschen fähig zu überleben, in Armut und unter einer erbarmungslosen Sonne, mit Würde und einer wunderbaren Haltung.
Ulmen sah: Dieser staubige und heiße Ort ist von Menschen bewohnt, nein: bevölkert. Deren Wohnungen sind Hütten aus Zweigen und Blättern, das wenige Wasser steht in dreckigen Bodenlöchern und die nächtliche Beleuchtung sind der silbrige Mond und die Sterne am Firmament. Es schien ihm, dass in diesem schwarzen Bogen mehr Sterne blinken, als in seiner Heimat; doch das ist nicht so: Wir haben die Milliarden Sterne am Himmelszelt mit unserem künstlichen Licht nur verblassen lassen - genau so wie das Glück, ein Fahrrad zu besitzen.
Unter diesem Firmament wurde eines Nachts Sami geboren. Der Mond schwamm gerade im Zenit und blickte mit seinen milchig strahlenden Augen herab, und ringsherum war, als die Schreie der Mutter verklungen waren, ein ruhiger See von seltsamen schwirrenden Geräuschen zu hören, die mit den Geburtswehen an- und abgeschwollen waren, und die Sami als erste auf dieser Welt willkommen hießen und in den Schlaf sangen. Die Frauen sprachen von einer glückbringenden Nacht.
Sami wuchs heran, die Mutter stillte ihn großzügig, bis er ihre Brüste leergesaugt hatte; dann wurde das Essen beschwerlicher und es lag nur noch ein wenig gräulicher Brei in der Holzschüssel, die ihm einmal am Tage gereicht wurde.
Sami war ein neugieriger Junge, der mit seinen großen Augen jede Kleinigkeit aufsog, die die Welt um ihn herum bewegte. Fliegen surrten um ihn herum, Heuschrecken hüpften schamlos in großen, elastischen Sprüngen mitten vor die Hütte. Vögel saßen unsichtbar im Schatten der Oasen-Bäume, und ihr Gesang schallte, vom heißen Wind getragen, herüber, von weitem und leise - er musste die Ohren spitzen; nachts wurden sie lebendig und flogen bis zu den trockenen Dornensträuchern vor der Hütte, um auf Jagd zu gehen und im Dunkel ihre Lockrufe auszustoßen. Lautlos und wie ein kräftiger Muskel angespannt durchschnitt eine gefleckte und giftige Schlange den Schatten und verschwand lautlos, wie sie gekommen war.
Nun war Sami ein großer Junge. Sie hatten ihn beschnitten, er ging zur Dorfschule. Die Spielkameraden von einst saßen jetzt zusammen in den Bänken und versuchten zu verstehen, was auf der Tafel aufgeschrieben war. Er spielte noch immer mit einer alten Fahrradfelge, die er mit einem Stöckchen zum Drehen brachte, um hinterherzulaufen, und mit den Kieseln, aus denen er Muster legte und für sich und die anderen Jungen ein Gewinnspiel zauberte.
Sein großer Wunsch war, ein Fahrrad zu haben. Er wollte damit in die Ferne radeln, vielleicht sogar bis zu der Oase am Horizont. Als er voller Mut eine Schlange erlegte, die seine vor der Hütte schlafende kleine Schwester in’s Visier genommen hatte, setzte der Vater ein Zicklein ein und erfüllte ihm diesen Wunsch.
Sami wurde größer und hatte nun kräftige Beine, um durch den Sand zu radeln und die Welt zu erkunden.
Das Licht seiner Augen nahm ab, denn eine Mücke hatte im Schlaf ihre Eier in seine Augen gelegt, und jetzt waren Fadenwürmer daraus hervorgekrochen, die sich tief in’s Gewebe einnisteten. Zu spät wurde er in die nächste Stadt gebracht und einem Arzt gezeigt. Er erblindete zusehends, und bald konnte er nur noch Schatten und Konturen sehen.
In seiner Verzweiflung zog er sich zurück und wagte sich nicht mehr vor die Hütte. Er weinte bitterlich, doch die Tränen konnten sein Augenlicht nicht mehr reinwaschen.
In der Hütte lebte, zusammen mit der Familie, eine Ziege. Sie war weiß, hatte ein schwarzes Köpfchen und wunderbare, grüne Augen mit einer querstehenden Pupille. Sami wusste das von früher, und er erinnerte auch, dass die Ziege schelmisch zu lächeln schien, wenn sie ihn ansah.
