Ich wurde zur Teilnahme am 1.Turnier der ‚Kurzgeschichten-Wettbewerbe‘ eingeladen. Dafür bedanke ich mich. Das Schreiben der Kurzgeschichten zu einem jeweils zum Start von der Moderatorin vergebenem – gegebenem, vorgegebenem - Thema war aufregend, die Woche der Abstimmung vor Spannung kaum zu ertragen. Schnell fantasierte ich mich in’s Fieber: Turnierfieber.
Nach der zweiten Runde fiel ich aus dem Turnier.
Die Geschichten sind bei BookRix – kg.wettbewerbe - anonym eingestellt und wurden, neben den Abstimmungspunkten, an Ort und Stelle mit Herzen und Kommentaren versehen, die ich leider nicht in dieses Buch herüberladen kann.
Ich war Spieler 7 und 24.
Ich stelle der Vorstellung meiner Beiträge jeweils eine während des Wettbewerbs nicht beigefügte Einführung voraus.
In dieser Runde wurde ich vom Schicksal in die Arena geführt, ein Zirkuszelt ohne Artisten, und hatte mit einem Katzenmärchen zu tun, voll von Spinnweben in einer alten Mühle, wo gespensterhaft eine alte Frau auftauchte, bevor sie in die ewigen Jagdgründe abhob. Tier- und insbesondere Katzengeschichten sind immer für Punkte gut, denn sie erfreuen die Gemüter, die sich an der Schlichtheit der Tiere ergötzen; solcher Tiere, die aus der Natur herausgeschält, aus dem Reich der Fabel vertrieben worden sind - dem Paradies, in dem sie uns Menschen an Raffinement und Klugheit, aber auch an Boshaftigkeit, zumindest ebenbürtig sein durften. Diese Geschichten berauben die Tiere ihrer wilden Natur und würdigen sie herab zu besseren Menschen, zum Surrogat eines Freundes. Katzen aber sind magisch...
Wir googeln uns nach Deutschland und zoomen uns dort nach „Klein-Venedig“, ein Städtchen in idyllischer Lage, von plätschernden schmalen Flüsschen durchzogen, erstmalig urkundlich erwähnt im 8.Jahrhundert.
Im Zentrum befinden sich gottlob noch einige Fachwerkhäuser, die, von den Phosphorbomben des 2.Weltkrieges verschont und heute liebevoll saniert, zu Schmuckstücken eines urbanen Lebens geworden sind.
Über die schmalen Kopfsteinpflasterstraßen blickt man dem Nachbarn auf den Esstisch und – wenn er die Vorhänge nicht zuzieht oder gar aus Überzeugung keine hat – direkt in das wollüstige Zentrum des Hauses, das Schlafzimmer.
Abends flimmert bläuliches Licht im Wohnzimmer, hie und da begleitet von Schreien und Schüssen. Brunftschreie wilder Tiere klingen über die Straße, wenn der Fernsehzuschauer sich hat in tropische Welten entführen lassen.
Das aus den Fenstern dringende musikalische Angebot ist vielfältig und abwechslungsreich und taucht uns ein in die unterschiedlichsten Ethnien, seien sie nun bajuwarischer, preußischer, arabischer oder schwarzafrikanischer Herkunft, oder auch gekommen über den großen Teich direkt aus den USA, unserem Verbündeten und großen Bruder: Jazz, House, Lady Gaga.
Eine weitere geschichtliche Besonderheit hat den Umgang der Menschen miteinander geprägt – die stolze Reichsstadt ist, samt ihrer gotischen Kathedrale, früh zum lutherischen Glauben übergelaufen; der Protestantismus hat seit Jahrhunderten dafür gesorgt, dass sich die Nachbarn kritisch beobachten und jegliches Tun und Lassen nach den Kriterien der Wohlerzogenheit abwägen und kommentieren. Vorbei der barocke, überschwängliche Lebensstil, der Genuss in vollen Zügen – selbst die barocken geschnitzten Holzfiguren bewegter Säulenheiliger sind zur Zeit der Reformation aus der Kathedrale geflogen; deren Steinpodeste an den mächtigen Rippenpfeilern sind bisher leer geblieben.
Die Vorhänge an den kleinen Fenstern sind zum wichtigen Attribut der heimlichen Beobachtung von Nachbar’s Lebenswandel geworden, das im Fensterrahmen platzierte Kissen zur Schonung der Ellenbogen ein volantbestücktes Accessoire für den unverstellten Blick „auf die Gass‘“.
Unser Nachbar Franz Heiligmaier bewohnt das Erdgeschoss eines solchen Fachwerkhauses, dessen Rückseite mit einem kleinen Gärtchen geschmückt ist; daneben plätschert der Fluss. Franz Heiligmaier, ein Mann um die 50, groß, schlank und mit muskelbewehrten Oberarmen, ist im besten Mannesalter. Sein cäsarenartiger, runder Kopf mit der markanten Nase ist von einem grauen Kreis kurzer Haare gekrönt , seine Gesichtszüge sind eher weich mit strahlend blauen Augen und einem schönen Mund, das Kinn stets akribisch rasiert. Blue Jeans, Lederjacke, ein buntes Shirt mit abenteuerlichem Aufdruck, an den Füßen winters Cowboystiefel und im Sommer Mokassins: Er ist ein schöner Mann. Den jungen Mädchen gefällt seine offene und unkonventionelle Art und – nicht zuletzt – seine warme und rauchige Stimme.
Als berühmter Jazzmusiker heißt er Harry Gardener. Das gibt dem ganzen Mann noch eine weitere Dimension: dass er frenetisch Schlagzeug spielen kann und berühmt ist.
Er hat einen Kellerraum umgebaut, die Wände mit Eikartons tapeziert, sein Schlagzeug aufgebaut, seine Percussion-Instrumente - von der Mundorgel bis zum brasilianischen Kürbis, vom Tamburin und Glockenstrang bis zu den Schellenfesseln für die Füße – ringsum in Reichweite verteilt und übt und übt: stundenlang, tagelang, wochenlang, nur von den Essenszeiten und den Stunden für den nachmittäglichen Schlaf unterbrochen. Zur Abendzeit breitet sich Stille im Viertel aus.
Seine Anwesenheit ist schon von Anfang an mehr eine akustische als eine sichtbare. Die Nachbarn akzeptieren das – manchmal mit Murren -, hören und wissen sie doch, dass er arbeitet, hart und körperlich, und dass er dem lieben Gott nicht den Tag stiehlt. D a s wäre nicht akzeptabel gewesen.
Ein Straßenfest wird geplant. Die Frauen denken sich das kulinarische und das Unterhaltungs-Programm aus; Grillzubehör und die fleischlichen Genüsse, Schweinshaxen, Brutzler usw. zum Drauflegen - kein großes Problem und schnell entschieden. Zur Unterhaltung soll Harry Gardener spielen, das in der Nachbarschaft gesammelte Geld dürfte sogar für einen zusätzlichen Gitarristen reichen. Die Männer werden angespitzt, um mit Franz Heiligmaier zu sprechen, ihn zu engagieren und den Preis auszuhandeln.
Er bittet die Vertreter der Nachbarschaft herein, bietet ihnen Platz auf Sesseln und Sofa an, geht zum Kühlschrank, öffnet die Kronkorken mit einem Messer und reicht einem Jeden eine Bierflasche. Unter Männern ist alles schnell entschieden und besprochen; es bleibt sogar noch Zeit, ein paar deftige Witze zu erzählen, bevor sich die Abordnung wieder auf den Weg nachhause macht. Die Frauen warten schon lüstern und wollen alle Details der Wohnungseinrichtung wissen; ihre Männer müssen jedoch diesbezüglich jede Antwort schuldig bleiben.
Das Straßenfest wird ein voller Erfolg. Harry Gardener spielt nicht nur, er singt auch mit seiner schönen Stimme, gleichzeitig rauchig und schmelzend, und bietet von Belcanto bis zu Jodlern alles dar, was das Herz begehrt. Es wird geschunkelt und zu „Ich muss noch schnell die Welt rett‘“ mitgegröhlt. Die Männer haben, voll des süffigen Bieres, schnell schwere Beine bekommen und sind zu keinem Tänzchen mehr zu bewegen; so wirbeln die Frauen im Rock’n Roll über das Pflaster und schmiegen sich beim Blues an die Flanke ihres Herzallerliebsten.
Harry Gardener steigt von der Bühne und mischt sich als Franz Heiligmaier unter das fröhliche Völkchen. Wo er sitzt wird bald gelacht, und so wird ein Witze-Turnier ausgerufen, das nach dem k.o.-System funktionieren soll.
Es melden sich sieben Männer und eine Frau, die mutig in den Ring steigen wollen. Da die Erzählkünste der einzelnen Kämpfer sehr unterschiedlich sind, blieben nach zwei Vorrunden die Frau und – zufällig – ihr eigener Ehemann übrig, die sich das Finale liefern. Man munkelt, sie haben zuhause seit Jahren heimlich trainiert.
Die Frau wählt einen Witz in King Size-Format mit verwickelten Umwegen, die lange im Unklaren lassen, worauf die Pointe hinauslaufen soll. Ihre Formulierungen sind dabei sehr spitzfindig und geradezu sensibel. Die endlich als Erlösung präsentierte Pointe ist inhaltlich mehr als deftig, aber fein verpackt. Ihr Gegner und Ehemann kann ihr den wohlverdienten Sieg nicht mehr rauben.
Beide gehen lange nach Mitternacht, gebeugt von einem ausgewachsenen Ehekrach und auf schwankenden Beinen, nach Hause.
Franz Heiligmaier sitzt mittlerweile auf der Bierbank inmitten eines Frauenzirkels. Die Damen sind allesamt sehr emanzipiert und berufstätig; sie haben bezüglich ihrer Amouren eine harte Schule durchgemacht und meistens draufgezahlt, wenn nicht gar Schiffbruch erlitten. Mit Franz können sie wunderbar besprechen, welche seelischen Kümmernisse sie im Moment bewältigen müssen. Und nicht nur das: Auch die besonderen, geschlechtsbezogenen psychosozialen Ungerechtigkeiten in der Arbeitswelt finden bei ihm Gehör und Verständnis und ein mitfühlendes und sensibles Ohr. Franz ist ein hervorragender Zuhörer, und vor lauter ‚und bei mir, und bei mir‘ fällt Keiner auf, dass er nie von sich selbst spricht.
Rätselhaft aber bleibt den Nachbarn – diesem mehr, jenem weniger – die Tatsache, dass in Franzens Haus und darum herum nie eine Frau gesichtet worden ist.
Bei den Männern brechen eher Urängste aus der homoerotischen Ecke hervor, die Frauen entwickeln im Zwiegespräch andere Theorien und glauben an eine große Enttäuschung oder an einen unausgestandenen Mutterkomplex, vielleicht den des Ödipus.
Es fehlt nicht an Nachbarinnen, die es auf sich nehmen wollten, hier tiefer nachzubohren, unter Umständen unter Einsatz von Leib (und Leben ?). Strategien, öffentlich vorgetragen oder ihm geheimen Herzenskämmerlein vergraben, schießen in’s Kraut.
Franz entzieht sich allem und bleibt einige Tage in strenger Klausur im Keller; die Schallkulisse ist eine heftige, wütende, und breitet sich über den ganzen Tag und bis an die Grenze der nachtschlafenden Zeit aus, ohne Pausen.
Erst im Mantel der stillen Nacht wagt die eine oder andere der Nachbarinnen, nachdem sie sich mit einem Gläschen Likör Mut gemacht hat, ans Franzens Tür zu klopfen, um endlich ihrer Neugierde Herr zu werden. Auch träumt sie davon, den Schleier des Geheimnisses zu lüften und mit diesem zarten Gewebe den Tanz der Salome darzubieten, endend in erbarmungsloser Nacktheit, vom heruntergedimmten Tischlampenlicht in ihrer Grausamkeit abgemildert. Keiner der tapferen Conquistadorinnen soll jemals ihr Traum in Erfüllung gehen.
Der Platz auf dem Kissen im Fensterkreuz ist von dieser und jener Nachbarin sowieso nie verlassen worden. Und so werden sie freiwillige Zeuginnen der nächtlichen Frustrationen ihrer Geschlechtsgenossinnen. Da mittlerweile der Sommer in all seiner Pracht gekommen ist, gibt es genügend Gründe, bis nach dem 12 Uhr-Läuten dort zu verweilen und die Kühle der Nacht als Balsam für die Seele zu genießen.
In einer solchen Nacht ist der Mond von einigen Wolken verschleiert, die von einem nicht niedergegangenen Gewitter übriggeblieben sind, und die Ereignisse rings um die Häuser sind nicht recht zu sehen. Weder die Lese- noch die Gleitsichtbrille kann da helfen.
Umso mehr kommt es den nächtlichen Beobachterinnen vor, als ob rings umher Schatten in Bewegung seien und lautlose Gestalten wie Faune und Feen ihr Unwesen trieben. Vom ungeduldigen Umherschauen bekommen sie allmählich schon Kopfschmerzen, manch‘ Eine wälzte den Gedanken hin und her, den Beobachtungsposten aufzugeben und in die langweilige Ehekuhle, den ehemaligen Kampfplatz, zu schlüpfen, nicht ohne vorher einen Trosttrunk eingeworfen zu haben.
Kurz vor dem Rückzug ziehen die Wolken ab und der Mond wirft sein sanftes milchiges Licht auf Franzens Garten. Ein Schatten erscheint vor der Gartentür, dreht sich um und schließt ab. Mit ungelenken Schritten geht die Gestalt über das kleine blumenübersähte Wiesenstück, in der direttissima und im Schatten des Hauses. Aber: Dort ist doch kein Gartentörchen! Nur der Zaun.
Am Zaun angekommen duckt sich die Gestalt katzengleich etwas zusammen und springt ab. Sie legt eine perfekte Flanke hin, beide seidenbestrumpften Beine in der Hüfte rechtwinklig gestreckt und in vollkommener Parallele, die rechte Hand nur kurz am Zaunpfosten zur Stütze. Am Handgelenk blitzt und flimmert es wie tausend Diamanten, das Spiel der Oberarmmuskeln zeichnet sich auf dem Ärmel mit seinen herrlichen Paillettenmustern ab. Der Rock ist kurz, aus hellem Leder, und hat seitlich einen Schlitz, der das athletische Eingrätschen außerhalb des Gartens erlaubt. Schnell entfernt sich die Gestalt auf ihren hohen rotsohligen Louboutinschuhen; ihre blonde, fast unwirkliche Löwenmähne wallt bei jedem Schritt.
Das ist ein Sechser im Lotto, ohne Zweifel! Auch wenn eigentlich viele Fragen offen bleiben, ist doch diese kurze Szene ein märchenhaftes Erlebnis gewesen, das Frau Wehrle, die Nachbarin, nie mehr würde vergessen können. Mit wirren Gedanken und zwei Gläschen Zwetschgenlikör in den peristaltisch wogenden Darmabschnitten schleicht sie in’s Bett und findet keinen Schlaf.
Sobald sie die Augen schließt, werden die wunderbaren Bilder gespenstisch auf die dunkle Innenseite ihrer Lider geworfen, und ihr wird klar, dass sie nicht genügend Worte würde finden können, um das Gesehene zu beschreiben und ihr übervolles Herz irgendjemandem Anderen mitzuteilen.
Ihrem Mann schon gleich gar nicht! Der würde ihre Visionen dem übertriebenen Genuss des Likörs zuschreiben, vor dem er sie schon immer gewarnt hatte. Und er würde endlich einen Eindruck von ihrer Fantasie bekommen, wenn sie nur versuchte, das Geschehene mit dürren Worten zu beschreiben. Hier zog sie es vor, die große Unbekannte zu bleiben.
