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Das Paradies liegt in uns verschlossen

Als Adam und Eva unter dem Apfelbaum ihre fristlose Kündigung bekamen – und damit für die Menschheit die unerbittliche Trennung zwischen Arbeitssphäre und Lebensraum betoniert wurde - , bekamen sie an den Pforten des Paradieses ein kleines Päckchen überreicht, in Geschenkpapier eingewickelt, mit einer großen grünen Schleife und der Aufschrift: G.

 

G.?

 

Adam, dem die Frucht vom Baum der Erkenntnis des Guten und des Bösen noch in Halse steckte, verstand die Aufschrift als ‚das Gute’. Eva hingegen hatte sich über das Gute und das Böse so geärgert, dass sie es verdrängte und das G. als Kürzel für ‚das Geheimnis’ interpretierte.

 

Sie waren in diesem Moment absolut off, am Boden zerstört und verzweifelt.

 

So steckten sie das Päckchen in eine der vielen Taschen der am ersten Dornenstrauch der neuen Welt auf sie wartenden Kleider; es handelte sich nämlich um Survival- und Outdoorklamotten, die der greise und weise Vater ihnen dort sorgsam vorbereitet hatte. Und damit hatten sie die Hände frei, um sich die Haare ausgiebig und adäquat zu raufen.

 

Überhaupt: das Raufen ! ‚Sich auseinandersetzen’ und ‚sich zusammenraufen’ waren Fremdworte, die sie überhaupt noch nie gehört hatten, geschweige denn in dieser Zusammensetzung und Reihenfolge.

 

Aber sie waren sofort von aktueller Bedeutung.

Denn Adam begann, kaum hatte er seine Stimme wiedergefunden, Eva die härtesten Vorwürfe zu machen wegen ihrer Leichtgläubigkeit und Eitelkeit. Als Eva diese Fachausdrücke vernahm, die in der Folge aus keiner der ausweichlichen Ehestreitigkeiten mehr wegzudenken waren, sollte ihr Erstaunen nur kurz währen, bevor sie in der Schatzkiste ihrer Kraftausdrücke kramte, um in Richtung Adam mit scharfer Stimme die Worte ‚Präpotenz’ und ‚Dominanz’ auszuspucken, die schäumend vor ihm aufklatschten.

 

Sollte sie vielleicht von Natur aus gebildeter sein als er? Egal: Er würde kämpfen und sich durchsetzen; von diesem Weib würde er sich allenfalls herausfordern lassen, um sich dann zu voller Bedeutung aufzublähen. Nicht mehr und nicht weniger.

 

Nun suchten sich beide eine Aufgabe, um sich abzulenken und sich gegebenenfalls sogar zu verwirklichen.

 

Eva wurde schwanger – auch das eine absolute Neuerung, die im „P.“, wie sie es schamhaft nannten, nicht denkbar gewesen wäre, wo die ewige Zellteilung keinen Sex brauchte, um das Leben zu erhalten.

 

Adam mutierte indessen zum Homo faber, klopfte Steine, machte Funken, schmiedete Eisen, schlug Bäume. So konnte er seine Kraft in Wertvolles wandeln: Werkzeug und eine Hütte.

 

Dort kamen in einer Ecke erst Kain und dann Abel zur Welt. Mit ihnen wurden der Neid und die Eifersucht geboren, die zu rasen begannen und sich bis zum Mord steigerten. Jedoch: Die Menschen vermehrten sich und die Menschheit wuchs immer mehr.

 

Je mehr die Menschheit forschte und je mehr Wissen sie ansammelte, desto mehr blieb im Verborgenen. All das Erkennen förderte keine Erkenntnis zutage. Wurde ein Problem gelöst, blätterten sich zehn neue Fragen auf wie ein Fächer.

 

Nach dem dunklen Mittelalter, in dem die Kirche vorschrieb, dass die Welt eine Scheibe sei, an deren Rändern der Sünder herunterfallen konnte, strahlte das Licht der Aufklärung auf. Wissen war nun der Wert an sich, verlor aber im selben Moment seine moralische Bedeutung, da es hemmungslos eingesetzt wurde für Ausbeutung und Krieg.

 

Unvermittelt war das Wort „Aktivitäten“ in der Welt und lenkte die Menschen vom Nachdenken ab. Jeder musste Aktivitäten entwickeln: unternehmerische Aktivitäten, Börsenaktivitäten, Freizeitaktivitäten, Beziehungsaktivitäten, Netzaktivitäten, terroristische und kriegerische Aktivitäten, die unbehelligt von den diplomatischen Aktivitäten florierten. Nicht immer führten all diese Aktivitäten zur Aktion, so mancher Handlungsspielraum wurde zu allem anderen genutzt als zum Handeln.

 

Die Frauen waren die ersten, die merkten, dass etwas nicht mehr so richtig lief. Die Hebammen meinten, die Führer der Nationen seien falsch gewickelt, die fleißigen und kreativen Handarbeiterinnen fanden, die Welt habe einen Webfehler und die Kuchenbäckerinnen diagnostizierten diesen oder jenen als nicht mehr ganz gebacken. Die Friseurinnen bürsteten von nun an gegen den Strich.

 

Die Männer aber kämpften, entwickelten und verwarfen Strategien, erfanden Superlative über Superlative, bis ihnen nichts mehr übrig blieb, als dem Verbrechen eine neue Qualität zuzuerkennen, eine nie dagewesene. Der Begriff „Menschengedenken“ ging in den Gedenkfeiern unter, der Blick wurde angesichts von Kriegsgräueln und Holocaust entschlossen nach vorne gerichtet, so lange, bis die Menschheit vor einer Tür stand mit einem großen eisernen Schloss, dessen Schlüssel sie nicht besaß, und sich daran fast den Schädel wund geschlagen hätte.

 

Szenenwechsel. Wechsel des Blickwinkels. Zoom.

 

Eva und Adam sind jung. Eva studiert Medizin und steht vor dem letzten Staatsexamen, Adam hat gerade die Lehramtsprüfung hinter sich gebracht, als sie sich, beide für ihren Single-Haushalt einkaufend, eines Samstags unversehens vor dem Regal voller Hunde- und Katzenfutter im Supermarkt befinden, wo eine uralte Frau dosenweise dieses Produkt der Tierliebe in ihren Einkaufswagen packt.

 

Beide fragen wie aus einem Munde: „Haben sie denn so viele Katzen?“

 

Die alte Dame schüttelt den Kopf und sagt: „Nein. Ich habe kein Geld.“

 

Zuerst verstehen sie nicht recht; aber dann kommt beiden gleichzeitig die Erleuchtung und sie sagen im Chor: „Essen S i e das denn?“

 

„Ja, und es schmeckt nicht schlecht, mit den vielen Vitaminen und den Spuren von Elementen; manchmal brauche ich etwas Fleisch zwischen meinen Zahnleisten. Ein Gebiss kann ich mir schon lange nicht mehr leisten.“

 

Sie schiebt den Einkaufswagen an und geht zur Kasse. Eva und Adam bleiben konsterniert stehen, schweigend, nachdenklich.

 

Sieben Tage später – es ist wieder Samstag - macht Eva einen Nachtdienst im Krankenhaus, um sich ein kleines Zubrot zu verdienen. Da ihre Approbation noch nicht eingetroffen ist, arbeitet sie als Praktikantin in der Notfallambulanz.

 

Bis 23 Uhr ist es recht ruhig; nur einige Heimwerker, die sich mit dem Hammer auf den Finger geschlagen und nun ein pochendes Hämatom unter dem Nagel haben, träufeln ein. Die Hausfrauen, die sich mit Messer und Gabel verletzt oder sich im Spülbecken an einem zerbrochenen Glas geschnitten haben, sind längst versorgt und mit Verband und Tetanusspritze wieder nach Hause geschickt worden.

 

Die Rettungsleitstelle ruft an und meldet die baldige Ankunft des Notarztwagens mit fünf Opfern einer Schlägerei.

 

Die Blaulichter flackern schon auf der Auffahrt, die Signale sind ausgeschaltet. Die fünf Patienten werden auf die vorhandenen Untersuchungsräume verteilt.

 

Eva und „ihr“ Doc fahren ihren Patienten herein und lagern ihn auf der Untersuchungsliege. Er hat einen fast völlig durchgebluteten Kopfverband; nur die Augen blicken aus dem beginnenden Brillenhämatom heraus, und das sind Augen, die Eva schon einmal gesehen hat; sie erkennt sie wieder. Der Patient ist zwar etwas verlangsamt, aber ansprechbar.

 

„Was ist passiert?“

Er hat sich dazwischengeworfen, als eine Bande einen einzelnen Jungen überfiel.

 

„Name ?“

 

„Adam E.“

 

Die große Skalpverletzung wird versorgt, das gebrochene Nasenbein eingerichtet und mit einem Gipsdach stabilisiert. Die Nase wird abgestopft, Adam schnappt nun aus dem offenen Mund nach Luft. Er wird auf die Station gefahren und für 24 Stunden überwacht, da er nach dem Faustschlag kurz bewusstlos war.

 

Am übernächsten Morgen wird er nach Hause entlassen.

 

Die Welt rast weiter durch das kalte All, auf ihr toben Konflikte, das Paradies scheint vergessen; Jeder dreht sich um seinen eigenen Nabel.

 

Beide, Eva und Adam, beginnen mit ihrer Berufstätigkeit, auf die sie sich durch jahrelanges Studium vorbereitet haben. In der Arbeitswelt weht ein scharfer Wind, und ihre Vorstellungen und moralischen Leitlinien werden auf die Probe gestellt. Nicht alle Erfahrungen, die sie machen, sind angenehm. Die Bedingungen sind von Konkurrenz und Kampf geprägt.

 

Eva macht auf subtile Art Karriere im Krankenhaus, aber alles braucht seine Zeit. Hier geht es oft um Leben und Tod, um das menschliche Los und dessen Beeinflussbarkeit; die Grenzen der Medizin werden durch das Schicksal erbarmungslos aufgezeigt. Bei allen Regeln, die sie für die Ausübung ihres Berufs während des Studiums verinnerlicht hat, stellen sich täglich grundsätzliche Fragen zum richtigen Handeln. Sie beobachtet die älteren Kollegen und übernimmt deren Erfahrungsschatz; aber in den grundsätzlichen Punkten muss sie sich ihren Weg selbst freischneiden.

 

Adam geht engagiert in seine Arbeit als Lehrer. Er sieht sich konfrontiert mit Kindern, die allzu oft den Lockungen der Konsumgesellschaft und ihrer Spielgeräte erliegen. Er fühlt, dass der Erziehungsauftrag häufig vom Elternhaus auf die Schule übertragen wird. Seine große Sorge ist die Zukunft dieser Kinder, die von klein auf einem harten Leistungsanspruch unterliegen. Auch er erkennt seine Grenzen und macht nach und nach Abstriche an seinem Selbstverständnis als Lehrer. Er ringt um valide Entscheidungsgrundlagen.