Die Ziege wich nun nicht mehr von seiner Seite, und so begann er, sie an einer Leine aus Schnur mit nach draußen zu nehmen, wo sie ihm, eng an seine Beine geschmiegt, die Richtung vorgab, in die er gehen konnte.
Da er sich immer mehr zurückzog, war die Ziege bald das einzige Wesen, mit dem er seine Zeit verbrachte. War er mit ihr allein in der Hütte, sprach er mit ihr und erzählte all seinen Kummer. Wenn er weinte, stupfte die Ziege ihn mit ihrem Köpfchen an und forderte ihn dazu auf, sich zu trösten. So wuchsen die Beiden zusammen zu einem Freundespaar. Sami hatte insgeheim einen wohlklingenden und blumigen Namen für sie gefunden, mit dem er sie rufen konnte.
Bald begann er wieder, auf’s Rad zu steigen und die ersten paar Meter zu fahren; die Ziege zog ihn an der langen Leine sacht in die richtige Richtung. Und so wurden die Beiden immer kühner, und bald hatte er den Mut gefasst, bis in die Oase zu radeln, um die duftende Frische des Schattens zu fühlen und das lustige Gurgeln der Quelle zu hören. Auch die Quelle sprach ihm Mut zu und machte ihn stark.
In der Oase lebte ein alter Mann, der Tiere heilen konnte. Er hatte sein Leben lang viel Gutes getan und mit seiner Kunst diese Oase -eine Arche Noah im ständig vom Wind bewegten Meer aus Wüstensand, welcher die Oase zu verschlingen trachtete - am Wachsen und Blühen gehalten; denn dort leben Pflanzen, Tiere und Menschen in Rücksicht und Respekt zusammen und unterstützen sich gegenseitig, so dass jedes Wesen seinen Beitrag zum Überleben der Oase leistet und gleichzeitig von ihr leben kann.
Eines Tages bemerkte Sami, als er die Ziege rief, dass sie sich nur mit Mühe erhob und nicht – wie sonst – in regelmäßigem Tritt daherstakte; sie humpelte und stöhnte dabei. Er tastete sie ab und begann, nach dem Grund zu suchen. Das linke Hinterbein war geschwollen, und sie zuckte zurück, als er es nur sachte anfasste. Sie fraß auch nicht mehr, lag Tag und Nacht nur in der Ecke der Hütte und schlief.
Sami schaute sich die Sache zwei Tage an, dann beschloss er, die Ziege auf den Rücken zu nehmen und bis zur Oase zu radeln, um den weisen alten Heiler aufzusuchen, der ihr sicher würde helfen können. Nur kurz machte er sich Sorgen, wie er dorthin finden würde; aber er vertraute auf seinen siebten Sinn und auf die Ortskenntnis, die er ja in den Jahren angesammelt hatte.
Sie radelten also los; und plötzlich hörte Sami zu seinem Erstaunen, dass die Ziege an seinem linken Ohr raunte und ihm mit klaren Worten die Richtung wies, in die er sich wenden musste. Solange sie nahe bei den Hütten waren, flüsterte sie heimlich; als sie sich aber entfernt hatten, rief sie auf der ganzen langen Fahrt in Klarheit die Worte „links“, „rechts“ und „geradeaus“, und so kamen sie wohlbehalten in der Oase an.
Der alte Heiler hatte sich schon über die sich nähernde zickende Stimme gewundert, und als er die Beiden heranradeln sah, war ihm alles klar. Die Behandlung der schönen und sanften Ziegenfrau war dagegen ein Klacks.
Hans Ulmen hatte das Quietschen des Rades gehört und war aus seiner Hütte am Rand der Siedlung gekrochen. Als er Sami und seine Freundin vorbeiradeln sah, schnappte er flugs seine Kamera und schoss d a s Foto seines (bisherigen) Lebens : Wie der Blinde und die Lahme sich in Liebe zusammentun, um das Geschick zu meistern.
Du kannst es nicht glauben und bist den Märchen entwachsen, lieber Leser? Sieh selbst.
Ja, wie kam es, dass diese Geschichte entstand ?
Anfangen muss ich damit, dass ich nun doch schon ein gewisses Stück Leben hinter mich gebracht habe - ein sehr wechselvolles Leben voller unglaublicher Ereignisse und unerwarteter Erlebnisse, ein Schatz, aus dem ich schöpfe. Es hat schon Leser gegeben, die meine Geschichten als „nicht nachvollziehbar“ bezeichnet haben; diese waren aber direkt vom Baum des Lebens gepflückt.
