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Im Schutz des Scheins

Ich kenne da eine Frau (‚leider’ souffliert mir eine der hinteren Hirnwindungen, die mich wie die Kuh auf’s Eis führen möchte; ein Hinweis, dem ich im Hinblick auf meinen Ehefrieden nicht folge), die hatte Zeit ihres langen Lebens eine ganz spezielle Beziehung zu Krankheiten aller Art, an sich und im Besonderen.

 

Schon als junge Frau litt sie bei Bedarf an fürchterlichen Migräneattacken. Ihr Mann musste alsbald alle Gardinen zuziehen, der kleine Sohn in einen absolut lautlosen Modus versetzt werden; und als Vater und Sohn beschlossen, das Haus zu verlassen, um sie nicht zu stören, war die Migräne plötzlich wie weggeblasen. Dasselbe mit Grippe.

 

Als der Kleine von der Kinderkrippe in die Schule wechselte, und die kleine Familie am Wochenende in das nahegelegene Gebirge fuhr, um Sport zu treiben, fing sie an zu hinken und unrund zu laufen, denn eine völlig altersuntypische Hüftabnutzung hatte sie heimgesucht und verhinderte jegliche Teilnahme am gemeinsamen Vergnügen; ja, ihre juvenile Coxarthrose hinderte in der Folge auch Vater und Sohn an der Ausübung des Sports.

Man verlegte sich auf’s Tauchen, zumal das Söhnchen mittlerweile das erforderliche Mindestalter von 12 Jahren erreicht hatte. Sie bekam Schwindelanfälle, sobald der oder die See von Ferne durch die Bäume, die manchmal Palmen waren, blitzte. Die beiden Männer waren mittlerweile abgehärtet und tauchten alleine in die lautlose Tiefe ab.

 

Und so ging es weiter, Tag für Tag, Jahr für Jahr, in denen die Frau alle Menschen in ihrer Umgebung verschreckte; anfangs mit Mitleid infiziert und großzügig im Bedauern und Geben von Ratschlägen und Arztadressen, bekamen die Angehörigen, Freunde und Nachbarn mit der Zeit eine dicke Hornhaut auf diesem Ohr, die aussah wie ein Hühnerauge.

 

Ihr Mann hatte längst chronische Schmerzen durch eine völlig aufgeriebene Wirbelsäule und einen Herzklappenfehler mit Stolperherz, das jedem Arzt den Schreck in’s Gesicht jagte, wenn er mit seinem Hörrohr nur in dessen Nähe kam – die kaputte Klappe konnte man sogar mit bloßem Ohr klappern hören, wenn man sich mit ihm in einem Zimmer befand.

 

Da befürchtete sie, grausam in’s Hintertreffen zu geraten und besorgte sich regelmäßig die „Apotheken-Rundschau“, um all den Krankheiten nachzuspüren, die sich im Körper breitmachen könnten.

 

Sie fand solche mit interessanten Namen, wie z.B. ‚Fatigue’, multiple Persönlichkeit oder gar Sklerose, Fibromyalgie und das Syndrom der restless legs. Regelmäßig hatte sie Nierenkoliken, die zu furchterregenden Blutabgängen führten, welche sie in ihrer Scham sofort wegputzte, so dass Niemand je etwas von einem solchen knöcheltiefen Blutbad gesehen hatte. Auch in der anschließenden Urinuntersuchung war alles schon wieder in Ordnung. Kein Arzt fand etwas, kein Arzt verstand sie. Der hausärztliche Notdienst avancierte zum Notarzt.

 

Einmal rutschte sie auf der Treppe aus und fiel; als sie sich erhob, fand sie trotz akribischer Suche nicht ein klitzekleines Hämatömchen.

 

Ein anderes Mal versuchte sie, durch die geschlossene Glastüre in eine Boutique einzutreten. Das einzige, was dabei zu Bruche ging, war die Brille, die sie auf der Nase hatte; die Nase selbst hatte nicht die mindeste Schramme.

 

Ja, Hämorrhoiden hatte sie einmal; die wurden ohne Aufhebens abgezwickt, und schon war es wieder nichts mehr. Zum Verzweifeln !

Auf diese Weise hatte sie nun alle in ihrer Gegend niedergelassenen Ärzte durchgeritten, die sie in ihrer Not auf die Liste mit Patienten aus der Sphäre des ‚Münchhausen-Syndroms’ oder auch ‚Koryphäenkiller-Syndroms’ – eine Spezialität von Professoren und Chefärzten - setzten.