 

Als sich Eva und Adam zufällig auf einer Nepal-Reise treffen, kommt es zum Wiedersehen. Sie stehen hintereinander in der Schlange am Flughafen.

 

Schon die Anreise ist abenteuerlich und anstrengend. In Nepal angekommen wandern sie durch lichte Landschaften, sorgsam angelegte Reisplantagen in großer Höhe, die wie hellgrüne Wasserbecken aussehen, und besteigen einen der kleineren Gipfel des Himalaya. Sie freunden sich an und sprechen über ihr Leben und ihre Pläne. Sie verlieben sich und stehen damit an den Pforten des Paradieses. In einem Schrein des Buddha-Klosters Benchen überreicht ihnen ein junger Mönch ein Kästchen mit einer grünen Schleife und der Aufschrift : G.

 

Sie lachen, und als sie es öffnen, finden sie darin einen Schatz: das Gewissen. Sie erkennen darin den Schlüssel für die Tür zur Erkenntnis von Gut und Böse.

 

*

 

Es ist das Gewissen, welches uns Menschen in die Lage versetzt, recht von schlecht und richtig von falsch zu unterscheiden; es lässt uns menschlich handeln. Das Gewissen legt Maß an alles, was wir je im Leben denken und tun können, und weist allem den richtigen Platz in der großartigen Ordnung zu, in der die Sphären sich umeinander drehen.

 

 

Der Geschmack der Worte

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Den Kopf voller Worte, die durch die Windungen des Gehirns fräsen, ungreifbar und ohne Gestalt; wir saugen sie in unseren Mund, kauen vielleicht noch ein bisschen darauf herum und spucken sie aus. So sind sie in der Welt, flüchtig wie ein Duft, irisierend. Wir haben keine Macht mehr über sie.

Der Andere nimmt sie auf und lässt ihren Geschmack auf der Zunge zergehen. Dann verdaut er sie.

 

 

„Ich liebe dich.“

 

Wie ein Knall kamen diese Worte über ihre Lippen, wie abgeschossen aus dem kalten Lauf einer Pistole. Sie verfehlten ihr Ziel, und nach Bruchteilen einer Sekunde waren sie verpufft.

 

Und doch war nach ihnen alles anders als vorhin.

 

Denn mit diesen Worten war die Falschheit in der Welt, die Berechnung. Das Gift der Lüge hatte sich in diesem Hotelzimmer ausgebreitet und kroch in die schweren Vorhänge, die zugezogen waren. Im Halbdunkel, in dem die Gesichtszüge schwer auszumachen waren, breitete sich Peinlichkeit aus, die der Pein den Weg bereitete.

 

Jetzt war es vorbei.

 

Er lag wie erschossen auf dem zerwühlten Bett. Er merkte noch nicht einmal seine verrenkten Glieder.

 

Sie fuhr hoch, erschreckt, verbarg ihr Gesicht und raffte die Kleider zusammen, die im ganzen Zimmer verteilt lagen. Dann zog sie sich in’s Bad zurück, vermied aber, das Licht anzumachen, weil sie befürchtete, vom eigenen Gesicht aus dem Spiegel beäugt zu werden. Sie verzichtete auf eine Dusche, wusch sich notdürftig, schlüpfte in die Kleider und drückte sich wie ein Schatten durch die leise geöffnete Zimmertür. Sie erreichte den Lift, hielt sich mit Mühe aufrecht, an die Wand gelehnt, die mit ihrer Kühle den Schlag ihres laut pochenden Herzens vervielfältigte und – so schien es ihr – auf das ganze Haus übertrug. In der Lobby angekommen, warf sie dem Nachtportier eilig die Worte „er bezahlt“ zu, um sich durch die Drehtür zu zwängen und in der laut tosenden Nacht zu verschwinden.

 

„Er bezahlt“. ‚Der Preis der Liebe’ kam ihr in den zerfledderten Sinn.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

„Ich liebe dich“. Wie lange hatte sie an diesen Worten geschliffen, bis sie leuchteten wie einer der glitzernden und kalten Sterne der Nacht. Das Gefühl hatte wochenlang in ihr rumort, hatte sich durch ihr Gedärm gewunden, war, verdaut und wiedergekäut, immer wieder in ihr aufgestoßen, hatte sie gewärmt und am Leben gehalten. Das Gefühl war ihr Leben selbst.

 

Erst, als sie sicher war, dass das Gefühl ein Wort verdient, um sich außerhalb ihrer selbst in die Welt zu begeben und sich dort auszubreiten, hatte sie nach diesem Ausdruck geforscht und tief gegraben. Wer hätte gedacht, dass so ein pulsierendes, luftähnliches Wort so tief vergraben liegt und doch nichts von seiner Leichtigkeit eingebüßt hat, und leuchtet wie am ersten Tage !

 

 

 

 

 

 

 

 

„Ich liebe dich.“

 

Die Liebe also; sie hatte sie gekannt und vergessen. Sie hatte sie zwei Mal kennengelernt, und jedes Mal hatte sie sich unmerklich verändert und am Ende aufgelöst.

 

Das erste Mal hatte sie sich geliebt gefühlt, als sie ein kleines Mädchen war. Ihr wunderbarer Vater, groß und stark, hatte sie in seinen Armen gewiegt und ihr die schönsten Worte zugeflüstert, die ihr kleines, wunderbar wie eine Muschel gewundenes Ohr aufnehmen konnte. Sie waren am Meer gewesen, in Sonne und Wind ein vollkommenes Glück. Der Vater hatte ihr ein Geschenk gemacht: eine Südseeschnecke, gerade so groß wie ihre kleine Hand, perlmuttweiß mit einem feinen türkisfarbenen Streifen rund um die Öffnung, an die sie ihr Ohr legte und, wenn sie im Sehnen durch das anfängliche Rauschen hindurchdrang, die wundervollen Worte des Vaters hörte, immer und immer wieder: Ich liebe dich.

 

Eines Abends fiel ihr die Schnecke aus der Hand und zersprang in tausend schillernde Teilchen; und als sie flugs versuchte, die perlengleichen Schätze aufzuheben, schnitt sie sich an ihnen, so dass alles voller Blut war; weiss und rot. Die Mutter, seit einiger Zeit nervös und ungeduldig, hatte einen Schreianfall bekommen, den die beruhigenden Worte des Vaters nicht durchdringen konnten, um sie, die Kleine, in Sicherheit zu bringen. So war sie diesem schrillen Anfall hilflos ausgeliefert gewesen.

 

Es hatte nicht lange gedauert, da war der Vater verschwunden, und eine Wand von Bösartigkeit hatte ihn für immer ferngehalten. Die giftigen Worte, die ihr von der verlassenen Mutter in’s Ohr geträufelt worden waren, hatten die Seele angedaut und hatten ihr eine Wunde gesetzt, die lange schwären sollte.

 

„Ich liebe dich.“ Das hatte ihr die Mutter, abends nach der Gute-Nacht-Geschichte gesagt, bevor sie das Licht dimmte.

„Ich liebe dich“, manchmal so voller Wärme und Traurigkeit, manchmal dahingesagt, um Zeit zu gewinnen - abwesend das Herz; nur Worte, durch die Reihe der Zähne gezogen.

 

 

 

 

 

 

 

 

Mit 14 Jahren hatte sich in ihrem Körper etwas verändert. Ihre Augen sahen mit einem Schlag anderes in der Welt, als bisher: Mond und Sterne und die dunkle Nacht voller seltsamer Stimmen nahmen die Fantasie gefangen, im Gegensatz zu dem schnöden Tag, der einfach nur die Vorstellungen der Spießer wiederspiegelte.

 

Die Erinnerung an den Vater bekam immer mehr Tiefe und Schärfe.

 

Ihr Schulkamerad Kevin warf urplötzlich während der Deutschstunde flammende Blicke zu ihr herüber, Blicke, wie sie sie noch niemals mit ihrem wachen Auge aufgefangen hatte. Sie konzentrierte sich verwirrt auf das Buch, das sie nicht interessierte.

 

Es vergingen ein paar Tage; da waren Kevin und sie zusammen zum Pausendienst eingeteilt. Sie versuchte ihm auszuweichen; doch sie mussten sich abstimmen. Ihr klopfte das Herz bis zum Halse, dessen Haut zu flammenrot brennen anfing. Kurz schaute sie Kevin in’s Gesicht und sah ein Paar wunderschöne Augen. Sie übernahm den hinteren Teil des Pausenhofs und trollte sich sofort. Sie hatte dort keine Probleme und konnte durchatmen. Dann ertönte die erlösende Klingel.

Der Winter ging in’s Land und zog sich schon in die Berge zurück, da fasste sich Kevin ein Herz und fragte bei ihr an, ob sie einverstanden sei, mit ihm zu gehen. In der Klasse gab es schon einige solcher Paarungen, und alle tuschelten und schauten mit Neugier, welches Pärchen sich als nächstes bildete; ja, es war eine Art Konkurrenz entstanden.

Sie zählte die Tage, die ihre Freundschaft nun schon dauerte. Im Frühsommer, zu ihren Geburtstag, steckte Kevin ihr einen Freundschaftsring an den Finger. Es folgte die Tanzstunde, die sie zusammen absolvierten und bei deren Abschlussball sich die Eltern kennenlernten, einige schüchterne Küsse, dann die problembeladene Zeit vor dem Abitur - in der sie sich beistanden - und die Prüfung selbst.

 

Danach teilten sich ihre Wege, weil beide in verschiedenen Städten zu studieren begannen. „Ich liebe dich“ hörte sie am Telefon, „ich liebe dich“ schrieb sie als Antwort.

 

Zu Weihnachten kamen alle nach Hause zurück. Kevin und sie trafen sich wieder in ihrer Schülerkneipe, nach der Bescherung um Mitternacht. Das alte, aufwühlende Gefühl hatte sich erhalten und war durch die Sehnsucht aufgeladen. Sie trafen aufeinander, sie schliefen zum ersten Mal miteinander. Es war ein Eintauchen in’s Paradies.

 

Das Studium stand an vorderster Stelle. Nach den Abschlussprüfungen suchten beide eine Stelle in derselben Stadt und zogen miteinander in eine kleine Wohnung. Die Eltern sprachen vom Heiraten.

 

Das tägliche – und auch das Liebesleben – wurden zur Gewohnheit, zur Selbstverständlichkeit. Sie richteten sich bequem darin ein.