Als Kind nahmen meine Eltern (mein Vater war Musiker) immer mal wieder Studenten aus dem Ausland bei uns auf, die in Deutschland ein Stipendium bekommen hatten. Zuerst waren es Spanier – was mein Idealbild von einem schönen Mann ein- für allemal geprägt hat –, und dann kamen eines Nachts zwei Musikstudenten aus Uganda am Flughafen an und bezauberten uns Kinder, weil sie mit unserem Hund sprechen konnten und uns seine Klagen übermittelten, wenn wir ihn zu größeren akrobatischen Leistungen bewegt hatten, im entsprechenden Kostüm übrigens.
Mittlerweile hatte ich Medizin studiert und arbeitete im Krankenhaus als Anästhesistin und Intensivmedizinerin; ich war aber auch begeisterte Notärztin – zu Boden und in der Luft -, begleitete als Leibärztin unseren Bundespräsidenten, den Kanzler und den Außenminister und überhaupt alle Delegationen bei Auslandsreisen während der Wiedervereinigungsphase. Daher hat die Geschichte einen kleinen medizinischen Touch.
Mein ganzes Leben lang reise ich mit meinem Mann weit herum, so auch in Afrika. Dort sahen wir mehr als einmal ein solch halsbrecherisches Gefährt, auf denen sich ganze Familien mitsamt Tieren und Hausrat durch das Verkehrsgewühl bewegten.
Nun bin ich im Ruhestand, das Reisen hat nicht aufgehört. Mit dem Schreiben habe ich angefangen.
Ich bin aber auch an Krebs erkrankt.
Und jetzt kommt das Turnier.
Ich liebe es, Themen gestellt zu bekommen, an denen ich mich – vor allem anfangs – verzweifelt abarbeite mit der Befürchtung, hierzu niemals eine Geschichte zustande zu bringen. Das Thema ergreift Besitz von mir, schwadert bei Tag und bei Nacht wie ein Nebel durch mein Gehirn.
Dieses Mal war es besonders schlimm. Mir fielen nur landläufige Geschichten ein, Allerweltsgeschichten, Beziehungsgeschichten, Krankengeschichten. Das war mir zu langweilig; ich verwarf eine nach der anderen.
Da bekam ich eine Mail von einer Freundin, die eine Leidensgenossin ist: Sie schickte mir dieses Foto. Sofort fielen mir Geräusche und Gerüche und auch das Licht Afrikas wieder ein, das ganze Leben dort überschwemmte mich mit Macht.
Ich hatte nun einen Nachsorgetermin und musste in die Kernspin-Röhre, was mir jedes Jahr mehr Angst einjagt, Angst vor dem Knallen dort drin und vor allem vor dem Ergebnis. Das Verfahren dauert mehr als eine ¾ Stunde. Zur gleichen Zeit war mein Kater krank; er hatte einen Abszess an der Hinterpfote und hinkte, lag mit hohem Fieber in der Ecke und fraß nichts mehr. Auch das machte mir Sorgen.
Ich bestieg also das ‚Kernspin-Schafott’ und dachte die ganze Zeit in der Röhre nur an meine Geschichte rund um das erhaltene Foto; sie wuchs mir zu, sie wuchs aus mir heraus, belegte alle meine Sinne und ließ die Zeit im Fluge vergehen. Als ich herausstieg, war sie fertig. Ich hatte dieses Mal kein Problem beim Ruhigliegen gehabt, das infernalische Schlagen und Klopfen nicht einmal gehört.
Ein großes Glück; das Untersuchungsergebnis war in Ordnung, und die Geschichte war geboren.
Danach riss das Glück nicht ab; es ist fast schon unheimlich.
Moni hat uns fruchtbare und sehr tiefgründige Themen gestellt und damit unsere Kreativität angeregt. Hierfür herzlichen Dank, denn ohne sie wären diese Geschichten nicht entstanden.
Im Laufe des Turniers haben 184 Menschen meine Geschichten gelesen, 41 Punkte habe ich insgesamt geschenkt bekommen - und so bin ich heute Siegerin des Turniers. Ich hebe meinen Pokal und bedanke mich von ganzem Herzen, ganz und gar emotional in der Hoffnung, dieser und jener kitsch-kritische Leser nimmt es mir nicht krumm.
