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Das verbotene Zimmer

Es waren einmal zwei Schwestern.

Gemeinsam im Haus der Eltern aufgewachsen, hatten sich ihre Wege getrennt, als sie ein eigenes Leben anfingen.

Die Ältere hatte sich auf eigene Beine gestellt, war ausgezogen und hatte die Welt gesehen. Die Jüngere hatte folgende Betrachtung angestellt: Eigentlich kann ich mir die Miete für eine eigene Wohnung sparen, und die vielen Reisen: nur Umstand! (Und so kam sie auch nie in andere Umstände.) Sie blieb im elterlichen Haus.

Die Jahre gingen in’s Land.

Die Ältere hatte einen Beruf erlernt, der sie an das obere Ende der sozialen Beliebtheitsskala katapultierte. Natürlich ging das nicht ohne Studium, Engagement, Übernahme von Verantwortung, Biss auf den oberen Management-Stufen. Reisen und internationales Flair waren ein Muss. Die Nächte, die sie in ihrem eigenen perfekt designten Bett verbrachte, waren in der Minderheit gegenüber denen, die sie in Fünfsternehotel-Betten all arround the world und auf ihrem Schragen im Bereitschaftsdienstzimmer lag. Auch das Bett von diesem oder jenem Lover war dabei, vom Futon bis zum alten Bettkasten waren alle Stilrichtungen vertreten – das Spektrum spannte sich aus vom alten Indianer über Pfadfinder und Yuppie bis zum Börsinaner. Das Zusammen-Schlafen klappte meist, das Schlafen weniger. Nun war die Zeit des Rückzugs gekommen und viele ihrer Erwartungen an sich selbst und vor allem an die Welt außerhalb hatten sich nicht erfüllt, einiges war in eine handfeste Enttäuschung ausgeartet. So sehnte sie sich danach, wieder festen Boden unter den Füßen zu haben, und erinnerte sich des elterlichen Hauses und ihrer Schwester darin.

Diese hatte zwar einen Beruf erlernt – einen künstlerischen -, in dem sie nicht besonders reüssiert hatte, weil sie sich einfach nicht von zuhause wegbewegen wollte. Mobilität schien ihr zu teuer zu sein und nichts zu bringen. So war sie am elterlichen Herd geblieben, hatte sich aber im oberen Stockwert ein Nest eingerichtet, wo sie ihr eigener Herr war. Sie hatte die Eltern bis zu deren Tode gepflegt und begleitet und war nun allein in einem großen Haus, im Winter in einer ungemütlichen Kälte, weil sie den Rest – außer ihrem Zimmer – nicht unsinnigerweise heizen wollte. Sie strebte, wie immer im Leben, eine positive Energiebilanz an, positiv für sich selbst. In diesem Zusammenhang hatte sie auch nie versucht, einen Lebensgefährten zu finden, denn sie war der Meinung, dass das ganze Getue sich nicht auszahlt. Ihre Schwester bedauerte sie, es kam aber auch vor, dass sie sie beneidete. Nur gestand sie sich das lieber nicht ein.

Eines Novembertages flatterte ein Brief bei ihr ein: Die Schwester schrieb darin, dass sie wieder im Lande sei und sich, nach einem solch umtriebigen Leben, wieder der alten schönen Dinge erinnerte, ja, dass sie sich förmlich danach sehnte. Sie schrieb, sie wolle ihre Schwester zuhause besuchen.

Der erste Adventssonntag bot sich an. Kerzenschein, Dunkelheit und anheimelnde Wärme blendeten sozusagen die kalten und erbarmungslosen Spuren aus, die das Leben beiden geschlagen hatte. Glühwein und Lebkuchen sorgten für die Süße im Leben und gaben die Initalzündung für eine weniger erbarmungslose Anschauung Beider, setzten die Wirklichkeit in ein zartes und warmes Licht.

Der Nachmittag verlief in Rahmen einer weiten Gefühlsspanne, vom eher frostigen Begrüßungsritual, dem Platznehmen, Abwarten und Teetrinken bis zur glühweinseligen Verschwesterung. Und da die Zeit nicht ausreichte, alle Gegebenheiten und Vorkommnisse in gerechter Weise zu erzählen, so dass keine von Beiden zu kurz kam, beschloss die Jüngere, ihre Schwester zum Verweilen aufzufordern und das Bett zu beziehen. Die Ältere, überwältigt von der Sehnsucht nach schwesterlicher Harmonie, willigte ein.

Der Mond ging auf, knarrende Kälte machte sich breit. Beide lagen in ihren Betten und hörten auf ihren Pulsschlag, der von Wein vervielfältigt wurde. Der Kopf dröhnte, im Ohr rauschte ein Meer von Gefühlen, die Augen kamen nicht zur Ruhe und produzierten hinter geschlossenen Lidern halluzinatorische Bilder.

Beiden – man hätte nicht sagen können, wem zuerst – dämmerte, dass es seit Urzeiten im Haus ein verbotenes Zimmer gab, von dem die Großmutter schon gesagt hatte, man dürfe es um nichts in der Welt öffnen.

Jede von Beiden spürte ein Anschwellen Ihres Mutes, bedingt durch die schwesterliche Anwesenheit und das Gefühl des gemeinsamen Nestes. Die Ältere fragte sich in ihrem Bette: „Was soll das? Ein Mikrokosmos im Makrokosmos, ein Makrokosmos im Mikrokosmos? Was kostet die Welt? Ich guck hinein.“ Der Jüngeren ging unaufhörlich der Gedanke durch den Kopf: „Koste es, was es wolle, und auch wenn es sich nicht auszahlt: Ich dreh den Schlüssel um.“

Plötzlich, um Mitternacht, trafen sich beide vor der Tür des verbotenen Zimmers. Sie brauchten keine Entschuldigung, sie mussten voreinander nichts mehr verbergen, Beiden war der gemeinsame Antrieb klar; „Wir schauen hinein.“

Sie merkten noch nicht einmal mehr, wer von Beiden den Schlüssel drehte. Die Tür ging knarzend auf, war sie doch seit Jahrhunderten nicht mehr bewegt worden.

Zuerst sahen sie nichts. Als sich ihre Pupillen an die absolute Schwärze gewöhnt hatten, konnten sie schemenhaft eine Kugel ausmachen, eine perfekte Kugel voller Grün, Blau und Braun, die sich drehte. Wenn man genauer hinsah, konnte man kleine Kugeln ausmachen, die sich langsam um die große bewegten. Eine majestätische Sphärenmusik erklang, voller unendlicher Harmonie, die den Lebensodem eines jeglichen Wesens begleitete, das auf der Kugel lebte. Vulkane stießen Staub- und Lavawolken aus und schleuderten damit Gier, Krieg, Aggression, Neid und Stolz aus der Sphäre der Kugel in’s leere All; in der Atmosphäre um die Kugel herum herrschte eine gleichmäßige Wärme, in ihrer Luft lag Liebe, die von jedem Lebewesen eingeatmet und zu seiner eigenen Substanz gewandelt wurde. Die Wesen strahlten. Da sie wenig Energie gebrauchten, verbrauchten und missbrauchten, waren sie zufrieden und glücklich. Sie hatten alles, was notwendig war, und alles im Überfluss.

Und so konnte sie ein Apfel nicht mehr verführen, ein Apfel, der rotbackig, glänzend und prall am Baum der Erkenntnis des Guten und des Bösen hing. Und auch die Schlange prallte ab mit ihrem Vorhaben, den Apfel anzupreisen und die Menschen dazu zu bewegen, unbedingt hineinbeißen zu wollen.

Wunderbar

Kurz nach seinem 93.Geburtstag war er verschieden. Ein langes, schönes Leben lag hinter ihm, ein kurzes Abschiednehmen; der ewige Tod vor ihm, ausgebreitet wie eine unendliche Ebene.

 

Die Honoratioren, die örtliche Presse sagten: „Wie nah doch der Tod dem Leben ist!“ Die Familie, die Freunde sagten: „Noch vor zwei Tagen habe ich mit ihm am Telefon gesprochen, und jetzt…..“

 

‚Gesprochen‘ war vielleicht zu viel gesagt, denn er hatte in den letzten Jahren seine früher gewaltige, manchmal erschreckende, Wortgewalt verloren und war verstummt, die Worte waren versiegt, alle außer dem einen Wort: ‚wunderbar!‘

 

Seine Tochter hatte sich mit ihrer Trauer auf die Zinnen ihres Belvedere zurückgezogen, um sich angesichts des unendlichen Meeres und seiner immerwährenden Bewegung mit der Endlichkeit anzufreunden, denn sie hatte Krebs.

 

In den letzten zwei Jahren, seit ihre Krankheit diagnostiziert war, hatte sich ihr Leben von innen nach außen gestülpt.

 

Es kam ihr vor, als ob sie plötzlich von der Hand eines Riesen auf das andere Ufer geworfen worden sei, und wenn sie das unendliche Meer ohne Horizont sah, stellte sie sich vor, dass der Riese sie an das andere Ufer eines Flusses geworfen habe, der zwar reißend, aber nicht unüberwindlich ist.

Die Kraft dieses Riesen hatte sie als groß erfahren, aber doch nicht so mächtig, dass er sie hätte über ein Meer schleudern können, denn es ist weit und tief.

 

Bei seinem Anblick hörte sie in ihrem Innern das Lied, das ihr die Mutter immer vor dem Einschlafen gesungen hatte:

 

‚Es waren zwei Königskinder, die hatten einander so lieb…… sie konnten zusammen nicht kommen, das Wasser war viel zu tief….‘

 

Auf ihrem Weg durch die traurigen Niederungen der Krankheit hatte sie eine Freundin gefunden, eine Leidensgenossin, die – wie sie selbst – auf der Suche nach einem Sinn in alldem, entschieden hatte, sich von ihrer Position als emanzipierte, den Männern alles gleichmachende Arbeitnehmerin zurückzuziehen und den Kampf aufzugeben, der ihr das Leben lang nichts zurückgegeben hatte, als vielleicht die einsame Genugtuung der objektiven Selbst-Anerkennung ihrer Fähigkeiten, im Trotz gegen die sie umgebende Missachtung.

 

Gleich waren sie in diesem Erleben.

 

Beide Frauen hatten im Schatz ihrer Begabungen gegraben:

 

Die eine hatte entdeckt, dass sie ein unbestechliches Auge hat, das mit ihrem inneren Sinn für Harmonie und Schönheit verwachsen war, hatte ihren alten Fotoapparat ausgegraben und sich auf den Weg gemacht, die Welt durch dessen Linse zu filtern; genügend Zeit hatte sie jetzt ja.

 

Die andere, Zeit ihres Arbeitslebens unter dem Diktat des Stresses, mit lebensbedrohlichen Situationen konfrontiert und zu Sekundenentscheidungen auf der Linie zwischen Leben und Tod gezwungen, hatte ihre Gabe für das Schreiben ausgegraben, an dem sie hing wie eine Ertrinkende; als sie aber diese Flut gewahrte, die sie wie das Wasser eines reißenden Stromes beutelte, erkannte sie den Reichtum, der sich während ihres manchmal so flachen Arbeitslebens in ihr angesammelt hatte.

 

Beide kamen auf den Zinnen des Belvedere zusammen.

 

Die Geschichten ihrer Väter tauchten in ihren Gesprächen auf, vor dem Hintergrund des ewigen Wassers, des stahlblauen Meeres, Schmelztiegel allen Lebens.

 

Als sie eine Fahrt mit dem Schiff unternahmen, um sich von den Wellen schaukeln zu lassen, auf sicheren Planken, und ihr Blick sich nicht sattsehen konnte an diesem immensen Lebensraum des Meeres, flog ein Wesen aus dem Wasser auf: ein fliegender Fisch, ein Wunderwesen, in der Lage, sein Lebenselement für lange Augenblicke zu verlassen, um in die Luft zu wechseln, das entgegengesetzte und für ihn lebensfeindliche Element.

 

 

Je länger wir leben, umso mehr sind wir von Gespenstern umgeben: den Seelen all derer, die um uns waren und gestorben sind.

Dass sie wirklich Lust haben, um uns zu sein, sich noch bei uns aufzuhalten!

Vielleicht bewegen sie sich wie die fliegenden Fische, und das ohne Anstrengung und ohne Gefahr, denn beides gibt es nicht mehr für sie.

Der Geschmack der Worte

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Den Kopf voller Worte, die durch die Windungen des Gehirns fräsen, ungreifbar und ohne Gestalt; wir saugen sie in unseren Mund, kauen vielleicht noch ein bisschen darauf herum und spucken sie aus. So sind sie in der Welt, flüchtig wie ein Duft, irisierend. Wir haben keine Macht mehr über sie.

Der Andere nimmt sie auf und lässt ihren Geschmack auf der Zunge zergehen. Dann verdaut er sie.

 

 

 

„Ich liebe dich.“

 

Wie ein Knall kamen diese Worte über ihre Lippen, wie abgeschossen aus dem kalten Lauf einer Pistole. Sie verfehlten ihr Ziel, und nach Bruchteilen einer Sekunde waren sie verpufft.

 

Und doch war nach ihnen alles anders als vorhin.

 

Denn mit diesen Worten war die Falschheit in der Welt, die Berechnung. Das Gift der Lüge hatte sich in diesem Hotelzimmer ausgebreitet und kroch in die schweren Vorhänge, die zugezogen waren. Im Halbdunkel, in dem die Gesichtszüge schwer auszumachen waren, breitete sich Peinlichkeit aus, die der Pein den Weg bereitete.

 

Jetzt war es vorbei.

 

Er lag wie erschossen auf dem zerwühlten Bett. Er merkte noch nicht einmal seine verrenkten Glieder.

 

Sie fuhr hoch, erschreckt, verbarg ihr Gesicht und raffte die Kleider zusammen, die im ganzen Zimmer verteilt lagen. Dann zog sie sich in’s Bad zurück, vermied aber, das Licht anzumachen, weil sie befürchtete, vom eigenen Gesicht aus dem Spiegel beäugt zu werden. Sie verzichtete auf eine Dusche, wusch sich notdürftig, schlüpfte in die Kleider und drückte sich wie ein Schatten durch die leise geöffnete Zimmertür. Sie erreichte den Lift, hielt sich mit Mühe aufrecht, an die Wand gelehnt, die mit ihrer Kühle den Schlag ihres laut pochenden Herzens vervielfältigte und – so schien es ihr – auf das ganze Haus übertrug. In der Lobby angekommen, warf sie dem Nachtportier eilig die Worte „er bezahlt“ zu, um sich durch die Drehtür zu zwängen und in der laut tosenden Nacht zu verschwinden.

 

„Er bezahlt“. ‚Der Preis der Liebe’ kam ihr in den zerfledderten Sinn.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

„Ich liebe dich“. Wie lange hatte sie an diesen Worten geschliffen, bis sie leuchteten wie einer der glitzernden und kalten Sterne der Nacht. Das Gefühl hatte wochenlang in ihr rumort, hatte sich durch ihr Gedärm gewunden, war, verdaut und wiedergekäut, immer wieder in ihr aufgestoßen, hatte sie gewärmt und am Leben gehalten. Das Gefühl war ihr Leben selbst.

 

Erst, als sie sicher war, dass das Gefühl ein Wort verdient, um sich außerhalb ihrer selbst in die Welt zu begeben und sich dort auszubreiten, hatte sie nach diesem Ausdruck geforscht und tief gegraben. Wer hätte gedacht, dass so ein pulsierendes, luftähnliches Wort so tief vergraben liegt und doch nichts von seiner Leichtigkeit eingebüßt hat, und leuchtet wie am ersten Tage !

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

„Ich liebe dich.“

 

Die Liebe also; sie hatte sie gekannt und vergessen. Sie hatte sie zwei Mal kennengelernt, und jedes Mal hatte sie sich unmerklich verändert und am Ende aufgelöst.

 

Das erste Mal hatte sie sich geliebt gefühlt, als sie ein kleines Mädchen war. Ihr wunderbarer Vater, groß und stark, hatte sie in seinen Armen gewiegt und ihr die schönsten Worte zugeflüstert, die ihr kleines, wunderbar wie eine Muschel gewundenes Ohr aufnehmen konnte. Sie waren am Meer gewesen, in Sonne und Wind ein vollkommenes Glück. Der Vater hatte ihr ein Geschenk gemacht: eine Südseeschnecke, gerade so groß wie ihre kleine Hand, perlmuttweiß mit einem feinen türkisfarbenen Streifen rund um die Öffnung, an die sie ihr Ohr legte und, wenn sie im Sehnen durch das anfängliche Rauschen hindurchdrang, die wundervollen Worte des Vaters hörte, immer und immer wieder: Ich liebe dich.

 

Eines Abends fiel ihr die Schnecke aus der Hand und zersprang in tausend schillernde Teilchen; und als sie flugs versuchte, die perlengleichen Schätze aufzuheben, schnitt sie sich an ihnen, so dass alles voller Blut war; weiss und rot. Die Mutter, seit einiger Zeit nervös und ungeduldig, hatte einen Schreianfall bekommen, den die beruhigenden Worte des Vaters nicht durchdringen konnten, um sie, die Kleine, in Sicherheit zu bringen. So war sie diesem schrillen Anfall hilflos ausgeliefert gewesen.

 

Es hatte nicht lange gedauert, da war der Vater verschwunden, und eine Wand von Bösartigkeit hatte ihn für immer ferngehalten. Die giftigen Worte, die ihr von der verlassenen Mutter in’s Ohr geträufelt worden waren, hatten die Seele angedaut und hatten ihr eine Wunde gesetzt, die lange schwären sollte.

 

„Ich liebe dich.“ Das hatte ihr die Mutter, abends nach der Gute-Nacht-Geschichte gesagt, bevor sie das Licht dimmte.

 

„Ich liebe dich“, manchmal so voller Wärme und Traurigkeit, manchmal dahingesagt, um Zeit zu gewinnen - abwesend das Herz; nur Worte, durch die Reihe der Zähne gezogen.

 

 

 

 

 

 Mit 14 Jahren hatte sich in ihrem Körper etwas verändert. Ihre Augen sahen mit einem Schlag anderes in der Welt, als bisher: Mond und Sterne und die dunkle Nacht voller seltsamer Stimmen nahmen die Fantasie gefangen, im Gegensatz zu dem schnöden Tag, der einfach nur die Vorstellungen der Spießer wiederspiegelte.