 

Alles ging, oberflächlich gesehen, gut bis zu dem Tage, als Kevin nicht nach Hause kam. Er hatte sich in der letzten Zeit unmerklich von ihr entfernt; sie hatte sich den Grund nicht erklären könnten, hatte nachgedacht, in der Vergangenheit gegraben, die Gründe bei sich und bei ihm gesucht; Kevin sprach nicht darüber. Jetzt war er verschwunden. Es kam eine SMS : „Ich liebe Sebastian, tut mir leid, Kevin.“ Nach weiteren zwei Wochen stellte sie seine Koffer vor die Tür, und als sie abends nach Hause zurückkam, waren die Koffer weg.

 

 

 

 

 

 

Lange hatte sie daran zu kauen, zu verdauen. Ihr Vertrauen war zerstört. Sie würde sich nie mehr jemandem ausliefern. Sie würde immer ihre Lebensinsel behalten, auf der keiner willkommen war. Von hier aus begann sie Ausflüge zu unternehmen. „Die Welt ist voller Frauen und voller Männer.“

 

Sie hatte einige Affairen, vom one night stand bis zu Liebeleien, die einige Monate dauerten. Immer endeten sie am selben Punkt: an der Beliebigkeit.

 

Dann fühlte sie sich wieder verliebt, verliebt wie beim ersten Mal.

Er war verheiratet, sie hatten sich bei einer Fortbildungsveranstaltung kennengelernt. Am Ende eines jeden Tages der Wissensaufnahme waren die Abende frei und ungebunden. Schon am ersten Abend rutschte atemlos das Wort aus ihrem Munde: „Ich liebe dich.“

 

Die Liebe wurde immer enger, immer fordernder. Die Nachmittage im Hotelzimmer bekamen einen bedrohlichen Unterton, verlangten nach Nächten, Wochenenden, Urlauben. Der Geschmack der Worte wurde bitter. Sie forderte, dass er sich scheiden ließe. Er versprach, die Sache zu lösen. Sie ließ sich von Monat zu Monat, von Woche zu Woche, von Tag zu Tag vertrösten. Dann war ihre Geduld aufgebraucht. Als er – entspannt nach der Liebe am Nachmittag -„nein“ sagte, knallte sie ihm entgegen: „Ich liebe dich“ und wusste doch schon – bevor die Worte Gestalt annehmen konnten -, dass es vorbei war.

 

Da war der Vorhang zerrissen.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Dahinter, im Dunkeln kauernd, war ein Wesen zu sehen, das Gesicht zwischen den Armen versteckt; ein kleines Mädchen, das Angst hatte.

 

Ohne den Geschmack des Wortes zu kennen, um den Geschmack der Liebe herauszuspüren, hatte sie in der letzten Zeit überwürzt und sich dabei hoffnungslos die Seele verbrannt.

 

Die Spinne

„Die Gesamtsumme der Schulden beläuft sich auf...“

Der Geschäftsführer, Herr S.*), streckte seinen kleinen Finger und fuhr mit der Fingerbeere über das Blatt, das voller Zahlen war. Der Fingernagel war penibel gefeilt und rot lackiert.

 

Die junge Frau, die mit ihren Eigentümer-Kollegen – fast möchte man sagen: Schicksalsgenossen – auf den unbequemen Stühlen des Nebenzimmers der Gaststätte ‚TC Niederstetten’ Platz genommen hatte, folgte mit ihren schönen, perfekt gestylten Augen dem Rot - Marke ‚Poisson’ -, wie verhext. Die Spiralen, die der kleine, unschuldige Finger vollführte, begannen sich zu zentrieren und zogen, gleich einem gurgelnden Sog, den Blick in die Tiefe des Schuldenlochs, und den Eigentümern in der hehren Runde wurde allesamt schwindlig.

 

*) Um eventuellen rechtlichen Schwierigkeiten von vorneherein aus dem Wege zu gehen, wird hier anonymisiert und ausdrücklich festgestellt, dass jedwede Ähnlichkeit rein zufällig ist.

 

 „Ist der schwul?“ fuhr ihr durch den Sinn, und sie versuchte, sich mit diesem zugegebenermaßen etwas unpassenden Gedanken im Strudel festzuhalten. Dabei fiel ihr ein, dass sie erst heute Morgen im Waschbecken eine große schwarze Spinne mit einem heißen Wasserstrahl durch das Abflussloch gespült hatte. Ein furchtbarer Gedanke kroch in ihr hoch: Was, wenn die Spinne sich, genau so, wie sie nun, festgekrallt hatte, um im Schutze der Nacht wieder hervorzukriechen?

 

Überhaupt: diese Angst vor Spinnen. Sie hatte versucht, der Sache auf den Grund zu gehen. Immer mal wieder tauchte ein Artikel in dieser oder jener Frauenzeitschrift auf, Generationen von Psychologen hatten sich an diesem Thema abgearbeitet. ‚Ist das ein Genderproblem?’ fuhr ihr durch den Sinn. ‚Kenne ich überhaupt einen einzigen Mann, der diese Angst auch hat?’

 

Von archaischen Ängsten war die Rede; von Spinnen, die andernorts durchaus gefährlich sind, hier aber höchstens einer Fliege etwas zuleide tun können. Man sprach von einer evolutionär entscheidenden Vorsicht aus den Zeiten vor der großen Wanderung des Urmenschen in klimatisch günstigere Gefilde. Diese Angst hatte sich erhalten, durch die ganze Entwicklung hindurch bis zum modernen Menschen. Heute nun entwickelt sie manches Mal eine unsinnige Luft-Blase, die den Blick vernebelt und dann folgenlos im All verschwindet.

 

‚Was ist dagegen die Angst vor dem Absturz in das Schuldenloch?’ sagte sie sich tröstend und führte ihren Blick zurück aus Afrika auf die Stelle, an der der rotlackierte Nagel Halt gemacht hatte.

 

Der Geschäftsführer sprach mit sonorer und zugleich monotoner Stimme. ‚Eigentlich ein schöner Mann, nicht gerade nett,’ dachte sie und beruhigte sich.

 

„Ich kann Ihrem Schrecken entgegenwirken.“ Ein allgemeines Aufatmen ging durch die Runde. Ungläubig blickte die Gruppe der so unversehens mit dem Schuldengeständnis Konfrontierten auf das wohlrasierte, energische Kinn des Herrn S. über dem weißen gestärkten Hemdkragen mit dem impekkablen Kravattenknoten; ein Hüsteln und Murmeln begann den Nebenraum der Gaststätte zu erfüllen.

 

Herr S. hob den rotmarkierten Finger an die Lippen. „Wie Sie wissen - unter dem Siegel der allergrößten Verschwiegenheit und der Androhung von rechtlichen Konsequenzen, falls hier das Vertrauen missbraucht wird -: Ich bin Mitglied der Geheimloge P111, eines wichtigen Netzwerks mit Wurzeln im mafiösen Geschäftsbereich von Banken und Versicherungen. Ich muss Ihnen nicht sagen, dass sich unsere Loge in der letzten Zeit sehr differenziert und überaus erfolgreich weiterentwickelt und vergrößert hat und ihre effizienten Dienste weit in die politische Landschaft und in die Schützengräben der Geheimdienste vorgetrieben hat. Ich kann hier als potenter Vermittler auftreten; die Bilanz habe ich dort schon vorsorglich präsentiert und die Zusage erhalten, dass unter bestimmten Voraussetzungen ein, nein: beide Augen zugedrückt werden.“

 

Das allgemeine Aufatmen wich einer schrecklichen Stille. Ein Jeder ging mit sich ins Gericht.

 

Sie sollte die Vorlauteste sein. „Welche Voraussetzungen?“ presste sie hervor.

 

„Sie kennen den Pakt zwischen Faust und Mephisto.“

 

Es gab unter den Anwesenden durchaus Leute, die verständnislos den Kopf schüttelten.

 

„Aber ich muss ja gar nicht so weit gehen: Jeder von Ihnen weiß, was es heißt, seine Seele zu verkaufen.“

Die Verständnislosen wollten nun nicht klein beigeben und begannen, tief im Inneren nach ihrer Seele zu graben. Ihre Gedanken drangen durch den kreditfinanzierten vorweihnachtlichen Kaufrausch, der die Einzelhändler und die Banken mehr als erfreut hatte, gelangten in ein düsteres Hotelzimmer oder aber an einen mondbeschienen nächtlichen Strand oder gar auf eine Toilette - romantische Orte, an denen sie ihre Ehepartner betrogen hatten -, liefen am Kreuzweg ihrer jugendlichen und kindlichen Lügen vorbei und kamen am Boden das Netzes an, in das sie sich beizeiten gelegt hatten. Die Seele war inzwischen verpufft.

 

Und so war es für alle keine Frage, dass es nun hiess: „Auf ein Neues!“ Die alten Verbindlichkeiten waren flugs umgeschuldet, die Spekulationsblase reagierte mit einem kurzen Aufblähen, um dann stinkende Luft abzulassen. Das klebrige Spinnennetz hielt und die in ihm gefangenen Opfer wurden mit einem dünnen, seidenen Faden eingewickelt und stranguliert, bis ihnen der Saft aus den Lenden gezogen werden konnte. Die leeren Hüllen wurden ausgeschnitten und fielen zu Boden.

 

Gespenster im Nebel

Ich sehe: Sie stehen am Rande des Weihers und schauen in meine Richtung. Sie können mich aber nicht sehen. Sie glauben, Sie seien vollkommen allein in dieser Märchenlandschaft, Sie atmen tief ein und genießen die Ruhe und Einsamkeit. Ein Rabe krächzt im Wald.

 

Sie setzen sich auf einen der Baumstümpfe. Passen Sie auf, dass das feuchte Moos keine Flecken auf Ihrer Hose hinterlässt. Halten Sie Ihre Beine still, sonst versinken diese in dem schlammigen Boden. Ja. Blicken Sie nur her. Sie werden nichts sehen. Also: nicht gerade nichts, aber nicht das, was wirklich hier passiert ist.

 

Dort, wo Sie jetzt den gelben Schein der Blätter sehen, dort saß ich dereinst.

 

Es war Frühling und die Blätter grün und satt. Die Nachtigall sang ihre Liebeslieder in diesem Baum, schluchzend und jubilierend. Sie sang Tag und Nacht, Nacht und Tag, nichts konnte sie stören. Die Glühwürmchen zogen ihre blinkenden Spuren durch die Nacht, am Weiher entlang, dessen dunkle Tiefe sie zum Leuchten brachte. Sonst war alles still, eine vollkommen überraschende Stille, eine lähmende Stille.

 

Sie hielt mich gefangen an diesem wunderbaren, an diesem furchtbaren Ort.