„Was ist Wahrheit?“ fragt Pontius Pilatus
und wendet sich ab.
Augen-Hintergrund
Von Wahrheit und Wahrnehmung
Er hatte eine Geschichte geschrieben über ein Vorkommnis, das ihm als jungem Menschen erzählt worden war und das ihn durch die Jahrzehnte immer weiter verfolgt hatte.
Als der Text auf dem weißen Papier stand, kam die Geschichte seinem lesenden Auge außergewöhnlich ungewöhnlich vor. Er fragte sich sogar, ob er den Text nicht in die Flammen des Kaminfeuers werfen sollte, denn ihm war klar, dass es schwierig sein würde, ihm diese Geschichte abzunehmen.
Aber dann tat sie ihm leid; er dachte dabei auch an die Jahrzehnte dauernde – fast wollte er sagen: tapfere - Erinnerung, die sich seither immer wieder mit der aufkommenden Schreiblust verbrüdert hatte, um dann regelmäßig und unnachgiebig von der Logik niedergeknüppelt zu werden, in der er erzogen worden war. Und doch hatte die Erinnerung auf dem Boden seiner Seele ausgeharrt. Denn sie hatte das Gewicht der Wahrheit.
Die Wahrheit war ein Grundpfeiler seiner Erziehung gewesen, auch deshalb, weil dieses Gebot - eines von den zehnen - in der Kindheit am meisten Anwendung findet. Es ist sozusagen die Basis für ein gerechtes und richtiges Verhalten; ist einmal die Liebe zur Wahrheit in uns eingeprägt, werden wir nie wieder lügen, betrügen oder gar uns etwas anmaßen, was uns in Wahrheit nicht gehört.
So hatte er jedes Mal, wenn die Geschichte aus der Tiefe auftauchte, darüber nachgedacht, ob ein Anderer sie als wahr erkennen und glauben würde. Und diese schwankenden Gedanken hatten ihn zum Versuch einer Definition geführt, was wahr und was unwahr sei, oder besser: Was wir als wahr und was wir als Lüge ansehen. Oder muss man sagen: Was ich als wahr annehme? Das würde bedeuten: Es gibt viele Wahrheiten.
*
Wir bekommen also als Kinder den Samen der Wahrheit eingepflanzt. Alles scheint einfach; die Eltern wissen genau, was wahr ist.
Wir wachsen heran, und die Welt zeigt sich uns in ihrer schillernden Gestalt. Man kann die Dinge so und so betrachten, man kann die Erscheinungen drehen und wenden, wo Licht war macht sich Schatten breit, was rot ist wird grau, wenn die Nacht kommt. Wahrheit wird gespeist vom Wissen, unser Wissen aber ist endlich.
Er liest von der Theorie, dass jeder Mensch sich seine eigene Welt erschafft, und zwar nur dadurch, dass er seine persönliche Wahrnehmung für absolut, für die Wahrheit hält. Absolut ist sie, aber nicht in Gänze kommunizierbar. Damit bleibt jeder in seiner eigenen Wahrnehmungsblase.
Ein blind Geborener sieht die Welt ganz anders als einer, der astigmatisch geboren ist oder ein dritter, der eine gute Sehkraft hat. Alle drei konstruieren sich ihre eigene unverwechselbare Vorstellung von der Welt. Alle Menschen prägen, ausgehend von dieser Fähigkeit des Sehens – neben anderen sensorischen Empfindungen -, das so entstandene Bild in ihr Gehirn ein unter der Überschrift: die wahre Welt. Ist die Welt ein Spielplatz der Wahrheit? Oder zeigt sie uns nur die Wirklichkeit? Was haben Wahrheit und Wirklichkeit für gemeinsame Schnittstellen?
Die Welt wird nicht nur durch die Augen erfahren, sondern mit allen Sinnen. Jeder Moment, jeder Augenblick fügt unserem Bild von der Welt, das wir aus Sicherheitsgründen als das einzig wahre akzeptieren, eine neue, kleine Facette hinzu. Mit diesem Facettenauge und durch die Brille des Erfahrenen schauen wir in die Gegenwart, unser Leben. So wird für uns und von uns in jedem Augenblick die Wahrheit neu zusammengesetzt. Sind wir in der Lage, mit großen Augen neugierig und frei wie ein Kind in die Welt zu schauen, werden wir eine neue, immer feinere Wahrheit entdecken; viel wahrhaftiger als einer, der die Augen verschließt, weil er immer schon alles wusste.