Den Nachbarinnen, die nicht ihre Freundinnen sind, kann und will sie es auch nicht erzählen. Sie würden ihr zuerst jedes Wort im Munde umdrehen und gegen sie auslegen; dann würde ihnen klar werden, was das Gesehene bedeutet, nämlich: dass ihre Träume ins Reich des Unerfüllbaren gehören. Durch die vielen Beobachtungsstunden am offenen Fenster hat sie einen lückenlosen Überblick gewonnen über die verschiedenen Pretendentinnen, die vergebens an Franzens Tür gekratzt hatten; es sind nicht wenige.
Sie fühlt sich allein und isoliert in ihrer Welt. Sie ist zwar eine praktische und patente Frau, steht mit beiden Beinen auf dem Boden der Realität, aber so ein bisschen Traumgewoge, etwas Schönes für’s Auge - Glitzer und Glimmer, Prinzen und Prinzessinnen - muss doch auch sein! Nur alle Jubeljahre gibt es eine Prinzenhochzeit, meist im strömenden Regen, die Armen! Und Lady Di ist tot.
Bevor die alte Trauer sie übermannen kann, macht sie einen Plan.
Wenn ihr Alter das nächste Mal auf Montage wäre, würde sie die Nacht abwarten, sich in graue Gewänder hüllen – eben so, wie immer – und der Gestalt, sollte sie sich wieder zeigen, in gebührendem Abstand auf dem baumbeschatteten Weg entlang des Flüsschens folgen, dessen Plätschern das Geräusch ihres ungelenken Ganges überdecken würde. Dann könnte sie sich wirklich ein Bild machen.
Bis dahin - so lange es auch dauern würde - soll alles ihr süßes Geheimnis bleiben. Natürlich müsste sie auch die Likörflasche im Keller einschließen, damit sich ihre Zunge auf keinen Fall löse. Verzicht ist das halbe Leben, vor allem, wenn man ein lohnendes Ziel hat.
„Am Montag muss ich auf Montage, richte mir meinen Koffer. Zwei weiße Hemden, die gute Hose, weiße Arztsocken, die braunen Sandalen.“
„Was? Und deine Arbeitskittel?“
„Ja, die natürlich auch, dumme Frage.“
Gesagt, getan.
„Du scheinst ja kein bisschen traurig zu sein, dass ich weg muss.“
Der Tag scheint sich endlos hinzuziehen, die Nachbarinnen schwelgen in ihrem Lieblingsthema; wenn die wüssten!
Sie spricht mit dem Schicksal, konferiert mit ihrem Schutzengel, setzt alle Hebel in Bewegung: die Gestalt möge heute Nacht erscheinen. ‚Einmal im Leben kann ich auch mal Glück haben!‘
In dieser Nacht ist nur eine schmale Mondsichel am Himmel, aber der Mond geht früh auf. Sie hat zwei Kissen in’s Fenster gelegt, damit sie keine Druckgeschwüre an den Armen bekommt. Die Turmglocke schlägt elfmal. Ein Nachtvogel fliegt auf und flattert davon. In Nachbar’s Garten hört man die Mäuslein fiepen.
Während sie an ihr Schicksal denkt, und die wenigen Momente des Glücks, die ihr im Leben vergönnt waren, Revue passieren lässt, knarrt es leise an der Gartentür. Moment: Ist die Gestalt erschienen? Ja, der hochaufgeschossene Schatten dreht sich und schließt ab. Die weitere Passage durch den Garten und über den Zaun kann sie sich heute sparen.
Sie greift nach dem grauen Überzieher mit dem fürsorglich in die Tasche gesteckten Hausschlüssel, eilt – ohne das Licht anzumachen - die Treppe hinunter und verlässt das Haus. Geduckt wie ein grauer Schatten schleicht sie wie auf Eiern.
Zwanzig Schritte sind es bis in den Baumschatten am Fluss.
Inzwischen ist die Gestalt schon weit voraus, nur die blonden Haare schwingen bei jedem Stöckelschritt, und ab und an glitzert etwas im bleichen Mondenlicht.
Der Weg führt beide, immer im gebotenen Abstand, ein schönes Stück durch die grausliche Finsternis. Die Nachbarin tröstet sich damit, dass sie nicht allein unterwegs ist und zur Not um Hilfe rufen könnte. Wenn sie schon möglicherweise ihre Illusion verlieren soll, dann doch hoffentlich nicht auf einen Schlag. Sie überlegt sogar, ob sie nicht lieber umkehren sollte, dann könnte sie ihr süßes Geheimnis für immer in ihrem Innersten bewahren.
Da sie aber eine Frau der Tat ist, geht sie weiter.
Ist das Musik? Sie hört das Solo eines Alt-Saxofons, einen phallischen Klang, der sich in die Höhe schraubt und in endlosen Kaskaden niederperlt.
Durch die Bäume dringt vielfarbiges Neonlicht, es blinken die Schriftzüge: „Outsider“. Im Näherkommen sind Stimmen zu hören, tiefe Stimmen und ein kehliges Lachen.
Ihr Opfer ist schon vor der Tür der Bar angelangt und begrüßt jede einzelne der schillernden Gestalten, die im pinkfarbenen Neonlicht stehen, mit Küsschen auf beide Wangen.
Die Nachbarin tritt aus dem Schatten, unbemerkt von der festlichen Glitzerschar, und tritt auf die Straße mit Namen „Henkersgraben“, schon in historischer Vorzeit der Wohnort der am Rande der Gesellschaft Lebenden.
„Frau Wehrle, zum Henker, was machen Sie denn hier? Haha, willkommen im Club!“
Die Nachbarin bekommt kein Sterbenswörtchen heraus und schaut immer nur in die Runde, die Runde der Schönen der Nacht in Strass und Pailletten, mit aufgeplusterter Perücke und im bühnenreifen großen Makeup; mitten in einer Wolke herrlichster Parfümdüfte ihr Nachbar, Franz, von den Frauen vielumworben, für die Frauenwelt unerreichbar und verloren – Franz als Frau.
Sie hat nun sein Geheimnis gelüftet. Im selben Augenblick schließt sie es tief in ihrer Seele ein, auf dass es ihnen gemeinsam bliebe.
14 von 21 Punkten, danke!
In der zweiten Runde warf mich das Schicksal in einen Box-Ring, wo eine Geschichte aus dem Krieg auf die meine wartete. Kriegsgeschichten sind Totschlag-Geschichten. Der Krieg ist so überaus schrecklich, dass jede friedliche Bedrohung in Gestalt eines Finanzjongleurs im Gegensatz dazu als Mückenschiss erscheint und Humor und Satire mit Blut übertüncht sind. Die Geschichte meines mit der Maske der Anonymität vor mir stehenden Punching-Partners war gut geschrieben und knockte mich aus.
Der Finanzjongleur war ein Genie. Er hatte ein Händchen für’s Geld, eine perfekte Nase für die richtige Gelegenheit, eine schlafwandlerische Sicherheit für die punktgenaue Investition zur rechten Zeit. Sein Herz schlug wie ein innerer Taktgeber. Auf sein Herz konnte er sich verlassen.
Er vereinte viele Persönlichkeiten in sich; gleichzeitig Analyst und Spekulant, Aktionär und Unternehmer, Börsianer und Hedgefond-Vertreiber, Spieler und ewiger Gewinner, vertrauenswürdiger Ansprechpartner für die Jungs von den Wirtschaftsnachrichten und Betrüger auf hohem Niveau - ein schillerndes Insekt unter den Heuschrecken.
Er hatte eine sonore Stimme und äußerte sich nur in den Printmedien und im Hörfunk. Dort gelang es ihm mühelos, jeden Hörer um den Finger zu wickeln und dessen Zurückhaltung zu brechen, ihm Mut einzuflößen bis zur schichtweisen Auflösung jeglicher Vorsicht, die dem Opfer Zeit seines Lebens eingetrichtert worden war – zuerst von den liebenden Eltern, dann von der Schule, der Kirche, endlich der Ehefrau, an deren Rockzipfel vier Rotzlöffel hingen.
Figürlich und vom Gesicht her konnte er allerdings nicht viel hermachen. Er tat also gut daran, sich nicht in visuellen Medien zu präsentieren, denn seine Erscheinung hätte sofort alles zunichte gemacht - noch bevor er die ersten beiden Worte in die Runde werfen konnte, um sie als Basis für eine rosarote Zuckerwattenwolke aufzublasen.
Schon als Kind war er auffällig gewesen: Die Zähne waren erst mit zwei Jahren aus den Kiefern gekommen, ein halbes Jahr später hatte er sich zum ersten Mal erhoben und einen Schritt versucht, der in einem schlagartigen Absturz endete, bis zu seinem dritten Geburtstag war er stumm geblieben. Das erste Wort, das er über dem Kuchen mit den drei Kerzen hervorbrachte, war nicht etwa „Mama“, sondern „gib !“. Die Mutter war gerührt.
Seine Fallsucht nahm monströse Ausmaße an. Er musste einen schaumstoffgepolsterten Helm tragen und hatte Protektoren an Armen und Beinen; eine Investition in die Zukunft, denn sie stabilisierten seine schwachen Gelenke immerhin soweit, dass er einen vorsichtigen Watschelgang lernte, den er bis zum heutigen Tage nicht ablegen konnte. Im Kindergarten fiel der Erzieherin seine Retardierung auf. Sie sorgte für die Einschaltung eines Früherziehungsberaters, der nach stundenlanger Beobachtung des Kleinen auf das Krankheitsbild ‚frühkindliche Entwicklungsstörung‘ tippte, nachdem er schweren Herzens die Verdachtsmomente für einen perinatalen hypoxischen Hirnschaden verworfen hatte; als Differentialdiagnose setzte er diesen Begriff aber in Klammern hinter den Namen des kleinen Klienten.
Er wurde also auch während der Schulzeit keine Sportskanone, wohl aber ein Muster des menschenverachtenden Stoizismus. Die Frotzeleien seiner Kameraden machten ihn zu einem konsumresistenten Zeitgenossen. Früh schon berechnete er, welche Summen er den Eltern einsparte, indem er keine Markenshirts und blinkende Boots mit den drei Streifen verlangte. Sein einziges Spielgerät war ein elektronischer Taschenrechner. Auch hiermit war er alles andere als konkurrenzfähig in der Klasse.
In solcher Art von vornherein gehandykapt wuchs er heran, und das mit einer eingeschränkt positiven Sozialprognose – „mit viel gutem Willen und um ihm die Zukunft nicht total zu verbauen“.
Zu seinem zwölften Geburtstag bekam er einen Computer geschenkt. Ab sofort verließ er sein Zimmer nur noch zur Erfüllung der dringendsten Bedürfnisse, wie Essen und Ausscheiden. Als seine Altersgenossen die ersten hormongetriebenen Flirtversuche machten, noch mit der Stimme im Umbruch, saß er hinter vorgezogenen Gardinen und stellte Berechnungen an. Der Mutter war’s recht – so musste sie sich keine Sorgen machen oder sich gar über zu spätes Nachhausekommen ärgern.
Auch in diesem Alter war er ein sparsamer Zögling – weder Disco noch Handyrechnung, Zigaretten oder Wodka in der Literflasche schlugen in’s Kontor. Und so reichte ihm sein Taschengeld, das nicht großzügig bemessen war, und wurde am Ende des Monats investiert. Im Lauf der Jahre war ein erkleckliches Sümmchen zusammengekommen.
Und so kam er als hoffnungsfroher und gut betuchter Junggeselle an die Schwelle des Erwachsenseins.
*
Jahre später treffen wir ihn als Ehemann und Vater von vier Kindern wieder. Wie es dazu kommen konnte, ist im Sande der Geschichte vergraben; ein Geheimnis, das zu lüften nicht nur einer Kurzgeschichte bedarf.
Seine Frau liebt ihn über alles. Sie verwöhnt ihn, sie umsorgt ihn. Die Familie lebt in einem Loft, hoch über den Dächern der Stadt. Durch die Fenster gesehen, scheinen die eilig auf den Straßen herumeilenden Menschen wie Ameisen, emsig und zielbestrebt. Sie folgen ausgetretenen Bahnen, keiner hebt einmal den Blick und schaut in den Himmel, der vom Dunst der Stadt verschleiert ist.
Eines Nachts wacht seine Frau auf, und als sie liebevoll auf seine Bettseite tastet, findet sie die Stelle verwaist, an der sie ihn sonst immer angetroffen hatte. Sie richtet sich auf, schaltet die diskrete Nachttischlampe an und blickt schlaftrunken herum, erst auf seine Bettseite, dann in Richtung Fenster, das angelehnt ist und vor dem ein Stuhl steht. War das nicht ein Schatten auf der Balkonbrüstung? Richtig. Zuerst denkt sie an einen Einbrecher; aber als sie den lässigen Watschelgang ihres Mannes erkennt – zwar nur mit geübtem Auge und viel Wohlwollen - , schießt ihr der Schreck noch vollends in alle Glieder. Sie zwingt sich, ein zweites Mal hinzusehen, denn die Sicherheit und Eleganz des Gangs lassen in ihr doch wieder Zweifel aufkommen. Aber nein: Der Pyjama ist der ihres Mannes, ohne Zweifel, so abgetragen, wie er ist. Nun ist die Gestalt mitten auf der Brüstung angekommen, hoch über der brausenden Stadt, und sie kann ihren Augen trauen: Er ist es.
Jetzt nur nicht heftig reagieren, nicht anrufen! Sie springt aus dem Bett und eilt katzengleich durch den Fensterspalt auf den Balkon, ohne das mindeste Geräusch zu verursachen. Da ist er, die Arme gestreckt vor sich haltend, das Gesicht mit geschlossenen Augen gewendet Richtung Sternenzelt, das in vollkommener Ruhe und Majestät über ihnen ausgespannt ist. Sanft und gleichzeitig entschlossen nimmt sie seine Hände und geleitet ihn auf der Brüstung bis zu einem der Sommerstühle, die in der Kamin- und Grillecke stehen. Weich und willig folgt er ihrem sachten Zug, sicher und gewandt setzt er einen Fuß vor den anderen und steigt über den Stuhl auf den sicheren Boden. Sie drückt ihn sanft nieder zum Sitzen und macht sich daran, ihn zu wecken.
Als sie ihm erzählt, was er eben getan hat, scheint dies nichts Neues für ihn zu sein – er ist immer schon schlafgewandelt, beide Eltern und auch die Nachbarn hatten ihn, vornehmlich bei Vollmond, oft dabei beobachtet.
*
Die Frau lässt sich nicht von ihrer Meinung abbringen, dass diese gefährliche Angewohnheit therapiert gehört. Als Letztes droht sie, nicht weiter in dem Loft wohnen zu wollen, sondern in eine Erdgeschosswohnung umzuziehen, notfalls in einen ebenerdigen Bungalow.
Der Mann stimmt nolens volens zu und sucht einen Psychotherapeuten auf. Dieser ist Fachmann für Hypnose; seine Praxis vollgepackt mit esoterischen Essentials und zauberischen Versatzstücken liegt mitten in der Stadt, direkt gegenüber der Musikhochschule. Heimelige Dunkelheit, hier ein Kerzchen, dort ein Räucherstäbchen, überall schwülstige Kissen und Polster auf dem Boden – der Mann betritt die weihevolle Klause und kann nur mit Mühe seinen Argwohn zügeln.