 

Ich weiß nicht mehr, was ich sah. Schaute ich in den Abgrund meiner verbrecherischen Seele, sah ich mein verdorbenes Leben ? Ich glaube nicht. Noch jetzt kann ich es nicht anschauen.

 

Ich schaute vielleicht auf meine Hände, die jetzt so tatenlos harmlos in meinem Schoß lagen.

 

Nicht weit von meinen Händen weg lag sie, ihren Hals mir zugewandt. Er hatte einen roten Kranz, dieser weiße Hals wie aus Elfenbein. Ich stieß sie mit der Spitze meines Schuhes an: kein Lebenszeichen. Und das, obwohl sie sonst doch gegen solche brutalen Übergriffe lauthals protestiert. Sie ist ein feines Mädchen, empfindlich, empfindsam. Das gefällt mir an ihr, das komplettiert meine eigene, etwas grobe Art. Wir sind die zwei Seiten einer Medaille, die golden glänzt und, wenn man sie umwendet, abgegriffen und rostig ist. Ihren unbändigen Lebenswillen, ich habe ihn mir untertan gemacht. Jetzt ist er verflogen, weggeflattert wie ein Schmetterling. Sie hat geknospt, geblüht und keine Frucht getragen.

 

Jetzt blicke ich an jene Stelle und erschauere, denn ich sehe sie nicht mehr. Der Nebel kann es nicht sein, der sie vor meinen Augen verbirgt. Hat sie sich vielleicht doch wieder aufgerappelt und hat sich mit schweren Beinen auf allen Vieren in Sicherheit gebracht ? Oder sehe ich sie einfach nicht mehr, versteckt durch den blinden Fleck – so, wie Sie mich nicht sehen ?

 

Es ist Herbst, und Frühling und Sommer haben keine Spuren hinterlassen. Sie sind einfach verweht. Das ist das Gespenstische an diesem Ort.

 

Raster

Jeder Tag unseres Lebens ist ein Sammelsurium von Gelegenheiten.

 

Wir wachen morgens auf und warten mit verwunderten Augen und aufrecht wie ein König, darauf, dass sie vor uns vorbeidefilieren; und da wir zu dieser frühen Zeit eigentlich wie Neugeborene sind, die mit ihren großen Augen die Wirklichkeit nur verschwommen erkennen können, nehmen wir die Gelegenheit eine an und verwerfen die andere, uns über unsere Großzügigkeit wundernd.

 

Vergeht der Tag, vergeht das Leben; in der Dunkelheit sehen wir glasklar, dass wir die eine und die andere Gelegenheit verpasst haben. Nach einem Moment der Sorglosigkeit keimt der Gedanke auf, dass sie für ewig verpasst sind, dass sie nie mehr wiederkehren werden; denn sie sind wie wir: vergänglich.

 

Wir legen uns schlafen; im Traum können wir die Zeit zurückholen und die Gelegenheiten mit schneller Hand ergreifen. Doch beim Erwachen springen sie uns vom Angelhaken, und wir verlieren sie für immer.

Jakob war ein guter Schläfer, ein Schnellschläfer. Er schlafe effektiv, so pflegte er zu sagen. „Im Schlaf verpasse ich sonst zu viele Gelegenheiten.“

 

Er hatte ein Elite-Studium hinter sich gebracht, und sein Lebensplan hat bisher nichts zu wünschen übrig gelassen. Er hat seinen Traumberuf gewählt, er hat eine gut dotierte Stelle gefunden, eine Stelle mit Perspektive. Sein Weg war so glatt wie seine schwarzen Haare und so eben wie Ebenholz.

 

Es war da eigentlich nicht viel zu entscheiden gewesen, die Gelegenheiten hatten sich vor ihm aufgebaut, er hatte sie ergriffen.

 

Nun, mit knapp 30 Jahren, stellte sich ihm die erste Entscheidung in den Weg; und zwar mir solcher Dringlichkeit, dass er nicht einmal eine Nacht Zeit hatte, darüber zu schlafen. Gottlob war er auch ein Schnellentscheider.

 

*

 

Er ist zu einer Party eingeladen; der Kollege, der ihm die Einladung besorgt hat, spricht von „Netzwerkarbeit“. Er sollte Recht behalten: Das Netz ist schon gespannt, in dem Jakob hängen bleibt.

 

Zuerst hat er keinen Überblick über die Menschen in dieser großen Loft; der Gastgeber, den er flüchtig kennt, hat gerade alle Hände voll zu tun und wird sich später um ihn kümmern.

 

Er hält sich an dem Champagnerglas fest und redet sich gleichzeitig ins Gewissen, heute nicht allzu viel von diesem prickelnden Nektar zu genießen. Er sollte wachsam sein.

 

Jakob hat anscheinend einen etwas verrutschten Gesichtsausdruck aufgesetzt, denn eine junge Frau spricht ihn an und meint:

„Die strengen Falten um den Mund stehen Ihnen nicht besonders.“

„Nicht gerade ein Kompliment.“

„Ich bin überzeugt, Sie sehen anders aus, wenn Sie sich im Spiegel betrachten.“

Damit ist ihr Diskurs beendet und die freimütige junge Frau dreht sich weg.

 

Bei Jakob ist ein leichtes Unbehagen entstanden, das in der Magengegend rumort. Etwas Unverdauliches scheint dort zu rotieren. Er ärgert sich kurz über seine eigene Schwerfälligkeit und seine plumpe Antwort auf die ungewöhnliche Feststellung der jungen Frau, die sich an einer puren Äusserlichkeit festgemacht hatte. Er beschloss, die Sache am besten einfach zu vergessen.

 

Inzwischen ist der Gastgeber auf ihn zugekommen und hat ihn unter seine Fittiche genommen, indem er ihn den wichtigen Persönlichkeiten des Abends vorstellt, wobei er mit präzisen und prägnanten Worten Jakobs berufliche Laufbahn schildert.

 

Die alten Herren sind bereits in köstlicher Feierlaune und geniessen offensichtlich die Gesellschaft der buntgemischten Jeunesse dorée, der sie sich mit Tipps und schillernden Tricks anbieten, und die sie dabei immer in der Meinung lassen, ihre Wege ebnen und ihre Schritte führen zu können.

 

Der ehemalige Vorstandschef und jetzige Aufsichtsratsvorsitzender einer großen Versicherungsfirma hat eine strahlend schöne junge Frau am Arm; Jakob fühlt eine Spur Neid in sich aufsteigen. Der weißhaarige Konsul steigt in ein Gespräch mit ihm ein, und Jakob erkennt sofort, dass er hier auf Herz und Nieren geprüft wird. Die schweigende Schönheit entwindet sich und verschwindet in der Menge.

 

Als er dem Konsul, der ein Magnet dieser Gesellschaft zu sein scheint und sich um Gesprächspartner keine Sorgen machen muss, entkommen kann, macht Jakob einen Zwischenhalt an der Bar.

 

Das dumpfe Loch in seiner Mitte verlangt nach einem Whisky

 

*

 

Er sah sich selbst als Senkrechtstarter. Ein Überflieger, ein stealth-Wunderwerk.

 

Von seinen Eltern hatte er immer gehört, dass er – der Einzige, ja Einzigartige - der Klügste, der Schönste, der Fitteste und Cleverste sei. Sie hatte ihn auf die richtige Schiene gesetzt und angeschoben. Jede Bestnote garantierte ihm ihre Liebe. Die Superlative erschlugen ihn fast, ihr Gewicht quetschte seine Seele auf ein Minimum zusammen. Die Freiheit stand in der Ecke und schwieg.

 

In der Pubertät begann die Sache dann schwierig zu werden. Prompt bekam er ‚Druck und Epa’ von zuhause. Die Sache wurde heiss.

 

Einmal war er dann durchgebrannt. An einen durchgestyleten und computergesteuerten 5Sterne-Haushalt mit glänzenden Oberflächen und blinkenden Geräten adaptiert, hielt er es auf der Straße nicht allzu lange aus. Die Typen dort waren auch allzu einfach strukturiert.

 

Reumütig hatte er wieder an der Tür geklingelt, am Nachmittag, als seine Mutter allein zuhause war. Sie hatte sogleich ein Nachsehen, umarmen aber konnte sie ihn nicht. Es wehte sozusagen ein kühler Wind durch den Salon, ohne jedoch die Vorhänge zu bewegen. Der Vater, ausgepumpt wie er war, wurde von der Mutter ausgebremst. Die Rückkehr des verlorenen Sohnes ging also biblisch über die Bühne, aber im Himmel war mehr Freude als in seinem Elternhaus.

 

Von nun an war klar: Ein zweites Verzeihen wird es nicht geben.

 

Prompt ging alles auf direktem Wege. Abitur, Studium, alles ohne störende Einflüsse von Seiten der Mädchen oder der Politik.

 

Er hatte kapiert: Leistung zählt. Und ist so schön messbar. 

*

 

An die Bar lehnt sich – neben ihn – die junge Frau, die ihn so unangenehm überrascht hat. Jetzt erst bemerkt er ihren Duft, den Duft der Freiheit.

„Na, sieht ja schon besser aus.“

Er spült den Whisky hinunter, die Rocks bleiben, was sie waren, und klappern im Glas, als er es absetzt. Eine brennende Wärme breitet sich in seiner Mitte aus.

„Wollen wir uns bei Oberflächlichkeiten aufhalten?“

„Von mir aus: Gehen wir ans Eingemachte.“

„Das klingt nach Hausfrau.“

„Bingo.“

So sieht sie überhaupt nicht aus. Er ist leicht verwirrt.

„Und, was treiben Sie sonst noch?“

„Ich treibe mich herum, so wie heute abend.“

„Eine Hausfrau, als Schmetterling verkleidet?“

„Auch das ist oberflächlich, und anstrengend. Ich glaube, Sie können auch anders oder besser: Sie sind ganz anders.“

 

Der Konsul tippt ihm auf die Schulter. Er hat wieder die Schönheit am Arm hängen.

„Darf ich Ihnen meine Tochter vorstellen?“

Jakob verkneift sich in seiner Überraschung den Satz: ‚Ich dachte, sie sei Ihre Frau; Sie haben sich gut gehalten.’ und verzichtet so auf die Schnelle auf ein Kompliment ihm gegenüber.

„Nein, keine Komplimente, keine Stemperamente. Ich lasse Sie beide jetzt allein.“

Die Schönheit installiert sich lasziv zu seiner Linken an der Bar. Die junge Frau rechts ist stehengeblieben und zieht eine Augenbraue hoch.

 

Jakob steht zwischen den beiden Frauen und fühlt sich wie eine Bockwurst zwischen den Hälften eines Brötchens. Jetzt sind Taten gefragt.

