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Vernazza, turmbewehrter Ort, eines der Dörfer der Cinqueterre, Bastion gegen die Sarazenen, mittelalterliche Häuserkulisse, der Kanal bedeckt mit einer Zementdecke, aufgemotzt zur Flaniermeile.


Die Reiseführerin ist als erste aus dem Zug gestiegen, hat ihren gelben Schirm aufgespannt und wartet jetzt, mit katzengleicher Geduld, auf ihre „Schäfchen“, die einzelnen Komponenten der Touristengruppe, vornehmlich aus Rentnern zusammengesetzt und aus aller Herren Länder gekommen, die sich jetzt aus dem Zug auf den Bahnsteig stürzen.

„Vernazza“ tönt es aus dem Lautsprecher.

„Vernazza“ wiederholt die junge Frau. „Ich führe Sie nun durch das Dorf. Auf dem Rückweg haben Sie Gelegenheit, Wein zu probieren und Shopping zu machen.“ Anerkennendes Murmeln und der Griff nach der Geldbörse, die hoffentlich nicht verlustig gegangen ist während der kurzen Zugfahrt.

„Sie sehen hier zwei Türme. Sie wurden errichtet, um die Ankunft der Sarazenen zu melden, Piraten, die 500 Jahre lang das Mittelmeer terrorisierten.“

‚Wir terrorisieren ja nicht.‘

„Die Sarazenen waren sehr behende Kämpfer. Sie rekrutierten sich aus der Bevölkerung der Anrainer des östlichen und südlichen Mittelmeers und machten in diesen Dörfern hier Gefangene, sie steckten die Männer als Ruderer auf ihre Galeeren und die Frauen in ihre Harems. Ein halbes Jahrtausend dauerten ihre Attacken. Heute ist in einem dieser Türme ein Restaurant, auf den anderen können Sie steigen, um das wundervolle Panorama zu besichtigen.“ Viva il turismo, vivano i saraceni moderni.

„Sie haben jetzt eine halbe Stunde zu Ihrer freien Verfügung. Wir sehen uns um 14.13 Uhr auf dem Bahnsteig des Zuges nach La Spezia.“

 

Giovanna


Giovanna lebte seit 81 Jahren. Sie war in Vernazza geboren, aufgewachsen, erwachsen geworden; als Ehefrau und Mutter hatte sie die schönste Zeit ihres Lebens dort verbracht.

Die großen geschichtlichen Katastrophen hatte ihr Dorf nur wenig tangiert. Natürlich waren die Männer in Uniform in den Krieg gezogen und ihre Brüder hatten bei den Partisanen gekämpft; ganze Familien wurden dadurch für Generationen auseinandergerissen, viel Ererbtes verfiel, weil sich die erbenden Brüder nicht einigen konnten.

Bald nachdem die Kinder aus dem Haus gegangen waren, um ihr eigenes Leben zu beginnen, war ihr Mann gestorben. Sie hatten gerade wieder begonnen, ein altes Liebespaar zu werden, hatten sich gemeinsam gegen das Alter angestemmt und – so gut es ging – die Weinfelder und Olivenhaine bearbeitet, mit den aus der Urzeit überkommenen Harken und den von den Großeltern erlernten Techniken.

Nun schlug sie sich allein durch. Von ihrer kleinen Rente konnte sie einmal in der Woche einen Fisch oder ein Stückchen Fleisch kaufen, um ihr Mahl, welches aus Spaghetti und dem im Garten gezogenen Gemüse bestand, feierlich aufzubessern.

Als kleines Mädchen hatten alle sie „Giovannina“ gerufen. Als junge Frau legte sie Wert darauf, „Giovanna“ genannt zu werden. Jetzt hatte sie nichts dagegen, dass sie wieder „Giovannina“ geworden war – wenn sie so gerufen wurde, klang immer etwas Liebe und Achtung mit.

Sie tat, was sie konnte, im Haushalt und im Garten. Ihre Kraft wurde langsam weniger, längst hatte sie sich mit dem Tod angefreundet als einem Erlöser. Ihr Leben stand wie ein Kunstwerk vor ihrem inneren Auge, ein Kunstwerk aus Würde und harter Arbeit.

Ihr Dorf hatte sich in den letzten Jahren verändert. Im Winter war es noch ein bisschen so wie früher; im Sommer fielen die Horden der Touristen ein, ausgespuckt von Zügen und Schiffen. Mit Eile und Neugier streiften sie durch das Dorf und verweilten vor den Geschenkeläden, erlaubten sich eine Pizza und einen Cappuccino (mittags!), hinterließen eine Menge Müll und quetschten sich wieder in Züge und Schiffe, um zu verschwinden.

Zur Sommerszeit blieb sie gerne zuhause und vermied, sich in’s Getümmel zu werfen.

Ihre Freundinnen – noch aus der Schulzeit – waren nach und nach alle gestorben. Sie war allein zurückgeblieben. Die schlechten Augen und die tauben Ohren sorgten dafür, dass sie sich immer mehr in sich zurückzog.