Doch jetzt, wo er schon da ist und die Schuhe ausgezogen hat, lässt er sich nieder. Den Froschsitz schafft er zwar nicht, auch nicht den Lotussitz oder eine im Ansatz erkennbare Jogahaltung, aber der Therapeut akzeptiert großzügig jegliches Lümmeln auf den Pfühlen.
Mit anheimelnder Stimme lockt der Heiler ihn in die Hypnose; in drei Schritten ist er durch sein bisheriges Leben geeilt und bei seiner Geburt angelangt, und erlebt diese von Neuem.
Mit geschlossenen Augen fühlt er ein wogendes Drängen, den peitschenden Herzschlag seiner Mutter, das Blut, das wie in der Brandung die Wände der Bauchschlagader rammt. Sein Bewusstsein ist wach; er versucht, seinen Kopf in die einzuschlagende Richtung zu bringen. Die Lage ist eng, die Kraft der Expulsion wird größer. Er schafft es nicht, die Stromlinienform einzunehmen, auch wenn er die Arme nach vorne nimmt. Er steckt fest, es geht nicht mehr weiter, weder vor noch zurück, sein Schädel wird zum Bersten zusammengepresst. Todesangst stellt sich ein. Der Heiler spricht mit eindringlicher Stimme: „Ich werde leben, ich werde schweben.“ Er sehnt sich nach Leichtigkeit, nach Fliegen in der Luft, nach Freiheit ohne Wände. Er wird zum Fisch, er wird zum Vogel.
Er muss die Gefühle abstellen, um seine Angst zu beherrschen. Es wird dunkel, sein eigenes Herz verlangsamt seinen Schlag. Das letzte, was er tun kann, ist zählen. Die Mutter schreit. Um seines Lebens willen muss er sich von ihr, dem Urgrund seines Menschseins, abkoppeln. Da wird er mit einer Zange am Kopf gepackt und herausgezogen. Die Kralle um seinen Kopf, der Zug am Hals droht ihn auszulöschen. Der Therapeut sagt wieder und wieder: „Ich bin ein Geschöpf wie die anderen. Ich lebe, ich liebe.“ Dann stippt er ihn am großen Zehen an, um ihn in’s Bewusstsein zurückzuholen.
Kaum hat der Mann die enge, glitschige Höhle verlassen und ist auf die Welt gestürzt, hört er aus der Musikhochschule einen Chor singen: „Happy birthday to you!“
Schweißüberströmt und schlaff vor Erschöpfung liegt er da und hechelt. Als er es wagt, die Augen zu öffnen, sieht er rings um sich ein herrliches Arrangement rätselhafter Dinge, sehr ästhetisch und dekorativ angeordnet; ein wundervoller Duft mischt sich mit der Luft in seinen Lungen und nimmt ihn ganz ein. Er fühlt sich wie in Morpheus‘ Armen. Mit jedem Atemzug breitet sich ein warmherziges Vertrauen in ihm aus und wird mit jedem Pulsschlag in seinen ganzen Körper getragen. Langsam nehmen seine Muskeln Konsistenz an und spannen sich elastisch zwischen den Gelenken. Er fühlt: ‚Ich kann nun aufstehen und in mein neues Leben gehen.‘
*
Auf der Straße stellt der Mann fest, dass er geht wie eine Katze, lautlos, ohne Anstrengung und mit einer Leichtigkeit, die er bisher nie gekannt hatte. Er stößt nicht mehr ständig mit anderen Passanten zusammen, sein Watschelgang hat sich in einen kraftvollen und eleganten Schritt gewandelt.
Am nächsten Morgen schreitet er zu seinem Arbeitsplatz. Die Sekretärin begrüßt ihn mit neugewonnenem Wohlwollen und hebt die sorgsam gezupften Augenbrauen voller Bewunderung. Der erste Anrufer ist in der Leitung. Der Finanzjongleur setzt in immer schnellerem Staccato seine Argumente für eine Rieseninvestition in einen Immobilienfonds, der in den neuen Bundesländern Golfressorts mit angeschlossenem Wellnesshotel plant. Die Argumentation gipfelt im augenzwinkernden Satz „no risk, no fun“.
Plötzlich befällt den Mann ein Unwohlsein, das vom Magen hochsteigt und seinen ganzen Mundraum füllt. Er bricht, ohne sich entschuldigen zu können, das Telefonat ab und übergibt sich in den Papierkorb.
Der Sekretärin möchte er die Entsorgung nicht zumuten, also versteckt er die Bescherung in seinem Kleiderschrank, um ihn in der Mittagspause heimlich und ungesehen zu beseitigen. Zu seinem Business as usual ist er nun nicht mehr in der Lage.
Nachmittags ist als erster Termin die allwöchentliche Mitarbeiterversammlung anberaumt.
Bei diesem Anlass werden den einzelnen Spitzenbänkern die neuen Ziele der Gesellschaft mitgeteilt, die in dieser Woche zu erreichen – besser gesagt: zu realisieren - sind. Die Daumenschrauben, die dabei (im übertragenen Sinne) angelegt werden, bereiten dem Mann heute zum ersten Mal unerträgliche Schmerzen. Wo ist die challenge geblieben, die er sonst bei dieser Gelegenheit gespürt hatte?
In ihm kommen kritische Argumente hoch, die er nur mit Mühe und artistischer Verrenkung seiner Stimmbänder bei sich behalten kann. Mit der klaren Erkenntnis, dass diese Forderungen nicht zu erfüllen sind, ja, dass sie nicht erfüllt werden sollten, verlässt er die Sitzung.
An seinem Schreibtisch sitzend, über den Computer mit den aktuellen Börsendaten gebeugt, atmet er schwer. Die Zahlen verschwimmen und formen sich zu psychedelischen Mustern, neonpink und in rasender Bewegung.
In diesem Moment klingelt das Telefon: ein Freund, der bisher immer direkt zu ihm durchgestellt wurde und den er exklusiv beraten hatte.
„Ich habe eine Insiderinfo bekommen: Was hältst du von Aktien von ‚Lokomotive Wernigerode‘? Was soll ich tun? Alternativ habe ich ein Paket von ‚Bayern München‘ angeboten bekommen, gestern habe ich transferiert.“
„Abstoßen! Weg damit! Alles Schrott. Um Gotteswillen!“
„Was?“
„Wie: was?“
„Wwwas meinst du damit?“
„Das, was ich gesagt habe: Alles abstoßen, so schnell als möglich. Diese ganze Finanzwelt ist ein Fake, schlimmer: ein Betrug. Wir sind alle in der Hand skrupelloser Zocker.“
Der Mann merkt, wie sein Darm sich dreht und windet, bis sich die Schlingen gegenseitig strangulieren. Ungeheure Bauchschmerzen treiben ihm den Schweiß auf die Stirn und drohen ihm die Besinnung zu nehmen.
„Was ist denn in dich gefahren?“
„Das, was jetzt aus mir herausfährt.“
Der Furz, den er nun nicht mehr am Austreten hindert, ist ein akustisches und olfaktorisches Großereignis erster Güte. Die Erleichterung hält ihn am Leben.
*
Niemand hat ihn jemals mehr schlafwandeln sehen, niemand hat mehr risikoreiche Ratschläge von ihm gehört.
9 von 19 Punkten, danke!
4.7.2011
Ja, und das war’s dann.
Inzwischen hatte mich das Fieber geschüttelt; Tag und Nacht, wach und träumend, war ich wie unter einer Haube durch Gefilde von Worten geirrt, war in den Gebüschen wundervoller Lautmalereien hängengeblieben, mein Gehirn hatte Gestalten ausgegoren und ausgespuckt; jetzt war ich von ihnen umgeben, sie machten sich nur langsam von dannen in ihr eigenes Leben.
Ich hatte sogar Fieberträume; schemenhaft tauchte - wie aus dem Fegefeuer - immer wieder die Sinnfrage auf, die Frage nach dem Sinn von Wettbewerben; immer endete sie in der Erkenntnis, dass ich ja selbst schuld bin.
Mit der Enttäuschung klang das Fieber ab.
Ich hob die Augen und sah: Corniglia, das große Meer, die Hochzeit zwischen Erde und Wasser.
Ja. So war’s. Und das war’s dann wirklich.
Dieses Mal und bei den weiteren Turnieren stelle ich nur die Texte ein, mit denen ich teilgenommen habe.
"Mitten in der Nacht steht ein alter Schulfreund vor der Tür
und bittet darum, eine Tasche für ihn aufzubewahren."
Die Ehe ist zerbrochen. Der Scherbenhaufen scheint ihr unüberwindlich, voller verletzender und scharfer Spitzen; und so zeigt sich ihr kein anderer Weg, als die Flucht nach hinten anzutreten.
Karsten ist auf eine längere Geschäftsreise ausgewichen.
Sie sitzt nun in der stillen Wohnung im elterlichen Haus. Sie breitet sich in der plötzlichen Leere aus, entfaltet sich und merkt, welches Wohlgefühl von ihr Besitz ergreift; Balsam für die Seele, der ihr Mut macht, den Schritt hinaus aus der verfahrenen Lage zu wagen.
Sie zwingt sich, nun nicht mehr nachzudenken. Nur der Sprung aus dem Labyrinth, in dem sie in der letzten Zeit allzu häufig herumgeirrt ist, ist ihre Rettung. Die lange und quälende Analyse ihrer Gegenwart, in Spiralen sich hochschraubend, ist schonungslos geraten und hat sie waidwund geschlagen.
Sie hat in den letzten Tagen eine kleine Wohnung gefunden, in die sie sich nun flüchten kann, um ihre Wunden zu lecken.
Nun heisst es, keine Kraft zu verschwenden. Sie muss aktiv werden, ihre Habseligkeiten zusammensuchen; muss überlegen, welches der Bücher, welches Bild ihr gehört und wichtig für sie ist. So viel hat sich angesammelt, die Gewohnheit hat die Dinge für sie in’s Off gerückt, sie sind zur Staffage verkommen; das Gefühl des fremdgesteuerten Gleitens von einem Tag zum anderen, trügerisch in eine bequeme Kuhle gebettet, kommt ihr nun bitter vor. Am Ende hat sie nur noch vegetiert.
Jetzt gewinnt sie einige Tage Zeit, um sich langsam durch die blutigen Fetzen ihres Lebens durchzuwühlen.
Kleider, Geschirr, die Dinge des täglichen Lebens sind schnell eingepackt.
Sie steigt in den Keller und öffnete den Schrank, in dem sie all die Dinge eingeschlossen hat, die irgendwann in ihrem Leben wichtig gewesen waren, im Laufe der Zeit aber die Bedeutung verloren hatten. Sie hatte es nicht über’s Herz gebracht, sie wegzuwerfen. Es waren die Stationen ihres Kreuzwegs.
Zuerst stößt sie auf Päckchen von Briefen, mit je einer farbigen Schleife zusammengebunden. Sie muss lachen: Das waren die ‚großen Lieben’ ihrer Jugend; jetzt sieht sie, dass Liebe im Plural deren Hinfälligkeit bedeutet. Eines dieser Päckchen sind Karsten’s Briefe; welcher Irrwitz ! Sie bekommt eine Gänsehaut.
Sie feuert den Kaminofen an und legt das erste Päckchen in die Flammen. So dicht gepackt, hat das Feuer Mühe, mit den gedrängten Gefühlen fertig zu werden. Sie muss also die Schleifen lösen, die Briefe aus den Umschlägen nehmen und einzeln zerknüllen. So brennen sie lichterloh. Das zwingt sich zu lächeln : die Flammen der Liebe. Anfangs liest sie noch diesen und jenen Brief. Die Wehmut nimmt überhand, so zerknüllt sie die Zeugen vergangener Gefühle wie eine Maschine.
Der hölzerne Nussknacker, den sie einst in den ersten Jahren ihrer Berufstätigkeit von einer Dienstreise nach Russland mitgebracht hat, wird ein Opfer der Flammen. Die Matrjoschka, Sinnbild der ständigen Erneuerung und der Suche nach dem Kern, packt sie in ihren Koffer.
Ein arg zerliebter Plüschbär sitzt auf einer Tasche und blickt sie mit seinem einen verbliebenen Auge aus dem abgewetzten Gesichtchen neugierig an. Sie bringt es nicht über’s Herz, ihn in den Müll zu werfen.
Sie gräbt tiefer.
‚Was ist denn das?’ Die alte Tasche kommt ihr nicht bekannt vor. Sie erinnerte sich noch nicht einmal mehr, dass sie je eine solche Tasche besessen hat.
Beim Herausheben aus dem Schrank wundert sie sich, wie schwer sie ist. Der Reißverschluss klemmt.
Als sie die Tasche endlich geöffnet hat, findet sie darin als erstes einen mittlerweile völlig veralteten Reiseführer für Paris.
Paris. Da klingelte etwas. Mit 18 Jahren war Paris ihr Traum gewesen. Sie hatte mit Sven, ihrem Schulkameraden und ersten Freund, beschlossen, nach Paris abzuhauen, wenn einer von ihnen das Abitur verhageln sollte. Sie waren verliebt gewesen, das Leben eine einzige Herausforderung. Die Welt schien voller Wunder, in die sie Hand in Hand hineingehen wollten. Sie blickten genau in die Sonne.
Sven also, die Tasche ist von Sven. Was wohl aus ihm geworden ist ?
Kurz vor der Abschlusspüfung war er ihr richtiggehend entglitten. Es begann damit, dass sie keine gemeinsamen Themen mehr fanden, über die sie sprechen konnten. Alles, was für sie so wichtig war, traf bei ihm auf taube Ohren. Ihn trieb anderes um. Sie verstand es nicht. Er entzog sich ihr, hatte andere Freunde, die er ihr nie vorstellte und über die er nie sprach.
Sie sahen sich immer weniger, am Ende bekam sie ihn nur während der Schulstunden zu Gesicht. Als die Klasse nach dem Abitur auseinanderlief, ein Jeder in sein eigenes Leben, war er für sie verschwunden.
Dann erinnerte sie sich daran, dass nach Jahren Sven eines Abends vor ihrer Tür gestanden hatte, als sie gerade frisch verheiratet war. Wie aus dem Nichts. Das war mehr als 30 Jahre her. Er hatte atemlos gewirkt, sich – unter der Außenbeleuchtung stehend – häufig umgeschaut. Er hatte sie inständig gebeten, die Tasche für eine gewisse Zeit für ihn aufzubewahren. Er habe gerade eine Menge Trubble.
Ihr war damals nicht klar gewesen, welche Probleme das hätten sein können.
Jetzt, im Abstand, fällt es ihr wie Schuppen von den Augen.
Natürlich hatte sie gewusst, dass Sven sich über die Gerechtigkeit in der Welt Gedanken machte, politische Schlussfolgerungen daraus zog und am Ende ganz klare Forderungen stellte, die unter den Klassenkameraden auf wenig Verständnis stießen.
Seit dieser Zeit war er auch für sie nicht mehr richtig erreichbar gewesen, hatte sein Interesse an gemeinsamen Tanzereien und Discobesuchen, an Spaziergängen, Sport und einfachem Herumhängen verloren. Und so war ihre Freundschaft auseinandergelaufen, was sie damals sehr bekümmert hatte. Denn dieser nachdenkliche Junge hatte es ihr von Anfang an besonders angetan.
Ein paar Tage nach dem Einschließen der Tasche in ihrem Kellerschrank hatte sie von einer Razzia gegen Linke und Sympathisanten gelesen.
Sie hatte das damals nicht in Zusammenhang mit Sven gebracht. Er aber hatte sich nie mehr gemeldet.