 

Glücklicherweise kam es nun zu einem Generationswechsel unter den Ärzten, und sie konnte sozusagen wieder von vorne anfangen. Eine wahre Sisyphusarbeit.

 

Ihr Mann war mittlerweile gestorben und sie war schon 90 Jahre alt. Das Zusammenleben mit den diversen Krankheiten hatte sie immer gesund gehalten.

 

Da machte sie einen kardinalen Fehler : Sie legte sich zur gleichen Zeit zwei Krankheiten zu, welche nach Kurzem so miteinander im Clinch lagen, dass der Nierentumor und die brennenden Füße schlussendlich vor die Tür gingen, um den Konflikt mit den Fäusten auszutragen. Die anderen Krankheiten eilten mit nach draussen, um nur ja nichts zu verpassen.

 

Und als sie so allein und ganz ohne ihre Schutzpatrone dasaß, ereilte sie der Tod, den sie sich bisher immer so erfolgreich mit Hilfe der Krankheiten aller Art vom Leibe gehalten hatte.

 

 

 

 

 

...und ein gebrochenes Herz

Theresa, die ‚alte Lokomotive‘, wie sie von den wenigen Freunden genannt wurde, die noch am Leben waren, hatte sich vor ihr Häuschen in die Sonne gesetzt, die jetzt am Abend mild und freundlich schien und ihr das Herz wärmte.

 

Ihr gebrochenes Herz. Langsam fühlte sie, wie die Sonnenkraft in ihr schmerzendes Herz eintropfte und den traurigen Krampf löste, gegen den es seit Jahren anschlagen mußte.

 

Ihr Atem ging ruhiger. Sie schloß die Augen. Herzerwärmende Bilder tauchten vor ihrem inneren Blick auf. Sie sah sich auf dieser Bank sitzen, vor vielen Jahren, als junges Mädchen, mit hoffnungsvollem Blick in die Welt. Sie hatte gerade ihre Ausbildung zur Kindergärtnerin hinter sich, ‚Erzieherin‘ würde man heute sagen. Ihr Land befand sich im Aufschwung, hin zum Wirtschaftwunder. Niemand hatte mehr etwas dagegen, daß Frauen arbeiteten, im Gegenteil.

 

Ihr Herz schlug, fest und verläßlich, für einen jungen Mann aus der Nachbarschaft. Er hatte ihr gestern einen Blick geschenkt. Ein wenig verweilte sie in diesem seligen Gefühl, das sie trug, wie Morpheus auf seinen Armen.

 

Natürlich war es dann alles andere als einfach. Denn der junge Mann hieß Giovanni und war ein Gastarbeiter aus Italien. Aber sie waren stark, ihre Liebe noch stärker. Sie heirateten. 

Als nächstes schickte Theresa ihre Gedanken zurück in die Zeit ihrer Ehe. Giovanni nahm sie mit in sein Heimatland. Sie lernte seine Sprache. Sie lebte in seiner großen Familie. Sie wurde schwanger. Langsam begann sich ihr Bäuchlein zu runden. Da bekam sie, wie ein Blitz aus heiterem Himmel, furchtbare Bauchschmerzen und begann zu bluten. Ihr wurde schwindlig, sie verlor das Bewußtsein. Erst im Krankenhaus wachte sie wieder auf, ihre Schwiegermutter saß an ihrem Bett; sie hatte über sie gewacht.

Sie erzählte ihr unter Tränen, daß sie ihr Kind verloren habe.

 

Im Gefühl dieser Trauer badete Theresa nun, lange Momente. Mit der Zeit hatte diese Trauer alles Schwere verloren, sie hatte den Geschmack einer betäubenden Süße angenommen. Nur mit Mühe gelang es ihr, sich daraus zu lösen und zurückzugehen in ihre Vergangenheit.

 

Sie mußte damals wohl depressiv gewesen sein. Nach ihrer Rückkehr in den Schoß der Familie fühlte sie sich von allem abgekapselt. Und eines Tages wurden die krampfartigen Schmerzen ihrer Seele so groß, daß sie sich selbst aus diesem Schoß ausstieß und nach Deutschland zurückkehrte.

 

Was dann kam, erinnert sie kaum mehr. Ein grauer Brei, ein Leben voller Arbeit, ein einsames Leben. Nichts, wohin sie jetzt in Gedanken zurückgehen wollte.