Der Bogen ihres Lebens nahm eine harmonische und perfekte Rundung an. Sie war gespannt auf das große Finale. Keinen Augenblick zweifelte sie an den schönen Versprechungen, die sie zeitlebens vom Tod gehört und in sich bewahrt hatte.

Paolo


Paolo war im besten Mannesalter. Er hatte sich ein kleines Geschäft aufgebaut, in dem er den Sommer über Geschenke und Mitbringsel zum Verkauf anbot. Das Geschäft ging einigermaßen gut, denn sein kleiner Laden lag an einer Stelle, an der die Gasse sehr schmal wurde und der Strom der Touristen sich verlangsamte. Damit wanderten die Blicke der gebremsten Vorbeieilenden in seine Auslage und manch eine der Frauen teilten ihrem gestressten Begleiter mit, dass sie für Tante Nina etwas Schönes gefunden habe.

Paolo wusste genau, dass das Mitbringsel alsbald auf dem Müll landen würde, spätestens wenn Tante Nina bei der nächsten Reise einen Palasthund antiquarischer und frischpatinierten Provenienz aus Bali als Gartenzwerg
-Ersatz mitgebracht bekäme. Aber so brummte wenigstens der Laden. Er konnte das mit Humor sehen. Im Winter konnte er sich von der Anstrengung erholen, die es ihn kostete, Tag für Tag mit guter Laune seinen Schund zu verkaufen. Im Winter war sein Laden geschlossen; bei den wenigen Touristen, die nicht auf Sonnengarantie pochten, lohnte sich der Aufwand nicht.

Sergio


Schräg gegenüber, durch eine kleine Treppe zu erreichen, lag die Eisdiele von Sergio. Auch er profitierte von der Engstelle in der Gasse. Die wartenden Passanten gerieten in’s Schwitzen und wünschten sich ein Eis, das er alsbald kunstgerecht in der Waffel auftürmte und mit einem Scherz über die Theke reichte.

Seinen Laden und all die Produktivität darin sah er als Kunstwerk. Er war der Meinung, dass Kunst sich nicht in Gemälden, Gedichten, Musikstücken erschöpft, sondern dass ein – wenn auch bescheidenes – Leben ein einziges Kunstwerk werden könne, würde es nur mit Bedacht und Andacht gelebt. Jahrelang hatte er an den Eisrezepten getüftelt. Jeden Morgen fuhr er in aller Frühe zum Markt und besorgte das Obst, das, mit kundigem Auge und sanftem Finger geprüft und an seiner eindrucksvollen Nase vorbeigeführt, seinen Kreationen Farbe und Geschmack verleihen sollte.


Jetzt war der Herbst gekommen. Die Saison war ergiebig gewesen, das Tourismuskonzept des Nationalparks 5Terre war aufgegangen. Im Respekt für alles, was die Alten aufgebaut hatten, konnten sie sich jetzt ein Leben einrichten, das als lebenswert gelten konnte.

25.Oktober 2011.


Eine Warmfront schiebt sich von Süden her auf die kalte Luft, die über dem Meer liegt.

Die warme Luft kommt aus Nordafrika und hat sich über dem Meer mit Wasser vollgesogen. Als sie auf das Küstengebirge trifft, muss sie steigen und gibt ihr Wasser ab. Über 400 Liter/m², eine für Menschen unvorstellbare Menge, und das in dreieinhalb Stunden. Sie sprechen von ‚Sintflut‘, von ‚Apokalypse‘. Das Wasser und die darin mitschwimmenden Felsbrocken, toten Bäume und Autos, das der überdachte Kanal nicht mehr kanalisieren und transportieren kann, bahnt sich seinen Weg oberhalb der Zementabdeckung und verschüttet das ganze Dorf mit 13 m Geröll und Schutt.

Auf dem obersten Plätzchen des Dorfes, genannt ‚fontana veccia‘, hat die schwarze Limousine des Bestattungsinstituts geparkt und wartet auf den Sarg - der zur Zeit in der Kirche am Hafen aufgebahrt ist, in der der Trauergottesdienst stattfindet - , um ihn dann zum Friedhof zu fahren. Der schwarze Wagen mit den verhängten Fenstern wird erfasst und vom Strom mitgerissen. An der ersten Engstelle verkeilt er sich und staut die Fluten für einen Moment auf. Die Sanitäter der Rettungsfahrzeuge ergreifen die Chance, ihre Fahrzeuge in Sicherheit zu bringen – sie fahren sie über den Schutt auf die Rampe zur Frühstücksterrasse des gegenüberliegenden Hotels „Il Sorriso“. Gerade so lange hat der Leichenwagen die Fluten aufgehalten, dann donnert er weiter durch das Dorf und stürzt in’s Meer.

Die Menschen flüchten in‘s erste Obergeschoss und von hier aus durch‘s Fenster in’s Freie, in die tobende Urmacht.