Sie gräbt weiter in der Tiefe der Tasche und fördert Dokumente zutage, Besprechungsprotokolle, Anleitungen und Personenlisten. Darunter ein Plakat des Che, Mao’s Bibel und ein kleiner Gedichtband von Jack Kerouac.
Am Boden findet sie gefährliche Fracht: zehn gefüllte Flaschen „Plzeňský Prazdroj“, vorbereitete Stoff-Fetzen und eine Tüte mit kleinen bräunlichen Brocken. Stoff, anderer Stoff.
Ein Stoff für eine Geschichte ?
„Nie im Leben“, sie verschluckt sich. „Niemals hätte ich ihm das vermacht.“
Der Junge war in ihrer Welt gewesen, solange sie denken konnte. Sie wusste immer, dass er da war, bemerkte ihn aber nicht wirklich. Er war weniger als ein Schatten, eine dunkle Gewissheit; kein atmender und pulsierender Körper, dessen Wärme sich auf sie übertrug, den sie hätte fühlen können.
Als Kinder waren sie eingeschlossen gewesen in einer kleinen Goldfisch-Kugel. Sie hingen schnappend an der Glasrundung und schauten mit großen Augen in die Welt da draußen. Sie sahen sich nicht, ihre Schleierschwänze schwebten aneinander vorbei und berührten sich manchmal sachte und unmerklich. Sie wuchsen.
Die Lebensräume wurden größer; ein klimatisiertes und luftdurchperltes Aquarium mit einem kleinen Garten Eden aus sich im Wasser wiegenden Pflanzen, die zu winken schienen, war lange ihre Bleibe. Hier konnten sie sich in kleinen Höhlen verstecken und lauern.
Vor kurzem waren sie im Haifischteich angekommen. Dies war die letzte Station vor dem offenen Meer, in das sie, mit Wunden und Narben übersät, entkommen sollten.
Es war ein Samstagabend. Zeit für die Disco, für das Eintauchen in psychedelische Lichter und wummende Bässe, die auf der Netzhaut flimmerten und die Haut zum Vibrieren brachten. Sie hatte sich mit ihrer Freundin verabredet, weil sie sich allein nicht traute. Das Schaulaufen beim Eintreten war zu zweit leichter zu durchzustehen.
Tief in der dunklen Höhle angekommen, löste sie sich von ihrer Begleiterin. Sie fühlte die wogende Menge dampfender Körper, die ohne Gesicht zu sein schienen. Haare flogen verzweifelt, zentrifugal geschleudert und alsbald an ihre Grenzen stoßend und ausgebremst, Arme ruderten, wie um sich vor dem Ertrinken zu retten, Beine schlugen um sich. Sie fühlte den rasenden Teufel in sich und trieb ihn aus, stundenlang. Die Musik, die in jede Pore drang, trieb sie mit ihrem Puls an, überlagerte den Schlag ihres Herzens und presste den Atem aus ihr heraus.
Aus dem Dunkel ringsherum blickten sie Augen an. Keine Regung war zu sehen. Kein Erkennen und Wiedererkennen. Die Körper waren eine wogende Masse und schienen keinen Anfang und kein Ende zu haben. Der animalische Geruch gab ihr Sicherheit, sie fühlte sich leben in ihrer eigenen Haut, sie schien unantastbar.
Sie ging zur Bar und bestellte sich ein Getränk. Sie nippte daran. Dann zog sie sich für kurze Zeit aus dem pinkfarbenen Lichtkegel zurück und ging auf die Toilette.
Als sie wiederkam, stand ihr Glas noch da, als ob es auf sie warte. Ein angenehmer Gedanke war das, fast ein wenig
persönlich. Sie umschloss es mit ihren Händen und trank dankbar daraus.
Die Knie wurden weich. Sie setzte sich auf den Barhocker. Auf einen Schlag gingen die Lichter aus.
Nun war sie im Reich der Schatten. Anfangs ein samtiges Gefühl, dann ein Ziehen und Stoßen, kein Schmerz und keine Angst. Sie schwamm im Bad der tosenden Musik. Dann tröpfelten ferne Geräusche und kamen näher. Sie verdichteten sich, eine Stimme hob sich ab vom Untergrund, die Stimme des Jungen.
Mit Mühe hob sie die Lider, der Schmerz kam und kroch in ihren geschundenen Körper. Scharf setzte er sich von innen heraus fest und breitete seine Arme aus.
Der Junge hatte sie an die Luft getragen. Er hatte sie ihren Peinigern entwunden, drei starken jungen Männern. Nun waren sie für einen Moment allein in der sternenklaren Nacht, in der klirrenden Kälte.
Sie konnte nicht sprechen, der Junge redete auf sie ein, mit ruhiger Stimme, er hüllte sie ein. Sie waren eine warme Einheit, ihre Angst und sein Mut trafen sich in der Mitte. Der Atem des Lebens durchströmte beide.
Ein kurzes Aufatmen, alle Zeit der Welt. Dann kamen die Peiniger zurück. Der Junge blickte auf und erkannte den Einen.
Ein Messer blitzt kalt im Schein der Sterne. Aus der dunklen Phalanx stößt es hervor und trifft den Jungen krachend in den Rücken. Er bäumt sich auf, sackt dann auf ihr zusammen, schaumiges Blut kommt aus seinem Mund, Blut und ein Satz :
“Vergiss nie, dass ich dich liebe.“
Ich kenne da eine Frau (‚leider’ souffliert mir eine der hinteren Hirnwindungen, die mich wie die Kuh auf’s Eis führen möchte; ein Hinweis, dem ich im Hinblick auf meinen Ehefrieden nicht folge), die hatte Zeit ihres langen Lebens eine ganz spezielle Beziehung zu Krankheiten aller Art, an sich und im Besonderen.
Schon als junge Frau litt sie bei Bedarf an fürchterlichen Migräneattacken. Ihr Mann musste alsbald alle Gardinen zuziehen, der kleine Sohn in einen absolut lautlosen Modus versetzt werden; und als Vater und Sohn beschlossen, das Haus zu verlassen, um sie nicht zu stören, war die Migräne plötzlich wie weggeblasen. Dasselbe mit Grippe.
Als der Kleine von der Kinderkrippe in die Schule wechselte, und die kleine Familie am Wochenende in das nahegelegene Gebirge fuhr, um Sport zu treiben, fing sie an zu hinken und unrund zu laufen, denn eine völlig altersuntypische Hüftabnutzung hatte sie heimgesucht und verhinderte jegliche Teilnahme am gemeinsamen Vergnügen; ja, ihre juvenile Coxarthrose hinderte in der Folge auch Vater und Sohn an der Ausübung des Sports.
Man verlegte sich auf’s Tauchen, zumal das Söhnchen mittlerweile das erforderliche Mindestalter von 12 Jahren erreicht hatte. Sie bekam Schwindelanfälle, sobald der oder die See von Ferne durch die Bäume, die manchmal Palmen waren, blitzte. Die beiden Männer waren mittlerweile abgehärtet und tauchten alleine in die lautlose Tiefe ab.
Und so ging es weiter, Tag für Tag, Jahr für Jahr, in denen die Frau alle Menschen in ihrer Umgebung verschreckte; anfangs mit Mitleid infiziert und großzügig im Bedauern und Geben von Ratschlägen und Arztadressen, bekamen die Angehörigen, Freunde und Nachbarn mit der Zeit eine dicke Hornhaut auf diesem Ohr, die aussah wie ein Hühnerauge.
Ihr Mann hatte längst chronische Schmerzen durch eine völlig aufgeriebene Wirbelsäule und einen Herzklappenfehler mit Stolperherz, das jedem Arzt den Schreck in’s Gesicht jagte, wenn er mit seinem Hörrohr nur in dessen Nähe kam – die kaputte Klappe konnte man sogar mit bloßem Ohr klappern hören, wenn man sich mit ihm in einem Zimmer befand.
Da befürchtete sie, grausam in’s Hintertreffen zu geraten und besorgte sich regelmäßig die „Apotheken-Rundschau“, um all den Krankheiten nachzuspüren, die sich im Körper breitmachen könnten.
Sie fand solche mit interessanten Namen, wie z.B. ‚Fatigue’, multiple Persönlichkeit oder gar Sklerose, Fibromyalgie und das Syndrom der restless legs. Regelmäßig hatte sie Nierenkoliken, die zu furchterregenden Blutabgängen führten, welche sie in ihrer Scham sofort wegputzte, so dass Niemand je etwas von einem solchen knöcheltiefen Blutbad gesehen hatte. Auch in der anschließenden Urinuntersuchung war alles schon wieder in Ordnung. Kein Arzt fand etwas, kein Arzt verstand sie. Der hausärztliche Notdienst avancierte zum Notarzt.
Einmal rutschte sie auf der Treppe aus und fiel; als sie sich erhob, fand sie trotz akribischer Suche nicht ein klitzekleines Hämatömchen.
Ein anderes Mal versuchte sie, durch die geschlossene Glastüre in eine Boutique einzutreten. Das einzige, was dabei zu Bruche ging, war die Brille, die sie auf der Nase hatte; die Nase selbst hatte nicht die mindeste Schramme.
Ja, Hämorrhoiden hatte sie einmal; die wurden ohne Aufhebens abgezwickt, und schon war es wieder nichts mehr. Zum Verzweifeln !
Auf diese Weise hatte sie nun alle in ihrer Gegend niedergelassenen Ärzte durchgeritten, die sie in ihrer Not auf die Liste mit Patienten aus der Sphäre des ‚Münchhausen-Syndroms’ oder auch ‚Koryphäenkiller-Syndroms’ – eine Spezialität von Professoren und Chefärzten - setzten.
Glücklicherweise kam es nun zu einem Generationswechsel unter den Ärzten, und sie konnte sozusagen wieder von vorne anfangen. Eine wahre Sisyphusarbeit.
Ihr Mann war mittlerweile gestorben und sie war schon 90 Jahre alt. Das Zusammenleben mit den diversen Krankheiten hatte sie immer gesund gehalten.
Da machte sie einen kardinalen Fehler : Sie legte sich zur gleichen Zeit zwei Krankheiten zu, welche nach Kurzem so miteinander im Clinch lagen, dass der Nierentumor und die brennenden Füße schlussendlich vor die Tür gingen, um den Konflikt mit den Fäusten auszutragen. Die anderen Krankheiten eilten mit nach draussen, um nur ja nichts zu verpassen.
Und als sie so allein und ganz ohne ihre Schutzpatrone dasaß, ereilte sie der Tod, den sie sich bisher immer so erfolgreich mit Hilfe der Krankheiten aller Art vom Leibe gehalten hatte.
Thema:
Christian Fürchtegott Gellert
Der Blinde und der Lahme
Von ungefähr muß einen Blinden
Ein Lahmer auf der Straße finden,
Und jener hofft schon freudenvoll,
Daß ihn der andre leiten soll.
Dir, spricht der Lahme, beizustehn?
Ich armer Mann kann selbst nicht gehn;
Doch scheints, daß du zu einer Last
Noch sehr gesunde Schultern hast.
Entschließe dich, mich fortzutragen:
So will ich dir die Stege sagen:
So wird dein starker Fuß mein Bein,
Mein helles Auges deines sein.
Der Lahme hängt mit seiner Krücken
Sich auf des Blinden breiten Rücken.
Vereint wirkt also dieses Paar,
Was einzeln keinem möglich war.
Du hast das nicht, was andre haben,
Und andern mangeln deine Gaben;
Aus dieser Unvollkommenheit
Entspringet die Geselligkeit.
Wenn jenem nicht die Gabe fehlte,
Die die die Natur für mich erwählte:
So würd er nur für sich allein,
Und nicht für mich, bekümmert sein.
Beschwer die Götter nicht mit Klagen!
Der Vorteil, den sie dir versagen
Und jenem schenken, wird gemein,
Wir dürfen nur gesellig sein.
Prolog
Helga Siebecke
Ein schöner Gedanke, dass sich die damit schwer beeinträchtigten Menschen unter sich durch Nutzung der Ressourcen des anderen das Leben erleichtern könnten. Es ist das Naheliegende. Warum tun es die Gesunden nicht? Die Menschen können sich helfen, es gibt immer eine Möglichkeit, aber sie tun es nicht. Nicht genug, bei weitem nicht genug helfen sich die Menschen in der Not. Sie träumen davon, wenn sie in einer Zwangslage sind, dass Hilfe von außen kommt. Edel sei der Mensch, hilfreich und gut! Er ist weder das eine, noch das andere. Natürlich kommt es auch vor, dass einzelne Menschen sich untereinander helfen. Im kleinen Umfeld klappt es zuweilen, dass ein Blinder einen Lahmen über die Straße trägt. Im Großen sehe ich da nicht viel Hoffnung für ein solches Verhalten. Jeder sieht zu wie er seine Interessen zuerst durchsetzt.
Das liebe fremde Auge
Kannst Du Dir, lieber Leser, ein Land vorstellen, in dem ein Fahrrad Reichtum bedeutet, das höchste Glück? Du wirst mir antworten: nein. Und doch gibt es solche Plätze auf unserer vernarbten Erde.
Einer dieser Orte ist staubig und heiß. Hierher war der Reporter Hans Ulmen gereist, um von einer perfekt funktionierenden Lebensgemeinschaft zu berichten, in der Jeder für den Anderen da ist. Egoismus ist hier ein Fremdwort, oder besser: Es existiert noch nicht einmal ein Wort dafür in ihrer Sprache; und so sind diese Menschen fähig zu überleben, in Armut und unter einer erbarmungslosen Sonne, mit Würde und einer wunderbaren Haltung.
Ulmen sah: Dieser staubige und heiße Ort ist von Menschen bewohnt, nein: bevölkert. Deren Wohnungen sind Hütten aus Zweigen und Blättern, das wenige Wasser steht in dreckigen Bodenlöchern und die nächtliche Beleuchtung sind der silbrige Mond und die Sterne am Firmament. Es schien ihm, dass in diesem schwarzen Bogen mehr Sterne blinken, als in seiner Heimat; doch das ist nicht so: Wir haben die Milliarden Sterne am Himmelszelt mit unserem künstlichen Licht nur verblassen lassen - genau so wie das Glück, ein Fahrrad zu besitzen.
Unter diesem Firmament wurde eines Nachts Sami geboren. Der Mond schwamm gerade im Zenit und blickte mit seinen milchig strahlenden Augen herab, und ringsherum war, als die Schreie der Mutter verklungen waren, ein ruhiger See von seltsamen schwirrenden Geräuschen zu hören, die mit den Geburtswehen an- und abgeschwollen waren, und die Sami als erste auf dieser Welt willkommen hießen und in den Schlaf sangen. Die Frauen sprachen von einer glückbringenden Nacht.
Sami wuchs heran, die Mutter stillte ihn großzügig, bis er ihre Brüste leergesaugt hatte; dann wurde das Essen beschwerlicher und es lag nur noch ein wenig gräulicher Brei in der Holzschüssel, die ihm einmal am Tage gereicht wurde.
Sami war ein neugieriger Junge, der mit seinen großen Augen jede Kleinigkeit aufsog, die die Welt um ihn herum bewegte. Fliegen surrten um ihn herum, Heuschrecken hüpften schamlos in großen, elastischen Sprüngen mitten vor die Hütte. Vögel saßen unsichtbar im Schatten der Oasen-Bäume, und ihr Gesang schallte, vom heißen Wind getragen, herüber, von weitem und leise - er musste die Ohren spitzen; nachts wurden sie lebendig und flogen bis zu den trockenen Dornensträuchern vor der Hütte, um auf Jagd zu gehen und im Dunkel ihre Lockrufe auszustoßen. Lautlos und wie ein kräftiger Muskel angespannt durchschnitt eine gefleckte und giftige Schlange den Schatten und verschwand lautlos, wie sie gekommen war.