 

In seinem Inneren läuft eine lebhafte Diskussion ab, der er noch ein wenig zuhören möchte. Dieses Interesse für sein eigenes Innenleben ist ganz neu für ihn.

Für und Wider wird austauscht, Gefühl und Verstand streiten bis aufs Messer. Er ist überwältigt von der Einsicht, dass da Gefühle wie aus einem Vulkanschlund hochgeschleudert werden, von denen er bisher keine Ahnung gehabt hatte. Und sie nehmen ihren Platz ein. Der Wind der Freiheit facht die Glut an.

 

Durch eine einfache Körperbewegung kann er an diesem Punkt in seinem Leben eine endgültige Entscheidung treffen. Er muss sie treffen. Und die Hinwendung entscheidet auch über Erfolg und Niederlage, so glaubt er. Er sieht die Welt als Raster.

 

Er trifft seine Wahl. Und hat damit gleichzeitig eine Gelegenheit verpasst. Aber daran verschwendet er keinen Gedanken mehr. Die Zukunft steht ihm offen, und sie sollte ihm Klarheit bringen.

 

*

 

Der Weise spricht : „Das Leben präsentiert uns Gelegenheiten. Sie erscheinen meist im Plural, sie brauchen kein Adjektiv.

Werden sie ergriffen, so verwandeln sie sich sofort zu der einen Wirklichkeit, die – auch sie vergänglich – den Boden unter unsere Füße setzt.

Werden sie verpasst, so fliegen sie frei mit dem Wind, der unsere Haare kräuselt.“

 

Über den Wolken

...auf einer Glatze Locken drehen. (Karl Kraus)

 

 

Michele ist der Lieblings-Barbier von Mario – und seiner Frau.

 

Michele hat im centro storico von S. einen ältlichen Laden, einen kleinen Raum - von zwei gegenüberliegenden Spiegelwänden optisch vergrößert und aufgehellt, der Fliesenboden abgetreten, links vom Eingang drei Ungetüme von drehbaren Barbier-Sesseln, die er mit dem Fuß hochtreten kann, gegenüber eine Reihe von Campingstühlen, auf die seine Frau Giovanna in letzter Zeit Kissen gelegt hat.

 

Bei ihren seltenen Besuchen im Königreich ihres Mannes hat Giovanna wohl erkannt, dass diese Stühle immer gut besetzt sind - wenn auch nicht unbedingt von Kunden, sondern von Männern, die gerne mal ein Schwätzchen halten, was Giovanna wohl nicht weiß. Sie meint eben, dass die mittlerweile nicht mehr so gut gepolsterten gebrechlichen Hinterteile der alten Statisten eine freundliche Erleichterung des gemütlichen und interessanten Teils ihres Alltags vertragen können - während sie auf die einträglichen Dienste ihres Mannes warten.

 

Der Hauptdarsteller in dieser Szenerie ist Michele. Er hat wahrlich den Ehrennamen „Il Cavaliere“ verdient – anders als der eher berüchtigte Zeitgenosse B. Michele hat die Siebzig längst überschritten, die Haare sind weiß wie der schon hundertmal gewaschene und gestärkte Kittel. Weshalb er auf zwei künstlichen Knien immer noch um seine Kunden herumtänzelt, weiß keiner. Es ist zu vermuten, dass die Rente nicht reicht. Sieht man es von einer weniger traurigen Warte, so braucht er wohl auch die Gesellschaft, die Zuhörer. Oder anders gesagt: Er würde sich zuhause mit seiner Giovanna langweilen, nein: Es wäre die Hölle !

 

So steht er immer noch jeden Tag früh auf, kippt einen Espresso hinunter und steuert seinen Salon an.

 

Giovanna schläft aus, richtet sich dann aufs Vornehmste, toupiert die Haare, legt ein jedes an seine Stelle und fixiert das Kunstwerk mit reichlich Spray. Dann kommen die Augen dran: Lidschatten, Lidstrich, Wimperntusche. Vorsichtig wird mit Rouge gearbeitet, die Lippen werden großzügig rot gemalt. Ihre Garderobe ist vom Feinsten; die kleinen Füße stecken in den abenteuerlichsten Kreationen. Die Svarowkis blitzen an Fingern und Ohren.

 

Längst hat Michele die Serranda mit Getöse hochgeschoben, das einladende Licht  angemacht, seinen Kittel übergezogen, und ist in seine Rolle geschlüpft.

 

Er steht immer, bei der Arbeit und auch in Ruhe, mit dem Gesicht zur Straße. Die Tür seines Ladens wird zum Rahmen eines lebendigen Bildes; und auch die Wartenden und Sitzenden blicken neugierig auf diese Bühne, auf der die Stadt für kurze Zeit aus dem Nichts die wunderlichsten Gestalten  präsentiert und für einen Moment ins Blickfeld rückt, um sie dann auf Nimmerwiedersehen wieder in ihr eigenes Leben verschwinden zu lassen.

 

Hausfrauen ziehen schlurfenden Schrittes ihre Beute im Einkaufswagen hinter sich her und memorieren murmelnd und leicht genervt das komplexe Geschehen des bevorstehenden Kochens eines mehrgängigen Menus.

 

Der Zug ist im Bahnhof eingetroffen; nach wenigen Minuten flanieren die Landpomeranzen, überschminkt und im Glitzergewand, in der Fußgängerzone und lassen sich – als Einzige – von der Farbenprächtigkeit der Auslagen verführen.

Männer im feinen Zwirn, das Aktentäschchen an der Hand schwingend, gehen eiligen Schrittes und meist zu zweit in Richtung der Stelle, wo sie ungemein wichtig sein werden, unersetzlich gar; sie diskutieren händeschwingend und üben sich schon einmal in der freien Rede für ihr Plädoyer.

 

Mit Mütze oder Kapuze über dem brummenden Schädel, die Haltung wie ein Fragezeichen, schieben junge Männer ihre müden Füße über das Pflaster und produzieren Sohlenabrieb.

 

Ein Schwall schlitzäugiger Menschen ergießt sich schnatternd in die Straße; selbst die Italiener müssen hinunterblicken, um ihnen in die Augen sehen zu können. Die Frauen schützen ihre zarte weiße Haut mit Regenschirmen vor der prallen Sonne – die Costa ist angekommen! Mit lauter Begeisterung zeigen sie sich gegenseitig die vielen chinesischen Klamottenläden auf ihrem Wege.

 

Schwarzhaarige Schönheiten grüßen mit fremdem Zungenschlag herein; sie sind die Begleiterinnen und Pflegerinnen der vielen Alten, die allein zurückgeblieben sind und noch in ihrer Wohnung bleiben wollen; nun haben sie sich verabredet, um sich ein bisschen auszulüften, dabei ihr Handy aufzuladen und eine Zigarette zu rauchen. Ihr „Ciao, Michele“ hat einen fremdländischen Klang und schmeckt leicht nach Pfeffer.

 

Ein offenbar nostalgisch veranlagter Holländer stolpert herein und fragt: „Do you speak english?“ Die Anwesenden antworten auf Italienisch, untermalen aber ihre überreichen Worte mit lebhaften Handzeichen. Er versteht, dass er bedient werden wird, und setzt sich.

 

Kurz danach baut sich ein offenbar geistig etwas benachteiligter Mann vor ihm auf und bietet ihm eine ausgebeulte Secondhand-Jeans an, in die er zweimal hineinpasst.

 

Mittlerweile hat sich Michele an die Arbeit gemacht; er bearbeitet den Kopf vor sich wie dereinst Michelangelo den Marmor und formt aus dem wilden Haarwuchs ein fast schon klassisch schönes Profil.

 

Das Erscheinen einer Schönheit vor der Tür nimmt er zum Anlass, weit in seinem Leben zurückzugehen und von seiner ersten, der wirklichen, Liebe zu berichten. Geschwätzig und gleichwohl diskret setzt er die Worte, beschreibt mit unbeteiligtem Gesicht Ereignisse und Gefühle, erzählt die ganze lange Geschichte und führt die Zuhörer durch wunderbare Geschehnisse bis zu dem Punkt – das Publikum auf den Plastikstühlen ahnt es bereits -, an dem alles eine eher prosaische Wendung nehmen sollte. Hinter seinem Vorhang hat er ein Foto aufbewahrt, an geheimer Stelle.

 

Einer der Freunde fragt, ob er noch tanzen gehe. Das gibt das Stichwort für eine neue Geschichte: die Mär von der gefallenen Tänzerin. Aus seinen eigenen Armen war sie gefallen, er hatte sie beim Tango wohl nicht ausreichend an sich gedrückt. Nun lag sie da und jammerte, beschuldigte ihn gar; sie war so dick, dass sich keiner der Anwesenden traute, sie aufzuheben. Als kleines Aperçu bemerkt Michele, dass ihre Leibesfülle im Bett keinerlei Problem war, sondern ganz im Gegenteil Weichheit und Wärme vermittelte.

 

Die Zuhörer fragen mit Sorge: „Und, wie wurde sie wieder auf die Beine gestellt?“

 

„Ich wusste, sie trägt ein Korsett, fest geschnürt.“

 

„Aha! Ich verstehe, ein statisches Accessoire.“

 

„Einer hielt sie an den Knöcheln fest, drei andere packten sie am Korsett und liefen beim Hochstemmen rot an, sie war schon abgrundtief blau. Als sie wieder auf den Füßen stand, atmete sie durch. Sie stellt mir noch heute nach....“

 

Abrupt wandelt sich der Satz, macht eine Pirouette auf der Stelle. Giovannas Schatten ist bei der Tür aufgetaucht.

 

„...aber ich habe ihm gesagt, das geht nicht mehr.“

 

„Recht hattest du, dieser Scheißkerl!“

 

Giovanna hat ihre Apotheose. Sie stellt ihr Louis Vuitton-Täschchen auf einen der Stühle, sammelt im Vorbeigehen die Komplimente ob der Kissen ein, geht hinter den Vorhang und greift zum Besen. Mittlerweile hat sich ein Teppich von abgeschnittenen und gestutzten Haaren auf dem Boden gebildet, junge und alte Haare jeglicher Konsistenz, solche wie Federn und solche wie Kabelstränge, breites und schmales Haar unterschiedlichster Länge, Locken, Strähnen glatt wie Schnittlauch und Kraushaar wie Petersilie, schwarz, grau, braun, weiss; blond ist die Seltenheit. Sie werden mit Schwung hinter den Vorhang gekehrt. Samson wäre entsetzt gewesen.

 

Schweigen ist eingetreten. Giovanna nimmt dieses zum Anlass, von ihrem neuesten unangenehmen Erlebnis mit einer Parfümverkäuferin zu berichten. Michele pflichtet ihr bei; sie habe alles richtig gemacht.