 

Die Erinnerung an den Vater bekam immer mehr Tiefe und Schärfe.

 

Ihr Schulkamerad Kevin warf urplötzlich während der Deutschstunde flammende Blicke zu ihr herüber, Blicke, wie sie sie noch niemals mit ihrem wachen Auge aufgefangen hatte. Sie konzentrierte sich verwirrt auf das Buch, das sie nicht interessierte.

 

Es vergingen ein paar Tage; da waren Kevin und sie zusammen zum Pausendienst eingeteilt. Sie versuchte ihm auszuweichen; doch sie mussten sich abstimmen. Ihr klopfte das Herz bis zum Halse, dessen Haut zu flammenrot brennen anfing. Kurz schaute sie Kevin in’s Gesicht und sah ein Paar wunderschöne Augen. Sie übernahm den hinteren Teil des Pausenhofs und trollte sich sofort. Sie hatte dort keine Probleme und konnte durchatmen. Dann ertönte die erlösende Klingel.

Der Winter ging in’s Land und zog sich schon in die Berge zurück, da fasste sich Kevin ein Herz und fragte bei ihr an, ob sie einverstanden sei, mit ihm zu gehen. In der Klasse gab es schon einige solcher Paarungen, und alle tuschelten und schauten mit Neugier, welches Pärchen sich als nächstes bildete; ja, es war eine Art Konkurrenz entstanden.

Sie zählte die Tage, die ihre Freundschaft nun schon dauerte. Im Frühsommer, zu ihren Geburtstag, steckte Kevin ihr einen Freundschaftsring an den Finger. Es folgte die Tanzstunde, die sie zusammen absolvierten und bei deren Abschlussball sich die Eltern kennenlernten, einige schüchterne Küsse, dann die problembeladene Zeit vor dem Abitur - in der sie sich beistanden - und die Prüfung selbst.

 

Danach teilten sich ihre Wege, weil beide in verschiedenen Städten zu studieren begannen. „Ich liebe dich“ hörte sie am Telefon, „ich liebe dich“ schrieb sie als Antwort.

 

Zu Weihnachten kamen alle nach Hause zurück. Kevin und sie trafen sich wieder in ihrer Schülerkneipe, nach der Bescherung um Mitternacht. Das alte, aufwühlende Gefühl hatte sich erhalten und war durch die Sehnsucht aufgeladen. Sie trafen aufeinander, sie schliefen zum ersten Mal miteinander. Es war ein Eintauchen in’s Paradies.

 

Das Studium stand an vorderster Stelle. Nach den Abschlussprüfungen suchten beide eine Stelle in derselben Stadt und zogen miteinander in eine kleine Wohnung. Die Eltern sprachen vom Heiraten.

 

Das tägliche – und auch das Liebesleben – wurden zur Gewohnheit, zur Selbstverständlichkeit. Sie richteten sich bequem darin ein.

 

Alles ging, oberflächlich gesehen, gut bis zu dem Tage, als Kevin nicht nach Hause kam. Er hatte sich in der letzten Zeit unmerklich von ihr entfernt; sie hatte sich den Grund nicht erklären könnten, hatte nachgedacht, in der Vergangenheit gegraben, die Gründe bei sich und bei ihm gesucht; Kevin sprach nicht darüber. Jetzt war er verschwunden. Es kam eine SMS : „Ich liebe Sebastian, tut mir leid, Kevin.“ Nach weiteren zwei Wochen stellte sie seine Koffer vor die Tür, und als sie abends nach Hause zurückkam, waren die Koffer weg.

 

 

 

 

 

 

Lange hatte sie daran zu kauen, zu verdauen. Ihr Vertrauen war zerstört. Sie würde sich nie mehr jemandem ausliefern. Sie würde immer ihre Lebensinsel behalten, auf der keiner willkommen war. Von hier aus begann sie Ausflüge zu unternehmen. „Die Welt ist voller Frauen und voller Männer.“

 

Sie hatte einige Affairen, vom one night stand bis zu Liebeleien, die einige Monate dauerten. Immer endeten sie am selben Punkt: an der Beliebigkeit.

 

Dann fühlte sie sich wieder verliebt, verliebt wie beim ersten Mal.

 

Er war verheiratet, sie hatten sich bei einer Fortbildungsveranstaltung kennengelernt. Am Ende eines jeden Tages der Wissensaufnahme waren die Abende frei und ungebunden. Schon am ersten Abend rutschte atemlos das Wort aus ihrem Munde: „Ich liebe dich.“

 

Die Liebe wurde immer enger, immer fordernder. Die Nachmittage im Hotelzimmer bekamen einen bedrohlichen Unterton, verlangten nach Nächten, Wochenenden, Urlauben. Der Geschmack der Worte wurde bitter. Sie forderte, dass er sich scheiden ließe. Er versprach, die Sache zu lösen. Sie ließ sich von Monat zu Monat, von Woche zu Woche, von Tag zu Tag vertrösten. Dann war ihre Geduld aufgebraucht. Als er – entspannt nach der Liebe am Nachmittag -„nein“ sagte, knallte sie ihm entgegen: „Ich liebe dich“ und wusste doch schon – bevor die Worte Gestalt annehmen konnten -, dass es vorbei war.

 

Da war der Vorhang zerrissen.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Dahinter, im Dunkeln kauernd, war ein Wesen zu sehen, das Gesicht zwischen den Armen versteckt; ein kleines Mädchen, das Angst hatte.

 

Ohne den Geschmack des Wortes zu kennen, um den Geschmack der Liebe herauszuspüren, hatte sie in der letzten Zeit überwürzt und sich dabei hoffnungslos die Seele verbrannt.

Wein !

„Nein! Nicht gleich weinen,“ sprach Bacchus, den ich später vorstellen möchte. „Wein ist nicht gleich Wein.“

 

Die zarte Ariadne jedoch konnte ihre Tränen nicht zurückhalten, denn es brannte in ihren Augenhöhlen so sehr, dass die Augen sich selbst ein salziges Bad bereiteten, durch das die Welt ringsumher ihre Konturen verlor. Auch konnte sie nicht mehr in die Sonne sehen; der Sonne aber war sie göttlich verbunden.

 

„Woher diese Tränen, Liebste?“

 

„Der Wein ist geschwefelt.“

 

„Tatsächlich.“

 

„Du als Abgesandter Europas solltest dich dafür einsetzen, dass in Zukunft weniger gepanscht und gemauschelt wird.“

 

Bacchus war nämlich, trotz seiner Jugend, als ausgewiesener Spezialist der Lebens-Künste in das hehre Gremium berufen worden; er stand als Göttlicher damit am Anfang einer fulminanten Karriere, die seinen natürlichen Aufenthalt im siebten Himmel durch Kompetenz nur noch aufwerten konnte; denn all die schönen und lustigen Götter waren sturzgefährdet.

 

„Um die Wahrheit zu sagen: Ich erwarte dieses

Engagement von dir, denn ich möchte mein Leben nicht mit schlechtem Wein ruinieren.“

 

„Es wäre auch unverantwortlich, meine Liebste, denn die Dosis macht das Gift.“

 

Ariadne hatte auf Kreta und Naxos W e i n e kennengelernt, deren warme Süße, deren samtige Schwere in ihrer Erinnerung wie ein prickelnder Bodensatz haften geblieben war; die Zeiten ihrer Flucht waren jedoch schwer gewesen; und so hatte dieser Zaubertrunk ihrem Leben allabendlich eine Leichtigkeit verliehen, mit deren Hilfe sie dann in den Armen der Träume aus der Wirklichkeit davonsegeln konnte.

 

Das war eine gefährliche Täuschung. Denn es wurde zusehends schwieriger, in der anhaltenden Not den Sprung in das schwerelose Schweben zu schaffen.

Bacchus dachte in diesem Augenblick an die Hoffnungslosigkeit – die schlicht unsinnige Hoffnung -, die junge Schöne von dem gewohnten Genuss zu entwöhnen.

 

Auch schlugen in seiner Brust zwei Herzen; das eine hatte er bedingungslos in Ariadnes Dienst gestellt, das andere weinte und lechzte nach Wein.

 

So konnte er sich schlicht nicht vorstellen, wo er die Kraft hernehmen sollte, sich in das europäische bürokratische Labyrinth einzuschleusen und darin nicht unterzugehen. Das Wohl seiner Seele war ihm wichtiger.

 

„Setz dich also an deinen Computer und arbeite ein Papier aus, das du bei der nächsten Sitzung präsentieren wirst. Es muss pointiert formuliert sein, um wie eine Bombe einzuschlagen. All der üble Wein, der marktgerecht und schlupflochkonform gepantscht wird, soll sich – in’s Meer geschüttet - bis zu den Südlichen Sporaden ergießen, sich mit den salzigen Fluten mischend und zu einem verführerischen Rosé verschmelzend, schaumgekrönt, in dem das Meeresgetier mit leichtem Flossenschlag verweilt und all das Töten und Meucheln vergisst.“

 

Bacchus hatte die letzten, kämpferischen Worte Ariadnes überhört, denn er musste in seinem Innern mit dem Unwohlsein kämpfen, welches jegliche Anspruchshaltung in ihm hervorrief.

 

Bisher waren Ariadne und Bacchus ein Herz und eine Seele gewesen, ein eineiiger Zwilling, das Wunder der zwei Seiten einer Medaille.

 

Sagte Einer ein Wort, ergänzte der Andere den Satz, trank Einer aus dem Pokal, setzte der Andere ihn alsbald selbst an die Lippen und leerte ihn bis zum Grunde.

 

Ihre göttliche Abstammung, ihre Erziehung und Sozialisation in den himmlischen Sphären hatte sie für die Liebe prädestiniert. Die Kindheit war nicht nur gottgleich gewesen; sie hatten auch mehrfach Gelegenheit gehabt, erdenmenschliche Wesen zu erleben, die in gottväterlicher Großzügigkeit in den Himmel gehoben worden waren, nur, um dort nicht allzu lange zu verweilen. Die Sinnfrage hatte sich ihnen nicht gestellt.

 

Nun schlich langsam das Gift der Selbstverwirklichung zwischen ihre Herzen, der Furor der Einflussnahme und Manipulation,das Verdikt des Karriere-Machens, der unerreichbaren Befriedigung manchmal unsinniger – wenn nicht gar paradoxer – Ansprüche; mit einem Wort: Sie wurden ohne eigenes Zutun in die Zielgruppe der Werbebranche verfrachtet.

 

„Lass’ mich nur machen.“

 

Dieser Satz brachte zeitweise Entlastung und Spannungsabfuhr.

 

Die Zeit der kleinen Reibereien begann; und sie verlief am Ende nicht nach dem Konzept, das Ariadne sich zurechtgezimmert hatte.

Die Jungferninseln entschwanden im Dunst der Zukunft.

 

Die Alten, ihre frustgegerbten Gesichter dem Fernsehapparat zugewandt, wurden nicht müde zu betonen, dass sie all dies sehr wohl kannten; ja: dass in jeder Beziehung Streit zur Reinigung der Luft notwendig sei. Sie seien aber immer noch an Bord, entgegen jeglicher Vernunft.

 

Ariadne beschloss, nicht aufzugeben; ihre göttliche Mutter hatte ihr eingeflüstert, dass nichts ohne Kampf zu erreichen sei – das Leben mit dem allzu menschlichen, gleichzeitig allerdings königlichen, Gemahl hatte ihr diese Weisheit eingeimpft.

 Bacchus stand anfangs mit ihr in derselben Arena; er war bereit, an mehreren Fronten zu widerstehen.

 

Die Jahre zogen in’s Land, das Meer prallte an die Gestade wie eh und je.

 

Von allen unbemerkt entwickelte sich mittlerweile die Nahrungs- und Genussmittelindustrie in kriminelle Höhen. Bürokratische Fesseln konnten ihr nichts anhaben.

 

Bacchus verbrachte nun immer mehr Zeit am Busen Europas; sein Engagement sollte sich aber am Ende gegen ihn selbst wenden.

 

Als er die Vorschriften aus 1001 Sitzung zur Kultivation, Behandlung und Vermarktung des Weines in einer lauen Nacht studierte und darin wortwörtlich seine Eingaben wiederfand, welche ohne Angabe seiner Autorenschaft zur Argumentation in die entgegengesetzte Richtung eingesetzt worden waren und sehr überzeugend wirkten, warf er den Bettel hin. „Diese Menschen haben uns Göttern das Böse voraus.“

 

Seine Verbindung zu Ariadne war inzwischen auf der Strecke geblieben. Fluchtgewohnt, war sie aus seiner Sphäre verschwunden.

 

Bacchus kehrte nun, des Kämpfens und des Ringens um modernen Lifestyle müde, zurück an’s Meer.

 

Da in den europäischen Weinkellern regelkonform fortan nur noch Edelstahlfässer eingesetzt werden durften, bekam er ein altes, nach Wein duftendes Holzfass geschenkt – denn so musste der Besitzer es nicht vorschriftsgerecht entsorgen. Der alte Bacchus rollte das Fass an den Strand - an eine Stelle, wo er es zwischen den Felsen platzieren konnte. Sonnenschirme und das sommerliche Getriebe darunter gab es erst wieder hinter der nächsten Klippe im Sand.

 

Er aber pflanzte einen kleinen Weinberg über der Gischt, lebte in seinem Fass, saß den ganzen Tag im Licht und hob das Glas roten Weines in die untergehende Sonne, die es vergoldete und Fleiß wie Preis zur Lächerlichkeit schrumpfte. Seinetwegen konnte auch der Euro untergehen, so sicher wie das Himmelsgestirn.

 

An seine süße Ariadne wagte er zu denken, wenn die Gedanken die richtige Leichtigkeit erreicht hatten, um sich von der Trauer abzuheben.

Mister Perizoma

„Und jetzt die Stange zwischen die Schenkel“, die Stimme des Choreographen kam aus dem Dunkel der Strip-Taverne. Er war sich nicht mehr so ganz sicher, ob der Choreograph wirklich so schwul war, wie sie es – mit warnender Stimme und hochgezogenen Augenbrauen – vorausgesagt hatten. Die Stimme hatte so etwas emanzenhaft-schneidendes.

 

„Liebling, zwischen die S c h e n k e l !“

 

Ah, ja.

 

Die Schenkel also. Bisher waren die Schenkel kein so wichtiger Bestandteil seiner äußeren Erscheinung oder gar seiner Performance gewesen. Pralle Schenkel, die einem Schwanz richtiggehend der Garaus machen können, ein ausladernder, aber in der Konstistenz muskulöser Hintern und ja: die Brüste, weich, warm, beweglich und gleichzeitig stehend: Das waren bisher für ihn eher weibliche Attribute gewesen. Jetzt aber: seine Schenkel.

 

‚Froschschenkel’ fielen ihm ein, Schenkel, die zum Sprung befähigen, Schenkel, die, im Gelenk abgetrennt, aus der Pfanne hüpfen, um dem Höllenschlund zu entgehen.

 

Er sah es als Omen.

 

„Heute abend kommt der erste Fernbus voller Damen, und wir haben noch nicht einmal den Introitus intus. Schätzchen ! Alles auf Anfang.“

 

Die Musik wirkte abgedroschen auf ihn, als er sich an der Stange räkelte; wummende Bässe, die die Gläser auf der Bar zum Klirren brachten. Er hatte gute Lust, einen Oberton durch die Stimmlippen zu pressen, der die Gläser, ja sogar die Flaschen zerplatzen und einen glitzernden Scherbenhaufen durch die Taverne segeln ließ. Aber er musste sich konzentrieren, die Luft anhalten, gleichzeitig den Bauch einziehen und mit dem Becken rotieren.

 

„Was ist denn das für ein Gesicht ? Darling ! Lächeln !“

 

Sein Gesicht war bei dieser Unternehmung ja wohl weniger relevant. Doch er zog sofort die Lippen auseinander und zeigte eine weiße Zahnreihe. So, wie er die Zähne bleckte, konnte er es mit einem Formationstänzer aufnehmen. Formation aus Mensch und Stange.

 

‚Gequält’ fiel ihm dazu ein. Ja, es war eine Qual, wie er sich um diese blöde und kalte Stange winden musste.

Was aber dabei herauskommen sollte, war Lust. Lust mit und ohne Qual, Lust durch Qual – ein biblisches Thema.

 

‚Stimmt das: biblisch?’

 

Seine Gedanken versickerten in dieser Frage, ihr feuchtes Nass drang in die tiefsten Tiefen; er sah sich in der Schule sitzen, im Religionsunterricht. Dort wurde heftig auf die Schüler eingewirkt, manchmal in sie eingedrungen, mit Regeln, Geboten, Gesetzen – der Katechismus, ein strenges Regelwerk. So kurz vor der Konfirmation waren sie alt genug, um zu erfahren, dass Sexualität zur Fortpflanzung dient, allein zur Fortpflanzung; die Lust daran muss verdammt sein. Das sechste Gebot: Sex - nicht zum Spaß. ‚Wir sind Menschen, keine Tiere’, hatte er damals gedacht, ‚wir haben die Fähigkeit entwickelt, Liebe zu fühlen und: Spaß zu haben.’

 

Und während er so dachte, hatte er sich völlig verkrampft, und der Tanzlehrer (‚auch eine gute Bezeichnung für diesen Künstler’) schrie mit Fistelstimme: „Es hat keinen Sinn !“ und rauschte davon.

 

 

 

Marlene saß im Fernbus; ihr war seltsam zumute. Sie war in diese Unternehmung hereingerauscht, als sie bei ihrem 50.Geburtstag mit den Freundinnen, den „wilden Weibern“, feierte und schon zwei Gläschen Prosecco intus hatte; jetzt würde sie eher sagen: hereingefallen. Denn die Freundinnen hatten ihr bei dieser Gelegenheit einen großen goldenen Umschlag überreicht, in dem sie den Gutschein für die Lustfahrt zwei Tage danach vorgefunden hatte; und jetzt befanden sie sich auf der Anreise. Es ging – nach einer fünfstündigen weinseligen Fahrt im Bus mit Fernsehen und Klimaanlage, Bar inclusive – zu einem Abend mit Männerstrip.