Nun war Sami ein großer Junge. Sie hatten ihn beschnitten, er ging zur Dorfschule. Die Spielkameraden von einst saßen jetzt zusammen in den Bänken und versuchten zu verstehen, was auf der Tafel aufgeschrieben war. Er spielte noch immer mit einer alten Fahrradfelge, die er mit einem Stöckchen zum Drehen brachte, um hinterherzulaufen, und mit den Kieseln, aus denen er Muster legte und für sich und die anderen Jungen ein Gewinnspiel zauberte.
Sein großer Wunsch war, ein Fahrrad zu haben. Er wollte damit in die Ferne radeln, vielleicht sogar bis zu der Oase am Horizont. Als er voller Mut eine Schlange erlegte, die seine vor der Hütte schlafende kleine Schwester in’s Visier genommen hatte, setzte der Vater ein Zicklein ein und erfüllte ihm diesen Wunsch.
Sami wurde größer und hatte nun kräftige Beine, um durch den Sand zu radeln und die Welt zu erkunden.
Das Licht seiner Augen nahm ab, denn eine Mücke hatte im Schlaf ihre Eier in seine Augen gelegt, und jetzt waren Fadenwürmer daraus hervorgekrochen, die sich tief in’s Gewebe einnisteten. Zu spät wurde er in die nächste Stadt gebracht und einem Arzt gezeigt. Er erblindete zusehends, und bald konnte er nur noch Schatten und Konturen sehen.
In seiner Verzweiflung zog er sich zurück und wagte sich nicht mehr vor die Hütte. Er weinte bitterlich, doch die Tränen konnten sein Augenlicht nicht mehr reinwaschen.
In der Hütte lebte, zusammen mit der Familie, eine Ziege. Sie war weiß, hatte ein schwarzes Köpfchen und wunderbare, grüne Augen mit einer querstehenden Pupille. Sami wusste das von früher, und er erinnerte auch, dass die Ziege schelmisch zu lächeln schien, wenn sie ihn ansah.
Die Ziege wich nun nicht mehr von seiner Seite, und so begann er, sie an einer Leine aus Schnur mit nach draußen zu nehmen, wo sie ihm, eng an seine Beine geschmiegt, die Richtung vorgab, in die er gehen konnte.
Da er sich immer mehr zurückzog, war die Ziege bald das einzige Wesen, mit dem er seine Zeit verbrachte. War er mit ihr allein in der Hütte, sprach er mit ihr und erzählte all seinen Kummer. Wenn er weinte, stupfte die Ziege ihn mit ihrem Köpfchen an und forderte ihn dazu auf, sich zu trösten. So wuchsen die Beiden zusammen zu einem Freundespaar. Sami hatte insgeheim einen wohlklingenden und blumigen Namen für sie gefunden, mit dem er sie rufen konnte.
Bald begann er wieder, auf’s Rad zu steigen und die ersten paar Meter zu fahren; die Ziege zog ihn an der langen Leine sacht in die richtige Richtung. Und so wurden die Beiden immer kühner, und bald hatte er den Mut gefasst, bis in die Oase zu radeln, um die duftende Frische des Schattens zu fühlen und das lustige Gurgeln der Quelle zu hören. Auch die Quelle sprach ihm Mut zu und machte ihn stark.
In der Oase lebte ein alter Mann, der Tiere heilen konnte. Er hatte sein Leben lang viel Gutes getan und mit seiner Kunst diese Oase -eine Arche Noah im ständig vom Wind bewegten Meer aus Wüstensand, welcher die Oase zu verschlingen trachtete - am Wachsen und Blühen gehalten; denn dort leben Pflanzen, Tiere und Menschen in Rücksicht und Respekt zusammen und unterstützen sich gegenseitig, so dass jedes Wesen seinen Beitrag zum Überleben der Oase leistet und gleichzeitig von ihr leben kann.
Eines Tages bemerkte Sami, als er die Ziege rief, dass sie sich nur mit Mühe erhob und nicht – wie sonst – in regelmäßigem Tritt daherstakte; sie humpelte und stöhnte dabei. Er tastete sie ab und begann, nach dem Grund zu suchen. Das linke Hinterbein war geschwollen, und sie zuckte zurück, als er es nur sachte anfasste. Sie fraß auch nicht mehr, lag Tag und Nacht nur in der Ecke der Hütte und schlief.
Sami schaute sich die Sache zwei Tage an, dann beschloss er, die Ziege auf den Rücken zu nehmen und bis zur Oase zu radeln, um den weisen alten Heiler aufzusuchen, der ihr sicher würde helfen können. Nur kurz machte er sich Sorgen, wie er dorthin finden würde; aber er vertraute auf seinen siebten Sinn und auf die Ortskenntnis, die er ja in den Jahren angesammelt hatte.
Sie radelten also los; und plötzlich hörte Sami zu seinem Erstaunen, dass die Ziege an seinem linken Ohr raunte und ihm mit klaren Worten die Richtung wies, in die er sich wenden musste. Solange sie nahe bei den Hütten waren, flüsterte sie heimlich; als sie sich aber entfernt hatten, rief sie auf der ganzen langen Fahrt in Klarheit die Worte „links“, „rechts“ und „geradeaus“, und so kamen sie wohlbehalten in der Oase an.
Der alte Heiler hatte sich schon über die sich nähernde zickende Stimme gewundert, und als er die Beiden heranradeln sah, war ihm alles klar. Die Behandlung der schönen und sanften Ziegenfrau war dagegen ein Klacks.
Hans Ulmen hatte das Quietschen des Rades gehört und war aus seiner Hütte am Rand der Siedlung gekrochen. Als er Sami und seine Freundin vorbeiradeln sah, schnappte er flugs seine Kamera und schoss d a s Foto seines (bisherigen) Lebens : Wie der Blinde und die Lahme sich in Liebe zusammentun, um das Geschick zu meistern.
Du kannst es nicht glauben und bist den Märchen entwachsen, lieber Leser? Sieh selbst.
Nur ein Beitrag :
G-Punkt
Nach einer langen und teilweise qualvollen Evolution, in deren Folge – man ist versucht zu sagen: an deren Höhepunkt - die Menschen ihr Gewissen verloren hatten, ging auf dem Erdball alles drunter und drüber.
Darwin hatte durch die Beobachtung der Natur erkannt, dass der Stärkere – oder vielmehr: der Angepasstere – einen Überlebensvorteil hat. Und genau dieses Phänomen war in der bisherigen Entwicklung der Menschheit auch zu beobachten. Ein Gehirn hatte sich entwickelt; beim Wurm noch ein einfaches Ganglion, eine kleine Ansammlung von Nervenzellen, wuchs es, bis zu den Wirbeltieren, blähte sich auf und wurde zur Festplatte für Instinkte und das Denken.
Das Denken, die Erkenntnis von Gut und Böse also: Sie macht den Menschen aus. Und sie war der Grund für die Vertreibung des Menschen aus dem Paradiese. Gewissen birgt Wissen.
Ein Apfel soll es gewesen sein. Derselbe Apfel, der später das Symbol für den Freiheitswillen eines kleinen Alpenvölkchens werden sollte. Derselbe Apfel, der jetzt, giftbelastet, den Siegeszug der Wirtschaftsmacht China zementiert. Der Apfel, der nicht mit der Birne verwechselt werden möchte.
Das denkende Hirn hat den Computer erfunden. Der Mensch kann nun seine Gene erst entdecken, dann manipulieren. Der erste Klon – ein Schaf – entsteht und vergeht.
Das denkende Hirn entwickelte immer perfidere Waffen. Zuerst sprang manchmal noch das Gewissen Einiger dazwischen und machte Rambazamba. Heute scheint es, dass die Technik an sich alles adelt. Derweilen verrotten radioaktive Fässer im Untergrund und geben ihre Fracht frei in das Grundwasser. Derweilen haben die Energieunternehmen mit ihren Atommeilern abgesahnt und wollen nun, da das Festmahl gegessen ist, die abgenagten Knochen auf den Staat ablagern. Die Lobbyisten sind schon am Wühlen.
Die Rüstungsindustrie ist ein wichtiger Wirtschaftszweig. Der Baum ist faul, aus dem er hervorwächst. Jeden Moment sterben Unschuldige. Drohnen knipsen aus der Luft willkürlich Menschen ab. Diese haben nicht die Möglichkeit, sich vor Gericht zu verteidigen. Unsere ‚Verteidiger’ übernehmen das; ihnen ist es nur recht, dabei das Menschenrecht zu vergessen.
Aber zurück (den weiten Weg) zum Gewissen.
Da sitzen zwei Ärzte zusammen, ein altes Paar. Der Liebe Kirschenblüte ist verwelkt, die kleinen Früchte sind noch grün: werden sie süß, werden sie sauer ?
Sie hatten damals studiert, als die Vertreter ihrer Zunft noch öffentlich als „Götter in Weiß“ auftraten. Sie wollten es anders machen. Arbeiteten für ‚Ärzte ohne Grenzen’ bis das Geld der Spenden diese straucheln ließ, waren in Afrika, bis die Kirche ihren Kampf gegen Aids mit der Verteufelung des Kondoms jäh beendete.
In ihrem Arbeitsalltag waren jeden Tag Entscheidungen gefordert und das Gewissen gefragt.
Sie kehrten in ein anderes Deutschland zurück, ein Deutschland der privatisierten Kliniken, mit Zielvereinbarungen und therapeutischen Entscheidungen, die durch wirtschaftliches Denken bestimmt, gegängelt und begrenzt waren. Krankenhäuser waren jetzt Gesundheitszentren, Kliniken wurden zu Profitcentern. Die Patienten waren zu Klienten mutiert, zahlungskräftige Kunden sollten durch Klinik-Homepages auf Russisch angezogen werden. Der Gesundheitsmarkt war eine riesige Geldmaschine geworden, die Menschen gerieten – die Zehnerkarte für Anschluss-Operationen in der zitternden Hand - oft genug in’s Hamsterrad der misslungenen Therapien und fielen am Ende, tot und gequält, heraus.
Als sie damals Deutschland verlassen hatten, war die Jugend auf die Straße gegangen, gegen Atomkraft wurde demonstriert. Die Pille war auf dem Markt, die Emanzipation schuf sich Raum, der weibliche Körper wurde entdeckt und erforscht.
Die Diskussionen über den G-Punkt hatten sie an der Front des Elends verschlafen, dann waren diese folgenlos verflogen.
„Weißt du noch, der G-Punkt ?“ fragt sie. „Ich habe ihn nach langer Suche gefunden.“
„Ich habe mitgesucht.“
„Mit Inbrunst, mein Lieber.“
„Wo ist er also ?“
„Es ist der Punkt, an dem mein Gewissen mit der Seele verwachsen ist.“
„Dann habe also auch ich einen G-Punkt ?“ sagt er.
Sie lachen ob dieser wiederentdeckten Gerechtigkeit.
So finden sie mit einigem Humor den Punkt, an dem ihr Gewissen aufgehängt ist, voller Leben, frei flotierend und sich im Wind bewegend, jeden Tag von Neuem betrachtet und geschliffen; nun glänzt es wie ein Diamant und ist so hart, dass man damit mühelos den Tand zerschlagen kann.
Ihnen ist klar geworden, dass die Menschen das Paradies an das Wissen verloren haben und dass es an jedem selbst liegt, wenigstens ein kleines Stück Paradies wiederzugewinnen.
Mit dem Rest ihres Lebens bauen sie, jeden Tag ein Stückchen, mit Liebe, der Erfahrung ihres Daseins und unter der Sonne des Gewissens die Mauer des Paradieses wieder auf, in dessen Schutz Frieden herrschen und Honig regnen kann, so wie vor dem Sündenfall.
Ein kurzes Turnier.
"Vergangene Liebe ist bloß Erinnerung.
Zukünftige Liebe ist ein Traum und ein Wunsch.
Nur in der Gegenwart, im Hier und Heute,
können wir wirklich lieben."
(Siddhartha Gautama (Buddha)
Wir Menschen irren zwischen Vergangenheit und Zukunft umher.
Die Zukunft irrlichtert in den schillerndsten Farben und verführt uns zum Träumen. Wir werden, ohne einen Blick in den Spiegel zu verschwenden, stark wie Herkules und schön wie Helena.
Aus den Schatten enthüllt die Vergangenheit unseren Gedanken nur das Schöne, denn unser Gehirn schwärzt in seinem Speicher alles Unangenehme und macht es der Erinnerung unsichtbar.
Nina hatte gelebt.
In den ersten Tagen nach dem großen Krieg in eine vielversprechende Zeit hineingeboren, hatte sie als Kind zwar noch Not und Armut erlebt - aber die Absolution durch den großen Bruder und sein finanzieller Ansporn für die sprichwörtlich fleißigen Deutschen hatten alsbald das Wirtschaftswunder generiert, eine Zeit der großen Erwartungen und Versprechen, welche den Makel aus der jüngst vergangenen tausendjährigen Zeit schnell und angenehm verblassen ließ.
Als sie in die Pubertät kam, in diese Zeit der Evolution und Explosion, entstand die Frauenbewegung und die Frauen kämpften für die Emanzipation. Die Pille kam und mit ihr die freie Liebe. Die Kirche haderte. Ein neues politisches Bewusstsein wurde entwickelt, dem die Schuld als Katalisator diente : „Nie mehr Krieg!“ Die Demokratie erstarkte, der große Bruder zeigte seine dunklen Seiten.
Die freie Liebe also. Wunderbare Zeiten, in denen das Gefühl nicht ausreichte, um die geöffneten Dosen auszulöffeln. Wenn sie angestrengt in diese Zeit zurückblickte, war sie unversehens mit einer geradezu modernen Konsumhaltung konfrontiert, der sie und die anderen huldigten – auch in der Liebe. Man musste sie in Anführungsstriche setzen. Dennoch war sie auf in einer Art Unschuld erleuchtet, denn man wusste noch nichts von Aids.
Sie jedenfalls hatte sich sattgegessen. Fifty ways to leave your lover.
Sie zog ihre Konsequenzen und heiratete.
Jetzt wurde die moderne Partnerschaft geübt, erprobt.
Die Frauen bekamen das Wahlrecht, konnten den Führerschein machen, ein Konto eröffnen.
Sie machte ihr Studium zu Ende, begann als Ärztin zu arbeiten. Der Aufstieg in der Hierarchie war steinig. Sie investierte Zeit und Kraft. An dieser Ausschließlichkeit zerbrach die Ehe.
Eine graue Gegenwart begann. Waidwund zog sie sich vom Feld der Liebe zurück und versuchte zu verstehen. Sie grub im Schlamm und fand viele schmerzliche Fehler, die sie gemacht hatte. Das neue Bewusstsein hatte seine Opfer gefordert.
Mit diesen Erkenntnissen hob sie ihren Blick und schaute in die Zukunft. Ganz klar stand vor ihren Augen, was sie nie mehr machen würde.
In der Arbeit pflegte sie allabendlich ihr Gewissen. Dort waren die Zeiten der Privatisierung angebrochen, der Gewinnmaximierung, des ‚Patienten als Kunden’, der Zehnerkarte; wirtschaftliche Effizienz stand vor der medizinischen. Hier gab die Zukunft ihr Rätsel auf.