 

„Ja, und was macht dieser Dummkopf jetzt?“, kommt die Frage von den Plastikstühlen.

 

Giovanna sieht, dass es jetzt wieder langweilig wird. Sie schnappt die Tasche und verschwindet in Richtung Einkaufsparadies.

 

 Ein Aufatmen macht die Runde.

 

„Sie hört  nicht auf, mir zu versichern, dass sie mich mit jeder Faser ihres Leibes liebt. Was für ein Leib! Ich bin ihre große Liebe. Natürlich konnte ich in diesem speziellen Fall meine ganze Kunst und Erfahrung nicht richtig ausleben, außer der Missionarsstellung war nichts drin. Und, ehrlich gesagt, das wurde mir mit der Zeit ein bisschen zu sportlich. Nein, ich gehe jetzt mal eine Weile nicht mehr zum Tanzen.“

 

Ein gepflegter alter Herr kreuzt das Blickfeld. Michele legt 'Kismet', das scharfe Rasiermesser, ab und stürzt hinaus, um ihn zu begrüßen. Ein paar Worte gehen hin und her. Dann erscheint Michele wieder und nimmt 'Kismet', und damit seine Arbeit, auf.

 

„Wusstet ihr, dass das mein alter Kollege aus dem Hotel war? Wir lösten uns ab damals, als Nachtportiers.“

 

„Sieht noch gut aus, der alte Herr.“

 

„Ja, der hat sich immer geschont. Bei mir war das ganz anders. Bei mir ging so mancher room service a’s Eingemachte, und – wenn’s gut ging – direkt ins Paradies. Einmal musste ich eine Pflasterdrossel trösten, deren Freier sie versetzt hatte. Da hab’ ich viel gelernt.“

 

„War das der Höhepunkt deines Liebeslebens?“

 

„Nein, wo denkst du hin? Der Höhepunkt war hoch über den Wol...“

 

(„Hoppla: ein Luftloch!“, denkt der Kenner bei sich.)

 

„Wolken? Aber heute hat es doch keine Wolken“; Giovanna ist zurück.

 

„Ich habe gerade erzählt, dass wir heute Abend mit deinen Freundinnen essen gehen; ich hoffe, dann gibt es keine Wolken oder gar ein Gewitter.“

 

„Mein Mann! Typisch! Ich freue mich schon die ganze Woche darauf und er erzählt etwas von einem Gewitter.“

 

„Ich fürchte ja nur um deine Frisur.“

 

„Ich gehe jetzt.“

 

„Respekt: Das war um Haaresbreite an einem Gewitter vorbeigerauscht! Und das schon zum wiederholten Male.“

 

„Mit der Haaresbreite kenne ich mich aus. Das ist für mich ein Klacks.“

 

„Der Höhepunkt über den Wolken. War das auf deinem Flug nach Buenos Aires?“

 

„Ja, Nachtflug, alles schläft, kein Gedränge vor der Toilette. Wir waren zwei schweigende schlanke Schlangenmenschen im siebten Himmel.“

 

*

 

Ins nachdenkliche Schweigen bohrt sich die Frage: Warum schwört auch Marios Frau auf Michele?

 

Er ist ein Meister im Schneiden von Kurzhaarfrisuren nach Chemotherapie. Das einstmals breite Haar ist nun ein Schemen seiner selbst, und wenn der liebe Gott aus seinem Himmel über den Wolken herunterschaut, so sieht er einen Skalp voller Luftlöcher. Michele aber kann auf einer Glatze Locken drehen.

 

BILD schreibt: Verloren

„Was ist schlecht an diesem Wort: ‚verloren’ ? Alle schauen auf, den Blick angstgeweitet, als ob sie vor dem großen Weltengericht stünden und eine Stimme aus dem Off, aus unsichtbarem Mund und doch knochendurchdringend, fällte das letzte Urteil über sie.“

 

Wir sind auf einer großen Reise. Ihr Ende wird der Tod sein. Bis dahin sind wir den Stürmen des Lebens ausgeliefert. Natürlich: Es gibt auch ruhige Tage, windlos, sonnendurchflutet, vom Glück durchtränkt, an denen uns die Natur zulächelt und zu rufen scheint: „Kumpel, lass es gut sein.“

 

Aber wir können das nicht: es gut sein lassen. Wir müssen immer weiter, höher, schneller. Unsere Schritte sind zu groß, wir schauen nicht, wo wir hintreten, wir haben das höhere Ziel vor Augen. „Was kostet die Welt ?“

 

Hier sind wir am Punkt. Das Geld. Einst als universelles Tauschmittel erfunden, als genial bezeichnet, hat es ein Eigenleben entwickelt wie der Zauberlehrling. Es verzaubert uns, und zwar nicht lehrlingshaft, sondern meisterlich. Wir merken es nur nicht.

Wir haben in diesem Tauschhandel alles auf eine Karte gesetzt, wir waren dereinst Hans im Glück und werden, mit jeder absurden Transaktion, immer wieder und immer mehr: der dumme Hans. Wir verlieren alles, wir geben unsere Moral dran, all unsere Werte. In diesem Rennen gibt es nur einen Sieger, der Sieger ist immer derselbe: der mit mehr Kohle.

 

Und die verschwindet aus dem Lebenszyklus, in private Taschen. In Jachten, in denen ein Picasso über dem Lotterbett hängt, ein gestohlener, versteht sich; in Villen, in deren marmornem Foyer ein goldenes Kalb von Hurst den glücklichen VIP begrüßt. Sie fermentiert in den unschuldsvollen Worthülsen der global players, mit Augenaufschlag dargebracht, in den wodkagetränkten Plattitüden der Oligarchen mit ihren blonden Gespielinnen, in wohlfeilen Unschuldsbekundungen derer, die mit allen Wassern gewaschen sind.

 

Verbrannte Erde, wo vorher terra incognita war. Das ist die Erkenntnis. Die Akteure machen ganze Arbeit, die Aktionäre sahnen ab.

 

Die Natur schaut sich die Sache an. Sie lacht, zusammen mit Gott, der schon nicht mehr hinsehen kann. Sie sagen, beide übereinstimmend: „Warte nur, balde...“

Der Mensch, das Wesen, das am empflindlichsten ist, das seinen Sauerstoffgehalt von 21 % in der Luft braucht, seine Temperatur von ‚um die Null’ (und jedenfalls nicht unter minus 50 und nicht über 50 Grad Celsius; Fahrenheit und andere Besonderheiten mögen entsprechend berechnet werden), das sein Steak, seine Chips braucht und seine kleinen Süßigkeiten, das sich sonst nichts gönnt – vor allem keinen geistigen Abstand zu seinem Lifestyle -, das sich im Konsum immer wieder seine Beulen holt und no satisfaction erlebt - dieser Mensch wird der erste sein, der verloren gehen wird. Die Natur donnert schon ein wenig, Sintfluten gehen nieder, Windhosen verwüsten die Ansiedlungen. Aber Keiner versteht.

 

Eines Tages ergeht das Verdikt: „verloren“, und die BILD wird es, obwohl so schön kompakt und prägnant, nicht mehr drucken können.

Augen-Hintergrund

 

Von Wahrheit und Wahrnehmung

 

Er hatte eine Geschichte geschrieben über ein Vorkommnis, das ihm als jungem Menschen erzählt worden war und das ihn durch die Jahrzehnte immer weiter verfolgt hatte.

 

Als der Text auf dem weißen Papier stand, kam die Geschichte seinem lesenden Auge außergewöhnlich ungewöhnlich vor. Er fragte sich sogar, ob er den Text nicht in die Flammen des Kaminfeuers werfen sollte, denn ihm war klar, dass es schwierig sein würde, ihm diese Geschichte abzunehmen.

 

Aber dann tat sie ihm leid; er dachte dabei auch an die Jahrzehnte dauernde – fast wollte er sagen: tapfere - Erinnerung, die sich seither immer wieder mit der aufkommenden Schreiblust verbrüdert hatte, um dann regelmäßig und unnachgiebig von der Logik niedergeknüppelt zu werden, in der er erzogen worden war. Und doch hatte die Erinnerung auf dem Boden seiner Seele ausgeharrt. Denn sie hatte das Gewicht der Wahrheit.

Die Wahrheit war ein Grundpfeiler seiner Erziehung gewesen, auch deshalb, weil dieses Gebot - eines von den zehnen - in der Kindheit am meisten Anwendung findet. Es ist sozusagen die Basis für ein gerechtes und richtiges Verhalten; ist einmal die Liebe zur Wahrheit in uns eingeprägt, werden wir nie wieder lügen, betrügen oder gar uns etwas anmaßen, was uns in Wahrheit nicht gehört.

 

So hatte er jedes Mal, wenn die Geschichte aus der Tiefe auftauchte, darüber nachgedacht, ob ein Anderer sie als wahr erkennen und glauben würde. Und diese schwankenden Gedanken hatten ihn zum Versuch einer Definition geführt, was wahr und was unwahr sei, oder besser: Was wir als wahr und was wir als Lüge ansehen. Oder muss man sagen: Was ich als wahr annehme? Das würde bedeuten: Es gibt viele Wahrheiten.

 

*

 

Wir bekommen also als Kinder den Samen der Wahrheit eingepflanzt. Alles scheint einfach; die Eltern wissen genau, was wahr ist.

 

Wir wachsen heran, und die Welt zeigt sich uns in ihrer schillernden Gestalt. Man kann die Dinge so und so betrachten, man kann die Erscheinungen drehen und wenden, wo Licht war macht sich Schatten breit, was rot ist wird grau, wenn die Nacht kommt. Wahrheit wird gespeist vom Wissen, unser Wissen aber ist endlich.

 

Er liest von der Theorie, dass jeder Mensch sich seine eigene Welt erschafft, und zwar nur dadurch, dass er seine persönliche Wahrnehmung für absolut, für die Wahrheit hält. Absolut ist sie, aber nicht in Gänze kommunizierbar. Damit bleibt jeder in seiner eigenen Wahrnehmungsblase.

 

Ein blind Geborener sieht die Welt ganz anders als einer, der astigmatisch geboren ist oder ein dritter, der eine gute Sehkraft hat. Alle drei konstruieren sich ihre eigene unverwechselbare Vorstellung von der Welt. Alle Menschen prägen, ausgehend von dieser Fähigkeit des Sehens – neben anderen sensorischen Empfindungen -, das so entstandene Bild in ihr Gehirn ein unter der Überschrift: die wahre Welt. Ist die Welt ein Spielplatz der Wahrheit? Oder zeigt sie uns nur die Wirklichkeit? Was haben Wahrheit und Wirklichkeit für gemeinsame Schnittstellen?