*
Er schaut in die Welt, blickt durch das Fenster und sieht einen Falken, der im Aufwind seine Runden dreht. Der Raubvogel blickt nach unten, und plötzlich legt er die Flügel an und schießt durch die Bäume zu Boden, um gleich danach mit einer Schlange zwischen den Greifern wieder aufzufliegen.
In diesem Augenblick muss er daran denken, dass dieser Vogel die Welt wirklich mit anderen Augen sieht. So hat seine Welt die ihr eigene Wahrheit.
Nachts fliegt eine Eule durch die Baumkronen, lautlos. Sie hat eine Maus erspäht im dunklen Unterholz, wo wir nichts gesehen haben. Oder sie hat sie rascheln gehört, während wir die reine Stille genossen. Die Maus wird ihre Mahlzeit. Wir kennen nichts von dieser Welt der scharfen Nachtaugen und der in anderen Frequenzen hörenden Ohren.
Die Katze hört durch die geschlossene Tür draußen eine andere Katze vorbeischleichen und verlangt, hinausgelassen zu werden, um sie in ihre Grenzen zu weisen. Wir wissen von nichts. Tagsüber sieht sie die Welt in mindestens fünfzig Schattierungen von Grau, nachts erkennt sie jede kleinste Kontur; sie hat auf ihrer Retina Zellen zur Restlichtverstärkung.
Unsere Augen sind Ausstülpungen des Gehirns in die Welt, unser Geruchssinn ist die Einstülpung der Welt in unser Gehirn. Wir sind inniglich mit der Welt verbunden, und doch können wir nur denken und fühlen, wenn wir uns ein Abbild von ihr gemacht haben. Dieses Bild ist nicht die Welt. Der Wirklichkeit, der Wahrheit kommen wir näher, wenn wir viel erfahren und der Erkenntnis keine Grenzen setzen.
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Er hat viel erlebt, hat immer gelesen, ist gereist; er ist gebildet und voller Verantwortung und Empathie. Er hat sein ganzes Leben lang als Arzt gearbeitet und die Glanz- und Schattenseiten des Schicksals gesehen. Das hat ihm die Augen geöffnet. In dieser Arbeit hat er viele Dinge erlebt, die keiner für wahr gehalten hätte, und die doch Teil der Wahrheit der menschlichen Existenz sind. Er hat den Tod gesehen, das Leben erfahren, die Ritzen, in denen es sich einnistet, in denen Hoffnung gedeiht und die Trauer über Verlorenes einsinkt.
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Er schaut in die Welt und sieht eine unumstößliche Wahrheit, den Tod. Der Gedanke daran scheint uns Menschen unerträglich; hier wenigstens gibt uns Religion einen Trost gegen diese waidwunde
Furcht vor der Sinnlosigkeit. An seiner Wahrheit jedoch kann sie nichts ändern.
In Ägypten waren bereits vor vier Jahrtausenden die Verstorbenen mumifiziert und dadurch für ihr Leben im Jenseits konserviert worden.
Im Mittelalter gab es hierzulande einen florierenden Handel mit Knochen, Schädeln, Körperteilen von Heiligen, die mumifiziert und dann als Reliquien verehrt wurden. Man kann sie heute noch in barocken Kirchen bestaunen. In der barocken Klosterkirche von Gutenzell sind die in zwei Altären eingebetteten edelsteingeschmückten Skelette der Heiligen Justina und Christina zu sehen, die ihn als Kind sehr beeindruckt hatten. In der Devotionalien-Hierarchie waren die Reliquien, die von Jesus persönlich stammten, die begehrtesten. Im Laufe der Zeit tauchten sogar mehrere heilige Vorhäute auf.
So viele Welten, so viele Wahrheiten, und doch nur eine.
Man könnte einwenden, dass es sich bei diesen Phänomenen um Wahrnehmungen handelt; und Wahrnehmung ist nicht gleich Wahrheit. Wahrheit ist absolut, sie kann nicht von diesem oder jenem vereinnahmt und mit einer persönlichen Prägung versehen werden; die Wahrnehmung schon.
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Er hat also am Ende diese wahre Geschichte aufgeschrieben. Seine ganze Person ist in den Stil der Erzählung eingeflossen; wer Augen hat zu sehen, der konnte aus dem wohlgewählten Wortteppich herauslesen, um wen es sich beim Schreiber handelt.