 

Nach den Jahren der Knochenarbeit war das Alter in sie eingedrungen. Ihre Schönheit war dahingeschmolzen, ihre Haltung hatte sich gekrümmt, die Gelenke waren geschwollen, die Augen farblos. Sie hatte alle Spiegel abgehängt, um nicht traurig zu werden.

 

Natürlich, wenn sie es richtig betrachtete, so hatte das Leben noch immer eine seltsame Kraft. Es zog sie von einem Tag zum anderen, es forderte Dankbarkeit von ihr ab, es widerstand vielen Krankheiten, es kämpfte, allein auf weiter Flur, gegen all die Nackenschläge, die regelmäßig eintrafen.

 

Zuerst die Nachricht vom Tode Giovannis. Ihn konnte sie noch mit ihren Freunden beweinen.

Dann das Hingehen eines nach dem anderen, das sie allein und einsam zurückließ. 

 

Nun lebte sie mit ihrem Kater, der sie verstand und allabendlich mit ihr Zwiesprache hielt, bevor er auf Jagd ausschwärmte.

 

Als sie nichts mehr von Leben erwartete, kam der Postbote vorgefahren und hielt vor ihrem Hause. Zuerst dachte sie, das Auto sei stehengeblieben und habe eine Havarie. Sie lief hinaus und sah, daß der Postbote die hinteren Flügeltüren aufsperrte und nach etwas suchte. Er förderte einen alten Koffer zutage, klein, abgerieben, mit Paketband verschnürt. Nachdem der Beamte noch einmal ungläubig die Adresse kontrolliert hatte, übergab er ihr den Koffer.

 

Der wog fast nichts. Sie trug ihn hinein.

 

Viele Tage lang betrachtete sie ihn mit Rührung und Neugierde. Er war aus Italien gekommen, nach all diesen Jahren.

 

Abends setzte sie sich davor, und ihre Fantasie ging auf Reisen. Was mag dieser Koffer dort erlebt haben, hatte er jemals eine Reise unternommen, bevor er sich zu ihr auf den Weg machte? Ist er mit dem Flugzeug gereist oder per Bahn gefahren? Wurde er gut behandelt, mit Samthandschuhen angefaßt, oder geworfen? Ist er auf den Boden geknallt? Die Schnallen waren intakt, die Schnur unversehrt.

 

Als Absender stand darauf ein Name, der ihr unbekannt war. Allerdings war der Nachname der von Giovanni.

 

Es schien ihr, als ob der Koffer ein geheimes Innenleben habe. Er schien zu atmen. Er leistete ihr Gesellschaft. Er war zuverlässig anwesend, sie fühlte sich nicht mehr so allein.

 

Lange Zeit genoß sie einfach dessen rätselhafte Existenz. Die Büchse der Pandora. Eine schöne Zeit.

 

Theresa blickte an eine Stelle unter den Büschen. Ein friedvolles Einverständnis breitete sich in ihr aus.

 

Eines Abends hatte sie, nachdem der Kater gegangen war, die Tür abgeriegelt und die Fensterläden geschlossen. Sie hatte den Koffer von seinem Platz neben ihrem Sessel angehoben und auf den Tisch gelegt. Sie hatte die Schnur durchtrennt, die Schnallen geöffnet, den Deckel gehoben.

 

Darin lag, auf einem Bett aus seidenen Tüchern, ein kleines Mumienwesen, winzig wie eine Puppe, mit einem seligen, friedlichen Gesichtsausdruck und schwarzen Härchen. An jeder Hand fünf Finger mit winzigen Nägeln, an jedem Fuß fünf Zehen, perfekt wie die ihren.

Auf seinem Bäuchlein ein Briefumschlag.Theresa hatte, nachdem sie das kleine Wesen mit Liebe und der gebotenen Zeit ausgiebig betrachtet hatte, den Brief geöffnet.

Giovanni hatte ihr geschrieben:

‚Meine große Liebe!Ich habe es nicht über das Herz gebracht, unseren kleinen Sohn einfach so zu begraben, ohne daß Du ihn gesehen hättest. Schau Dir an, wie schön er ist. Er hat mir also über all die Jahre, nachdem Du gegangen bist, an Deiner Statt Gesellschaft geleistet, und wird an meinem Totenbett Wache halten, bis er dann – so habe ich es vermacht – die Reise zu Dir antreten wird.

Ich hoffe, daß er an Deiner Seite bleiben kann, bis Du beschließt, ihn zu begraben.