Die Gegenwart war hart und schwierig. Es wollte kein Wohlgefühl aufkommen. Sie verstand nun, was es bedeutet, wenn gesagt wird: Das ganze Leben ist ein Kampf. Weil sie nicht pflegeleicht sein wollte, weil sie sich der Hierarchie nicht beugte, wurde sie gemobbt.
Was Wunder, wenn all ihr Denken in die Zukunft floh. Sie träumte sich einen Geliebten und wollte für ihn denken und fühlen, ohne Wenn und Aber. Sie krallte sich jetzt an dem Gedanken fest, dass sie bald in Rente gehen werde. Aus dieser Wurzel erblühten die wunderbarsten Träume – vom Sein in der Gegenwart, vom Leben der Träume, vom Reisen, von einem Dasein in Ruhe, der Befreiung von der Last der Verantwortung und den irrwitzigen, zerstörerischen Kämpfen. So stand sie die letzten Jahre in der Arena des Operationssaales durch.
Am ersten Tag ihrer Rente tastete der Geliebte den Krebs.
(Zwischenruf:
Der Esoteriker würde an diesem Punkt sagen: „Was will uns ihr Körper damit sagen?“)
Das Leben ist wertvoll geworden, die Tage gezählt. Genau so gezählt wie vordem; aber das Wissen darum schleudert sie in die Gegenwart, indem es die Zukunft beschneidet. Vielleicht ist das endlich die richtige Sicht, die einzig wahre Art zu leben: im Fluss der Zeit zu schwimmen, mit den Erinnerungen als Gepäck. Und bedingungslos zu lieben, ohne von der „Zukunft“ – oder besser: den allzu menschlichen Gedanken an eine Planbarkeit - verführt zu werden. Es gibt in unserem Leben nur diese einzige Sicherheit: dass wir sterben werden, in der Zukunft.
Die Herrin des Hauses war für drei Monate verreist.
Jetzt war endlich Ruhe eingekehrt, nachdem die Koffer unter der Last der Kleider und Schuhe gestöhnt hatten; das Kosmetikköfferchen hatte alle überschrien, als es über seine gespanntes Bäuchlein gewettert hatte. Am Ende hatten sie sich allesamt doch beruhigt und auf dem Trottoir voller Neugierde auf das Taxi gewartet, das sie zum Flughafen bringen sollte.
Die Kleiderschränke in der Anrichte konnten nun aufatmen, denn ihre Innereien waren nicht mehr so gepresst und die schönen Kleider – fast allesamt aus der Winterkollektion – konnten Luft schöpfen. Das Bett allerdings hatte bald Heimweh nach der zarten Figur seiner Herrin und litt unter der schweren damastenen Tagesdecke, die ihm – jetzt, wo es hätte verschnaufen sollen – die Rippen strangulierte. Der Esstisch hatte mit einer Phase der Sinnlosigkeit zu kämpfen und tröstete sich, zusammen mit den zierlichen Louis XV-Stühlen, beim Gedanken an zukünftige Schmausereien mit exquisiten Gästen oder manchmal auch nur mit einem schmachtenden Liebhaber, der allerdings keinen Appetit zu haben pflegte und sie in ihrer Funktionalität missachtete, da er nur an das eine denken konnte.
Hier konnten sie natürlich nicht dienen.
Die Teller riefen aus der Vitrine, ob sie jemand höre, und als die Gläser antworteten, hielten die Teller auf ihrem Stapel beleidigt den Mund. Da aber der Mund den Gläsern näher war als den Tellern, schaltete sich das Familiensilber ein in’s Gespräch, mit teils spitzen und teils scharfen Bemerkungen, und erhitzte sich dabei so, dass es schwarz anlief.
Der Sekretär verhielt sich still an seinem Platz an der Sonne und war nur darauf bedacht, die vielen Fächer geschlossen zu halten, die vor Geheimnissen strotzten, von denen niemals jemand erfahren durfte.
Unter anderem war in ihm auch eine Schmuckschatulle verborgen mit einer wunderschöne Perlenkette, die die Herrin aus Angst vor Tränen zuhause gelassen hatte. Den Diamantring, der mit der Kette in einem ewigen und fürchterlichen Streit lag, wer denn nun wertvoller sei, hatte sie sich an den Finger gesteckt, bevor sie die schwarzen Satinhandschuhe übergestreift hatte, die ihn vor allzu neugierigen Blicken verbergen sollten.
Über die wulstigen Sessel und die einladenden Sofas, auch über die Recamiere, waren weiße Tücher gebreitet, die das Sonnenlicht fernhielten, das in Streifen durch die Fensterläden spitzelte. Im Kamin staubte die Asche vor sich hin, die von einem lodernden Feuer herrührte, das der junge Liebhaber an ihrem letzten gemeinsamen Abend entfacht, dann aber nach dem Rückzug auf das Löwenfell vor dem Bett einfach vergessen hatte. Alles andere hätte der Herrin auch nicht gefallen!
Der Weg zur Küche führte über einen dunklen und kalten Gang mit steinernem Fußboden. Wenn die Herrin zuhause war und das Personal mit kurzen Schritten den Gang durchmaß, zwischen Küche und Salon hin- und hereilend, war der Gang mit indirektem Licht aus tausend Glühbirnchen erleuchtet, einem gelblichen Licht, das die in die Jahre gekommenen Gesichtszüge nicht allzusehr entblößte. Jetzt aber lag er dunkel da, fast angsteinflössend finster, und wenn eine Fliege auf dem kalten Boden landete, hörte man ein ‚plopp’, an dem die Fliege selbst erschrak.
In der Küche hatte sich das Mobiliar auf eine Zeit der Ruhe eingestellt. Die Messer schliefen einen traumreichen Schlaf, in dem, ohne dass sie einen Finger rührten, das Blut spritzte und dabei keine Flecken hinterließ. Das Nudelholz nahm Schwung und rollte langsam über den Arbeitstisch; am Rande konnte es nicht mehr bremsen, knallte laut zu Boden und brach in zwei Teile. Zu allem brummte der Kühlschrank in der Ecke, fast beruhigend. Er war eine imposante Erscheinung, groß wie ein Baseballspieler, dabei aber von rundlicher Form; daran gewöhnt, immer bis zum Anschlag voller köstlicher Waren zu sein, fühlte er sich nun ausgehöhlt und zu nichts mehr nutze. Er blickte in sein Inneres – durch die angelehnte Tür war das keine Kunst – und sah in der linken unteren Ecke ein winziges Stücklein Käse, das die fleissige Köchin übersehen und völlig vergessen hatte.
Zuerst flog die dicke Fliege herein und bewegte sich entlang dem Geruchsgefälle bis zum Türgummi. Für sie war es keine Kunst, durch den Schlitz zu schlüpfen und im Dunkeln hin zu der Köstlichkeit zu gelangen, die ihre Augen in vielfacher Facettierung fixierten. Sie setzte ihren Stempel auf und sog den Käsesaft gierig in sich hinein.
Sie sollte nicht übertreiben! So flog sie, von der Delikatesse unförmig geworden und beschwert, unter Aufbietung aller Kräfte wieder in Richtung Gang, um dort in Ruhe verdauen zu können.
Den Kühlschrank hatte diese räuberische Aktion nicht sehr gekitzelt. Er sollte nun ein paar Stunden, vor sich hinbrummelnd, ruhen können. Im Morgengrauen – durch die verrammelten Fenster nur zu erahnen – wieselte ein graues Etwas herein, das auf den ersten Blick nicht zu erkennen war. Es war durch ein geheimes Loch unter der Spüle hereingeschlüpft, hielt einen Moment inne, um durch die Nase aufzunehmen, ob die Luft rein war, und ging entschlossenen Trippelschrittes in Richtung Kühlschrank. Der kleine Türspalt war auch hier kein Hindernis, konnte das Wesen doch seine Knochen so zusammenlegen, dass es dünn wurde wie ein Blatt Papier. Nein, nicht wie Papier, das wäre zu verwegen, aber wie ein Eichenblatt, das schon eher.
Auch die kleine Maus hatte einen herrlichen Geruch wahrgenommen, den Duft von reifem, gerade lange genug gelagertem Käse. Etwas zu ungestüm drückte sie sich durch den Türspalt und hatte dabei alle Vorsicht vergessen. Als sie ihre vier Füßchen im Innern hatte, schlug die Tür zu und klemmte ihr Schwänzlein auf’s grausamste ein. Wie ein höllischer Blitz fuhr der Schmerz durch jeden Millimeter ihres doch recht langen Schwanzes, auf den sie bisher immer so stolz gewesen war, den sie nun aber verfluchte. Der Atem stockte ihr; nach einer endlos langen Zeit sprach sie dann beruhigend auf sich selbst ein, auch wenn ihr Stimmlein nicht gerade überzeugend klang: „Reg dich nicht auf!“ (Reg dich nicht auf? Soso.) Sicherlich wäre es ehrlicher gewesen, sie hatte gesagt: „Reg dich ab.“
Sie war festgezurrt und Äonen von dem Objekt ihrer Begierde entfernt, das sie im Schreck fast vergessen hätte. Vor allem die Begierde war ihr nun wirklich völlig abhanden gekommen. Aber eben nur die Begierde und nicht der Hunger, der mit der in dieser hilflosen Lage vergehenden Zeit angeschwollen war wie die Bälge ihrer Schwanzhaare.
Nachdem der Vormittag auf diese dramatische Weise vergangen war, indem sie jede Sekunde wie ein ganzes Mäuseleben durchlitten hatte, war sie halb besinnungslos - sie hätte nicht mehr sagen können, ob wegen der Schmerzen oder wegen des Hungers.
Und da ihr die Erkenntnis dämmerte, dass es um ihr Leben ging, beschloss sie, die Äuglein zusammenzukneifen und den Schwanz zu opfern, ohne den sie gut und gerne leben konnte. Der Schwanz wird in seiner Bedeutung eher überbewertet.
Sie krallte die Zehen mit aller Kraft auf den Kühlschrankboden, der gottlob mit dem Alter etwas porös geworden war, und schnellte nach vorne; dabei prallte sie mit der Nase auf den köstlichen Käse – ein Nasenstüber, den man gerade noch akzeptieren konnte.
Was soll ich sagen: Sie verschlang die Köstlichkeit mit einem Biss und bemerkte doch, dass der Käse anfangs ein etwas sprödes Aroma hatte, im Mittelfeld von sämiger Süße war, um im Abgang rauchig und fast pfeffrig zu werden, bevor er in ihrem Schlund verschwand. Der Nachgeschmack war ein wunderbares Konglomerat von Erinnerung und Völlegefühl, vom Wissen um die Unentrinnbarkeit vor dem Schicksal und einer Illusion von Selbstbestimmtheit, der sie sich ihr Leben lang nie ganz sicher gewesen war.
Was sie dann noch dachte: Wenn Menschen glauben, der Kühlschrank sei leer, so kann er doch noch eine Geschichte enthalten, die sich beim Auswischen in die letzte Ecke geflüchtet hat. Sie haben eben keine so guten Augen.
Es scheint, die Turmiere werden immer kürzer. Dieses Mal haben nur zwei Schreiber teilgenommen.
Thema: "Leben in Sekten"
„Nach Sekte?“ fragte der Taxifahrer.
„Ja, wie ich sagte: nach Sekte, bitte. Wenn Sie es ins Navi eingeben wollen - die Koordinaten sind: 52°11,66’ N und 14°32,00’ O.“
„Sie wissen schon (ich möchte da nicht gerne für mich selbst geschäftsschädigend sein), Sie wissen schon, dass Sekte etwas ganz – wie soll ich sagen? - Besonderes ist.“
„Eben drum.“
Der Jung-Journalist Sven Hammer hatte versucht, sich beim Thema der letzten Projektkonferenz im Hintergrund zu halten. Er hatte dann aber die Stimme erhoben und gefragt: „Leben in einer Sekte oder Leben in Sekte?“ Der Chefredakteur Himmelsau hatte ihn bei versammelter Mannschaft sofort ins Auge gefasst, direkt in die Pupille. Sein phallisch gereckter Zeigefinger war auf Svens Retina eingebrannt. „Zweiteres, Bingo! Sie haben gewonnen.“
Und nun war er da, im Taxi nach Memphis, äh: nach Sekte.
Anscheinend war eine gewisse Strecke ins Niemandsland – so kam es ihm vor - zu fahren; auf dem Taximeter waren bereits 32,79 Euro aufgelaufen. Der gesamteuropäische Euroraum, kein kleiner Raum. Deshalb also hatte der Taxifahrer am Ende doch ein Einsehen gehabt.
Sven lümmelte sich, so gut es ging, auf dem Rücksitz zurecht. Zum wahren Lümmeln hatte er nicht genug Speck auf den Rippen; und wenn er es – in letzter Zeit immer weniger, denn er war lernfähig: Lernen durch Schmerzen – doch wieder versuchte, so bekam er fast jedes Mal vom Leben eine Lektion erteilt. Umso mehr hier, auf diesen gelöcherten Straßen.
„Die von Sekte haben keine Ahnung“, nahm der Taxifahrer den Gesprächsfaden wieder auf.
„So?“
„Wenn ich’s recht betrachte, habe ich mein Lebtag nur zwei Fahrten nach Sekte gehabt. Und die nach der Wende. Hinfahrten.“
„Wie?“
„Was: wie? So wie jetzt.“
In Sven schwangen die Worte ‚Leben’, ‚Lebtag’ nach – das Leben, ein Tag?
Er ließ seine Augen durchs Fenster schweifen. Bald aber war des Schweifens ein Ende, denn auf beiden Seiten der Straße breitete sich eine Wüste aus, eine Zementwüste.
Plattenbauten. Die hatte er in dieser Weltengegend erwartet. Trotzdem war er irritiert. Hatte es nicht geheißen: In Sekte lebt die deutsche Intellektuellen-Oberschicht. So hatten jedenfalls seine Quellen schwadroniert. Schon bei der ersten Informationswelle war ihm das Wort ‚Intellektuellen-O b e r schicht’ aufgestoßen. Als er über dieses Missgefühl nachdachte, war ihm die Inkongruenz zwischen kultureller und soziopolitischer Bezeichnung aufgefallen.
Sollte etwa zwischen diesen Widersprüchen Leben entstanden sein?
Über diesen Reflexionen war er beim Geräusch des sirrenden Motors eingenickt. Erst, als dieser abgewürgt wurde, schrak er hoch.
„Ankunft Siedich..., äh: Sekte. 277,62 Euro,bitte.“
Überrumpelt zahlte er und das Taxi spuckte ihn und seine kleine Tasche aus und verschwand mit einem eleganten, aber schnellen Schwung.
Da stand er nun, auf dem zentralen Platz. Kein Mensch war unterwegs. Das Leben in Sekte– sein Thema. Prima vista nicht vorhanden.
Als die Dunkelheit sich über die Koordinaten von Sekte – 52°11,66’ N und 14°32,00’ O – senkte, hatte er noch keine Menschenseele gesehen. Ein paar Raben krächzten, auf den Überlandleitungen sitzend, und ein paar Mäuse flitzten durch das zwischen den Pflastersteinen reichlich wachsende und fast schon blühende Unkraut.
Als die Sonne untergegangen war, blieb es dunkel. Es entzündete sich in den leeren Fensterhöhlen kein gelb-anheimelndes Licht und an den Fassaden strahlte keine Neonreklame auf, die Sven in seiner angestammten Umgebung immer so kritisiert hatte. Hier hätte sie ihm ein Heimatgefühl suggeriert, das nun ausblieb. Ihn fröstelte. Er fasste mühevoll den Entschluss, sich eine nächtliche Bleibe zu suchen. Da es immer dunkler wurde, - eine Dunkelheit, die er Zeit seines Lebens, so schien ihm, noch niemals gesehen hatte -, musste er sich in die Häuserschluchten wagen und vor Ort eine Herberge suchen.