 

Ja, die Männer ! Schlitzohren und Hallodris allemal; und ein unergründliches Thema beim Jour fixe, den sie allwöchentlich mit ihren Weibsen beging. Jede von ihnen hatte Erfahrungen gemacht und etwas beizutragen, wenn es um die Fallen ging, die diese Spezies stellte. Man sprach Klartext und zog blank. Um die Situation zu ertragen, brauchte es Humor. Und so hatte die Eine und die Andere sich vorgenommen: an diesen Abenden keine Sorgen, keine Tränen – allenfalls Lachtränen.

Man sagt ja: Ab 40 hat man leichter eine 6 im Lotto, als dass man noch einen Partner finden könnte. Die Statistik sagt: Das gilt für Frauen, die einen Partner suchen. Männer an sich lassen sich einfacher finden. Aber ein Partner für die gemeinsame Lebensreise, welcher Jahresringe, Falten, Narben auf dem Herzen in die Beziehung mitbringt und sie gleichzeitig auch bei seiner Frau akzeptiert, findet sich nicht so leicht. Und : Sobald die Frau in die Wechseljahre kommt, ist nichts mehr mit Wechsel; das fortpflanzungsfähige Weibchen steht höher im Kurs, als eine vom Leben gegerbte Partnerin. Keine schönen Aussichten für die Schar der Freundinnen.

 

Die Idee mit dem Männerstrip kam ihnen, als Marlene einmal nicht beim Jour fixe war. ‚Mister Perizoma’ war in der nahegelegenen Stadt eingetroffen und hatte für Furore gesorgt. Man – oder besser: Frau – durfte ihn sogar anfassen.

 

‚Mister Perizoma’ performte in anstandsvoller Distanz hier würden ihnen ihre neugierigen Nachbarn nicht in die Quere kommen.

 

 

Marlene, zwischen ihren quieckenden Freundinnen im Fernbus eingezwängt, fühlte sich nicht ganz wohl bei der Sache. Wie war sie nur hier hinein geraten ?

 

Ihr Kontakt zu dieser Weiberrunde hatte begonnen, als sie vor zwei Jahren geschieden worden war. Vorher hatte sie nichts mit dieser Single-Spezies zu tun gehabt, und deren im Grunde etwas angestrengte Unabhängigkeitsbewegung und Vergnügungssucht waren ihr durchsichtig und oberflächlich vorgekommen. Ja, die ungewohnte Einsamkeit hatte sie in die Arme dieser Freundinnen getrieben, die allesamt unter derselben Angst litten, als altes Eisen angesehen und, weil keiner sich mehr um sie kümmerte, entsorgt zu werden.

 

Anfangs hatte sie diese dumpfe Angst in sich einfach weggedrückt, wenn sie im Kreise ihrer lauten Freundinnen die Gläser hoben und durchaus Gründe fanden, auf die man unbedingt trinken musste. Die Unterhaltung versandete regelmäßig beim Thema ‚Männer’: die vielgescholtenen und gleichzeitig heißersehnten. Aus der schmerzhaften Vergangenheit erwuchs aber keinesfalls die notwendige fleckenfreie Sehnsucht, der Motor für ein unbekümmertes Zusammentreffen zweier Seelen. Da der Kummer sie zusammengeschweißt hatte, konnten sie nicht auf ihn verzichten und düngten ihn mit alten und neuen Erfahrungen, immer denselben, und immer wieder schmerzhaft.

 

Marlene hatte schon seit einiger Zeit bemerkt, dass dies kein Weg in die Zukunft war. Sie hatte ihre Lage analysiert, auf einem Blatt Papier das Für und Wider dieser Interessengemeinschaft notiert und mehr kritische als positive Punkte herausgearbeitet. Und so hatte sie sich ihren 50.Geburtstag als Wendepunkt erkoren, denn sie brauchte einen starken Anlass, um diese falsche Facette auszublenden, mit der ihr Leben seine selbstgefühlte Strahlkraft verloren hatte.

 

Als nun die Freundinnen, geschmückt und geschminkt, an diesem Tag vor ihrer Tür standen und ihr das Geheimnis, den Geschenk-Bon, überreichten, fühlte sie tief in ihrem Innern, dass ihre Entscheidung die richtige gewesen war. Nur: Sie wollte nicht unhöflich sein. Und deshalb saß sie nun, wankelmütig und mit einem Kloß im Halse, inmitten ihrer angedüddelten Männer-Groupies, während der Bus sie sicher und unaufhaltsam in den Sündenpfuhl steuerte.

 

 

Mister Perizoma – der Mister des letzten Jahres – hatte inzwischen seine Performance eingeübt. Ihm waren leichte Zweifel gekommen, ob die Sache all die Mühe und den Schweiß wert war, ob nicht vielleicht eine gewisse altersbedingte Müdigkeit sich in seine bisher weggelächelten Falten eingrub und das Lächeln verzerrte. In den Tanzpausen dachte er an das Für und Wider seines „Hobby-Berufs“, und er hatte dabei Mühe, das Gewesene wegzudrücken und den Blick auf die Zukunft zu richten, die ohne jeden Zweifel hinter dem Horizont auf ihn wartete, aber noch keine klaren Konturen hatte.

 

Auf welchem Wege war er hier her gelangt ?

 

 

Jetzt ist der Zeitpunkt gekommen, an dem wir Mister Perizoma einen Namen geben, mit dem er aus dem Schatten der Anonymität und der wie ein Gummi-Suit glatten und schlüpfrigen Existenz treten kann. Er heißt Heinz.

 

„Heinzchen in der Grube“ – so nannten ihn schon seine Schulkameraden : ein überhaupt nicht zarter Hinweis auf seine Herkunft aus einer anderen sozialen Schicht. Es schmerzte ihn damals auf unbegreifliche Weise; heute erst wusste er, weshalb. Er war der Einzige, der seine Herkunft als „von einem anderen Stern“ bezeichnen durfte. Sobald ein anderer ihn „Alien“ nannte, flogen die Fäuste.

 

Und tatsächlich hatte er aus seiner Schlagkraft ein Hobby gemacht und war als besonders begabt in einem prominenten Box-Stall aufgenommen worden, der ein soziales Programm aufgelegt hatte, um Jugendliche von der Straße zu holen. Hier machte er Karriere, die Sprache der Auseinandersetzung artikulierte sich in seinen Fäusten, und sein Gesicht, der bevorzugte Landeplatz der gegnerischen Wucht, wurde mit der Zeit immer platter. Als seine Stellung im Box-Stall immer höher und die Luft dünner wurde, stellte er fest, dass in diesem Beruf die Fäuste nicht alles bedeuten. In der wie um ein Licht herumschwirrenden Halbwelt galt er nichts, weil er zu intelligent war und vieles, am Ende zu vieles, hinterfragte.

 

Er hatte gleichzeitig zu seinem Training eine Lehre als Fahrradmechaniker gemacht. Hier konnte er nun Fuß fassen und sozusagen in die Pedale treten. Und hier lernte er auch einen besonderen Kunden kennen, der zwei Leben gleichzeitig führte. Er hatte eines Abends ein mika-amaro zum Kundendienst gebracht, ein nach Maß und von Hand gefertigtes Superrad, sozusagen den Ferrari unter den Fahrrädern. Damit hatte er das Herz von Heinz gewonnen.

 

Sie verabredeten sich auf ein Bier; der Abend endete in einem Edelschuppen mit moldawischen Stripperinnen. Die beiden Barbesucher schauten sich das Spektakel durch das „Binokel“ an: mit einem lachenden und einem weinenden Auge. Der eroslose, durchsichtige Sex blieb als schale Einsicht am Ende des Abends übrig.

 

„Was mich enorm daran stört, ist diese trostlose Oberflächlichkeit;. die Figur der Mädchen ist makellos, das Gerede geistlos; die Bewegungen sollen offenbar Vorurteile nähren.“

 

„Mein Urteil: Sie nähren sich aus Vorurteilen.“

 

„Warum gibt es nicht einmal einen anderen Strip ? Überall dasselbe.“

 

„Vielleicht sind wir Männer so einfach gestrickt.“

„Glaubst du ?“

 

„Um das herauszufinden, wüsste ich etwas...“

 

„Und das wäre ?“

 

„Ein knackiger Männerstrip.“

Heinz erfuhr im weiteren Verlauf des Abends, dass sein neuer Freund Event-Manager war, einer der großen und kreativsten am Markt. Er hatte als erster die Chippendales nach Europa gebracht.

 

 

 Marlene wurde immer seltsamer zumute, und sie glühte schon jetzt; es waren nur noch wenige Kilometer. Der Busfahrer hatte es angesagt, und es klang ganz so, als sehnte er sich nach Ruhe.

 

Im hinteren Bereich summte es wie im Bienenstock.

 

Da es in den Gesprächen von Männern nur so wimmelte, dachte Marlene insgeheim an ‚ihre Männer’. Viele waren es nicht gewesen, nur zwei, jedenfalls nicht nur die eine ‚große Liebe’. Aus der Reihe der Männer, die der Hausfrau zur Seite stehen - Supermann und Mister Propper, der blaue Prinz oder der weiße Riese - war es keiner gewesen; dann schon eher der grüne Bio-Frosch. Sie musste lachen. Durch Dick und Dünn war es ihr endlich gelungen, Ärger und Enttäuschung zu überwinden, die Wunden vernarben

zu lassen; jetzt gingen ihre Gedanken in die Zukunft und die Vergangenheit lag wohlverschnürt in einem großen Koffer auf dem Speicher; die Festplatte war gebügelt und wieder frei, sozusagen.

 

Der Bus drehte ein und kam auf einem großen Parkplatz im Industriegebiet zum Stehen; die Entlastung der Bremsen klang wie ein großer Seufzer.

 

Das Ziel ihrer Wünsche lag unübersehbar vor ihnen : eine messingbeschlagene Tür unter einem roten Baldachin. ‚For special guests only’ sagte das goldene Schild. Sie drückten auf die Klingel, ein kleines und kompaktes Kamera-Auge erfasste die Gruppe, dann krächzte der Summer.

 

 

Die Schönen der Nacht betraten zu den Klängen des ‚Kriminaltango’ über eine Rampe die tieferliegende Bar. Der Laden war gut gefüllt – offenbar waren einige andere Damengruppen auf dieselbe Idee gekommen und warteten jetzt auf die Erfüllung ihrer Sehnsüchte. Die Beleuchtung war altersfreundlich und ließ Konturen und Falten im Dunkel.

 

Für die „wilden Weiber“ war ein Tisch in der Nische reserviert. Sie ließen sich auf dem roten Plüsch nieder. Flugs stand eine Flöte perlenden Sekts vor ihnen, der zugegebenermaßen etwas nach Seife schmeckte.

 

Marlene hatte sich an das Dunkel gewöhnt und schaute in die Runde. Frauen über Frauen; nur ein einziger Mann, der an der Bar saß. Er trank ein schnödes alkoholfreies Bier. Immer wieder sah sie nach ihm. Und plötzlich war er verschwunden.

 

Das Licht im Saal wurde noch mehr gedimmt, ein Spot auf die Bühne mit ihrer stählern glänzenden Stange gerichtet. Ein Trommelwirbel, der Vorhang teilte sich und gebar ein Zwitterwesen: eine blonde Perücke mit Locken wie ein Wasserfall, ein Gesicht ganz Augen und Mund, über und über glitzernde Pailletten und zwei Männerbeine in Netzstrümpfen und high heels. Die pumpenden Bässe der Musikanlage trieben das Wesen an zu frenetischem Schlängeln, dann schmiegte es sich an die Stange und nahm sie zwischen seine Schenkel. Die Performance war eine Mischung aus weicher Biegung und von stählernen Muskeln gehaltener, statuenhafter Starre.

 

Als erstes flog die Perücke weit in den Saal und landete zwischen den Beinen einer etwas dicklichen Dame, was diese mit wieherndem Gelächter quittierte. Die Wimpern waren die nächsten Flugobjektlein und gingen untermittelbar vor der Bühne nieder wie Schmetterlinge. Das seidene Glitzerwämslein, ein Traum von nichts, segelte wie eine Möwe und verschwand im Dunkeln, der Slip im französischen Schnitt wanderte die im Tanzschritt angespannten Beine hinunter. Das Wesen hielt einen Augenblick inne, zwinkerte unverhohlen und schleuderte dann die beiden absatzbewehrten Sandaletten in die Runde, nicht ohne vorher „In Deckung !“ gerufen zu haben.

 

Was sich den Damen nun optisch bot, war ein Augenschmaus und einen anhaltenden Applaus wert. Das Luxuswesen war jedoch noch immer nicht ganz ausgepackt, sondern trug nun ein Geschirr aus schwarzem Leder, mit Nieten übersät. Es drehte sich langsam um und bot den kundigen Augen einen vollkommenen Hintern - die beiden Backen durch ein glitzerndes Band getrennt, welches kleine Reflexe auf die zitternden Muskelfibrillen warf.

 

Aus dem Lautsprecher ertönte eine magische Stimme: „Vor zwei Tagen hatte eine Dame, die heute unter uns weilt, Geburtstag; einen runden, so rund, wie dieser wunderbare Vollmond, der hier soeben vor ihnen schwebte. Die Dame möchte bitte vortreten, um sich feiern zu lassen.“

 

Die wilden Weiber johlten und stießen Marlene Richtung Bühne. Sie wusste vor Schüchternheit nicht, wo sie hinblicken sollte; der Schweiß brach ihr aus allen Poren, ihr wurde schwarz vor Augen, die Beine gaben nach. Das Wesen bückte sich zu ihr herunter, umfasste mit dem festen Griff eines Bergsteigers ihren Unterarm und zog sie in den Lichtkreis.

 

Draußen, in der Welt, krachte ein Donner. Der nächste Blitz fuhr in die elektronische Anlage, die Licht und Musik steuerte und, um zu sparen, nicht TÜV-gerecht installiert worden war. Es wurde mit einem Schlag stockdunkel. Es roch verbrannt.

 

Das Wesen umarmte Marlene schützend und flüsterte ihr in’s Ohr: „Lass uns abhauen. Ich halte das nicht mehr aus. Wir müssen hier raus, es brennt.“

 

„Was? Wie? Wohin?“ Mehr konnte sie nicht stammeln. Schon wurde sie durch den Schlitz im Vorhang geschoben, dann einen rabenschwarzen hallenden Gang entlang und durch eine von ihrem Retter mit einem Griff geöffnete Feuertür nach draußen.

 

Hier hatten sie die Zeit, einen kurzen Moment - gerade lang genug, um sich umzudrehen, zurückzublicken und das Flammenmeer zu sehen, das sich in der Plastikrequisite rasend ausgebreitet und einen Höllenschlund entzündet hatte, der alle Gäste verschlang.

 

Dann drehten sie sich um und flohen in die Zukunft.

Über den Wolken

 

 

...auf einer Glatze Locken drehen. (Karl Kraus)

 

 

Michele ist der Lieblings-Barbier von Mario – und seiner Frau.

 

Michele hat im centro storico von S. einen ältlichen Laden, einen kleinen Raum - von zwei gegenüberliegenden Spiegelwänden optisch vergrößert und aufgehellt, der Fliesenboden abgetreten, links vom Eingang drei Ungetüme von drehbaren Barbier-Sesseln, die er mit dem Fuß hochtreten kann, gegenüber eine Reihe von Campingstühlen, auf die seine Frau Giovanna in letzter Zeit Kissen gelegt hat.

 

Bei ihren seltenen Besuchen im Königreich ihres Mannes hat Giovanna wohl erkannt, dass diese Stühle immer gut besetzt sind - wenn auch nicht unbedingt von Kunden, sondern von Männern, die gerne mal ein Schwätzchen halten, was Giovanna wohl nicht weiß. Sie meint eben, dass die mittlerweile nicht mehr so gut gepolsterten gebrechlichen Hinterteile der alten Statisten eine freundliche Erleichterung des gemütlichen und interessanten Teils ihres Alltags vertragen können - während sie auf die einträglichen Dienste ihres Mannes warten.

 

Der Hauptdarsteller in dieser Szenerie ist Michele. Er hat wahrlich den Ehrennamen „Il Cavaliere“ verdient – anders als der eher berüchtigte Zeitgenosse B. Michele hat die Siebzig längst überschritten, die Haare sind weiß wie der schon hundertmal gewaschene und gestärkte Kittel. Weshalb er auf zwei künstlichen Knien immer noch um seine Kunden herumtänzelt, weiß keiner. Es ist zu vermuten, dass die Rente nicht reicht. Sieht man es von einer weniger traurigen Warte, so braucht er wohl auch die Gesellschaft, die Zuhörer. Oder anders gesagt: Er würde sich zuhause mit seiner Giovanna langweilen, nein: Es wäre die Hölle !

 

So steht er immer noch jeden Tag früh auf, kippt einen Espresso hinunter und steuert seinen Salon an.

 

Giovanna schläft aus, richtet sich dann aufs Vornehmste, toupiert die Haare, legt ein jedes an seine Stelle und fixiert das Kunstwerk mit reichlich Spray. Dann kommen die Augen dran: Lidschatten, Lidstrich, Wimperntusche. Vorsichtig wird mit Rouge gearbeitet, die Lippen werden großzügig rot gemalt. Ihre Garderobe ist vom Feinsten; die kleinen Füße stecken in den abenteuerlichsten Kreationen. Die Svarowkis blitzen an Fingern und Ohren.

 

Längst hat Michele die Serranda mit Getöse hochgeschoben, das einladende Licht  angemacht, seinen Kittel übergezogen, und ist in seine Rolle geschlüpft.

 

Er steht immer, bei der Arbeit und auch in Ruhe, mit dem Gesicht zur Straße. Die Tür seines Ladens wird zum Rahmen eines lebendigen Bildes; und auch die Wartenden und Sitzenden blicken neugierig auf diese Bühne, auf der die Stadt für kurze Zeit aus dem Nichts die wunderlichsten Gestalten  präsentiert und für einen Moment ins Blickfeld rückt, um sie dann auf Nimmerwiedersehen wieder in ihr eigenes Leben verschwinden zu lassen.