In Liebe Dein Giovanni‘ 

Scheinwelt

 Mustafa hatte sich, seit er denken konnte, tief in seinem Innersten für seinen Namen geschämt. Klar, sein Großvater hatte auch so geheißen, dieser feine alte Herr, den er jedes Jahr während der Ferien im Sommer sah, wenn seine Familie mit ihm in die Heimat fuhr, den alten Mercedes voller Geschenke und Plastikmöbel, und den er das ganze restliche Jahr über nicht vergessen konnte. Jeden Sommer waren neue Falten in Großvater Mustafa’s  Gesicht gegraben, und jedes Mal hatten seine Augen freundlicher, verschmitzter und mit wachsendem Stolz in sein, Mustafa’s Gesicht geblickt.

 

Dann kam der Sommer, in dem Großvater nicht mehr unter der Tür auf ihn wartete. Sie erzählten, er sei gestorben, während die Eltern mit Mustafa, Yasmina, seiner Schwester und den drei kleineren Brüdern zusammengepfercht auf den langen und staubigen Fahrt in die Heimat waren.

 

Er war damals 14 Jahre alt, ein fleißiger Schüler mit ein paar verlorenen Barthaaren im Gesicht und einer Stimme, die sich immer wieder überschlug.  Am Freitagnachmittag, wenn die anderen in die Freiheit stürmten, saß er in der Koranschule, da kannte der Vater kein Pardon.

 

Da beide Eltern arbeiteten, hatte er nachmittags immer die Aufgabe, auf die Geschwister aufzupassen und dafür zu sorgen, dass Yasmina die aufgetragenen Hausarbeiten und die Brüder die Hausaufgaben pünktlich erledigten. Er war der Älteste und hatte damit automatisch unangefochten Autorität, gleichzeitig aber auch eine große Verantwortung.

 

Der Vater war vor mehr als zwanzig Jahren nach Deutschland gekommen, um Arbeit zu finden. In seinem kleinen Heimatdorf hatte sein älterer Bruder den kleinen Bauernhof übernommen und konnte sich und seine Familie mehr schlecht als recht mit und von den paar Schafen ernähren, die er besaß. So musste der kleinere Bruder selbst sehen, wie er überlebte.

 

Die Mutter war zehn Jahre später nachgezogen, den kleinen Mustafa an der einen und das sündhaft teure Flugticket in der anderen Hand. Yasmina und die anderen waren in Deutschland geboren. Die Mutter blieb anfangs ängstlich zuhause und schaute mit großen Augen durch die Gardine hinaus in die Welt da draußen, wo rauchende Frauen in kurzen Röcken und ohne Kopftuch an den Bushaltestelle standen und sich mit den anwesenden Männern unterhielten. Die Mutter konnte nicht Deutsch sprechen.

 

Der Vater arbeitete in einem Entsorgungsbetrieb. Er fuhr mit seinem Kollegen hinten auf den Müllfahrzeugen unter dem großen Schlund des Wagens durch die Straßen, lässig an der Stange eingehängt, um an den Ecken nicht davongeschleudert zu werden. Mustafa hatte ihn von Kind auf dafür bewundert.

 

Nun war Mustafa glücklich, für ein paar Wochen nicht in die Schule gehen zu müssen, denn dort wurde er immer von seinen Kameraden aufgezogen. „Ali Baba, wo sind deine Räuber ?“ Und das war noch das Harmloseste. Mehr verletzte ihn, wenn sie ihn „Kanake“ riefen.

 

Die Kameraden hatten die Schultaschen (von einem berühmten Label) voller elektronischer Schätze: Spielkonsolen, Tablet, Handy. Kein Pausenbrot – sie hatten Geld dabei für einen Döner am Mittag. Vor der Döner-Bude trafen sie sich mit den Mädels aus der Nachbarschule.

 

Mustafa und sein Freund Hakan wurden dort nicht zugelassen. „Kein Geld – kein Döner – kein Glück bei den Weibern.“

 Die ganzen Ferien lang dachte er darüber nach, wie er seine Stellung in der Klasse verbessern könnte. Er machte einen Plan: Er würde jeden Cent seines Taschengeldes sparen, um einmal an einem Samstag in weiter Ferne mit Hakan in die Disco zu gehen und seinen Kumpels zu zeigen, was eine Harke ist. Seinem Vater durfte er um Gottes willen nichts davon erzählen, denn das meiste von dem, was dort geschah – so hatte er es wenigstens gehört – war Allah auf keinen Fall gefällig. Sein Vater war streng und strenggläubig.