Ganz nahe, bereits in der ersten Straße, fand er eine Inschrift an der Fassade: „Hotel Sternenstaub“ in altertümlichen Buchstaben geschrieben und fast schon verblasst. Man konnte es auch lesen als: ‚Hotel Sektenstaub’. Hier war er richtig.
Er klopfte, und das Geräusch seines Knöchels an der hölzernen Tür erinnerte ihn an den Sensenmann.
Er schärfte seine Sinne und hörte nach innen, hinter die Eichentür. Hatte er sich getäuscht, von seiner Müdigkeit und dem Wunsch nach einer sicheren Bettstatt genarrt, als er einen leichten Schritt vernahm?
Dann: Ein donnerndes Stöhnen, und die schwere Tür bewegte sich quietschend in den Angeln. Dahinter stand in voller Dunkelheit eine junge Frau.
„Ja?“
„Ich bin beruflich hierher gekommen und suche nun eine Unterkunft für eine Nacht.“
„Da haben Sie aber ein Riesenglück, denn ich bin der letzte Rest des Lebens in Sekte.“
„Haben Sie also einen Platz für mich?“
„Kommen Sie herein.“
Die wohlgeformte junge Frau trug eine Kerze in der Hand, die einen kleinen Kreis vor ihren Schritten erleuchtete und ihre Silhouette formte. Sven musste seine Schritte mit Bedacht setzen, denn er war bereits in volle Dunkelheit eingetaucht. Sie führte ihn in eine ebenerdige Kammer. Das Bett war bezogen, frische Handtücher hingen am Waschbecken, ein angenehmer Duft nach Zitrone lag im Raum. Er stellte seine kleine Reisetasche ab.
„Haben Sie auch etwas zu trinken?“
„Ich glaube, eine einzige Flasche Wein ist übrig geblieben. Ich warte auf sie, 2.Tür links.“
Sven verzichtete darauf, sich frisch zu machen, denn seine Haut fühlte eine entsetzliche Kühle und seine Haare hatten sich allesamt aufgestellt.
Er tastete sich beim Licht des eben aufgegangenen Mondes, das durch die Fenster schien, bis zu angegebenen Tür.
Als er sie aufmachte, fiel ihm der wahre Name des Ortes ein, der diese Koordinaten hatte: ‚Siedichum’.
Und als er einen leichten Lufthauch hinter sich spürte, sah er sich um.
Da stand die wohlgeformte junge Frau; sie schaute ihn mit blutroten Augen an, ihre Eckzähne waren zu wahren Reißern gewachsen und das Wasser tropfte aus ihrem Munde.
3000 und kein bisschen weiser
„Zum Jahres-, nein, was sage ich? Jahrtausend-Wechsel wird die brandneue Währung eingeführt. Heute bleiben nur noch wenige Tage bis zu diesem epochalen Ereignis und wir lüften das Geheimnis: Unsere neue Mark, äh: Euro, wird heissen: ...Eurodoll.“
Unter den Zuhörern, die auf ihren Schemelchen Platz genommen haben, ist keiner, der sich tausend Jahre zurückerinnern kann; in die Zeit zurück, als vor tausend Jahren der Euro eingeführt wurde, der anfangs Träume und Schwärmereien entfacht, bald aber als schmutzige, künstlich aufgeblasene Währung gehandelt wurde, an der Blut klebte. Im Gegenteil: Nun sind alle froh, mit der Einführung des Eurodoll dem großen Bruder schmeicheln zu können, der gerade dabei ist, mit Mann und Maus auf dem Mars auszuwandern.
Das Publikum klatscht mit dem übergroßen Zeigefinger an die knöcherne Ausbeulung an der linken Schädelseite, und das kiangt bedrohlich hohl; die linke Hand taugt zu rein gar nichts mehr, noch nicht einmal zum Ausdrücken der geringsten Freude oder eines Pickels, geschweige denn dazu, sich den Hintern abzuputzen.
Die Zuhörer erheben sich und nehmen dabei kaum an Größe zu. Die Beine der Menschen sind verkürzt und degeneriert und besitzen kaum mehr Muskeln, die Füße sind lächerlich verkürzt und haben lange Krallen, mit deren Hilfe sich diese kleinen Gnome in den Boden krallen, um sich mit flachen Sprüngen fortzubewegen; ein Anblick, der an eine Herde Frösche erinnert, die vor langer Zeit ihre Frühjahrswanderung absolviert haben. Aber wer erinnert sich überhaupt noch daran? Noch nicht einmal die Märchentante wagt mehr, davon zu sprechen, denn sie befürchtet, als Hexe verprügelt oder als Lügnerin ins Glied verdammt zu werden. Lügner sind alle, und wer etwas auf sich hält, versucht der Wahrheit ein Stück weit näherzukommen und sich so aus der Masse herauszuheben, die seit langem die Regie übernommen hat.
So weit das Auge reicht, es ist keine einzige Frau zu sehen. Die Männer haben ganze Arbeit geleistet und mit dem Vorschlag-Hammer die Frauenrechte gestutzt, um sie koran- und bibeltauglich zu machen. Der Begriff ‚das Buch der Bücher’ ist wider besseres Wissen immer noch geeignet, einen blutigen Krieg zu entfachen, und die Psychologen haben ihre liebe Not damit, den Menschen klarzumachen, dass derartige Superlative kontraproduktiv seien in einer angeheizten Produktion von schweren Waffen aus der chemischen und atomaren Schublade.
Wenn man’s recht besieht, so haben manche der Männer kugelrunde Bäuche. Ihr werdet sagen: „Was ist so besonders daran? Das kennen wir zur Genüge.“ Aber nein!
Sie sind schwanger. Und das kam so: Pille, Hormontabletten zum adäquaten Lifestyle und Melatonin haben volle Arbeit geleistet. Da die Frauen – sagen wir einmal: vor rund tausend Jahren – karrieregeil, aber nicht mehr im eigentlichen Sinne geil waren, büßten sie ihre Fortpflanzungsfreude ein. Und Freude führt zu Fähigkeit, wie wir wissen. Also sprangen die Männer ein (wie immer); und da ihre Gedärme vom ausgiebigen Genuss von Fast food ihren Bakterienbestand vollends eingebüßt hatten, bietet sich nun das meterlange, nutzlose Gedärm als Brutstätte an - ich vermeide absichtlich den Begriff ‚Brutkasten’, denn die Form variiert allzusehr. Die Männer tragen also die mit Petri Heil zusammengeführten Genome in ihrem Gedärm aus und gebären sie per vias naturales. Auf diese Art kommen die Foeten in ausgiebigen Kontakt mit den paar Keimen, die verblieben sind, und der Problemkreis ‚Allergie und Asthma’ ist somit schon erledigt. Natürlich sind inzwischen die Toiletten längst umgestaltet und entsprechen voll und ganz den Kriterien für ein kombiniertes Defäkations-Geburtsgadget, bodennah angebracht (ja, wir wissen es schon: die Beine sind kurz bzw. keine mehr).
„Blicken wir aus diesem Anlass tausend Jahre zurück..“ (ER schon wieder, tausend!) „Damals ertranken Flüchtlinge auf ihrem Weg von Afrika nach Europa noch im Mittelmeer.“
Ein ungläubiges Rumpfeln ist zu hören.
„Heute gibt es kein Mittelmeer mehr, man könnte sagen: Wo Meer war, ist nichts mehr. Die Heuschreckenschwärme kommen ungehindert zu uns, Menschen haben das Interesse verloren. Keiner kommt uns zur Hilfe. Der Saharasand deckt gnädig alles zu.“
Der Redner, der einen besonders ausgeprägten Knochenauswuchs an seiner rechten Schädelseite trägt, macht eine Kunstpause. Man möge ihm einen vergrößerten Eurodoll reichen, bedeutet er. Die Stimmung ist jetzt angestachelt, ja angsterfüllt, und jedermann ist bereit, die neuerliche Schweinerei zu feiern und als ultimative Errungenschaft wenigstens zu akzeptieren oder auch nur zu schlucken.
Ein weibliches Wesen (also doch!) schiebt dem Einpeitscher ein Handtuch unter, auf dem das perfekt designte Bild des Eurodoll in all seiner Dollheit aufgedruckt ist. Als die Unruhe im Publikum zunimmt und der Redner dieses als Beweis für einen gewissen Geilheitspegel interpretiert, wird der 3D-Drucker angeworfen und plastifizierte Eurodolls nur so produziert, dass Ackermann und Nonnenmacher ihren Spaß daran gehabt hätten. Der Pep übrigens auch.
Die Frau und das Mädchen
Die Luft. Man hatte ihr immer erzählt, dass sie auf dem Boden der Tatsachen bleiben müsse, wenn sie im Leben Erfolg haben wolle. Der Luftikus, das Wolkenkuckucksheim, die heiße Luft waren ihr immer als verachtenswert dargestellt worden.
Aus den fliegenden Teppichen ihrer Kindheit, auf denen sich Sheherezade aus ihrem Gefängnis befreite und auf den Flügeln ihrer Geschichten die Freiheit gewann, waren Flugzeuge geworden, die sie im Geschäftsleben und im Urlaub bestieg, die Angst unterdrückend vor dem freien Fall, dem tödlichen. Die hohen Sphären rund um die Erde waren voller Satelliten, die die Stimmen der Menschen über Telefon übertrugen, ihnen die Fernsehbilder ins Wohnzimmer brachten, das Wetter beobachteten, ihren Weg auf den Straßen begleiteten und sie führten. Falkenvögel zogen an schönen Tagen in Spiralen und ohne einen Flügelschlag in schwindelnde Höhen und stürzten sich wie ein Stein auf das Beutetier, das sie von so hoch oben erspäht hatten. Keifende Schwalbenschwärme umrundeten in den Dämmerungsstunden die Häuser. Sternschnuppenschauer ergossen sich in der Nacht über den hohen, schwarzen Himmel, schweigend, und verglühten für immer, sobald sie sich dem Horizont näherten.
Sie sog mit jedem Atemzug die Luft in sich ein. Ein tiefer Seufzer spülte die Luft in ihr tiefstes Inneres, wo ein schwarzer See voll Trauer ruhte.
Sie hatte ihren Mann verloren.
Seither hatte sie wie besessen gearbeitet. In den ersten Tagen nach seinem Verschwinden war sie steif vor Schmerz gewesen; das wehe Herz, den krampfenden Bauch hatte sie an ihrer eisernen Wirbelsäule verankert; das Gesicht, dass sie nachts aus dem Spiegel ansah, war nicht mehr ihres. Sie war hart geworden. Dann begann der Schmerz in ihr zu wüten.
Selbst auf die Gefahr hin, diese Zeit für immer zu verlieren, musste sie sich in eine Kapsel einschließen, in die niemand mehr Zutritt bekam. In der Zeitlosigkeit zettelte sie einen Kampf nach dem anderen an. Ihre Rüstung war die Erbarmungslosigkeit, ihr Schwert die Verzweiflung. Sie machte Karriere: ‚Da ist noch Luft nach oben.’
In ihrer Eiseskälte brannte sie aus.
Eines Tages brach sie zusammen. Die Energie hatte sie - wie vorher die Empathie - am Ende verlassen, ihr Rückgrat war gebrochen, der Klumpen Schmerz, der in ihrem Inneren wühlte und ihr Ich gekapert hatte, zog sie zu Boden.
Als sie aus ihrer Bewusstlosigkeit aufdämmerte, stand da ein kleines Mädchen. Zuerst erkannte sie es nicht. Das Mädchen lächelte und kam auf sie zu. Erst jetzt konnte sie mit großer Anstrengung sehen, wer das Mädchen war: sie selbst.
„Ich habe mich die ganzen Jahre verkrochen,“ sprach das Mädchen, „nun kann ich wieder aus meinem Versteck kommen.“
„Und ich hatte dich ganz vergessen,“ erkannte die Frau.
„Du warst auch versteckt, in deiner Kapsel. Komm zu mir auf den Teppich, wir fliegen in die Zeit vor deinem Schmerz.“
Gesagt, getan.
*
Der Flug ging anfangs in leichten Wellen vor sich, so als ob sich ein kleines Schifflein noch im Hafen befände, bevor es auf die hohe See hinaussticht. Kein Laut war zu hören; und so wagten die Beiden es nicht, das ewige Schweigen der Sphären zu stören. Das Glück darüber, dass sie sich wiedergefunden hatten, strömte in ebenso sanften Wellen durch ihre Seelen.
Der Teppich machte eine leichte Wendung gen Südost. Der Wind verschärfte sich. Unter seiner Kante fegte ein baumloses Gebirge dahin, mit schroffen Gipfeln und spitzen Felsen.
„Hier, sagt man, wohnen die Vampire,“ sagte das Mädchen.
Die Frau zog einen Spiegel aus der Tasche, blickte hinein; mit einem kleinen Schrei stellte sie fest, dass ihre Eckzähne weit über die Lippenränder hinausragten.
„Ich habe die Liebe gekannt und verloren“, sagt die Frau traurig.
„Liebe geht nie verloren“, entgegnet das Mädchen, „sie ist eine Energie, die nicht zerstört werden kann.“
*
„Jetzt halte dich fest, denn wir kommen in turbulente Gefilde.“
Der Teppich schlug in hohen Wellen auf und ab und pfiff an einem Gebirgsgrat vorbei, der in ewiger Firniss leuchtete. Am Fuße des Berges liefen Menschen hin und her; sie kamen ihnen wie Ameisen vor. Auch diese Menschen selbst sahen sich so: als einen kleinen und unbedeutenden Teil eines Größeren, der sie zur Liebe befähigt hatte.
Das Mädchen wies auf ein Land am Horizont: „Dort liegt das Land, das das Recht auf Glück in der Verfassung verankert hat, Bhutan. Dort wird jährlich das Bruttonationalglück gemessen.“
*
„Mein Gott, all das habe ich gekannt und vergessen. Weh mir!“
„Du hast dem Schmerz zu viel Raum gegeben. Man kann ihn formen, kann ihn sich zunutze machen. Dein Schmerz nutzte noch nicht einmal dir selbst.“
„Er hat mich übermannt, ich wurde seine Sklavin.“
„Gieße ihn in Geschichten, um dich auf ihren Flügeln vom Kummer zu befreien und die Liebe zu finden.“
Die Frau begann zu sprechen, fing an zu erzählen. Eine Geschichte gebar die nächste, und ihre anfangs tränenschwere und tonlose Stimme begann zu singen und eine Süße anzunehmen, die sie seit Langem verloren hatte.
Das Mädchen, das mit Spannung und Genuss zugehört und ein um das andere Mal vor Spannung den Atem angehalten hatte, nahm den Spiegel auf und hielt ihn der Frau vor. Sie blickte hinein und sah nun ihr zartes Gesicht mit rosigen Wangen, die beängstigenden Zähne hatten sich zurückgebildet und waren nicht mehr zu sehen.
Viele Stunden sind sie nun auf dem Teppich geflogen und haben Geschichten gewirkt. Das Mädchen schien müde zu sein, die Frau aber fühlte sich wieder lebendig, so, als ob sie sich aus ihrem Kummer geschält und alle Energie in sich wiedergefunden hätte.