 

Hausfrauen ziehen schlurfenden Schrittes ihre Beute im Einkaufswagen hinter sich her und memorieren murmelnd und leicht genervt das komplexe Geschehen des bevorstehenden Kochens eines mehrgängigen Menus.

 

Der Zug ist im Bahnhof eingetroffen; nach wenigen Minuten flanieren die Landpomeranzen, überschminkt und im Glitzergewand, in der Fußgängerzone und lassen sich – als Einzige – von der Farbenprächtigkeit der Auslagen verführen.

 

Männer im feinen Zwirn, das Aktentäschchen an der Hand schwingend, gehen eiligen Schrittes und meist zu zweit in Richtung der Stelle, wo sie ungemein wichtig sein werden, unersetzlich gar; sie diskutieren händeschwingend und üben sich schon einmal in der freien Rede für ihr Plädoyer.

 

Mit Mütze oder Kapuze über dem brummenden Schädel, die Haltung wie ein Fragezeichen, schieben junge Männer ihre müden Füße über das Pflaster und produzieren Sohlenabrieb.

 

Ein Schwall schlitzäugiger Menschen ergießt sich schnatternd in die Straße; selbst die Italiener müssen hinunterblicken, um ihnen in die Augen sehen zu können. Die Frauen schützen ihre zarte weiße Haut mit Regenschirmen vor der prallen Sonne – die Costa ist angekommen! Mit lauter Begeisterung zeigen sie sich gegenseitig die vielen chinesischen Klamottenläden auf ihrem Wege.

 

Schwarzhaarige Schönheiten grüßen mit fremdem Zungenschlag herein; sie sind die Begleiterinnen und Pflegerinnen der vielen Alten, die allein zurückgeblieben sind und noch in ihrer Wohnung bleiben wollen; nun haben sie sich verabredet, um sich ein bisschen auszulüften, dabei ihr Handy aufzuladen und eine Zigarette zu rauchen. Ihr „Ciao, Michele“ hat einen fremdländischen Klang und schmeckt leicht nach Pfeffer.

 

Ein offenbar nostalgisch veranlagter Holländer stolpert herein und fragt: „Do you speak english?“ Die Anwesenden antworten auf Italienisch, untermalen aber ihre überreichen Worte mit lebhaften Handzeichen. Er versteht, dass er bedient werden wird, und setzt sich.

 

Kurz danach baut sich ein offenbar geistig etwas benachteiligter Mann vor ihm auf und bietet ihm eine ausgebeulte Secondhand-Jeans an, in die er zweimal hineinpasst.

 

Mittlerweile hat sich Michele an die Arbeit gemacht; er bearbeitet den Kopf vor sich wie dereinst Michelangelo den Marmor und formt aus dem wilden Haarwuchs ein fast schon klassisch schönes Profil.

 

Das Erscheinen einer Schönheit vor der Tür nimmt er zum Anlass, weit in seinem Leben zurückzugehen und von seiner ersten, der wirklichen, Liebe zu berichten. Geschwätzig und gleichwohl diskret setzt er die Worte, beschreibt mit unbeteiligtem Gesicht Ereignisse und Gefühle, erzählt die ganze lange Geschichte und führt die Zuhörer durch wunderbare Geschehnisse bis zu dem Punkt – das Publikum auf den Plastikstühlen ahnt es bereits -, an dem alles eine eher prosaische Wendung nehmen sollte. Hinter seinem Vorhang hat er ein Foto aufbewahrt, an geheimer Stelle.

 

Einer der Freunde fragt, ob er noch tanzen gehe. Das gibt das Stichwort für eine neue Geschichte: die Mär von der gefallenen Tänzerin. Aus seinen eigenen Armen war sie gefallen, er hatte sie beim Tango wohl nicht ausreichend an sich gedrückt. Nun lag sie da und jammerte, beschuldigte ihn gar; sie war so dick, dass sich keiner der Anwesenden traute, sie aufzuheben. Als kleines Aperçu bemerkt Michele, dass ihre Leibesfülle im Bett keinerlei Problem war, sondern ganz im Gegenteil Weichheit und Wärme vermittelte.

 

Die Zuhörer fragen mit Sorge: „Und, wie wurde sie wieder auf die Beine gestellt?“

 

„Ich wusste, sie trägt ein Korsett, fest geschnürt.“

 

„Aha! Ich verstehe, ein statisches Accessoire.“

 

„Einer hielt sie an den Knöcheln fest, drei andere packten sie am Korsett und liefen beim Hochstemmen rot an, sie war schon abgrundtief blau. Als sie wieder auf den Füßen stand, atmete sie durch. Sie stellt mir noch heute nach....“

 

Abrupt wandelt sich der Satz, macht eine Pirouette auf der Stelle. Giovannas Schatten ist bei der Tür aufgetaucht.

 

„...aber ich habe ihm gesagt, das geht nicht mehr.“

 

„Recht hattest du, dieser Scheißkerl!“

 

Giovanna hat ihre Apotheose. Sie stellt ihr Louis Vuitton-Täschchen auf einen der Stühle, sammelt im Vorbeigehen die Komplimente ob der Kissen ein, geht hinter den Vorhang und greift zum Besen. Mittlerweile hat sich ein Teppich von abgeschnittenen und gestutzten Haaren auf dem Boden gebildet, junge und alte Haare jeglicher Konsistenz, solche wie Federn und solche wie Kabelstränge, breites und schmales Haar unterschiedlichster Länge, Locken, Strähnen glatt wie Schnittlauch und Kraushaar wie Petersilie, schwarz, grau, braun, weiss; blond ist die Seltenheit. Sie werden mit Schwung hinter den Vorhang gekehrt. Samson wäre entsetzt gewesen.

 

Schweigen ist eingetreten. Giovanna nimmt dieses zum Anlass, von ihrem neuesten unangenehmen Erlebnis mit einer Parfümverkäuferin zu berichten. Michele pflichtet ihr bei; sie habe alles richtig gemacht.

 

„Ja, und was macht dieser Dummkopf jetzt?“, kommt die Frage von den Plastikstühlen.

 

Giovanna sieht, dass es jetzt wieder langweilig wird. Sie schnappt die Tasche und verschwindet in Richtung Einkaufsparadies.

 

 Ein Aufatmen macht die Runde.

 

„Sie hört  nicht auf, mir zu versichern, dass sie mich mit jeder Faser ihres Leibes liebt. Was für ein Leib! Ich bin ihre große Liebe. Natürlich konnte ich in diesem speziellen Fall meine ganze Kunst und Erfahrung nicht richtig ausleben, außer der Missionarsstellung war nichts drin. Und, ehrlich gesagt, das wurde mir mit der Zeit ein bisschen zu sportlich. Nein, ich gehe jetzt mal eine Weile nicht mehr zum Tanzen.“

 

Ein gepflegter alter Herr kreuzt das Blickfeld. Michele legt 'Kismet', das scharfe Rasiermesser, ab und stürzt hinaus, um ihn zu begrüßen. Ein paar Worte gehen hin und her. Dann erscheint Michele wieder und nimmt 'Kismet', und damit seine Arbeit, auf.

 

„Wusstet ihr, dass das mein alter Kollege aus dem Hotel war? Wir lösten uns ab damals, als Nachtportiers.“

 

„Sieht noch gut aus, der alte Herr.“

 

„Ja, der hat sich immer geschont. Bei mir war das ganz anders. Bei mir ging so mancher room service a’s Eingemachte, und – wenn’s gut ging – direkt ins Paradies. Einmal musste ich eine Pflasterdrossel trösten, deren Freier sie versetzt hatte. Da hab’ ich viel gelernt.“

 

„War das der Höhepunkt deines Liebeslebens?“

 

„Nein, wo denkst du hin? Der Höhepunkt war hoch über den Wol...“

 

(„Hoppla: ein Luftloch!“, denkt der Kenner bei sich.)

 

„Wolken? Aber heute hat es doch keine Wolken“; Giovanna ist zurück.

 

„Ich habe gerade erzählt, dass wir heute Abend mit deinen Freundinnen essen gehen; ich hoffe, dann gibt es keine Wolken oder gar ein Gewitter.“

 

„Mein Mann! Typisch! Ich freue mich schon die ganze Woche darauf und er erzählt etwas von einem Gewitter.“

 

„Ich fürchte ja nur um deine Frisur.“

 

„Ich gehe jetzt.“

 

„Respekt: Das war um Haaresbreite an einem Gewitter vorbeigerauscht! Und das schon zum wiederholten Male.“

 

„Mit der Haaresbreite kenne ich mich aus. Das ist für mich ein Klacks.“

 

„Der Höhepunkt über den Wolken. War das auf deinem Flug nach Buenos Aires?“

 

„Ja, Nachtflug, alles schläft, kein Gedränge vor der Toilette. Wir waren zwei schweigende schlanke Schlangenmenschen im siebten Himmel.“

 

 

 

Ins nachdenkliche Schweigen bohrt sich die Frage: Warum schwört auch Marios Frau auf Michele?

 

Er ist ein Meister im Schneiden von Kurzhaarfrisuren nach Chemotherapie. Das einstmals breite Haar ist nun ein Schemen seiner selbst, und wenn der liebe Gott aus seinem Himmel über den Wolken herunterschaut, so sieht er einen Skalp voller Luftlöcher. Michele aber kann auf einer Glatze Locken drehen.

 

Dieser Text ist bereits veröffentlicht in "Lebensbunt" Hrsg. Saskia Kruse und Ursula Kollasch

Das Vermächtnis

„Nie im Leben“, sie verschluckt sich. „Niemals hätte ich ihm das vermacht.“

 

Der Junge war in ihrer Welt gewesen, solange sie denken konnte. Sie wusste immer, dass er da war, bemerkte ihn aber nicht wirklich. Er war weniger als ein Schatten, eine dunkle Gewissheit; kein atmender und pulsierender Körper, dessen Wärme sich auf sie übertrug, den sie hätte fühlen können.

 

Als Kinder waren sie eingeschlossen gewesen in einer kleinen Goldfisch-Kugel. Sie hingen schnappend an der Glasrundung und schauten mit großen Augen in die Welt da draußen. Sie sahen sich nicht, ihre Schleierschwänze schwebten aneinander vorbei und berührten sich manchmal sachte und unmerklich. Sie wuchsen.

 

Die Lebensräume wurden größer; ein klimatisiertes und luftdurchperltes Aquarium mit einem kleinen Garten Eden aus sich im Wasser wiegenden Pflanzen, die zu winken schienen, war lange ihre Bleibe. Hier konnten sie sich in kleinen Höhlen verstecken und lauern.

Vor kurzem waren sie im Haifischteich angekommen. Dies war die letzte Station vor dem offenen Meer, in das sie, mit Wunden und Narben übersät, entkommen sollten.

 

Es war ein Samstagabend. Zeit für die Disco, für das Eintauchen in psychedelische Lichter und wummende Bässe, die auf der Netzhaut flimmerten und die Haut zum Vibrieren brachten. Sie hatte sich mit ihrer Freundin verabredet, weil sie sich allein nicht traute. Das Schaulaufen beim Eintreten war zu zweit leichter zu durchzustehen.

 

Tief in der dunklen Höhle angekommen, löste sie sich von ihrer Begleiterin. Sie fühlte die wogende Menge dampfender Körper, die ohne Gesicht zu sein schienen. Haare flogen verzweifelt, zentrifugal geschleudert und alsbald an ihre Grenzen stoßend und ausgebremst, Arme ruderten, wie um sich vor dem Ertrinken zu retten, Beine schlugen um sich. Sie fühlte den rasenden Teufel in sich und trieb ihn aus, stundenlang. Die Musik, die in jede Pore drang, trieb sie mit ihrem Puls an, überlagerte den Schlag ihres Herzens und presste den Atem aus ihr heraus.

 

Aus dem Dunkel ringsherum blickten sie Augen an. Keine Regung war zu sehen. Kein Erkennen und Wiedererkennen. Die Körper waren eine wogende Masse und schienen keinen Anfang und kein Ende zu haben. Der animalische Geruch gab ihr Sicherheit, sie fühlte sich leben in ihrer eigenen Haut, sie schien unantastbar.

 

Sie ging zur Bar und bestellte sich ein Getränk. Sie nippte daran. Dann zog sie sich für kurze Zeit aus dem pinkfarbenen Lichtkegel zurück und ging auf die Toilette.

 

Als sie wiederkam, stand ihr Glas noch da, als ob es auf sie warte. Ein angenehmer Gedanke war das, fast ein wenig

persönlich. Sie umschloss es mit ihren Händen und trank dankbar daraus.

 

Die Knie wurden weich. Sie setzte sich auf den Barhocker. Auf einen Schlag gingen die Lichter aus.

 

Nun war sie im Reich der Schatten. Anfangs ein samtiges Gefühl, dann ein Ziehen und Stoßen, kein Schmerz und keine Angst. Sie schwamm im Bad der tosenden Musik. Dann tröpfelten ferne Geräusche und kamen näher. Sie verdichteten sich, eine Stimme hob sich ab vom Untergrund, die Stimme des Jungen.

 

Mit Mühe hob sie die Lider, der Schmerz kam und kroch in ihren geschundenen Körper. Scharf setzte er sich von innen heraus fest und breitete seine Arme aus.

 

Der Junge hatte sie an die Luft getragen. Er hatte sie ihren Peinigern entwunden, drei starken jungen Männern. Nun waren sie für einen Moment allein in der sternenklaren Nacht, in der klirrenden Kälte.

 

Sie konnte nicht sprechen, der Junge redete auf sie ein, mit ruhiger Stimme, er hüllte sie ein. Sie waren eine warme Einheit, ihre Angst und sein Mut trafen sich in der Mitte. Der Atem des Lebens durchströmte beide.

 

Ein kurzes Aufatmen, alle Zeit der Welt. Dann kamen die Peiniger zurück. Der Junge blickte auf und erkannte den Einen.

 

Ein Messer blitzt kalt im Schein der Sterne. Aus der dunklen Phalanx stößt es hervor und trifft den Jungen krachend in den Rücken. Er bäumt sich auf, sackt dann auf ihr zusammen, schaumiges Blut kommt aus seinem Mund, Blut und ein Satz :

 

“Vergiss nie, dass ich dich liebe.“

General Maria

Minestrone

 

Es ist, wie beim Minestrone: In der kalten Jahreszeit gekocht, aus vielen gesunden Bestandteilen, am besten wieder und wieder aufgewärmt – so sind Geschichten:

Haptische und duftende Vorstellungen, ungewöhnliche und längst heimlich ausgedachte Wendungen, wieder und wieder aufgekocht und erzählt, genossen, zergehen sie uns auf der Zunge und wärmen uns die Seele.

Aus diesem Topf stammt auch unsere Protagonistin, General Maria.

Als sie 73 Jahre alt war, habe ich sie kennengelernt. Sie schien alterslos und machte keinen Hehl daraus, dass sie immer noch aufrecht an Bord war. An ihr war kein Vorbeikommen. Sie nahm ihren Platz und ihren Raum ein, auf Gedeih und Verderben, ihr Mann und ihre Söhne sind an ihr zerschellt. Die Tochter ist weit weggezogen.

Die noch heute wunderschönen blauen Augen sprühten vor Witz und Lust. Sie war neugierig und wissensdurstig. Alkohol trank sie keinen, auch nicht den selbstgekelterten Wein; sie labte sich an den Erzählungen der Eingeladenen und berauschte sich an ihrem eigenen Leben.

Sie war eine wundervolle Köchin, in diesem italienischen Landstrich keine Seltenheit, entstammte sie doch einem Völkchen, das weltgereist war, zuhause aber die alten Sitten und Gebräuche konservierte, sich nicht für den Lauf der Welt oder gar – Gott behüte – fremde Kulinarien interessierte, wortkarg war und Fremden gegenüber vierschrötig auftrat. Hatte man aber ihre Freundschaft errungen, wurde man reich mit Köstlichkeiten und Erzählungen beschenkt.

Sie wohnte im Nachbartal, dem nächsten Amphitheater aus Weinfeldern und Olivenhainen, und wir konnten am Abend, beim Essen sitzend, ihre Predigten hören, mit denen sie lauthals Mann und Söhne schuhriegelte.

Sicher hatte sie hierfür einen Minestrone gekocht, um sie überhaupt am Tisch zu bringen und in ihrem Schallpegel zu halten.

 

 

Gleichgeboren

 

Zu Zeit ihrer Geburt, in den 30er Jahren, waren Geld rar und Kinder zahlreich.

Sie wuchsen auf, wie sie gekommen waren, nebenher und ohne jegliches Zutun. Als Kleinkinder spielten sie im Dreck, ihre Spielgenossen waren Insekten und Würmer; im Frühsommer schenkte ihnen die Natur das Wunder der Leuchtkäfer und der vollbeladenen Kirschbäume, an deren süße Früchte sie durch sportliche Großtaten und technische Hochleistungen kamen. Früh wurden sie in die Arbeit der Eltern integriert, will heissen: Sie mussten mitarbeiten, jeder und jede von ihnen.

Als das Schulalter näherrückte, merkte Maria zum ersten Mal, dass zwischen Jungen und Mädchen Unterschiede gemacht wurden; die Jungen durften zur Schule gehen, die Mädchen nicht. Sie hatten weiterhin der Mutter, dem Vater, den Nachbarn zur Hand zu gehen. Die harte Arbeit auf den Gemüsefeldern, in den Weinbergen und Olivenhainen formte ihren kleinen Körper – sie bekam harte Muskeln und große Hände, und, um sich durchzusetzen, eine dunkle laute Stimme, gespickt mit Schimpfwörtern, Befehlen und Beleidigungen, die sich, wenn es sein musste, zu wahren Tiraden zusammenballen konnten. Für Gefühle war kein Platz und keine Zeit.

Maria hatte also nicht Lesen und Schreiben gelernt. Aber dafür umso mehr vom und für das Leben.