 

So sparte er im Geheimen jeden Cent. Hakan machte es genau so.

 

In der Schule begann der Französischunterricht. Jetzt nannten sie ich ihn „Moustacha“. Unter diesem Namen wurde ein Foto von seinem Gesicht mit bartloser Oberlippe bei Facebook veröffentlicht: ‚Gesucht: Moustacha.’ Als Referenz und zum Kontrast waren da noch Fotos von berühmten Oberlippenbartträgern, wie Friedrich Nietzsche – um einmal den Harmlosesten zu nennen – und andere, berüchtigte Politiker. Er erfuhr erst nach Tagen davon, nachdem alle gekichert hatten, als er morgens den Klassenraum betrat. Die Klassenkameraden zogen ihn damit auf, dass er kein Handy besaß und nicht selbst bei Facebook nachsehen konnte, worum es beim Grund ihrer Belustigung überhaupt ging.

 

Er saß mit Hakan nun immer allein im Häuschen der Bushaltestelle, in der Pause und nach der Schule, bevor er zu den Geschwistern nach Hause musste. Manchmal rauchten die Beiden dort heimlich eine Zigarette. Mustafa erzählte Hakan, dass er eine neue Schulkameradin hätte, Ljubow, die ihm sehr gefiel. Sie war vor kurzem aus Russland gekommen, ein schüchternes und sehr kluges Mädchen, fleißig und ordentlich. Zuerst hatte er sie  nur heimlich angesehen; aber kürzlich war sie auf der Treppe der Schule plötzlich vor ihm gestanden und hatte ihn angelächelt und gesagt: „Mustafa, warum sagst du nicht: guten Morgen!“? Der Morgen war gut gewesen, besser hätte er nicht sein können.

 

„Hast du dann mit ihr gesprochen ?“ „Ich trau’ mich nicht.“

 

Hakan machte ihm Mut und erzählte von seinen kleinen Abenteuern auf dem Feld der Liebe. Mustafa übte zuhause vor dem Einschlafen tausend Sätze ein, die er ihr sagen wollte, über ihre Augen, ihre Haare, ach: überhaupt über alles, was sie war. Als er den Mut gefasst hatte, einen dieser so oft eingeübten Sätze über die Lippen zu bringen, lachte sie verlegen und wurde rot. So war sie noch schöner.

 Eines Abends brannte das Bushäuschen ab. Die Polizei erfuhr bei ihren Ermittlungen durch Zeugen von Mustafas Rückzugsort und klingelte an der Tür.

 

Der Vater war mehr als aufgebracht. Er knöpfte sich seinen Sohn vor und drohte, ihn aus der Schule zu nehmen und in die Heimat zurückzuschicken; dort könne er dem Onkel beim Schafehüten helfen.

 

Nach zwei Jahren hatte das Taschengeld ein schönes Sümmchen ergeben. Hakan und Mustafa konnten den Termin für den Discobesuch ausklüngeln.

 

Dann kam der fragliche Samstag; beide hatten zuhause mit kleinen Ausreden vorgebaut, ihre Floppy-Jeans und das neue Shirt mit dem „unheimlich Unheilig“-Aufdruck übergezogen, waren in die Nike’s geschlüpft und hatten sich aufgemacht.

 

Der Abend endete in einer Katastrophe. Mustafa hatte sich großspurig Whiskey bestellt und war nach dem zweiten Glas umgekippt und vom Notarzt mit der Ambulanz in’s Krankenhaus zur Entgiftung gebracht worden. Als er die Augen aufschlug und in die noch immer schwankende Welt blickte, sah er seinen Vater am Bett stehen. Mustafa verstand sofort, dass es jetzt soweit war.

 

Der Vater verzichtete erst einmal auf jeglichen Kommentar, solange Mustafa im Krankenhaus bleiben durfte. Als er aber nach Hause kam, waren die Konsequenzen seines Tuns klar: ab in die Heimat.

 

So ging Mustafa von zuhause weg und trieb sich in der Stadt herum, an Plätzen, an denen ihn sein Vater niemals vermuten würde. In der Schule konnte er sich nicht mehr blicken lassen. Er schlief auf den Parkbänken und suchte sich seine Nahrung in den Mülltonnen vor Restaurants und hinter Supermärkten. Er wagte sich nicht einmal mehr in die Nähe der Schule, nur im Bushaltehäuschen wartete er auf Hakan – vergebens. Wenn er dort saß, durch die bunten Plakate mit den Sonderangeboten „Ich bin doch nicht blöd“ den Blicken entzogen, versuchte er, Ausschau zu halten nach Ljubow, die ja einen anderen Weg hatte.