Das Mädchen sagte: „Ich muss mich jetzt von dir verabschieden, denn du musst deiner Wege gehen. Tu einfach einen Schritt in die Luft, und du wirst schweben, weil du jetzt wieder leicht bist, leicht wie ein Schmetterling. Die Liebe wird dich tragen. Ich werde auf dich warten, wenn aller Tage Abend gekommen ist.“
Die Frau blickte über den Teppichrand hinunter; sie schwebten gerade über einer Oase. Sie küsste das Mädchen zum Abschied und tat den Schritt. Und die Luft trug sie. Sie musste nur an ein Wunschziel denken, und die Luft wehte sie dorthin. Die Geschichten umgaben sie mit einem unsichtbaren und süßen Netz, in dem sie saß wie eine zauberhafte Spinne, um die Menschen anzuziehen, denen sie von ihrem Schmerz, der Liebe und dem Mädchen erzählen wollte, das sie mit seiner alten Weisheit gerettet hat.
Thema: Übereifer
Das lachende und das weinende Auge
Der Regisseur war für seine Komödien berühmt.
Damals, vor 40 Jahren, hatte er als Straßenkomödiant begonnen. Seine Mitstreiter für ein nicht-kommerzielles Theater, ein „Theater der Armen“ ohne Nerz und Würgerzwang, ohne brillantenblitzende Damen und geschniegelte Herren - einfach mit Frauen und Männern für Frauen und Männer - hatten jahrelang der Armut standgehalten und ihrem Stolz behalten. Als sie die Zeit der Jugend hinter sich gelassen hatten, fiel dieser und jener ab - aus purer Not - und wechselte an ein staatlich subventioniertes Theater, wo er ein kärgliches Gehalt und einen minimalen Rentenanspruch zu erwarten hatte und die Klassiker in jeweils neuem Gewand aufführte.
Es hiess: Der heutige Mensch muss sich mit King Lear identifizieren können, in dieser unserer Zeit, wo wir eine ausgewachsene Identitätskrise haben. Außerdem sind wir auf unsere Abonnenten angewiesen. Also erschien King Lear in Jeans und Cowboyboots auf der Bühne; nur mit Mühe kam seine königliche Art über die Rampe, denn er räkelte sich wie ein Spätpubertierender auf dem Boden herum und blieb das gesamte Stück über auf dem Teppich. Die Julia (ja, die vom Romeo) war schwer heroinabhängig, was kein Wunder ist bei dieser Sozialisation, und setzte sich am tragischen Ende natürlich den goldenen Schuss, und das nicht etwa aus Liebe, sondern aus Abhängigkeit. Der Prinz von Homburg trat breitbeinig und im Gestapo-Ledermantel auf und ballerte mit Worten und einer goldenen Pistole, und Emilia Galotti war eine Punk mit neonfarbenen Strähnen.
Der Regisseur hatte in seiner Truppe einen besten Freund, einen begnadeten Schauspieler, athletisch gebaut, der aus dem Stand die unwahrscheinlichsten Sprünge und Salti vollführen konnte und mit einer Viertelschraube immer heil auf dem Asphalt aufkam. Er nannte ihn ‚Muscolini’. Überhaupt hatten sie sich in die Commedia dell’arte eingearbeitet; der rüpelhafte Bauer und der raffinierte und wohlerzogene Narr zeigten zirzensische Stücke, die den Zuschauern allen Respekt abnötigten und gleichzeitig dem Auge und dem Geist Nahrung boten. Die Menschen dankten es ihnen und luden sie zum Essen ein, wenigstens aber zu einem Glas Wein. Die kleinen Mädchen strahlten sie an, und das Eis in ihrer Hand zerfloss und tropfte zu Boden.
Muscolini hatte sich in Simone verliebt, die eines Abends in der ersten Reihe der Zuschauer stand; eine wilde und leidenschaftliche Liebe, die die Zeiten überdauert hat. Simone wurde bald darauf schwanger, und sie entschieden, dass er in ein Angestelltenverhältnis wechseln solle, um die kleine Familie zu ernähren. So ging er ans Stadttheater. Er tröstete sich mit dem Gedanken, dass seine Kunst auch Kunstbanausen überzeugen könnte und dass vor Gott jeder Mensch, ob Banause oder nicht, gleich sei.
Im Laufe der Jahre, im Laufe der Spielzeiten, wurde er in allen großen Rollen des klassischen männlichen Repertoires eingesetzt, aber die Sache langweilte ihn immer mehr. Er gab den Götz, den Wallenstein, Siegfried, den Grafen von Montechristo, Richard den Dritten, Güldenstern und Macbeth, den Faust - er gab und gab und nichts kam zurück. Im Keller seines Mietshauses übte er weiter seine akrobatischen Nummern, und als er eines Tages seinen Freund, den Regisseur, wiedertraf, brauchte dieser keine großen Überredungskünste, um ihn wieder für sein neuestes Straßentheaterprojekt zu begeistern.
Der Regisseur hatte den Slapstick für sich entdeckt. Er war von den Worten abgekommen und hatte sich den Taten zugewandt, den Gesten, die überzeichnet und damit in großer Klarheit bis zur Lächerlichkeit überdehnt wurden. Jeder Zuschauer sollte sich in diesen unglückseligen Figuren wiedererkennen und, im besten Falle, über sich selbst lachen.
Muscolini war der richtige Mann; er konnte Menschliches und Allzumenschliches durch die Kunst der Akrobatik mit der Traurigkeit versöhnen, die jedwedes Versagen in uns hervorruft.
Und Muscolini wuchs über sich selbst hinaus. Er verstärkte die Figuren der Lächerlichkeit, überzog im Stolpern und Fallen wie ein Mistkäfer, schlingerte immer ausladender mit Armen und Beinen wie eine Schlange und drehte den Kopf wie der Uhu um seine eigene Achse.
Eines Tages fühlte er sich sicher und unfehlbar. Sein Sohn hatte das Abitur hinter sich gebracht, Simone liebte ihn über alles, und er hatte wieder eine Bühne gefunden, auf der er seine Zeit nicht umsonst verbrachte. Er fühlte sich von Dionysos, dem griechischen Gott des Theaters („wegsparen!“) geliebt und beschützt. Mit einem Blick zu ihm nach oben setzte er an zu einem Salto, den er zum ersten Mal mit einer ganzen Umdrehung abschließen wollte. Die Luft trug ihn für einen Augenblick, für einen allzu kurzen Moment. Er schlug mit dem Kopf krachend am Boden auf und konnte sich nicht mehr bewegen.
Nun saß er im Rollstuhl; Simone schob ihn, wo immer er hinwollte. An den Nachmittagen saß er vor dem Fernseher; er sah eine Dokumentation über Charly Chaplin.
Charly strampelte in einer Filmsequenz durch die Straßen, auf einen Zirkus zu. Er war arbeitslos und wollte sich als Clown verdingen. Der gestrenge Zirkusdirektor verlangte eine Probe seines Talents. Der Zirkusclown spielte ihm Szenen vor, er spielte Szene um Szene nach; der Clown übertrieb maßlos und langweilte, er aber reduzierte jedem Akt auf eine Andeutung und machte die Szene plötzlich lustig und gleichzeitig so menschlich, dass man darüber lachen musste und weinen konnte.
Und so - beeindruckt von Charlys großer Kunst, die das Kleine liebte -, dachte er an seinen gefährlichen Eifer, seine verzweifelte Risikobereitschaft, die ihn zu immer schwierigeren Stunts verführt hatten. „Herausforderung“ suchen ! Er hatte sein Haupt bis in den griechischen Götterhimmel gesteckt, jetzt steckte er im Rollstuhl fest.
Aber der Regisseur schrieb ein Stück für ihn: ‚Roll on, Rock’. Für seinen Freund fand er starke Worte, mit denen dieser seinen Schabernack treiben konnte, so akrobatisch wie eh und je.
Thema: Die Jahrhundert-Kissenschlacht
Fluch und Segen der Zweisamkeit
Von einem mit Lüsternheit begabten – andere meinten: geschlagenen – Manne erdacht, erfolgreich durch die Abteilungen Statistik und Design gegangen, kam das Gadget auf den Markt.
Sein Erfinder war in den Bergen geboren und insgesamt für einige Jahre an der Dirndl-gepuschten Brust gelegen; schon seit seiner Pubertät hatte er, fast zwangsgesteuert, viel über den Einen, die Zweisamkeit und die Dreieinigkeit gebrütet und diese philosophischen Ansätze erfolgreich auf verschiedene Erscheinungen und Phänomene in der Natur übertragen. Von der psychologischen Warte aus wächst das Konfliktpotential – wie wir wissen - mit der Anzahl der Beteiligten, wobei zu bemerken ist, dass Kriege zwischen Zweien anhaltender sind und häufig einer Lösung erst nahekommen, wenn einer von beiden am Boden liegt.
Bei dem Objekt handelt es sich nun um zwei von einem statisch tragenden Kissen, gesteppt, umgebenen Nichtse, Vakuümer, welche mitteis einer ohne viel Fantasie auszuschmückenden Aufhängung sowie einer bandartigen Rundumstütze am weiblichen Körper angebracht werden. Natürlich loco tipico.
Die trennenden Stützen waren ihr Lebtag lang dazu verurteilt, nebeneinander her zu vegetieren, fest verkettet. Der Konflikt war vorprogrammiert; sie aber träumten, seit sie denken konnten, von der Erlösung in Form einer Schlacht.
Eines glücklichen Tages warf ihre prächtig mit Holz versorgte Besitzerin das gute Stück in die Waschmaschine und vergaß, den Schongang einzulegen. Bei 1200 Umdrehungen löste das Schicksal den Svarowsky-besetzten Verbindungssteg, und die beiden kleinen und konkaven Kissen wurden hin- und hergestülpt und in einem glücklichen Moment in Punchposition gebracht. Sie zögerten nicht lange, diesen Wink des Schicksals mit vollem Herzen anzunehmen und den langgehegten Wunsch auszuführen, und schlugen sich kurz und klein, von der rasenden Trommel unterstützt. Es flogen die Fetzen, es flogen die endlich aus der Steppung befreiten Flocken der Füllung und nebelten alles ein. Der zweite Spülgang legte noch einmal einen nassen Frieden über das Gestöber und wollte dem aus dem Ruder gelaufenen Objekt der Begierde die einmalige Gelegenheit bieten, sich wieder als Kissen für die Aufbewahrung der schönsten Äpfel der Welt zu begreifen und ein- für allemal von Schlachten, vom Schlachten, abzusehen. Doch der Damm war gerissen, und der ultimative Schleudergang ließ nicht lange auf sich warten und gab dem Schlachtengetümmel neuen Auftrieb.
Und so erfüllte sich das Geschick der tragischen Verkettung zweier gleichförmiger, aber doch so unterschiedlicher, mit Witz erdachter, mit architektonischer Finesse erarbeiteter Kissen zur Aufnahme und Präsentation der wunderbarsten Weichteile auf Erden – und gerann zu einer kleinen Geschichte, der Geschichte einer Schlacht, die keinen Sieger kannte, der Geschichte eines Wonderbra, dessen Lebenszweck sich in einer Flusenschlacht auflöste, das entsprechende Sieb verstopfte und die Fluten zum Überlauf brachte, die durch die Böden des dritten, des zweiten und des ersten Stockwerks bis in den Keller quollen und die Statik des größeren Ganzen ins Quellen brachten, wo er selbst doch so klein, aber nicht unbedeutend war.
Thema: "Propeller"
Foto Petra Schmidt by pixelio
Freiheitsgrade
Der Sommer war heiß wie in den Südstaaten; er fühlte sich des öfteren wie die Katze auf dem Blechdach, obwohl er auf seiner fixen Position manchmal recht lange im Schatten war.
Vor dem Fenster war der Rasen verbrannt und die Bäume ließen bereits im Hochsommer ihre Blätter fallen. Alles war mit einem feinen rosa Sand überzogen, der aus der Wüste Sahara herbeigeflogen war. Unter ihm schwirrten die Zebramücken und suchten blutdürstig nach einer warmen Haut, in die sie ihren Saugrüssel bohren konnten, um an das süße Blut zu kommen.
Dies war die Zeit, in der er zu tun hatte. Die Erwartungen an ihn wuchsen sich zu einem veritablen Leistungsdruck aus, und so ging er ans Limit. Seine Lager liefen heiß und produzierten weitere Hitze, sie begannen allmählich zu reiben, so dass ein feiner Metallstaub herausrieselte und sich mit dem Wüstensand vermählte.
Soweit er sich erinnern konnte, hatte er nie so viel gearbeitet. Es kam ihm spanisch vor, dass er mitten in Deutschland so heftig gefordert war. Als der Tag sich neigte und die Sonne hinter den Dächern verschwand, ohne dass die Hitze verschwunden wäre, hörte er das Statement eines Wetterphilosophen, der eindeutig und mit einer sehr kurzen Beweiskette darlegte, woher dieses Phänomen kam. Er extrapolierte dessen Ausführungen ins nächste Jahr und ihm wurde klar, dass er nun immer wieder und immer mehr gefordert sein werde – bis zum Erbrechen, bis zum Brechen. Dabei wurde er doch immer älter und das Gelenk wollte nicht mehr so, wie es sollte.
Nachts wurde er stillgelegt. Er hatte nun Zeit, in aller Ruhe weiterzuphilosphieren, zuerst eine schonungslose Analyse der Gegenwart anzufertigen, um dann – sich Mut zupumpend – in die Zukunft zu schauen, die sich momentan nicht sehr rosig darstellte.
Was, wenn die Hitze im nächsten Jahr noch zunähme? Er würde dann möglicherweise völlig an seine Grenzen stoßen und erbarmungslos ausgewechselt, wie so viele Gerätschaften vor ihm. Diese leistungsbezogene, festgezurrte und ausgelieferte Position störte ihn mehr und mehr.
Aber, bevor er gänzlich zum alten Eisen geworfen würde und der Rost ihn langsam von innen heraus zerfraß, wollte er allen Mut zusammennehmen und es denen da zeigen, denen seine Hochgeschwindigkeitsumdrehungen immer weniger genügten.
Nein, er würde sich nicht in dieser unwürdigen Position festnageln lassen, diese Undankbarkeit nicht weiter ertragen. Er würde seine immanente Bewegungsfähigkeit ummünzen und für sich selbst nutzbar machen. Er würde die Dübel hinter sich lassen und in ein neues Leben eintreten, einflattern, da gäbe es kein Halten mehr.
So sorgte er im Geheimen, eine kleine Unwucht nutzend, um ein wenig mehr Freiheitsgrade, die ihrerseits die Hitze im Zimmer noch vermehrten. Die Fenster waren weit geöffnet, die Sonne hatte eben erst begonnen, ihre Macht erbarmungslos auszuspielen. Er nottelte sich los; am Anfang war es schwierig gewesen, jetzt tat die Wucht das ihrige. Mit Geduld und ohne Spucke wartete er den richtigen Moment ab. Seine Herrschaften hatten nichts bemerkt.
Dann war er frei. Eine letzte Umdrehung belegte das Zimmer mit einem trägen Lufthauch. Dann flog er Richtung Fenster, Richtung Freiheit. Wie ein junger Vogel, der vom Nestrand springt, wunderte er sich selbst über sein Fliegen. Er jubilierte, als er sah, dass er Meter machte, ohne zusätzliche Anstrengung.
„Heinz, der Prop, der Prop..“
„Eller“, dachte er noch, „Eller, wie Teller. Schneller!“
„Der Propeller!“ war das Letzte, was er hörte.
Texte: Copyright bei der Autorin
Bildmaterialien: Titelfoto: Annegret Pohlmann, Stethoskope: W.Broemme by pixelio, Schlussfotos Dr.Ulrike LupiFuß
Tag der Veröffentlichung: 17.07.2011
Alle Rechte vorbehalten