Früh schon, als eben mal Sechsjährige, wurde sie von den Nachbarn missbraucht – wenn alle zusammen nach getaner Arbeit, zu der sie von ihren Eltern ausgeliehen worden war, bei einem Vesper zusammensaßen, wurde sie vom Nachbarn unter dem Tisch befingert und befußelt. Anfangs kam ihr das lustig und unsinnig vor, sie wunderte sich über seine glasigen Augen und die Heimlichkeit des Ganzen. Und das war es auch, was sie vorsichtig werden ließ: Gottseidank hatte sie genügend Stolz und Intelligenz, um das Ganze richtig einzuschätzen. Beim nächsten Mal setzte es Schläge, sie brachte das Heimliche an’s Licht des Tages, und sei es damit, dass sie Tisch und Stühle umwarf. Schon damals hatte sich ihr tief eingeprägt, dass die Wahrheit einen Schutz bedeutet, und sie war ihr ganzes langes weiteres Leben vor Zweideutigkeiten gefeiht.

Die Jungen gingen also zur Schule und sie arbeitete währenddessen weiter, lernte, Trockenmauern zu bauen. Kamen ihre Brüder nachmittags nachhause, schaute sie mit ihnen in deren Schulbücher und ließ sich alles erklären. Die Kinder saßen zusammen in der Ecke, in der heute der Fernsehapparat steht.

 

 

Feinschliff

 

Ihre erste Periode signalisierte den Zeitpunkt, da sie sich außerhalb des Hauses zur Arbeit verdingen sollte. Da sie sich im Haushalt gut angestellt hatte, heuerte sie in der Küche des besten Ristorante des nahegelegenen Ortes am Meer an. Sie musste zuerst bedienen; ihre Manieren wurden poliert, ihr Äußeres auf Vordermann gebracht. Durch das, was sie mitgebracht hatte, und mit diesem äußerlichen Schliff mutierte sie zu einer schönen jungen Frau voller Witz und Schalk, selbstbewusst und mutig. Die jungen und älteren Männer umschwirrten sie wie die Motten das Licht. Manch einer kam ihretwegen und nicht etwa wegen der guten Küche, einige allabendlich, einige sogar aus der Stadt mit langer Anreise. Sie blieb standhaft, mit der Zeit brachte sie es zur Meisterschaft im Abblitzenlassen und entwickelte eine feine, fast unmerkliche Art der Ablehnung, gespickt mit Komplimenten und potenzsteigerndem Augenzwinkern. Und was für Augen sie hatte! Stahlblau, blitzend, mit kleinen dunklen Sprenkeln; ein Feuerwerk.

Als die Köchin krank wurde, holte man sie als Lückenbüßerin in die Küche. Die von der Mutter abgeschauten ’ricette della nonna‘, die in Wahrheit ein Schatz aus vielen Generationen waren - selbst angebautes Gemüse, Kräuter und Fleisch aus dem eigenen Stall von Tieren, die zeitlebens mit diesen Gemüsen und Kräutern gefüttert worden waren - kombiniert mit Rezepten, die die Seefahrer nach und nach aus fernen Ländern mitgebracht hatten, kochte sie mit Grandezza, so dass der Wirt in die Verlegenheit kam, die gesundete Köchin abservieren und dafür eine neue Bedienung anstellen zu müssen, welche allerdings nie zu einem Magneten mutierte, wie Maria einer gewesen war.

Als sie gerade in der Küche Fuß gefasst und ihren Platz am Herd erfolgreich verteidigt hatte, kam der Krieg in diese friedliche Gegend. Die ‚befreundeten‘ deutschen Truppen quartierten sich ein und terrorisierten die Bevölkerung. Anfangs geschahen Übergriffe nur, wenn die Fremden betrunken oder bei einem Mädchen abgeblitzt waren, oder beides; aber als die Deutschen ihren großen Krieg an alle Fronten ausgedehnt hatten und dabei waren, an allen Fronten unterzugehen, wurden sie rabiat und griffen Dorf und Hinterland mit tieffliegenden Flugzeugen an. Es gab dort wohlbemerkt keine militärischen Einrichtungen und keine Industrieanlagen, die Angriffe waren reine Schikane. Die Menschen fürchteten sich in ihren Häusern und flüchteten sich in eine der vielen Höhlen in den Weinbergen, wo sie sich Tag und Nacht versteckt hielten.

 

 

Ausflug

 

Bald nach Ende des Krieges erschien ein junger Mann in der Uniform der Finanzpolizei im Ristorante und war wie vom Blitz getroffen, als er Maria sah, die aus der Küche blickte.

Er war, wie es damals - und übrigens auch heute noch – üblich war, fern seiner Heimat, dem Veneto, an’s Meer versetzt worden, um sich von Mamas Rockschoß zu emanzipieren. Die resolute Maria machte bei dem sensiblen und leisen jungen Mann in Bruchteilen einer Minute einen unauslöschlichen Eindruck. Es waren allerdings viele Besuche im Ristorante und viele Abendessen dort notwendig, um nur die geringste Chance bei ihr zu erhalten. Schließlich obsiegten seine Nehmerqualitäten und seine Hartnäckigkeit, die für Maria nach langer Prüfung überzeugender waren als die tiefen Blicke, die geröteten Wangen und die schönen Worte, und sie war einverstanden, sich eines Sonntagnachmittags mit ihm zu treffen und im Nebendorf am Meer spazieren zu gehen.

Im Rückblick war dies der Moment, wo ihr „ihr Leben entglitt“, wo der Strom der Gefühle sie ergriff und sie auf’s hohe Meer hinaustrieb; sie konnte nicht schwimmen. Für sie, die gelernt hatte, sich auf niemanden als sich selbst zu verlassen und die daraus die Kraft geschöpft hatte, um sich aus den ungerechten Bedingungen zu befreien, tauchte das Lernziel „Hingabe“ auf, das sie ein Leben lang nicht erreichte.

Zuerst ging es an’s Heiraten, Kinderkriegen, Haus bauen. Ihr neuvermählter Ehemann schied aus Staatsdiensten aus und machte ein kleines Bauunternehmen auf. Sie arbeitete mit wie ein Mann, sogar hochschwanger und mit den kleinen Kindern. Die Kindheit, die sie kennengelernt hatte, bescherte sie auch ihren Kindern, eins zu eins. Sie war stolz auf das, was sie erreicht hatte und machte ihren Eltern keinen Vorwurf. Sie blickte nach vorne.

Ihr Mann beschloss, zum Arbeiten in’s Ausland zu gehen, sie ging mit, zusammen mit den Kindern. Fremde Sprache, fremde Gepflogenheiten und Analphabetin – man kann sich die Schwierigkeiten vorstellen. Auch das schaffte sie.

Nachhause zurückgekehrt, wurde für die Familie ein stolzes Haus gebaut, mit ihrer und ihres Mannes eigener Hände Arbeit. Sie schuftete, organisierte Haushalt und Familie, den Schulbesuch ihrer Kinder, die Weinlese, die Olivenernte.

 

 

Die Sporen zum General

 

Die Sporen, die sie sich bei diesem Management der Familie verdient hatte, schlugen sich in ihrem Charakter nieder. Sie fühlte die Verantwortung; sie zu übernehmen war nicht neu für sie, damit wollte sie aber auch das Sagen haben.

Solange ihr Mann zur Arbeit und die Kinder in die Schule abdriften konnten, ging alles gut.

Aber es kam der Tag, an dem…

ihr Mann vom Kirschbaum stürzte und sich den Arm brach, wodurch er längere Zeit nicht arbeiten konnte und zuhause war. Die Söhne und die Tochter waren schon längst erwachsen und hatten ihre eigene Familie.

So waren die beiden Alten aufeinander angewiesen und einander ausgeliefert. Vielleicht hätte der Alte auch etwas Trost und Zuspruch gebraucht, vielleicht war er leidend und quengelig: Ein Wort gab das andere, und er floh mit fliegenden Rockschössen, kam nacheinander bei der Tochter und der Schwester unter, mietete sich dann im nächsten Dorf als Untermieter in einem kleinen Zimmer ein.

Hier spürte sie ihn auf und überredete ihn, nachhause zurückzukehren.

Das ging nur gewisse Zeit gut, und schon war er wieder verschwunden. Die wortstarken Diskussionen, die mit der Zeit zu Monologen ausarteten, brachten ihr bei den zum Teil auch entfernter wohnenden Nachbarn den Beinamen „General“ ein.

Dann wurde sie krank; ihr blutender Uterus hatte sie in die Anämie und an den Rand des Todes gebracht. Sie hatte immer gedacht, das erledige sich von selbst.

Er kam aus Mitleid zurück und pflegte sie.

Sie ließ ihm bei Tag und Nacht keine Ruhe mehr; die letzten Jahre hatten sie mit Vorwürfen gefüllt bis an den Rand, das Fass war am Überlaufen. Der Gedanke an die Ungerechtigkeiten, die ihr Leben von Anfang an geprägt und die sie immer dazu gebracht hatten, den Kampf aufzunehmen, brachten sie auf die Palme. Sie machte weder ihre Eltern, noch die Umstände dafür verantwortlich, sie sah nur ihn als Sündenbock. Sie ließ ihn nachts nicht schlafen und betete ihm laut sein Versagen vor, seinen Verrat. Wollte er nicht untergehen, musste er wiederum fliehen.

Sie blieb allein zurück; die einzigen Wesen, die ihr nun noch in die Augen sahen, waren ein paar halbwilde Katzen und die Kaninchen im Stall. Sie führte das Leben eines Eremiten. Sie tobte nachts, dass das Tal widerhallte, tagsüber arbeitete sie bis zum Umfallen, um ihre Wut umzumünzen.

Die Menschen um sie herum bewunderten und fürchteten sie und gingen ihr aus dem Weg: Maria, dem General, dem zornigen General ohne Truppen.

 

 

Epilog:

Aus dem Hause des Generals schallen keine Befehle mehr: Maria ist unheilbar krank und liegt im Sterben. Im wohlbestellten Gemüsegarten liegt die Traurigkeit wie ein Tau.

Marias Mann ist nachhause zurückgekehrt; nun ist er es, der den Schlüssel in's Schloss steckt und öffnet. In seinen blauen Augen blitzt der Schalk auf, wenn er sagt: "Sie wollte immer herrschen." So hatte sie zeitlebens die Schlüsselgewalt gehabt, sie alleine.

Der Mann, die Tochter und die Söhne wechseln sich am Bett Maria's ab, die immer weniger wird und immer ruhiger. Das gnädige Morphium nimmt ihr die Schmerzen. Der General ist weich geworden und hat sich vom Schlachtfeld zurückgezogen. Das Leben schwindet nur widerwillig, Maria kämpft mit jeder Faser gegen den Tod.

Wenn die Menschen in der Dämmerung zusammensitzen und erzählen - an den Sommerabenden im Schatten und im Winter in der glutroten Abendsonne - wird Maria wird für immer ‚der General' bleiben.

Die kurze Geschichte eines langen Lebens

"Vergangene Liebe ist bloss Erinnerung.

Zukünftige Liebe ist ein Traum und ein Wunsch. Nur in der Gegenwart, im Hier und Heute, können wir wirklich lieben." (Siddhartha Gautama (Buddha))

 

 

 

Wir Menschen irren zwischen Vergangenheit und Zukunft umher.

 

Die Zukunft irrlichtert in den schillerndsten Farben und verführt uns zum Träumen. Wir werden, ohne einen Blick in den Spiegel zu verschwenden, stark wie Herkules und schön wie Helena.

 

Aus den Schatten enthüllt die Vergangenheit unseren Gedanken nur das Schöne, denn unser Gehirn schwärzt in seinem Speicher alles Unangenehme und macht es der Erinnerung unsichtbar.

 

Nina hatte gelebt.

 

In den ersten Tagen nach dem großen Krieg in eine vielversprechende Zeit hineingeboren, hatte sie als Kind zwar noch Not und Armut erlebt - aber die Absolution durch den großen Bruder und sein finanzieller Ansporn für die sprichwörtlich fleißigen Deutschen hatten alsbald das Wirtschaftswunder generiert, eine Zeit der großen Erwartungen und Versprechen, welche den Makel aus der jüngst vergangenen tausendjährigen Zeit schnell und angenehm verblassen ließ.

 

Als sie in die Pubertät kam, in diese Zeit der Evolution und Explosion, entstand die Frauenbewegung und die Frauen kämpften für die Emanzipation. Die Pille kam und mit ihr die freie Liebe. Die Kirche haderte. Ein neues politisches Bewusstsein wurde entwickelt, dem die Schuld als Katalisator diente : „Nie mehr Krieg!“ Die Demokratie erstarkte, der große Bruder zeigte seine dunklen Seiten.

 

Die freie Liebe also. Wunderbare Zeiten, in denen das Gefühl nicht ausreichte, um die geöffneten Dosen auszulöffeln. Wenn sie angestrengt in diese Zeit zurückblickte, war sie unversehens mit einer geradezu modernen Konsumhaltung konfrontiert, der sie und die anderen huldigten – auch in der Liebe. Man musste sie in Anführungsstriche setzen. Dennoch war sie auf in einer Art Unschuld erleuchtet, denn man wusste noch nichts von Aids.

 

Sie jedenfalls hatte sich sattgegessen. Fifty ways to leave your lover.

 

Sie zog ihre Konsequenzen und heiratete.

 

Jetzt wurde die moderne Partnerschaft geübt, erprobt.

 

Die Frauen bekamen das Wahlrecht, konnten den Führerschein machen, ein Konto eröffnen.

 

Sie machte ihr Studium zu Ende, begann als Ärztin zu arbeiten. Der Aufstieg in der Hierarchie war steinig. Sie investierte Zeit und Kraft. An dieser Ausschließlichkeit zerbrach die Ehe.

 

Eine graue Gegenwart begann. Waidwund zog sie sich vom Feld der Liebe zurück und versuchte zu verstehen. Sie grub im Schlamm und fand viele schmerzliche Fehler, die sie gemacht hatte. Das neue Bewusstsein hatte seine Opfer gefordert.

 

Mit diesen Erkenntnissen hob sie ihren Blick und schaute in die Zukunft. Ganz klar stand vor ihren Augen, was sie nie mehr machen würde.

 

In der Arbeit pflegte sie allabendlich ihr Gewissen. Dort waren die Zeiten der Privatisierung angebrochen, der Gewinnmaximierung, des ‚Patienten als Kunden’, der Zehnerkarte; wirtschaftliche Effizienz stand vor der medizinischen. Hier gab die Zukunft ihr Rätsel auf.

 

Die Gegenwart war hart und schwierig. Es wollte kein Wohlgefühl aufkommen. Sie verstand nun, was es bedeutet, wenn gesagt wird: Das ganze Leben ist ein Kampf. Weil sie nicht pflegeleicht sein wollte, weil sie sich der Hierarchie nicht beugte, wurde sie gemobbt.

 

Was Wunder, wenn all ihr Denken in die Zukunft floh. Sie träumte sich einen Geliebten und wollte für ihn denken und fühlen, ohne Wenn und Aber. Sie krallte sich jetzt an dem Gedanken fest, dass sie bald in Rente gehen werde. Aus dieser Wurzel erblühten die wunderbarsten Träume – vom Sein in der Gegenwart, vom Leben der Träume, vom Reisen, von einem Dasein in Ruhe, der Befreiung von der Last der Verantwortung und den irrwitzigen, zerstörerischen Kämpfen. So stand sie die letzten Jahre in der Arena des Operationssaales durch.

 

Am ersten Tag ihrer Rente tastete der Geliebte den Krebs.

 

(Zwischenruf:

Der Esoteriker würde an diesem Punkt sagen: „Was will uns ihr Körper damit sagen?“)

 

Das Leben ist wertvoll geworden, die Tage gezählt. Genau so gezählt wie vordem; aber das Wissen darum schleudert sie in die Gegenwart, indem es die Zukunft beschneidet. Vielleicht ist das endlich die richtige Sicht, die einzig wahre Art zu leben: im Fluss der Zeit zu schwimmen, mit den Erinnerungen als Gepäck. Und bedingungslos zu lieben, ohne von der „Zukunft“ – oder besser: den allzu menschlichen Gedanken an eine Planbarkeit - verführt zu werden. Es gibt in unserem Leben nur diese einzige Sicherheit: dass wir sterben werden, in der Zukunft.

Walzer der Verlorenheit

 

Er hat seinen Ehering verloren, sie ihre Unschuld.

 

Er hat den Kampf gegen die Korruption verloren, sie den Kampf gegen den Krebs.

 

Sie hat mit ihrer ersten Liebe alle Illusionen verloren, sie ist endlich aufgewacht. Nun hat sie lachs und pink aus ihrem Zimmer verbannt; die Alarmglocke klingelt sofort, wenn die Werbung sie an diesen Farben zu packten versucht. Die rosa Brille: Sie hat sie zertreten. Wenn sie in die Welt blickt, kommen langsam und zart alle anderen Farben hervor, die Konturen werden klar.

 

 

 

 

 

 

 

 

Er bestellt zum Frühstück nach der Liebesnacht zwei verlorene Eier.

 

Das Scheidungskind hat sein Leben lang Verlustangst und sucht sich immer wieder den falschen Partner, den es dann verlieren wird.

 

Sie hat in Italien beim Motorradfahren, den Kopf im Wind, ihre Brieftasche mit allen Dokumenten verloren. Nach einem halben Jahr bekommt sie ein Schreiben von der deutschen Botschaft, ihr Geldbeutel habe die Reise von Italien nach Berlin erfolgreich überstanden; er sei, hoch über dem Meer, von einem Mann auf der Straße aufgelesen worden. Er werde ihr zugeschickt. Die paar Münzen ihres armen Studentenbudgets sind alle noch im Fach.

 

 

 

 

 

 

 

Beim One-night-Stand steht die Liebe auf verlorenem Posten.

 

Den Kampf gewinnen, den Kampf verlieren? Hauptsache: Kampf.

 

Wir betrachten die Welt; sie tritt uns in immer neuem Gewand entgegen. Die alte Welt, die neue Welt, die dritte Welt. Wir überblicken eine kurze Zeit, die wir mit Gedanken und Gefühlen füllen können; auch mit Taten, wenn wir mutig sind. Was wir sehen, regt uns auf, regt uns an. Was wir tun, regt die Anderen auf. Die Natur beginnt zurückzuschlagen. Über unseren Köpfen gehen Sintfluten und Stürme hinweg. Wenn wir den Kopf in den Sand stecken, sind wir verloren. Wenn wir widerstehen, können wir sein wie eine Ameise. Und wir sind viele.