Als die kleine Geschichte das Licht der Welt erblickt hatte, teilte sich die Spreu vom Weizen.
Die meisten Leser, um der Wahrheit die Ehre zu geben, genossen die Wahl der Worte und zeigten sich bekümmert über den Inhalt der Geschichte.
Jedoch, es gab ein paar selbsternannte Wortführer, die sie nicht glaubten. Die Nicht-Glaubenden verdonnerten die darin geschilderten Ereignisse kategorisch als nicht nachvollziehbar, beschimpften sie als makaber und verurteilten sie, während sie sich selbst gleichzeitig als Wohlmeinende und überaus Kultivierte darstellten - man beachte die Ansammlung subjektiver Adjektive. Die Grenze zur Pathologie sei nah. Das Stichwort ‚Horror’ fiel, es war zu befürchten, dass Vampire nicht mehr weit waren.
Die Kritiker erlaubten sich vor dem Hintergrund ihres eigenen Lebens ein vernichtendes, jedoch nicht nachvollziehbares Urteil. Durch die Brille ihrer subjektiven allein selig machenden Wahrnehmung erklärten sie sie zur Lüge. Die Wahrheit.
Dabei braucht die Wahrheit nicht zwingend jemanden, der ihr glaubt. Sie existiert ganz einfach allein für sich.
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Die Geschichte handelte von einem stolzen Vater, der in einem anderen Land lebte. Als sein Erstgeborener viel zu früh auf die Welt kam und starb, brachte er es nicht übers Herz, den Leichnam des Embryos – der so klein war, dass er auf eine seiner schwieligen Hände passte - zu begraben. Er mumifizierte das kleine Wesen, aufdass es immer bei ihm bleibe, sein Leben lang.
Thema: Übereifer
Das lachende und das weinende Auge
Der Regisseur war für seine Komödien berühmt.
Damals, vor 40 Jahren, hatte er als Straßenkomödiant begonnen. Seine Mitstreiter für ein nicht-kommerzielles Theater, ein „Theater der Armen“ ohne Nerz und Würgerzwang, ohne brillantenblitzende Damen und geschniegelte Herren - einfach mit Frauen und Männern für Frauen und Männer - hatten jahrelang der Armut standgehalten und ihrem Stolz behalten. Als sie die Zeit der Jugend hinter sich gelassen hatten, fiel dieser und jener ab - aus purer Not - und wechselte an ein staatlich subventioniertes Theater, wo er ein kärgliches Gehalt und einen minimalen Rentenanspruch zu erwarten hatte und die Klassiker in jeweils neuem Gewand aufführte.
Es hiess: Der heutige Mensch muss sich mit King Lear identifizieren können, in dieser unserer Zeit, wo wir eine ausgewachsene Identitätskrise haben. Außerdem sind wir auf unsere Abonnenten angewiesen. Also erschien King Lear in Jeans und Cowboyboots auf der Bühne; nur mit Mühe kam seine königliche Art über die Rampe, denn er räkelte sich wie ein Spätpubertierender auf dem Boden herum und blieb das gesamte Stück über auf dem Teppich. Die Julia (ja, die vom Romeo) war schwer heroinabhängig, was kein Wunder ist bei dieser Sozialisation, und setzte sich am tragischen Ende natürlich den goldenen Schuss, und das nicht etwa aus Liebe, sondern aus Abhängigkeit. Der Prinz von Homburg trat breitbeinig und im Gestapo-Ledermantel auf und ballerte mit Worten und einer goldenen Pistole, und Emilia Galotti war eine Punk mit neonfarbenen Strähnen.
Der Regisseur hatte in seiner Truppe einen besten Freund, einen begnadeten Schauspieler, athletisch gebaut, der aus dem Stand die unwahrscheinlichsten Sprünge und Salti vollführen konnte und mit einer Viertelschraube immer heil auf dem Asphalt aufkam. Er nannte ihn ‚Muscolini’. Überhaupt hatten sie sich in die Commedia dell’arte eingearbeitet; der rüpelhafte Bauer und der raffinierte und wohlerzogene Narr zeigten zirzensische Stücke, die den Zuschauern allen Respekt abnötigten und gleichzeitig dem Auge und dem Geist Nahrung boten. Die Menschen dankten es ihnen und luden sie zum Essen ein, wenigstens aber zu einem Glas Wein. Die kleinen Mädchen strahlten sie an, und das Eis in ihrer Hand zerfloss und tropfte zu Boden.
