Wir glauben, ewig zu leben, machen Lebenspläne, strukturieren unsere Zukunft; Versicherungen und Kreditinstitute hängen sich an diese unsere Illusion und profitieren davon.
Wir haben das Gefühl für die Vergänglichkeit verloren; trotz aller Uhren hören wir nicht mehr die Zeit, die tickt.
Die Spuren der Zeit werden vertilgt, wegoperiert oder wenigstens zugekleistert, das Alter wird peinlich. Weil wir es am liebsten verdrängen würden, verlieren wir jeglichen Respekt.
Zwei Eichen standen auf der Gemeindegemarkung, sie standen seit 260 Jahren, bei Sonne und Schnee, Wind und Regen. Sie haben dem Frost, den Stürmen, der Trockenheit widerstanden, waren stark geworden. Jedes Frühjahr pumpten sie ihre Lymphe zusammen mit dem Chlorophyll aus den Wurzeln wieder in die Äste und ließen ein herrliches Blätterdach entstehen, das den Sommer über Schatten spendete und vielerlei Gästen Schutz bot. Im Herbst sammelten sie ihren Lebenssaft wieder in den Wurzeln und zeigten ihre pure Form. Schnee, Eis und kalte Winde konnten ihnen so nichts anhaben. Im Frühling stülpten sie ihr Leben wieder nach außen.
So weit, so selbstverständlich.
Sie hatten Napoleon mit seinem Heer vorüberziehen sehen, als er sich anschickte, ganz in der Nähe die österreichischen Truppen im Kampf zu besiegen. Sie hatten die Luftangriffe auf Ulm aus der Ferne erlebt, die heranfliegenden Bomber, den Glanz des Phosphorbrandes. Sie hatten das Dorf wachsen sehen, die Häuser kamen immer näher.
So nah, daß plötzlich ihre Herbstblätter in die Gärten wehten, die Kehrwoche kaum mehr zu bewältigen und die Grünanlage nur noch mit viel Arbeit sauberzuhalten war. Das ärgerte die wackeren Schwaben.
Am Stammtisch wurden die Gemeinderäte mit dem Thema befaßt. Es waren Ameisen am Stamm der Bäume gesichtet worden, die blähten sich auf und wurden zur Roten Waldameise. Alarm! Probebohrungen an Stamm und Wurzeln konnten den Verdacht nicht ausräumen: Vielleicht wurden sie ja nach und nach innerlich zerfressen, könnten dann auf die Häuser stürzen, alles verwüsten und Menschen erschlagen. Ein Horrorszenario. Vielleicht käme ja der Jahrhundertsturm oder gar der Jahrtausendsturm, wie gefährlich!
Die nächsten Nachbarn, denen die Bäume an's Herz gewachsen waren, setzten sich für sie ein. Sie aktivierten den Bund für Naturschutz, appellierten an die Landschaftsschützer, argumentierten in der Gemeinderatssitzung für die hochbetagten und kraftstrotzenden Eichen, wollten das Gelände kaufen, um sie zu retten.
Ein langer Kampf, der jäh endete: Kurz vor der entscheidenden Gemeinderatssitzung schrieb der BUND in der Regionalzeitung einen polemischen Artikel über den ‚Fall‘, den Gemeinderäten fiel damit die Entscheidung leicht: ‚Fällen‘.
Das Fällkommando rückte an und machte ganze Arbeit; in wenigen Stunden fielen zweimal zweihundertsechzig Jahre Leben.
Man ließ dem nächsten Nachbarn netterweise einen der Bäume vor seiner Haustür liegen, sozusagen als Trost für einen frustranen Einsatz.
Das schöne Eichenholz! Landauf landab gibt es kein Sägewerk mehr, das das Holz hätte bearbeiten können, keine Maschine mehr von dieser Größenordnung. ‚Wir besorgen unser Holz aus China'.
Der Nachbar hatte Monate zu tun, um aus dem Baum Brennholz zu machen. Einige wenige Stücke des Stamms hob er sich auf, um daraus Skulpturen zu machen, denn er ist Künstler.
Diese Eiche wird eine Metamorphose durchmachen: Sie wird als Kunstwerk weiterleben und Wärme geben. Ein schwacher Trost.
efallen? Im Regal der Autorin stehen noch die unterschiedlichsten Werklein, die sich Aufmerksamkeit wünschen…
Texte: Auszug aus meinem Essayband "Neues aus der Gruselkiste"Copyright für Text und Bild bei der Autorin
Tag der Veröffentlichung: 04.05.2011
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