 

 

 

 

 

 

Seine Liebe zurückzugewinnen ist verlorene Liebesmüh.

 

Was kostet die Welt ? Nach und nach hat er den Bodenkontakt verloren.

 

Eins, zwei, drei. Wir drehen uns. Wir schweben im Arm des Anderen.

Könige und Päpste danken ab und verschwinden aus der Yellow press. Schwarzgeldbänker und Elefantenjäger werkeln unbehelligt weiter im Hintergrund.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

♩  ♬ ♬

Ich gebe nichts verloren, nicht uns, nicht die Anderen. Auch wenn ich mich immer mehr verloren fühle. Bin ich auf die alten Tage aus der Welt gefallen ? Sie dreht sich im Walzertakt weiter. Im rauschenden Klang der Musik wird mit Dreck geworfen. Jeder ist allein in seiner Haut und will nicht verloren gehen.

 

Sie

 

Der alte Herr war in der letzten Zeit richtig rammdösig geworden; seine Vergesslichkeit war zwar schon seit vielen Jahren sprichwörtlich, aber er schien nun immer mehr in die Vergangenheit zurückzugehen – in seinen Erzählungen und Erinnerungen, aber auch körperlich und in seinen Gewohnheiten und seiner Hilfsbedürftigkeit.

 

Seine Frau, die die Herausforderung, ‚zusammen alt zu werden‘, mit Humor und wenigen heimlich zerdrückten Tränen gemeistert hatte, war immer an seiner Seite, heute mehr denn je.

 

Sie sieht ihn an. „Woran denkst du? Du schaust so glücklich aus!“

 

„Ich denke an meine große Liebe.“

 

„So?“

 

„Sie ist schon lange aus meinen Gedanken verschwunden, wer weiss, wohin. Jetzt schaut sie wieder um die Ecke.“

„Erzähle.“

 

„Sie war ein wunderschönes Mädchen, so zart und gleichzeitig stark. Sie hatte zwei blitzende blaue Augen, manchmal voller Schalk, manchmal abgründig wie die See. Sie hatte eine Stimme, so sanft wie ein Lufthauch, so fest wie der Fels, der vom Wind geschliffen wird. Sie hatte weiche Wangen und eine stolze Stirn. Sie hatte Haare, schwarz wie Ebenholz, die glänzten wie Seide. Sie konnte lachen wie ein gluckerndes Bächlein.

 

Sie hatte Mut, genau wie du.“

Schlaflos

Seit dem Tod seiner Frau vor fast einem Jahr war Herr Schneekönig nicht mehr ausgegangen. Er war ihm lieber gewesen, früh zu Bett zu gehen, nicht in erster Linie deshalb, weil er dann die Heizung herunterfahren und Kosten sparen konnte, sondern weil er auf den wenigen Schlafinseln, auf die ihn die Nacht - wenn er Glück hatte - spülte, ab und an seine Liebste wiedertreffen konnte - nur im Traum natürlich.

Diese Treffen waren seither sein ganzer Lebensinhalt.

Hatte er in den letzten Jahren, wo das Alter nach und nach von jeder Ritze Besitz ergriff und erbarmungslos seine jugendliche Spannkraft aushebelte, durch geistige Übungen, wie Meditation, versucht, dieser Entwicklung ein Schnippchen zu schlagen, so musste er sich seit einem Jahr eingestehen, dass die Dahingeschiedene sein Lebenselixier gewesen war, obwohl sie Beide während der Zeit ihres Zusammenlebens weit häufiger Krach, Streit, Diskussionen und Machtkämpfe gehabt hatten, als Zeiten seliger Harmonie.

Anfangs hatte er noch versucht, sich mit seiner Frau zusammenzusetzen, auseinanderzusetzen und die Probleme auszudiskutieren; ein Unterfangen, das von vorneherein zum Scheitern verurteilt schien, denn sie kamen auf keinen gemeinsamen Zweig, weder grün noch rot oder gar schwarz oder gelb. Die Gründe dafür hatte er akribisch aufgearbeitet und war, nach der Lektüre von wissenschaftlichen und populärwissenschaftlichen Fachbüchern, zu der Erkenntnis gelangt, dass es sich hier um genetisch determinierte, unausweichliche Verhaltensschablonen handelte, die auch keine mystische Erfahrungsbereitschaft auftauen konnte.

Da er mittlerweile 70 Jahre alt und weise geworden war, beschloss er, um des lieben Friedens willen, keinen Fehdehandschuh mehr aufzuheben und die Giftpfeile lieber mit dem Teil seiner Seele, der sich im täglichen Kampf zu einem Figurantenhandschuh entwickelt hatte, zu paradieren.

Natürlich fehlte damit seiner Frau der Streitpartner auf Augenhöhe, und sie war gezwungen, heftig nachzulegen und einzuheizen, um die Grenzen auszutesten.

Je mehr sie testete, desto weiser wurde er.

Eines Tages war die absolute Grenze erreicht und seine Liebste ruderte zurück; vielleicht auch deshalb, weil sie als ökonomisches Naturtalent eine gewisse Diskrepanz zwischen Einsatz und Ausbeute erkannt hatte.

Natürlich war die Erbarmungslosigkeit der Jahre auch an seiner Frau nicht vorbeigegangen; der Zahn der Zeit hatte auch an ihr genagt. Da sie aber einiges mehr auf den Rippen hatte, als er, trug sie die Spuren dieser kannibalischen Attacke mit Verachtung und Grazie.

So fiel es ihm nicht schwer, seine Falten, die grauen Haare und die Müdigkeit seiner Augen zu akzeptieren und die Kröte zu schlucken. Sobald diese in die Mühle der Peristaltik gelangt war, war klar: Es konnte kein Prinz mehr daraus erstehen.

Endlich hatten sie einige ruhige und beschauliche Jährchen. Jeder von Beiden konnte die Ernte seiner Weisheit einfahren und deren Früchte einbringen, die zu manch‘ zärtlichen und süßen Dessert gerannen, wenn das täglich beschwerlicher werdende Routineprogramm absolviert war.

Herr S. empfand diese Zeit als paradiesisch. Er wurde in die Verrichtungen des Haushalts eingewiesen, ein kluges Vorhaben seiner Frau. Als ob sie geahnt hätte, dass….

Die Tätigkeiten in der Küchenzeile waren allerdings für ihn anfangs höllisch und später – wenn man fünfe gerade sein ließ - allenfalls fegefeurig. Der gute und gourmethafte Esser verwandelte sich nicht so einfach vom Saulus zum Paulus. Ob auch diese Erkenntnis mit der Genetik zu tun hatte, wusste er nicht zu eruieren. Allerdings: Das unerbittliche Diktat der Hormone hatte glücklicherweise merklich abgenommen und war über die Jahre zu einem mikroskopischen Erinnerungsschnipsel geschrumpft.

Seine Frau war nun offensichtlich ein Engel geworden, denn sie hatte, wie ein einengendes Korsett, alles Kämpferische, Schwere, Schwarzviolette abgelegt und erstaunlicherweise dennoch ihre Persönlichkeit behalten können, wenn sie so auf den Schlafinseln auf ihn wartete.

Dies empfand er als göttlich, und er konnte so den Mystikern einiges abgewinnen und immer sonorer und überzeugter in das ‚Hohe Lied der Liebe‘ einstimmen, das Salomon zusammen mit den Buckelwalen mit wunderbarem Wohlklang durch die Sphären sang.

Sein ganzer Kummer war, dass ihm mit dem Alter kein guter Schlaf mehr beschieden war. Viele Stunden lag er nun wach und wälzte sich von einer Seite auf die andere, denn sein Rücken erlaubte ihm nicht mehr, lange Zeit in einer Position zu verweilen. Seine Füße, die beim Zubettgehen immer eiskalt waren, entwickelten sich während der Nacht zu wahren Feueröfen und mussten, abwechselnd außerhalb der Decke aus dem Bett gehängt, befriedet werden. Diese Schlafversuche erinnerten ihn an seinen Vollzeitjob. Kaum hatte man etwas geleistet, war es schon wieder zunichte.

Hatte seine Erschöpfung ein Höchstmaß erreicht und gleichzeitig wunderbarerweise der Fluss seiner Gedanken einen Mindeststand, gelang es ihm abzuschwingen und sich den Wellen des Schlafes zu überlassen, in der Hoffnung, mit den Strömungen auf seine Insel zu kommen. Manchmal allerdings sah er sie nur wie eine Fata Morgana am Horizont und wurde wieder herausgerissen, bevor er nur den Schattenriss seiner Liebsten hatte ausmachen können.

Erfahren in meditativen Techniken setzte er alles ein, was ihm zu Gebote stand, setzte alles auf eine Karte. Mit wechselndem Erfolg. Die Erkenntnis der Schicksalshaftigkeit des Lebens und der Liebe breitete sich in ihm aus wie ein Ölfleck auf dem Wasser oder ein Fettfleck auf der Suppe, wenn diese denn genügend fetthaltiges Primärmaterial beinhaltet.

Er war mit seinem Unterfangen noch weit vom Ziel entfernt, als er beschloss, an diesem besonderen Abend auszugehen und im Gemeindehaus am Altenabend teilzunehmen, an dem ein adventliches Beisammensein mit Glühwein und Tombola offeriert wurde.

Die Frauen waren in der Überzahl.

Im Verlauf des Abends erhielt er mehrere Einladungen zu Bridgeabenden, Kreuzfahrten, Tanz- und Kochkursen; und als dieses und jenes Glas Glühwein die Wangen gerötet und zum Glühen gebracht – und das jugendliche Feuer und Temperament hier und da befördert – hatte, wurde das Licht im Saal heruntergedimmt, und ein gebrechlicher Zauberer betrat die Bühne und blinzelte tränenreich in den Spot.

Seine Nachbarin flüsterte ihm in’s Ohr: „Können wir uns treffen? Ich bin so einsam.“

Die Kugel der Tombola war unbemerkt hinter dem Bühnenvorhang aufgebaut worden und wurde jetzt, nach einem kurzen, aber wortreichen Prolog der Zauberers, von zwei Damen eines Begleitservice in Bewegung gesetzt. Sie blitzte im Scheinwerferlicht wie eine Discokugel und verhieß Geheimnisvolles.

„Der erste Gewinner ist die Nummer 17.“

„Die erste Gewinnerin!“

„O.k.: Ladies first.“

Auf einem Stand an der Seitenwand der Mehrzweckhalle waren die Preise aufgebaut. „Ein Teddybär!“

„Und nun halten wir alle die Luft an: Es kommt die Nummer……. 4. Eine Wärmflasche.“

„Die 9: ein Paar handgestrickte Socken für den Herrn, vielleicht etwas zu klein. Am Ende der Tombola kann getauscht werden, das dient der Verständigung.“

Herr S. ist fast froh, das seine Nummer noch nicht aufgerufen worden ist. Er hat die 1, weil er als Erster eingetroffen ist. Er hasst es nämlich, zu spät zu kommen; als Bettler bediente er sich der Höflichkeit der Könige.

„Und dann: die 3, 10, 16, 11, 12, zwei hintereinander!

Die 7, die 15, die 13, diesmal ein Trostpreis: ein Sonnenschirmchen für den Rollator; die 2, 6, 14, die 5: ein Flachmann. Wie gesagt: Wenn sie sich noch nicht flach genug fühlen, kann getauscht werden.“

„Die 1 !“

Am Stand sind alle Preise bereits abgeräumt. Herr S. geht nach vorne zur Bühne und präsentiert seine Nummer.

„Wie ist bitte ihr Name?“

„Ich bin der Schneekönig.“

„Und jetzt spricht das Schicksal: Simsalabim, Sie haben das Schlaf-Los gezogen. Sie werden, wann immer Sie wollen, endlos schlafen, und zwar so lange, bis sie selbst wieder aufwachen wollen. Und wenn Sie eines Tages nicht mehr aufwachen wollen, ist auch das garantiert, denn Sie haben das große Los gezogen, eins A.“

Zart

 

Sie war in eine dunkle Zeit hineingeboren, kopfüber hineingestürzt. Krieg tobte auf den Schlachtfeldern, verwerflicher Krieg. Die Ausbeuter hatten sich aufeinander gestürzt, mordeten mit blankem Messer, erdrosselten mit bloßen Händen. An Weihnachten wurden sie weich und feierten zusammen im feindlichen Schützengraben.

Sie war geboren. Die Brust der Mutter vertrocknete. Hunger ringsum. So drang der Krieg auch bei ihnen ein, leise, bohrend und ganz ohne Pulverdampf.

An die bunte Kindheit voller Wunder konnte sie sich immer besser erinnern. Die geblähte Zeit, die ewigen strahlenden Tage. Die Konturen der Bilder füllten sich mit Farben, alles bekam Tiefe und Wärme, geriet in Bewegung. Bei jedem Besuch ihrer Gedanken lösten sich mehr Figuren aus dem Hintergrund, sahen sie an und bewegten die Lippen. Anfangs konnte sie die Worte nicht verstehen.

Die Menschen kamen näher, in ewiger Jugend. Sie war nun eine junge Frau. Stark und zart. Erlernte einen Beruf. Stürmte an den Wochenenden mit den Freunden die hohen Berge.

Die schneebedeckten Gipfel bauten sich in ihren Gedanken auf, Macht und Schutz. Sie hatte Zeit gewonnen: Die Nacht, die sich zwischen ihren Tagen dehnte.

Wieder wurde mit Säbeln gerasselt, wieder stürzte sich die Zeit in Raserei und Blutrausch. Tage zwischen Luftalarmen und Schutt, Nächte im Bunker. Ihr Liebster auf dem Schlachtfeld, ihre Liebe auf dem Felde der Ehre. Ein Betrug.

Aus diesem Kriege kamen alle, die ihn überlebten, mit dem Gewicht der Schuld herausgekrochen. Sie war es, die sie schuften ließ, zubauen, zudecken.

Eines Tages stand der Liebste vor der Tür. Die Zeit stand still, alle Angst schrumpfte in einem Augenblick. Ein schwarzes Loch.

Beflügelt machten sie sich auf. Heirat im grauen Kostüm. Von Liebe verklärt, sahen sie nicht mehr die Wirklichkeit, die grausame.

Sie konnten zusammen nicht leben.

Wenn sie sich anstrengte und die Augen ganz zusammenkniff, sah sie in der Ferne den Liebsten, den Verlorenen, winken.

Sie funktionierte, ein Rad im Getriebe, das sich weiterdrehte, von Tag zu Tag. Schweiß und Blut, Tränen und Schweiß waren die Schmiermasse. Die Kinder wuchsen auf, die Enkel wuchsen auf. In ihnen sah sie sich selbst.

Die Tage verrannen im Sturm, die Nächte dehnten sich unendlich. Die Zeit stürzte zum Abgrund.

Zu Beginn genoss sie es, dass sie immer mehr vergaß. Anfangs nur das Schlechte, Schwere, Böse, Schmerzliche. Dann Namen und Schall und Rauch.

„Ich habe solche Angst vor dem Abrutschen in die Nacht des Vergessens.“

Darauf versickerten Ort und Zeit. Am Ende fand sie sich selbst nicht wieder.

 

Nun dreht sich das Getriebe langsam. Die Maschine der Zeit rattert endlich nicht mehr mit ohrenbetäubendem Getöse, manchmal säuselt sie jetzt wie ein Frühlingswind. Sie sieht die Wiese ihres Lebens, Blüte und Frucht. Die Menschen darauf winken ihr zu, liebe und bekannte Gesichter, längst verlorene Freunde. Ein Rausch in Farbe und Heiterkeit. Die saftige Ebene, die spitzen Berge, der hohe Himmel, Ort ihrer Sehnsucht. Mit geschlossenen Lidern macht sie sich auf den Weg, ein letztes Mal. Nun muss sie alles zurücklassen.

Sie wirft die Last ab.

Die Zeit bleibt stehen.

Ana

1

Ana war 14 Jahre alt, als ihr zum ersten Mal Gewalt angetan wurde.

Zwei Wochen vor diesem Tag hatte sie sich ein Herz gefasst – ihr flammendes und blutendes Herz in beide Hände genommen - um es der Großmutter, ihrer „Babuschka“, in seinem erbarmungswürdigen Zustand samt Inhalt auf den Küchentisch zu legen. Das Wachstuch hielt alles aus.

Sie war zum ersten Mal verliebt; dass sich das so anfühlte, hätte sie niemals gedacht. Bis dahin hatte sie nur verwundert den kichernden Erzählungen ihrer Freundinnen gelauscht, im Kreis der zusammengesteckten Köpfe und im Flüsterton vorgetragen.

Liubov, Nadeschda, Liudmila: Die Namen ihrer Freundinnen hatten eigentlich alle mit ‚Liebe‘ zu tun.

Als die Liebe dann Besitz von ihnen ergriff, waren die Mädchen wie neugeboren, im Innersten und auch in Äusserlichkeiten verändert, und ihr Verhalten kam Ana plötzlich unbegreiflich dümmlich vor; sie konnte sich nicht helfen: Sie erkannte die Freundinnen nicht wieder und bekam Schwierigkeiten, die Herzensangelegenheiten mit ihnen auszutauschen.

Da sie feststellte, dass ihre Altersgenossinnen allesamt auf einem fremden - wie ihr schien: gemeinsamen und ihr unbekannten - Planeten herumschwirrten und für sie unerreichbar waren, ihr Herz sich aber so übervoll, so leicht und manchmal auch schmerzend anfühlte, schaute sie sich zuhause um und suchte bei den liebsten Menschen, die um sie waren, das gütigste und wissendste Herz, um sich ihm anzuvertrauen.

Das war die Babuschka. Gott weiß, wie sie all den Kummer hat in Güte verwandeln können, den sie in ihrem Leben erlebt hatte: das Erwachsenwerden, den Großen Vaterländischen Krieg, den Verlust des Geliebten, den Tod von Großvater.

‚Vielleicht kann sie ermessen, wie es um mich steht.‘

Viele Tage und Abende war sie um Babuschka herumgeschlichen, hatte sich unversehens in ihre Arme geworfen und geseufzt.                                            

Eines Tages nach dem Abendbrot – die Eltern waren an diesem Tage frühmorgens in die Stadt aufgebrochen – verpackte Babuschka die Reste des Abendbrots sorgfältig und brachte sie in die Speisekammer, während Ana das Geschirr abräumte und die Brosamen vom Tisch in die hohle Hand wischte und den Vögeln vor die Tür warf.