 

Die Welt wird nicht nur durch die Augen erfahren, sondern mit allen Sinnen. Jeder Moment, jeder Augenblick fügt unserem Bild von der Welt, das wir aus Sicherheitsgründen als das einzig wahre akzeptieren, eine neue, kleine Facette hinzu. Mit diesem Facettenauge und durch die Brille des Erfahrenen schauen wir in die Gegenwart, unser Leben. So wird für uns und von uns in jedem Augenblick die Wahrheit neu zusammengesetzt. Sind wir in der Lage, mit großen Augen neugierig und frei wie ein Kind in die Welt zu schauen, werden wir eine neue, immer feinere Wahrheit entdecken; viel wahrhaftiger als einer, der die Augen verschließt, weil er immer schon alles wusste.

 

*

 

Er schaut in die Welt, blickt durch das Fenster und sieht einen Falken, der im Aufwind seine Runden dreht. Der Raubvogel blickt nach unten, und plötzlich legt er die Flügel an und schießt durch die Bäume zu Boden, um gleich danach mit einer Schlange zwischen den Greifern wieder aufzufliegen.

In diesem Augenblick muss er daran denken, dass dieser Vogel die Welt wirklich mit anderen Augen sieht. So hat seine Welt die ihr eigene Wahrheit.

 

Nachts fliegt eine Eule durch die Baumkronen, lautlos. Sie hat eine Maus erspäht im dunklen Unterholz, wo wir nichts gesehen haben. Oder sie hat sie rascheln gehört, während wir die reine Stille genossen. Die Maus wird ihre Mahlzeit. Wir kennen nichts von dieser Welt der scharfen Nachtaugen und der in anderen Frequenzen hörenden Ohren.

 

Die Katze hört durch die geschlossene Tür draußen eine andere Katze vorbeischleichen und verlangt, hinausgelassen zu werden, um sie in ihre Grenzen zu weisen. Wir wissen von nichts. Tagsüber sieht sie die Welt in mindestens fünfzig Schattierungen von Grau, nachts erkennt sie jede kleinste Kontur; sie hat auf ihrer Retina Zellen zur Restlichtverstärkung.

 

Unsere Augen sind Ausstülpungen des Gehirns in die Welt, unser Geruchssinn ist die Einstülpung der Welt in unser Gehirn. Wir sind inniglich mit der Welt verbunden, und doch können wir nur denken und fühlen, wenn wir uns ein Abbild von ihr gemacht haben. Dieses Bild ist nicht die Welt. Der Wirklichkeit, der Wahrheit kommen wir näher, wenn wir viel erfahren und der Erkenntnis keine Grenzen setzen.

 

*

 

Er hat viel erlebt, hat immer gelesen, ist gereist; er ist gebildet und voller Verantwortung und Empathie. Er hat sein ganzes Leben lang als Arzt gearbeitet und die Glanz- und Schattenseiten des Schicksals gesehen. Das hat ihm die Augen geöffnet. In dieser Arbeit hat er viele Dinge erlebt, die keiner für wahr gehalten hätte, und die doch Teil der Wahrheit der menschlichen Existenz sind. Er hat den Tod gesehen, das Leben erfahren, die Ritzen, in denen es sich einnistet, in denen Hoffnung gedeiht und die Trauer über Verlorenes einsinkt.

 

*

 

Er schaut in die Welt und sieht eine unumstößliche Wahrheit, den Tod. Der Gedanke daran scheint uns Menschen unerträglich; hier wenigstens gibt uns Religion einen Trost gegen diese waidwunde

Furcht vor der Sinnlosigkeit. An seiner Wahrheit jedoch kann sie nichts ändern.

 

In Ägypten waren bereits vor vier Jahrtausenden die Verstorbenen mumifiziert und dadurch für ihr Leben im Jenseits konserviert worden.

 

Im Mittelalter gab es hierzulande einen florierenden Handel mit Knochen, Schädeln, Körperteilen von Heiligen, die mumifiziert und dann als Reliquien verehrt wurden. Man kann sie heute noch in barocken Kirchen bestaunen. In der barocken Klosterkirche von Gutenzell sind die in zwei Altären eingebetteten edelsteingeschmückten Skelette der Heiligen Justina und Christina zu sehen, die ihn als Kind sehr beeindruckt hatten. In der Devotionalien-Hierarchie waren die Reliquien, die von Jesus persönlich stammten, die begehrtesten. Im Laufe der Zeit tauchten sogar mehrere heilige Vorhäute auf.

 

So viele Welten, so viele Wahrheiten, und doch nur eine.

 

Man könnte einwenden, dass es sich bei diesen Phänomenen um Wahrnehmungen handelt; und Wahrnehmung ist nicht gleich Wahrheit. Wahrheit ist absolut, sie kann nicht von diesem oder jenem vereinnahmt und mit einer persönlichen Prägung versehen werden; die Wahrnehmung schon.

 

*

 

Er hat also am Ende diese wahre Geschichte aufgeschrieben. Seine ganze Person ist in den Stil der Erzählung eingeflossen; wer Augen hat zu sehen, der konnte aus dem wohlgewählten Wortteppich herauslesen, um wen es sich beim Schreiber handelt.

 

Als die kleine Geschichte das Licht der Welt erblickt hatte, teilte sich die Spreu vom Weizen.

Die meisten Leser, um der Wahrheit die Ehre zu geben, genossen die Wahl der Worte und zeigten sich bekümmert über den Inhalt der Geschichte.

 

Jedoch, es gab ein paar selbsternannte Wortführer, die sie nicht glaubten. Die Nicht-Glaubenden verdonnerten die darin geschilderten Ereignisse kategorisch als nicht nachvollziehbar, beschimpften sie als makaber und verurteilten sie, während sie sich selbst gleichzeitig als Wohlmeinende und überaus Kultivierte darstellten - man beachte die Ansammlung subjektiver Adjektive. Die Grenze zur Pathologie sei nah. Das Stichwort ‚Horror’ fiel, es war zu befürchten, dass Vampire nicht mehr weit waren.

Die Kritiker erlaubten sich vor dem Hintergrund ihres eigenen Lebens ein vernichtendes, jedoch nicht nachvollziehbares Urteil. Durch die Brille ihrer subjektiven allein selig machenden Wahrnehmung erklärten sie sie zur Lüge. Die Wahrheit.

 

Dabei braucht die Wahrheit nicht zwingend jemanden, der ihr glaubt. Sie existiert ganz einfach allein für sich.

 

*

Die Geschichte handelte von einem stolzen Vater, der in einem anderen Land lebte. Als sein Erstgeborener viel zu früh auf die Welt kam und starb, brachte er es nicht übers Herz, den Leichnam des Embryos – der so klein war, dass er auf eine seiner schwieligen Hände passte - zu begraben. Er mumifizierte das kleine Wesen, aufdass es immer bei ihm bleibe, sein Leben lang.

 

Via col vento

Schon seit einiger Zeit war ein Gedanke in mir gereift: Ich stellte es mir schön vor, meinen besten Freund, einen Eisdielenchef, mit meinem Lieblingsneffen, einem Eisdielenmanager, bekannt zu machen.

 

Wie ich es auch anstellte, es war mir bisher nicht gelungen, dieses Treffen zu arrangieren, von dem ich mir eine honigseimartige, sahnesüße Glückseligkeit versprach.

 

Klar: Chef und Manager waren zwei Paar Stiefel; sie die zwei Seiten einer Eisdielen-Medaille zu nennen, wäre vermessen gewesen. Und so wurde in meinem Hirn die Frage immer drängender, ob bei den Beiden die Eisdiele an sich wichtiger und prägender sei, oder die daran anschließende Hierarchiebezeichnung.

 

Das Schicksal griff in diesem Falle – wie so oft mit einem Wink – ein, indem es den Winter über die Gebühr verlängerte und dem Frühling, wann immer es konnte, einen Knüppel zwischen die eiligen Füße warf.

 

Die Erde hielt gegen. Die Vulkane versuchten, ihren Teil zur sprichwörtlichen Erwärmung beizutragen, indem sie spien, was das Zeug hielt.

 

Auch der Mensch hielt gegen und sonderte soviel Methan ab, wie er nur konnte; und da der Benzinpreis gesunken war, fuhren die stolzen Autobesitzer aus Langeweile und auf der Suche nach einem Kick einfach so in der Gegend herum, immer im Kreis und ohne Ziel.

 

Mein Freund, der Chef, ersann eine Strategie: Er stellte kurzberockte Slawinnen ein, die wie Sklavinnen rackerten. War keine Kundschaft zu bedienen, mussten sie den Boden schrubben; war kein Boden mehr zu schrubben, mussten sie sich in der Tür räkeln, um den im Sturm Vorbeieilenden einzuheizen und die Lust auf ein Eis in die Kehle zu zaubern. Dies gelang nur bedingt.

 

Der Manager hatte weiterreichende Pläne. Nach einer immerhin zehn Tage dauernden Analyse der Lage kam er auf den Trichter, neue Eissorten zu kreieren; der Höhepunkt seiner Inventionen war ein Bier-Eis, das bisher jedoch keinesfalls ein Renner war, denn es blieb einfach zu kühl, um überhaupt daran denken zu können, ein Bier-Eis zu erstehen, geschweige denn zu verschlingen.

 

Der Vielfalt der Klagen bezüglich des Geschäftsmodells stand die Eintönigkeit der Problematik Saisonabhängigkeit und ausbleibende Kllimaerwärmung gegenüber. Hier waren beide einer Meinung, und das sollte mein Trumpf sein. So hoffte ich jedenfalls.

 

Die bereits einladend aufgestellten und hoffnungsvoll aufgespannten Sonnenschirme dienten ausschließlich als Schutz vor dem Regen und moderten vor sich hin, bis ein Tornado sie mitsamt ihren Betonfüßen in die Luft hob und auf das nahe Kirchendach schmetterte, das ihnen keinen Widerstand bieten konnte und sie ungefragt passieren lassen musste, so dass einer ins Taufbecken einschlug und der andere die Kanzel von der Wand rasierte.

 

Die alten Frauen, die zu dieser Stunde den Mai-Rosenkranz beteten, flüchteten sich in die Beichtstühle in frommer Furcht vor dem Zorn des Allmächtigen. Ihre Enkel, die eher der Häresie anhingen, sprachen dagegen von einem Wink des Schicksals in einer Zeit der pastoralen Verschwendungssucht und der nun offenbarten versteckten Reichtümer der Kirche, die sich in den Jahrhunderten aus Schwarzgeld und Erbschaften angesammelt hatten. Den Meisten war das alles schnurz und piepe.

 

Offizielle Seiten, wie der Deutsche Wetterdienst, sprachen von einer normalen Lage. Die Versicherungsgesellschaften jedoch wurden langsam nervös und tüftelten an einer Änderung ihrer Vertragsbedingungen.