Die kleine Filiale der Bank, mit zwei Mitarbeitern besetzt, ist eine Festung, mit ihrer Sicherheitstür und ohne Fenster. In wenigen Augenblicken ist die Tür von Geröll verschüttet, es wird dunkel, der Strom fällt aus. In der ehemaligen fünf Meter hohen Schreinerwerkstatt war ein Zwischenstock eingezogen worden, dieser obere Raum dient als Archiv. Die beiden Bankangestellten flüchten hier hinauf und schreien durch einen kleinen Lichtschacht um Hilfe. Alle hören sie, keiner kann es wagen, auf die ehemalige Straße zu treten. Sie werden erst nach 24 Stunden der Todesangst befreit.


Im Ristorante an der Piazza sitzen ein Dutzend Gäste und schmausen. Sie fühlen sich in der anheimelnden Wärme des knisternden Pizza-Holzofens wohl und werfen dann und wann einen Blick zur Tür. Plötzlich ist diese dunkel, das Glas wird eingedrückt, die Wasser- und Geröllmassen dringen in den Gastraum und spülen alles Inventar hinaus. Der junge Kellner drückt mit der Pizzaschaufel eine Wand ein; alle können sich durch das Loch in’s angrenzende Treppenhaus retten und flüchten in die oberen Stockwerke.


13 amerikanische Touristen sind an ihrem Tag a libera disposizione ohne ihren Reiseführer im Zug nach Vernazza gefahren.

Schon auf der kurzen Strecke zwischen den Eisenbahntunneln haben sie die Sintflut gesehen; der graue Himmel hat sich in einer Wasserfront mit dem Meer verbunden, eine Windhose dreht sich auf das Land zu.

In Vernazza steigen sie aus dem Zug und hören ein dumpfes Grollen. Der Bahnsteig rumort wie von einem Erdbeben geschüttelt, die Geröllmassen schieben sich auf sie zu.
Der Bahnbeamte stürzt aus seinem Schalterraum heraus und erkennt die Lebensgefahr. Er führt die Gruppe in den am Ende des Gleises beginnenden Eisenbahntunnel, dessen nächste kleine Öffnung auf die Treppe zur Kirche führte. Hier sind sie vor der Geröll-Lawine sicher.

Da sie am Pfarrhaus vorbeimüssen, um sich in Sicherheit zu bringen, ruft er den Pfarrer, Don Giovanni, heraus und übergibt die Gruppe seiner Obhut.

Dieser greift nach dem großen Kirchenschlüssel, stürzt sich die drei Stockwerke auf die Gasse und führt seine nassen Schäfchen in den romanischen Kirchenraum, der wie eine Festung zwischen den tobenden Gewalten steht und nicht wankt.

Als er sie in Sicherheit weiss, steigt Don Giovanni hinauf in sein Pfarrhaus, plündert den in seinem Zölibat nicht gerade üppig ausgestatteten Kühlschrank und die Brotkiste, kocht eine große Kanne heissen Tee, schnappt sich eine Kiste Mineralwasser und bringt alles in den Kirchenraum, wo die amerikanischen Gäste auf den Bänken sitzen und schlottern.

Beherzt schließt er die Sakristei auf und holte die Gewänder der Messdiener – die den Frauen passen – und seinen Priesterornat für die stämmigeren Männer heraus. Die nasse Sportkleidung wird ausgezogen und über die Lehnen der Kirchenbänke gehängt, die Mitglieder der festlichen Gemeinde spenden sich gegenseitig Trost, sprechen sich Mut zu und rücken nahe zusammen, um sich unter den von Don Giovanni herbeigeschleppten Decken gegenseitig zu wärmen.

Als das Tageslicht langsam weicht, hört man hier ein Schnarchen, dort unterdrücktes Kichern über den ungewöhnlichen modischen Touch der verlorenen Erscheinungen, der auf einem fremden Kontinent gestrandeten Bewohner der gemeinsamen Arche Noah, genannt „unsere Erde“.


Am nächsten Tag werden sie über’s Meer evakuiert; die Kirche verwandelt sich nun in eine den Rettungsmannschaften dienende Lagerhalle für Toilettenpapier und Mineralwasser und in eine notdürftige Apotheke, denn auch diese ist von den Geröllmassen buchstäblich ausgeräumt worden.





Giovannina, Paolo und Sergio hatten versucht, sich an der Stelle in Sicherheit zu bringen, an der die Enge der Gasse die Urmacht potenziert. Sie werden erfasst und mitgerissen, nach wenigen Metern im tobenden, sandbraunen Meer untergemengt.

Tagelang suchen zwei Taucher nach ihnen.


Auf dem Meer, das sich beruhigt hat, schwimmen am nächsten Tag ganze Wälder toter Pinien und entfernen sich langsam nach Westen.


Nach 11 Tagen werden drei Leichen am Gestade nahe St.Tropez angeschwemmt, 260 km von Vernazza entfernt.

Sie haben ihre letzte Reise gemeinsam gemacht, sich von den Urgewalten nicht trennen lassen.





Impressum

Texte: Copyright bei der AutorinCoverfoto: Andrea und Helmut Korb
Tag der Veröffentlichung: 14.11.2011

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Meinen Mitbewohnern von Vernazza gewidmet

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