 

Eines Tages, als er  im Regen wieder dort saß, näherte sich ein stämmiger Mann, der fragte, ob er sich neben ihn setzen dürfe. Der Mann war gut gekleidet und gepflegt, er roch gut und hatte sogar ein kleines handgesticktes Mützchen auf dem Kopf.

 

Der Mann wandte sich zu ihm und sagte:

„Du siehst sehr unglücklich aus.“

Mustafa war diese persönliche Ansprache zuwider. Er sagte deshalb: „Und?“

„Ein kluges ‚ja’, ohne wenn und aber. Du bist ein schlauer Junge.“

„Ja.“

Es trat eine Pause ein, während der Keiner der beiden etwas sagte. Als die Stille begann, für Mustafa unerträglich zu werden, fing der Mann wieder an zu sprechen:

„Was machst du hier?“

„Ich warte.“

„Worauf?“

„Ich weiß es nicht.“

„Keine Seele weiß, welche Freuden im Verborgenen für sie bereitgehalten werden als Lohn für das, was sie zu tun pflegte.“ *)

„Ich habe einen Fehler gemacht, Allah wird mir nicht verzeihen.“

„Er ist der Kenner des Verborgenen und des Offenbaren, der Allmächtige und Barmherzige.“ **)

 

  *) Koran Sure 17

**) Koran Sure 6

 

Da stand der Mann auf und bestieg den Bus, der gerade angekommen war.

 

 Mustafa fühlte sich allein und verletzlich. Die Einsamkeit, in der er war, die Nutzlosigkeit, in der er sich befand, standen klar vor seinen Augen. Welchen Sinn hatte sein Leben? In ihm sträubte sich alles gegen die Aussicht auf Rückkehr in das heimatliche Dorf, in dem die Menschen in bitterer Armut lebten und er keine Möglichkeit haben würde, so zu leben wie hier. Aber so weitermachen wie in den letzten Tagen? Das ging auch nicht. Nach Hause konnte er nicht mehr, der Vater würde keine Gnade kennen.

 

Und so setzte er sich wieder öfter in das Haltestellenhäuschen; mit der Zeit wurde ihm klar, dass er auf den stattlichen Herrn wartete. Vielleicht könnte er mit ihm über seine Lage, seine Probleme sprechen?

 

Und, als ob er ihn herbeigesehnt hätte, stieg der Mann aus dem Bus.

 

„Ich wusste, du wartest hier auf mich.“

 

In den folgenden Tagen besprachen sie alles, und der Mann erklärte ihm den Sinn seines Lebens, flößte ihm Mut ein und lenkte ihn auf den – wie er sagte: richtigen – Weg. Er werde die Ehre haben, als Kämpfer im gerechten Krieg für seinen Glauben einzustehen und vielleicht auch zu sterben. Er müsse nur ihm folgen.

 

Wochen später bestieg er das Flugzeug, welches ihn nach Pakistan brachte. Es war alles wohlorganisiert und vorbereitet, im Ausbildungslager dort lag alles für ihn bereit, auch ein Gewehr. Er würde sich als würdiger Kämpfer erweisen.

 

Es war kalt, Schnee lag auf den Gipfeln der Bergkette, ein eisiger Wind fegte über das Lager. Mustafa war früh aufgestanden und saß nun als Einziger auf einem Stein vor dem Zelt. Diese Kälte kannte er, aber sie war reiner, als die durchtoste Kälte in der Stadt. Seine Gedanken wurden unwillkürlich zurückgezogen, sein Herz war schwer.

 

Am blauen Himmel über dem Ausbildungslager war keine Wolke, als ein seltsames Fluggerät heranbrauste und kurz nach Überwindung des Bergkamms eine Rakete zündete.

 

Mustafa hatte keine Zeit mehr, zu erkennen, um was es sich handelte. Es war ein furchtbarer Blitz, ein greller Schmerz, der sich bis in seine Seele ergoss und das Leben verschlang, ein Feuer, das das gesamte Lager niederbrannte und keine Spur übrig ließ von Mustafa und seinen Kameraden.

 

Wieder zehn Gottes-Krieger weniger auf der Liste. Anonym, gesichts- geschichtslos. Chirurgische Kriegsführung.

 

Impressum

Bildmaterialien: Coverfoto Toyo by pixelio
Tag der Veröffentlichung: 08.04.2015

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