 

Nun war der Moment gekommen, in dem eine der Bedienungen des Chefs zum Manager wechselte. Dummerweise war sie die heimliche Favoritin des Chefs gewesen und er hatte, um eine zündende Idee zur Verführung verlegen, allzu lange mit einer Avance gewartet. Nun war es zu spät. Er aber fühlte sich von dieser Herausforderung überaus angeregt und war endlich bereit, mit dem Manager über die Herausgabe der Schönen zu verhandeln, notfalls mit Hilfe einer gewissen Summe, die er im Umschlag in seiner Hosentasche trug.

 

Er bat mich, in diesem besonderen Falle zu vermitteln.

 

Ich tat so, als ob es mir unendliche Mühe machte, stöhnte und ächzte und schilderte ihm meine Probleme beim Arrangement dieses Treffens.

 

Es kam der Tag.

 

Und der Tag war der erste, an dem eine plötzlich einsetzende Hitzeperiode das Blut zum Kochen brachte und das Eis zu einem fatamorganaartigen Traum wandelte, der selbst noch aus dem Bier-Eis auf den Schlag einen Kassenschlager werden ließ.

 

Chef und Manager saßen im dunklen Hinterzimmer und hatten von der klimatischen Glückssträhne nichts mitbekommen. Ich moderierte ihre Verhandlung und fühlte mich hin- und hergerissen zwischen familiärer Verpflichtung und Freundesdienst. Draußen tobte das Geschäft, tanzte der Bär.

 

Die Sitzung dauerte nun schon seit Stunden, und mein Freund hatte sich immer noch auf die Stärke seiner Position verlassen und die Hand noch nicht in die Tasche mit dem Bestechungsumschlag geführt. Und das war gut so. Denn:

 

Mittlerweile war es Abend geworden und die Lustwandler und Spaziergänger lenkten ihre Schritte langsam nach Hause. In den Kassen der Eisdielen war so viel Geld, dass sie sich nicht mehr schließen ließen.

 

Die Schöne, das Objekt der Begierde, hatte eine zündende Idee: Sie lief schnell über den Platz an ihre alte Arbeitsstelle – mit der Entschuldigung, ihren Hausschlüssel in der Kasse vergessen zu haben -, räumte diese aus, eilte zurück an ihren neuen Arbeitsplatz – an dem sie bereits zur leitenden Arbeitskraft avanciert war – griff dort ebenso in die Kasse und stolzierte mit ihren atemberaubenden langen Beinen einfach um die Ecke, davon, via col vento.

 

So hatte das Schicksal eines heißen, idealen Eistages die beiden Kleinunternehmer all ihrer Schätze beraubt: ihrer heimlichen Liebe und ihres Geldes.

 

Meinem Freund war – vielleicht eine Gerechtigkeit des Schicksals – sein Umschlag mit dem Bestechungsgeld im Hosensack verblieben, was er jedoch seiner geschickten Verhandlungsstrategie zuschrieb. Wenigstens das.

Würgender Wunsch

Ken Wilber „Wege zum Selbst“ S.111

 

Aber ach, der Wunsch bleibt sein Eigentum, und er kann nur so tun, als ob er ihn nicht als seinen anerkenne.

 

 

„Als vermögensbildende Maßnahme schlage ich Ihnen einen Immobilienfonds vor; denn, wenn Sie sich bisher schon kein Eigentum leisten konnten, so wird es nun aber höchste Zeit, am Kuchen teilzuhaben.“

 

„Nicht, dass ich nicht gekonnt hätte; ich wollte nicht.“

 

„Mit dem freien Willen ist es so eine Sache, das wissen Sie besser als ich. Ja. Ich schlage also Ihre Eisenbahnaktien ab; die paar Schiffsbeteiligungen können wir im Safe lassen. Und dann steige ich für Sie in den Immobilienmarkt ein, in China, wo ja jetzt bekanntlich die Fortpflanzung freigegeben werden soll.“

 

„Die Fortpflanzung? Gewächse im Glaspalast?“

 

„So was braucht neben einer Ausweitung des Sexappeals auch Wohnungen, Zimmer, Schlafzimmer, geräumige Bäder mit Wannen oder gar Whirlpool. Eine stinknormale Dusche mit entsprechendem Kopf kann ja nur noch den ganz Jungen die Fantasie entzügeln, wie wir aus den Feuchtgebieten wissen.“

 

„Wer im Glashaus sitzt...“

 

Ken wird es allmählich mulmig. Zu feucht hier und heute. Eine peinliche Transpiration setzt ein; beginnend auf den behaarten Armen, überschwemmt sie seine Achselhöhlen und presst das Nass aus allen Poren seines Gesichtes. Sie bringt ihm keine Abkühlung, und als der Luftzug aus dem Ventilator, der mit pünktlicher Gerechtigkeit alle Ecken dieses kleinen und fensterlosen Raumes bedient, die stehende Luft in einen lasziven Flow versetzt, fasst er Mut und steht abrupt auf.

 

Sein Gegenüber hat durchaus nicht vor, ihn so ziehen zu lassen. Er sieht den Fisch doch schon am Haken, und sein gesunder Schlingkomplex setzt ein und bringt eine Art Würgereiz am hinteren Gaumen hervor, wobei gleichzeitig die Speicheldrüsen in Hochproduktion gehen und seinen Mundgeruch wenigstens ein bisschen wegspülen.

„Ich bin noch nicht fertig mit meinem Quartals-Beratungsgespräch.“

 

„Ich habe Durst.“

 

„Alicia, ein Glas Schampus.“

Gleichzeitig mit dem Knopf fürs Sekretariat hat der geschniegelte Berater den Sperrknopf für die Tür gedrückt. ‚Bin doch ein kluges Kerlchen!’ schießt ihm in den aufgewühlten Sinn.

 

Ken dämmert die Erkenntnis, dass er hier nicht nüchtern herauskommen wird, und eine gewisse Stimulation seiner Gedanken scheint ihm alles andere als unpassend. In diesem Moment denkt er noch, er habe sein Gegenüber im Griff.

 

Der Berater lässt ihn in diesem Glauben.

 

Der Auftritt der Sekretärin, deren Gesicht dem eines Alligators ähnelt (Ken muss bei diesem Gedanken lächeln), geht professionell über die Bühne; sie stellt ein Glas perlenden Veuve Cliquot vor sein wüstenartiges Gesicht – der Ausdruck der verwüsteten Gedanken, die ihn mit jeder Sekunde mehr heimsuchen – und empfiehlt sich wieder. Die Tür fällt zu und schließt in ihren 16 Querverriegelungen. Hat Ken das gehört?

 

„Nun aber zurück zum Eigentum, zurück zu ihren Wünschen.“

 

Ken fühlt eine heiße Wallung in sich hochsteigen. „Zu meinen Wünschen? Oder zu Ihren?“

 

„Ich wünsche nur das Beste für Sie.“ Der Berater hat Mühe, die Lüge zu kaschieren. Gottseidank klingelt das Smartphone. Der Alligator schickt eine SMS : ‚I love you.’

 

„Wenn ich ehrlich bin, habe ich keine Wünsche.“

 

Der Berater sieht die Beute wegschwimmen, abtauchen.

 

„Wer hat denn heutzutage keine Wünsche, Herr Ken, aber aber, nicht so bescheiden.“

 

„Und nach Eigentum schon gleich gar nicht. Sehen Sie: Ich habe keine Frau, keine Kinder, kein Haus, kein Pferd. Im Gegenteil: ‚Eigentum’ hat für mich eine absolut soziale Komponente, und das egoaufblähende Eigentumsgehabe – das auch Sie hier ausbreiten - ist für mich die erste der letzten Plagen.“

 

Der Berater gerät ins Schlingern. Sein Tagesziel war so nah, die Provision schon greifbar (auch wenn es sich nur um virtuelles Geld handelt), und jetzt das: philosophisches und soziokulturelles Gelaber. Der tödliche Widerwille dagegen war ihm schon in den Kindertagen eingebrannt und hatte sich mit jedem gottverdammten Mal, an dem seine Mutter - ohne erhobenen Zeigefinger, aber mit einer Leidensmiene - ihn auf solche Zusammenhänge hinwies und kein Entwinden duldete, meterhoch wie Zunder aufgetürmt.

 

Wie ein Blitz schießt die morgenliche Begegnung mit seinem Chef in sein Bewusstsein; er hat mit klaren Worte die Ansage gemacht: Heute muss was gehen, sonst...

 

Es wird was gehen, das ist ihm klar. Entweder muss er den Chef beseitigen – was angesichts der hierarchischen und auch der lokalen Distanz vertikal und horizontal von vorneherein zum Scheitern verurteilt ist – oder er muss diesen Klienten umbiegen, auf Gedeih und Verderb. Niemand fragt ihn je nach seinen Wünschen, fällt ihm ein. Er findet das ungerecht. Nun setzt er, den Rücken an der Wand, die gesamte Klaviatur aller Fortbildungsmaßnahmen zur Kundenmotivation und Acquirierung ein, die er je besucht hat.

Sein Gegenüber ist klug. Aber mit der Zeit versucht Ken doch den plumpen populärpsychologischen Attacken zu entkommen. Der Berater macht die Büchse der Pandora auf.

 

In Ken keimt der unbedingte Wunsch auf, sich zu befreien. Er springt auf und rüttelt an der Tür. Vergebens. Von hinten wird er weiter mit hanebüchenen Argumenten beschossen. Da keimt in ihm ein Wunsch auf, von dessen Existenz er nichts geahnt hatte. Er geht dem Berater an den Kragen. Mit dieser Aktion, die blitzschnell abläuft, in seinem Hirn aber eine Zeitlupensequenz von Bildern aufblendet, die allesamt mit seinen Wünschen und Träumen zu tun haben, bremst er sich selber aus. Und so bleibt dieser letzte und durchaus erstaunliche und unerwartete Wunsch in der Luft hängen.

 

Nun hängt er da, wo vorher nichts war. Er möchte ihn am liebsten ungeschehen machen. Aber ach, der Wunsch bleibt sein Eigentum, und er kann nur so tun, als ob er ihn nicht als seinen anerkenne.

Er kann nicht...

 

Der kundige Leser wird nun ohne Mühe den Weg zur Lösung des Konfliktes finden. Dem nicht so Gebildeten möchte ich ein Wort an die Hand geben: Projektion. Auch wenn er damit wenig wird anfangen können, so kennt er sie aus seinem eigenen Leben, meist aber, ohne sich dessen bewusst zu sein.

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Bildmaterialien: Coverfoto: R_K_by_www.BlickReflex.de by pixelio
Tag der Veröffentlichung: 08.04.2015

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