Muscolini hatte sich in Simone verliebt, die eines Abends in der ersten Reihe der Zuschauer stand; eine wilde und leidenschaftliche Liebe, die die Zeiten überdauert hat. Simone wurde bald darauf schwanger, und sie entschieden, dass er in ein Angestelltenverhältnis wechseln solle, um die kleine Familie zu ernähren. So ging er ans Stadttheater. Er tröstete sich mit dem Gedanken, dass seine Kunst auch Kunstbanausen überzeugen könnte und dass vor Gott jeder Mensch, ob Banause oder nicht, gleich sei.
Im Laufe der Jahre, im Laufe der Spielzeiten, wurde er in allen großen Rollen des klassischen männlichen Repertoires eingesetzt, aber die Sache langweilte ihn immer mehr. Er gab den Götz, den Wallenstein, Siegfried, den Grafen von Montechristo, Richard den Dritten, Güldenstern und Macbeth, den Faust - er gab und gab und nichts kam zurück. Im Keller seines Mietshauses übte er weiter seine akrobatischen Nummern, und als er eines Tages seinen Freund, den Regisseur, wiedertraf, brauchte dieser keine großen Überredungskünste, um ihn wieder für sein neuestes Straßentheaterprojekt zu begeistern.
Der Regisseur hatte den Slapstick für sich entdeckt. Er war von den Worten abgekommen und hatte sich den Taten zugewandt, den Gesten, die überzeichnet und damit in großer Klarheit bis zur Lächerlichkeit überdehnt wurden. Jeder Zuschauer sollte sich in diesen unglückseligen Figuren wiedererkennen und, im besten Falle, über sich selbst lachen.
Muscolini war der richtige Mann; er konnte Menschliches und Allzumenschliches durch die Kunst der Akrobatik mit der Traurigkeit versöhnen, die jedwedes Versagen in uns hervorruft.
Und Muscolini wuchs über sich selbst hinaus. Er verstärkte die Figuren der Lächerlichkeit, überzog im Stolpern und Fallen wie ein Mistkäfer, schlingerte immer ausladender mit Armen und Beinen wie eine Schlange und drehte den Kopf wie der Uhu um seine eigene Achse.
Eines Tages fühlte er sich sicher und unfehlbar. Sein Sohn hatte das Abitur hinter sich gebracht, Simone liebte ihn über alles, und er hatte wieder eine Bühne gefunden, auf der er seine Zeit nicht umsonst verbrachte. Er fühlte sich von Dionysos, dem griechischen Gott des Theaters („wegsparen!“) geliebt und beschützt. Mit einem Blick zu ihm nach oben setzte er an zu einem Salto, den er zum ersten Mal mit einer ganzen Umdrehung abschließen wollte. Die Luft trug ihn für einen Augenblick, für einen allzu kurzen Moment. Er schlug mit dem Kopf krachend am Boden auf und konnte sich nicht mehr bewegen.
Nun saß er im Rollstuhl; Simone schob ihn, wo immer er hinwollte. An den Nachmittagen saß er vor dem Fernseher; er sah eine Dokumentation über Charly Chaplin.
Charly strampelte in einer Filmsequenz durch die Straßen, auf einen Zirkus zu. Er war arbeitslos und wollte sich als Clown verdingen. Der gestrenge Zirkusdirektor verlangte eine Probe seines Talents. Der Zirkusclown spielte ihm Szenen vor, er spielte Szene um Szene nach; der Clown übertrieb maßlos und langweilte, er aber reduzierte jedem Akt auf eine Andeutung und machte die Szene plötzlich lustig und gleichzeitig so menschlich, dass man darüber lachen musste und weinen konnte.
Und so - beeindruckt von Charlys großer Kunst, die das Kleine liebte -, dachte er an seinen gefährlichen Eifer, seine verzweifelte Risikobereitschaft, die ihn zu immer schwierigeren Stunts verführt hatten. „Herausforderung“ suchen ! Er hatte sein Haupt bis in den griechischen Götterhimmel gesteckt, jetzt steckte er im Rollstuhl fest.
Aber der Regisseur schrieb ein Stück für ihn: ‚Roll on, Rock’. Für seinen Freund fand er starke Worte, mit denen dieser seinen Schabernack treiben konnte, so akrobatisch wie eh und je.
Tag der Veröffentlichung: 16.07.2015
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