„Mein Herz, was ist los mit dir?“

„Großmutter, ich bin so glücklich.“

Ein kleiner Schmerz zuckte kurz über Babuschka’s Gesicht, wie ein kaum wahrnehmbarer Blitz ohne darauffolgenden Donner, aber doch nicht nur ein Wetterleuchten.

„Das ist schön, mein Kind. Glücklicher als sonst?“

„Ja, viel glücklicher. Aber dann auch wieder unglücklich, manchmal, so, wie ich es nie vorher gewesen bin.“

Babuschka blickte ihr direkt in die Augen und dachte nach. „Du bist verliebt.“

Sie hatte den Finger in die Wunde gelegt.

 

 

 

2

Die Eltern kamen aus der Stadt zurück und hielten mit Babuschka einen Familienrat ab; Ana war ausgeschlossen und sollte, zu ihrer Zeit, mit dem Ergebnis der Besprechung konfrontiert werden, das wäre noch früh genug.

 Ihr selbst war es auch lieber, die Erwachsenen deren Welt zu überlassen und sich im ruhigen Zimmer ihren Gedanken hinzugeben, die sich wie ein Strudel um ihren Liebsten drehten. Ihr wurde heiss bei dem Gedanken an sein schönes Gesicht, an seine lustigen Augen, an seinen stolzen Gang. So viel sie auch an den Worten arbeitete, mit denen sie sich zum ersten Mal an ihn wenden wollte: Was immer sie in ihrem Wortschatz hervorkramte, es schien ihr abgedroschen, gleichzeitig aber neuerfunden und künstlich, jedenfalls viel zu schwach als Ausdruck des Sturmes, der ihn ihr tobte und der herauswollte. 

 Doch diese Suche nach Worten, Blicken und Gesten, allein und im Geheimen, war zu ihrer liebsten Beschäftigung geworden. Wann immer es möglich war, zog sie sich zurück, um diesen Kokon zu spinnen und dieses goldene Ei auszubrüten.

 Immer mehr hatte sie das Gefühl, dass niemand sie verstand; nicht die Eltern, nicht die Freundinnen; vielleicht ein bisschen Babuschka – ein warmes Verständnis ohne Worte.

 

 

3

Der Vater hatte seine Arbeit verloren, als in seinem Betrieb rationalisiert wurde. Die Mutter, im Büro angestellt, hatte noch einige Zeit weitergearbeitet, bis zur Abwicklung der Insolvenz; dann war auch sie entlassen worden.

 In der Region war eine allgemeine Krise ausgebrochen. Die Männer rissen sich um die kleinen schlecht bezahlten Gelegenheitsarbeiten; den Frauen wurde erzählt, dass ihr Platz in der Familie und am Herd sei. Für einige Zeit war die Familie zu Babuschka in deren Haus gezogen; so konnte wenigstens die Miete gespart werden. Aber auch in Babuschkas Städtchen war keine Arbeit zu finden. So mussten die Eltern zu einer Entscheidung kommen.

 Ana sah zu, wie die Mutter nach und nach die Schränke ausräumte, die alten Kleider und Wäschestücke – mit einem tiefen Seufzer - in den Abfall gab und die wenigen respektablen Stücke sorgsam faltete und in einen großen Koffer legte. Den ganzen Tag hatte sie, erst durch den Spalt der Tür an ihrem Zimmer, dann auf dem Teppich des elterlichen Schlafzimmers sitzend, zugesehen. Als der Schrank bereits halb leer war, hatte Ana gewagt zu fragen. Die Mutter hatte sie vertröstet und gesagt: „Wir werden dir zur rechten Zeit alles erklären."

 Babuschka hatte sich in der Küche zu schaffen gemacht und mit den Töpfen geklappert. Als Ana mit fragendem Blick die Küche betrat, drehte sich Babuschka um und wischte sich mit der Schürze über die Augen.

Der Vater war im Garten hinter dem Haus und spaltete Holz. Er ließ das Beil mit großer Wucht auf die Scheite hernieder sausen. Mehr als einmal musste er seine Schutzbrille abnehmen, weil sie beschlagen war.

 

 

4

Das karge Abendmahl war vorbei. Die Eltern blickten sich an, ihre Augen wanderten zuerst zu Babuschka, dann blieben ihre schweren und traurigen Blicke auf Ana liegen. „Wir werden morgen von hier abreisen. Wir ziehen um nach Deutschland. Wir finden hier keine Arbeit und können so nicht mehr weiterleben.“

 Ana riss es augenblicklich das Herz auf. „Ich will hierbleiben, bei Babuschka und bei… meinen Freundinnen. 

“Babuschka blickte auf ihren leeren Teller. Nach langen und tränenschweren Augenblicken, so kam es Ana vor, erhob sie sich und begann mit dem Abwasch. Ana half ihr dabei; die Eltern saßen wie festgewachsen auf ihren Stühlen.

 „Darf ich bitte hier bleiben?“

 „Nein. Du kommst mit uns.“

„Aber…“

 „Keine Widerrede, Schluss jetzt!“

Aber die Eltern wussten ja nicht, dass sie verliebt war. Dass sie ihren Schatz, der noch von nichts wusste, nicht verlassen konnte. Wie lange hatte sie im Innersten überlegt, wie sie ihm näherkommen konnte; die ersten Worte sorgsam gedrechselt, die sie ihm sagen würde. Es war schwer, für das, was in ihrem Herzen rumorte, den richtigen Ausdruck zu finden, Worte, nicht zu schwer aber auch nicht zu leicht, sondern genau im richtigen Gegengewicht für ihr Herz, das manchmal schwer war wie Blei, dann aber auch wieder leicht flatternd wie ein Schmetterling. In der dunklen Nacht, wach in ihrem Bette, nahm sie sich vor, sich zu wehren.

 Am nächsten Morgen schlug sie um sich, als die Mutter sie weckte. Sie weigerte sich, in’s Bad zu gehen, die bereitgelegten Kleider anzuziehen. Sobald die Mutter sie mit einer Umarmung trösten wollte, entwand sie sich; als der Vater sich näherte, trat sie mit ihren Füßen um sich. Nur Babuschka durfte ihr näherkommen.

 Sie flehte sie an, ihr zu helfen, sie bei sich zu behalten, nicht zu erlauben, dass sie mitgenommen werde. Babuschka nahm sie an ihre weiche Brust und weinte so, dass die Tränen über Anas Nacken hinunterflossen.

 Der Vater kam durch die Tür, packte sie und trug das wild um sich schlagende Mädchen wortlos bis zum Auto.

 

 

 

 

5

Von der langen Fahrt konnte Ana später nichts erzählen. Ihr wundes Herz hatte seinen Schmerz in alle Fasern ihres Körpers, in alle Winkel ihrer Seele gepumpt. Sie schaute an sich herab, verwundert, dass noch kein Blut aus ihrer Haut sickerte, sie nicht allmählich zu dem Blutklumpen wurde, der sie in Wirklichkeit war.

 

 

6

In Deutschland, ihrer neuen Heimat, bemühten sich alle drei, Vater, Mutter und Ana, anzukommen und sich einzuleben, einzufügen. Die fremde Sprache, die befremdlichen Gewohnheiten, die Kühle zwischen den Menschen: all das machte jedem von ihnen auf unterschiedliche Art zu schaffen.

Bald schon war allen klar, dass es das Paradies auf Erden nicht gibt.

 Ana durchlief ohne Schwierigkeiten die Schule, machte ein gutes Abitur und focht bei ihren Eltern durch, dass sie fortan die Kunsthochschule besuchen würde, denn der Kunstlehrer hatte bei ihr eine ausgeprägte Begabung zum Malen und Zeichnen festgestellt.

 Auf der Akademie fühlte sie sich zum ersten Mal wieder ganz sie selbst. Sie erlernte viele Techniken und schaffte es bald, ihre inneren Szenen, die Landschaften ihrer Seele, auf der Leinwand abzubilden. Unter ihren Kommilitonen stach sie hervor durch die leidenschaftliche Kraft ihrer Bilder.

 Sie war zu einer schönen jungen Frau herangewachsen.

 Eines Abends, auf dem Fest zum Semesterschluss, traf sie einen jungen Mann, Carsten, auch er Student in der Klasse ‚Bildhauerei‘. Alle waren sie ausgelassener, befreiter Stimmung. Sie lachten und tanzten bis in den Morgen.

 Carsten hatte seit ein paar Stunden mit ihr in einer Ecke gesessen und von seiner Abschlussarbeit gesprochen. Er hatte das Thema ‚Globalisierung‘ bekommen und hatte zuerst, da er nicht sofort eine zündende Idee für die Umsetzung in eine Skulptur hatte, im Internet recherchiert, angefangen von der Begriffsbestimmung, von den vielfältigen Anwendungen und Zitaten in allen möglichen wissenschaftlichen und allgemein-populären Veröffentlichungen bis hin zu bereits bestehenden bildlichen und auch den wenigen künstlerischen Darstellungen dieses Begriffs. Dann hatte er gemeißelt. Die Beschreibung seines Produkts fiel weniger klar und deutlich aus, und da Ana sich aus seinen Erzählungen kein Bild machen konnte, war sie einverstanden, ihn bis nach Hause zu begleiten, um sich das Werk anzusehen. 

Seine Bude war offensichtlich von seiner Mutter eingerichtet worden, und seit Carsten’s Einzug hatte er selbst nichts mehr daran verändert - oder gar saubergemacht. Die Unordnung war so groß, dass sie nicht mehr als kreativ zu bezeichnen war, sondern eher dem Chaos glich.  Ana bemühte sich, darüber hinwegzusehen, und sagte sich: „Jeder ist seines eigenen Glückes Schmied.“ 

Carsten räumte den einzigen Sessel frei und lud sie ein, sich hinzusetzen. Von allen Getränken dieser Welt hatte er noch eine halbe Flasche Coca-Cola neben dem Bett stehen. Er wusch zwei leere Nutellagläser aus und verteilte den Rest Cola auf beide. Dann stießen sie an und Carsten sagte weihevoll: „Auf uns.“

 Ana konnte bei so viel Romantik fast das Lachen nicht unterdrücken. Nun kniete Carsten vor ihr und seine Augen wurden glasig. Als Ana eben noch dabei war, einen neuerlichen Anflug von Romantik und Lachen hinunterzuwürgen, fiel Carsten über sie her. Der Angriff kam überraschend; und so hatte er sie schon umfangen, so dass sie bewegungsunfähig war, ehe sie noch einen Gedanken an Flucht oder Befreiung denken konnte.

 Zuallererst ließ sich Ana in das wohlbekannte Gefühl der Resignation fallen, der innerlichen Aufgabe. Er hatte sie zu Boden gezogen und mit den Beinen, die auf ihren Schenkeln knieten, festgemacht. Mit den Händen nestelte er an seiner Hose herum, die er über die Hüften hinunterschob. Dann riss er ihr den Slip herunter und rammte seinen erigierten Penis in sie hinein. Da sie vor Angst trocken war, spürte sie einen alles zerreißenden Schmerz, so als würde sie von unten her gespalten. Mit diesem Schmerz stieg eine heiße Wut in ihr auf, und sie gab Carsten eine Ohrfeige, dass ihm der Speichel von den Lippen flog. Im Moment der Überraschung konnte sie sich herauswinden, ihr rechtes Knie anziehen und Carsten einen Schlag in die Eier versetzen, der ihn nach vorne umsinken ließ. Noch vor seinem Aufschlag rollte sie sich zur Seite, stand auf, raffte ihre Sachen zusammen und rannte, den Slip noch immer an den Knien, x-beinig aus der Bude.

 Zuhause angekommen erinnerte sie sich an nichts als an den Moment, an dem der Mut in ihrem Inneren Gestalt angenommen hatte - der Mut, sich zu wehren. Blitzschnell hatte er ihr die richtigen Handgriffe eingegeben; ihr ganzer Körper war sein Werkzeug gewesen und nun spürte sie auch, dass ihre Seele durch ihn heil geworden war; er hatte sich wie eine Schicht Honig über die Schrunden und Narben gelegt, die die anderen ihr angetan hatten.

 Sie fühlte sich stark wie ein Riese, unverletzlich, spürte, wie sie im pulsierenden Meer des Lebens ihr eigenes gerettet hatte, das seit ihrer Abfahrt aus Russland angeschlagen gewesen war.

 

 

7

Ihr Studium ging weiter. In der Akademie war Carsten allenfalls eine unangenehme Randfigur; und wenn sie ihm begegnete, ballte sich in ihrem Inneren ein widersprüchliches Konglomerat von Wut, Schmerz und Siegesgefühl zusammen, über das sie nicht weiter nachdenken wollte. 

 Anas Strich wurde sicherer, die Darstellung des Hintergrundes in ihren Bildern durchlässiger und komplexer. Die Figuren, die sie malte, drückten in der Haltung der Körper vielfältigste Gefühle aus, von der reinen Freude bis zum brennenden Schmerz. Die Gesichter blieben wesenlos.

 Sie erhielt die ersten Einladungen, an Gemeinschaftsausstellungen teilzunehmen. Sie verkaufte sogar dieses und jenes Bild. Die Betrachter lobten ihre kraftvolle Farbigkeit. Auf ihren Bildern waren Menschen zu sehen, die die unterschiedlichsten Arbeiten vollführten: Bauern auf dem Felde, Minenarbeiter im Dunkel der Erde, Fabrikarbeiter vor dem glühenden Schlund von Feueröfen, Frauen am Herd oder auf dem Strich. 

 Da Abbildungen von Frauen oder Männern hinter dem Steuer eines Autos oder aber am Computer, oder über ein Stück Papier gebeugt, fehlten, wurde ihr ein ‚später sozialistischer Realismus‘ in die Schuhe geschoben; und vielleicht waren ja die Darstellungen hart arbeitender Menschen auch ein Relikt aus ihrer Kindheit, das ihr nicht bewusst war. In ihrer Heimat Russland war der arbeitende Mensch gefeiert, aber nicht gerecht entlohnt worden. Der soziale Zusammenhalt von Familie, Belegschaft und Dorfgemeinschaft war groß gewesen und hatte die einzelnen Mitglieder dieser Gruppierungen gestärkt; schon in den Städten hatte es dieses soziale Bindemittel nicht mehr gegeben.

 In ihrer neuen Heimat hatte sie es auch nicht vorgefunden; sie war in einer Welt von Individuen gelandet, die sich gegenseitig bekämpften und betrogen, um den großen Reibach zu machen, um clever zu sein. Insofern waren die Darstellungen auf ihren Bildern rückwärtsgewandt, eine ‚Hommage à…‘, auf das verlorene Paradies. Und in diesem Paradies fanden sich auch hierzulande viele Menschen wieder, obwohl sie nie in ihrem Leben einen so gebeugten Rücken und so viel Schweiß gesehen hatten, wie bei den gesichtslosen Menschen auf Anas Bildern.

 

 

8

Das Ende ihrer Studienzeit kam näher. Der Professor hatte ihr bescheinigt, dass sie reif sei für die Abschlussprüfung. Dabei hatte er allerdings angemerkt, dass sie nach Abgang von der Akademie noch eine Entwicklung vor sich hätte, die sie aber ohne Anleitung bewerkstelligen werde. Er sprach vom Zusammenwirken ihrer Begabung mit dem technischen Können, das er ihr beigebracht habe und das im Laufe der Zeit und der Übung sich noch weiter vervollkommnen werde. Sie habe mit ihrer großen Begabung und ihrem Fleiß das Ihre, er das Seine beigetragen.

 Ana schienen dies ermutigende Voraussetzungen zu sein, um sich jetzt abzunabeln und ihren eigenen Weg zu gehen.

 Tatsächlich kam für sie eine Zeit des Erfolgs, der ihr einen sorglosen Lebenswandel ermöglichte. Sie arbeitete viel, konnte ausstellen und verkaufte gut.

9

Als Ana eine renommierte Galerie fand, die ihre Bilder exklusiv vertreiben und professionell vermarkten wollte, schien das Glück vollkommen. Sie bekam ihre erste Einzelausstellung. Ein Raunen ging durch den Kunstmarkt, die Preise stiegen.In der Kunstkritik wurden ihre gesichtslosen Figuren als ‚Projektionsfläche für das moderne Individuum‘ und ‚Gegen-Ikonen‘ beschrieben, ihr Stil nunmehr als ‚Anti-Expressionismus‘ bezeichnet.

 Ana war so unbekümmert, dass sie sich wieder verliebte.

 Christof war Maler wie Ana, ein Urgestein von explosivem Charakter. Ana fühlte sich von seiner Wucht angezogen, Christof liebte Anas Zartheit. Christof „schmierte“ – wie er es nannte – abstrakt. Er hatte sich viele Gedanken über Form und Farbe und deren Botschaft gemacht, die vom Geist und den Herzen der Betrachter entschlüsselt werden. Bevor er ein Bild anfing, verging eine lange Zeit des Grübelns vor der weißen, meist großformatigen, Leinwand. In dieser Zeit war er kaum ansprechbar und schlechter Laune. Unvorhersehbar, wie ein Vulkanausbruch, pinselte er dann die Farben auf die Fläche, und was herauskam war „das perfekte Bild in einem Wurf“.

 In all dieser Zeit seines Schaffens musste genug Wein im Hause sein; der Wein war sein Elixier. Er trenne ihn von den dunklen Seiten seines Wesens, meinte er einmal.

 Ana kannte solche dunklen Seiten kaum. Wohl hatte auch sie Kummer gehabt, aber es war ihr immer mit der Leichtigkeit ihrer Gedanken und der Schönheit ihrer Seele gelungen, ihn bald in Luft aufzulösen.Der große, alles vergiftende Kummer wartete aber schon vor der Tür.

 

 

10

Christof ertrug Anas Erfolg nicht. Er begann, sie herunterzumachen, indem er ihre Bilder und ihr persönlichstes Inneres, in das sie ihn hatte hineinblicken lassen, aufeinander projizierte; besonders sarkastisch und verletzend wurde er unter dem Einfluss des Alkohols. So riss er eine Barrikade nach der anderen ein.

 Ana wagte nicht mehr zu malen. Sie fühlte sich wie ein Stück rohen Fleisches, von einem Geier zerfetzt. Anfangs hatte die Liebe Beider noch dafür ausgereicht, dass sie sich immer wieder versöhnten. Ana konnte sich erklären und fand damals bei Christof noch Gehör und Einsicht; als Krönung dieser mit Tränen begonnenen Abende hatten sie wundervollen Sex. Der Streit wurde häufiger, die Versöhnungen schaler, das Einverständnis war immer weniger wert – oft dauerte es nur über die Schlafphase hinweg bis zum nächsten Morgen, an dem Christof besonders schlecht gelaunt und schwierig war.

 Das verständnisvolle Miteinander verwandelte sich unmerklich in eine schizophrene Spaltung, Geben und Nehmen drifteten auseinander. Mit dem hämmernden Staccato der Auseinandersetzungen zog die Lüge ein; Ana fühlte nur noch Verzweiflung, Christof allenfalls Mitleid, das ihn rasend machte. So verendete langsam auch der Sex.

 

 

11

Die Galerie forderte neue Bilder, Nachschub für den Markt. Die Galeristin habe viel in Ana investiert, sagte sie, nun müsse Ana liefern. Man habe einen Vertrag. Ana gab nach und nach alle ihre alten Bilder heraus, und dabei fühlte sie sich so, als habe sie ihre Kinder verkauft und verloren. Am Ende blieb sie verwaist und verwitwet übrig, und hatte Christof in seinem Furor nichts mehr entgegenzusetzen. Er nannte sie die „Prostituierte der Kunst“. 

Die alten Bilder irritierten die Schar der Kunstkritiker. In ihren Rezensionen sprachen sie von einer „Entwicklung in die falsche Richtung“, „per astra ad aspera“. Der Preis zerfiel. Der Markt wandte sich ab.

 

 

12

In diesem Moment kam die Nachricht aus Russland, Babuschka sei schwer krank. 

 Ana atmete in ihrem Kummer fast auf und fühlte sogleich die Sehnsucht, an Babuschkas Busen zu weinen und ihr, die sie von Kind auf verstanden hatte, ihre seelische Not zu erzählen. Sie machte sich mit den Eltern auf den Weg zurück nach Hause.

Am Bett der Großmutter angelangt, saß Ana mit einem wunden Herzen, das unter dem Gewicht schwerer Sorgen tapfer weiterschlug, und hatte Babuschkas Hand in der ihren. Beide atmeten schwer. Babuschka lag ihm Sterben, und Ana fühlte sich genau wie sie - in der Furcht, sie müsse nun mit einer abgestorbenen Seele weiterleben. Babuschkas Gesicht war trotz der schweren Stoßatmung friedlich, mit geschlossenen Augen; sie hatte ein Lächeln um die Lippen, kaum eine Falte war zu sehen.

 Ana sprach zu ihr und erzählte, wie sie als Kind neben der starken und mutigen Großmutter durch den Wald gegangen war, um Holz zu suchen, und wie sie plötzlich mit einer Rotte Wildschweine konfrontiert worden waren, die ihre Köpfe heruntergenommen und gefaucht hatten; und wie, nur durch die ruhige und feste Stimme der Großmutter, die mit ihnen sprach, die Tiere abdrehten und das Weite suchten. Babuschka lächelte und öffnete die Augen.

 Sie sah den Kummer in Anas aschfahlem Gesicht, hob ihre Arme und bat Ana, sich zu ihr zu neigen, damit sie sie in den Arm nehmen könne. Ana legte vorsichtig ihr tränennasses Gesicht an Babuschkas Busen und brach in Schluchzen aus. Unendlich lange, so schien ihr, blieb sie in dieser tröstlichen Umarmung. Babuschkas Brust hob und senkte sich flacher und immer seltener, und als Großmutters Arme zurückfielen und ihre Umarmung sich langsam löste, bemerkte Ana, dass sie gestorben war. Ana hatte von ihr die Kraft bekommen, den Kopf zu heben und ihre Energie in sich aufzunehmen. 

Sie blieb an ihrem Totenbett sitzen und dachte an die vielen Verluste, die Babuschka überlebt hatte, an die vielen Male, an denen sie neu anfangen musste, meist in vollkommener Armut und ohne Mittel. Ana fühlte in sich Babuschkas Mut und ihre Unverzagtheit. Die Tränen versiegten.

 Am Grabe versprach sie ihr leise, dass sie sich nie mehr werde den Schneid abkaufen lassen, dass sie nie wieder zulassen werde, dass ein Anderer ihre Seele verletzt; sie fühlte die Kraft in sich wachsen, den Todeskampf ihrer Geschichte mit Christof zu beenden.

 

 

13

Nach den Wochen der Trauerrituale in ihrer Heimat – die Raum geben für ein langsames Ablösen des Verstorbenen von seinen Hinterbliebenen – kehrte Ana nach Deutschland zurück.

 Der Anrufbeantworter quoll über von Nachrichten, lauter schlechten Nachrichten.

 Die Galeristin hatte zweimal angerufen und in nervösem Ton moniert, Ana solle sich endlich melden. Beim zweiten Mal sprach sie von Vertragslösung.

 Was Ana aber weit mehr mitnahm, waren die Aufzeichnungen, die Christof hinterlassen hatte. Zuerst hatte er nach etwa einer Woche ihrer Abwesenheit angerufen, sie „meine Kleine“ genannt; warum sie sich noch nicht gemeldet habe, sie sei doch sicher längst zurück. Dann nahmen die Anrufe an Fahrt auf; mehrmals täglich hatte er versucht, sie zu erreichen, vor allem nachts wurden seine Beschimpfungen immer wilder.

 „Du Weib!“, „wer glaubst du eigentlich zu sein?“, „gesichtslose Kunst-Hure“: So steigerten sich seine Beleidigungen. Beim Abhören steigerte sich im selben Maße Anas Klarheit.

 Sie hob den Hörer auf und wählte seine Nummer.

 „Ich höre.“

 „Ana.“

 „So, kann man zurück sein?“

 „Frau kann.“

 „Und?“

 „Ich trenne mich von dir.“

 „Warum?“

 „Wenn du willst, können wir später darüber sprechen, nicht jetzt. Es ist aber unwiderruflich.“

 Christof warf den Hörer auf die Gabel, genau so hörte sich das Drücken der roten Unterbrechungstaste an.Das war also alles gewesen! Ana stand da wie zu Eis erstarrt und amputiert, sie strauchelte fast. Sie musste sich setzen. Jetzt konnte nur noch Mozart helfen: „Voi che sapete, che cos’è l’amor“ („sagt, o ihr Frauen, die ihr sie kennt, sagt ist das Liebe, die hier so brennt?“). Musik kann heilen.

 

 

14

Der Galerievertrag gelöst, die Beziehung zerbrochen, das Atelier gekündigt: Ana machte sich auf Arbeitssuche. Ihr guter Name in der Kunstszene half ihr bei der Volkshochschule, die Durchführung eines Kurses in der Frauenakademie übertragen zu bekommen. Gleichzeitig lancierte sie bei ihren Freunden, die sie seit der Zeit mit Christof sträflich vernachlässigt hatte, das Angebot, Malkurse zu geben. Vier Frauen kamen zusammen, ein Scherflein für den Lebensunterhalt. 

 Trotz ihrer prekären finanziellen Situation fühlte sich Ana befreit und erleichtert, seit sie den Druck durch Christof nicht mehr aushalten musste. Das angebotene Gespräch, in dem sie ihm ihre Beweggründe darlegen wollte, unter anderem auch, damit er etwas daraus lerne, hatte nicht stattgefunden. Sie war ihm auch nicht mehr begegnet; der Besiegte kehrt nicht gern an den Ort seiner Niederlage zurück, und so war sie im Kreise ihrer alten Freunde unterwegs und mied Vernissagen. 

 Diese auf der ganzen Linie erfolgreiche Vermeidung von persönlicher und professioneller Auseinandersetzung mit der Kunst der Kollegen – vor allem eines Kollegen und seiner Kunst - gab Ana die Ruhe und Gelassenheit zurück, die sie in die Lage versetzten, sich wieder an’s Malen zu machen, in aller Bescheidenheit in ihrer kleinen Wohnung. So konnte sie sich nicht mit großen Formaten beschäftigen, sondern hatte nur eine kleine, beschränkte Fläche zur Verfügung, auf der sie die ersten Pinselstriche setzte: eine Rundung, eine Gegenrundung: ein Gesicht. Die so geformte, die so gerahmte Fläche blieb nicht lange leer. Bald schauten sie aus dem Bild ein Paar Augen an, lebendige Augen mit einer blaugrünen Iris, so tief wie der Ozean, mit Zeichnungen in den Facetten, die von Narben durch das Leben erzählten; aber mit einer Strahlkraft, die von einer Quelle hinter der Leinwand zu kommen schien. Sie schauten durch Ana hindurch in die Zukunft. Unter den Augen war noch eine dunklere Fläche zu erahnen, wie von versickerten Tränen. Die Nase wurde nur angedeutet. Um den Mund war Bitternis zu sehen, auch wenn die Lippen sich schon wieder nach oben bogen, mit Mühe und um die Augen nicht allein zu lassen. Das Kinn, mutig und entschlossen nach vorne gereckt, gab dem Gesicht die richtige Basis – einen Sockel wie aus Marmor, in seiner Rundung und Vorwärtsrichtung perfekt gemeißelt: das lebendige Vertrauen, der Urgrund der Klarheit, die nach oben steigen, allen Kummer auslöschen und durch Kraft ersetzen, durch Stärke, Liebe und Verständnis, durch Mut.

 Schon beim abschließenden Betrachten des Bildes teilte sich Ana die Wärme mit, die es ausstrahlte. Wo hatte sie eine solche Wärme schon einmal empfunden? Dann erst erfasste sie das Erstaunen: Sie hatte zum ersten Mal ein Gesicht gemalt, eine verinnerlichte Landschaft und den starken und überzeugenden Ausdruck einer Geschichte, die noch nicht zu Ende war.

Es war einmal

Thema:

"Mitten in der Nacht steht ein alter Schulfreund vor der Tür

und bittet darum, eine Tasche für ihn aufzubewahren."

 

Die Ehe ist zerbrochen. Der Scherbenhaufen scheint ihr unüberwindlich, voller verletzender und scharfer Spitzen; und so zeigt sich ihr kein anderer Weg, als die Flucht nach hinten anzutreten.

 

Karsten ist auf eine längere Geschäftsreise ausgewichen.

 

Sie sitzt nun in der stillen Wohnung im elterlichen Haus. Sie breitet sich in der plötzlichen Leere aus, entfaltet sich und merkt, welches Wohlgefühl von ihr Besitz ergreift; Balsam für die Seele, der ihr Mut macht, den Schritt hinaus aus der verfahrenen Lage zu wagen.

 

Sie zwingt sich, nun nicht mehr nachzudenken. Nur der Sprung aus dem Labyrinth, in dem sie in der letzten Zeit allzu häufig herumgeirrt ist, ist ihre Rettung. Die lange und quälende Analyse ihrer Gegenwart, in Spiralen sich hochschraubend, ist schonungslos geraten und hat sie waidwund geschlagen.

 

Sie hat in den letzten Tagen eine kleine Wohnung gefunden, in die sie sich nun flüchten kann, um ihre Wunden zu lecken.

 

Nun heisst es, keine Kraft zu verschwenden. Sie muss aktiv werden, ihre Habseligkeiten zusammensuchen; muss überlegen, welches der Bücher, welches Bild ihr gehört und wichtig für sie ist. So viel hat sich angesammelt, die Gewohnheit hat die Dinge für sie in’s Off gerückt, sie sind zur Staffage verkommen; das Gefühl des fremdgesteuerten Gleitens von einem Tag zum anderen, trügerisch in eine bequeme Kuhle gebettet, kommt ihr nun bitter vor. Am Ende hat sie nur noch vegetiert.

 

Jetzt gewinnt sie einige Tage Zeit, um sich langsam durch die blutigen Fetzen ihres Lebens durchzuwühlen.

 

Kleider, Geschirr, die Dinge des täglichen Lebens sind schnell eingepackt.

 

Sie steigt in den Keller und öffnete den Schrank, in dem sie all die Dinge eingeschlossen hat, die irgendwann in ihrem Leben wichtig gewesen waren, im Laufe der Zeit aber die Bedeutung verloren hatten. Sie hatte es nicht über’s Herz gebracht, sie wegzuwerfen. Es waren die Stationen ihres Kreuzwegs.

 

Zuerst stößt sie auf Päckchen von Briefen, mit je einer farbigen Schleife zusammengebunden. Sie muss lachen: Das waren die ‚großen Lieben’ ihrer Jugend; jetzt sieht sie, dass Liebe im Plural deren Hinfälligkeit bedeutet. Eines dieser Päckchen sind Karsten’s Briefe; welcher Irrwitz ! Sie bekommt eine Gänsehaut.

 

Sie feuert den Kaminofen an und legt das erste Päckchen in die Flammen. So dicht gepackt, hat das Feuer Mühe, mit den gedrängten Gefühlen fertig zu werden. Sie muss also die Schleifen lösen, die Briefe aus den Umschlägen nehmen und einzeln zerknüllen. So brennen sie lichterloh. Das zwingt sich zu lächeln : die Flammen der Liebe. Anfangs liest sie noch diesen und jenen Brief. Die Wehmut nimmt überhand, so zerknüllt sie die Zeugen vergangener Gefühle wie eine Maschine.

 

Der hölzerne Nussknacker, den sie einst in den ersten Jahren ihrer Berufstätigkeit von einer Dienstreise nach Russland mitgebracht hat, wird ein Opfer der Flammen. Die Matrjoschka, Sinnbild der ständigen Erneuerung und der Suche nach dem Kern, packt sie in ihren Koffer.

 

Ein arg zerliebter Plüschbär sitzt auf einer Tasche und blickt sie mit seinem einen verbliebenen Auge aus dem abgewetzten Gesichtchen neugierig an. Sie bringt es nicht über’s Herz, ihn in den Müll zu werfen.

 

Sie gräbt tiefer.

 

‚Was ist denn das?’ Die alte Tasche kommt ihr nicht bekannt vor. Sie erinnerte sich noch nicht einmal mehr, dass sie je eine solche Tasche besessen hat.

 

Beim Herausheben aus dem Schrank wundert sie sich, wie schwer sie ist. Der Reißverschluss klemmt.

 

Als sie die Tasche endlich geöffnet hat, findet sie darin als erstes einen mittlerweile völlig veralteten Reiseführer für Paris.

 

Paris. Da klingelte etwas. Mit 18 Jahren war Paris ihr Traum gewesen. Sie hatte mit Sven, ihrem Schulkameraden und ersten Freund, beschlossen, nach Paris abzuhauen, wenn einer von ihnen das Abitur verhageln sollte. Sie waren verliebt gewesen, das Leben eine einzige Herausforderung. Die Welt schien voller Wunder, in die sie Hand in Hand hineingehen wollten. Sie blickten genau in die Sonne.

 

Sven also, die Tasche ist von Sven. Was wohl aus ihm geworden ist ?

 

Kurz vor der Abschlusspüfung war er ihr richtiggehend entglitten. Es begann damit, dass sie keine gemeinsamen Themen mehr fanden, über die sie sprechen konnten. Alles, was für sie so wichtig war, traf bei ihm auf taube Ohren. Ihn trieb anderes um. Sie verstand es nicht. Er entzog sich ihr, hatte andere Freunde, die er ihr nie vorstellte und über die er nie sprach.

 

Sie sahen sich immer weniger, am Ende bekam sie ihn nur während der Schulstunden zu Gesicht. Als die Klasse nach dem Abitur auseinanderlief, ein Jeder in sein eigenes Leben, war er für sie verschwunden.

 

 

Dann erinnerte sie sich daran, dass nach Jahren Sven eines Abends vor ihrer Tür gestanden hatte, als sie gerade frisch verheiratet war. Wie aus dem Nichts. Das war mehr als 30 Jahre her. Er hatte atemlos gewirkt, sich – unter der Außenbeleuchtung stehend – häufig umgeschaut. Er hatte sie inständig gebeten, die Tasche für eine gewisse Zeit für ihn aufzubewahren. Er habe gerade eine Menge Trubble.

 

Ihr war damals nicht klar gewesen, welche Probleme das hätten sein können.

 

Jetzt, im Abstand, fällt es ihr wie Schuppen von den Augen.

 

Natürlich hatte sie gewusst, dass Sven sich über die Gerechtigkeit in der Welt Gedanken machte, politische Schlussfolgerungen daraus zog und am Ende ganz klare Forderungen stellte, die unter den Klassenkameraden auf wenig Verständnis stießen.

 

Seit dieser Zeit war er auch für sie nicht mehr richtig erreichbar gewesen, hatte sein Interesse an gemeinsamen Tanzereien und Discobesuchen, an Spaziergängen, Sport und einfachem Herumhängen verloren. Und so war ihre Freundschaft auseinandergelaufen, was sie damals sehr bekümmert hatte. Denn dieser nachdenkliche Junge hatte es ihr von Anfang an besonders angetan.

 

Ein paar Tage nach dem Einschließen der Tasche in ihrem Kellerschrank hatte sie von einer Razzia gegen Linke und Sympathisanten gelesen.

 

Sie hatte das damals nicht in Zusammenhang mit Sven gebracht. Er aber hatte sich nie mehr gemeldet.

 

Sie gräbt weiter in der Tiefe der Tasche und fördert Dokumente zutage, Besprechungsprotokolle, Anleitungen und Personenlisten. Darunter ein Plakat des Che, Mao’s Bibel und ein kleiner Gedichtband von Jack Kerouac.

 

Am Boden findet sie gefährliche Fracht: zehn gefüllte Flaschen „Plzeňský Prazdroj“, vorbereitete Stoff-Fetzen und eine Tüte mit kleinen bräunlichen Brocken. Stoff, anderer Stoff.

 

Ein Stoff für eine Geschichte ?

Impressum

Bildmaterialien: Coverfoto Albrecht E.Arnold by pixelio
Tag der Veröffentlichung: 27.02.2015

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