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Ein Blick in die Gesichter

 

 

16. - 21.Februar 2011

 

Ich ging so meines Weges, an einem grauen Tag. Der Blick in die Gesichter der Menschen auf der Straße legte einen Schleier auf meine Seele: Eile, Zeit ist Geld, „hat die dem lieben Gott die Zeit gestohlen?“ Lieb's Herrgöttle, lass me ganga!

 

Sie huschen um die runden Ecken, die Schultern hochgezogen, denn es herrscht eine feuchte Kälte; der Nebel, der den Münsterturm verhüllt, läßt kleine Wassertröpfchen fallen. Hatte ich heute wieder einen Ärger! Ich habe mich aber auch nicht richtig verteidigt. Anstatt mich zur Wehr zu setzen, bin ich aufgestanden und rausgegangen. Warum macht meine Wut mir keinen Mut?

 

In grauen Beton gegossen: Die Ulmer Spatzen, Sinnbild für intelligente Problemlösung. Was machen die denn da, in einer ruhigen Ecke hinter dem majestätischen Münster?

 

 

 

Einer hat den Kopf erhoben und breitet seine Flügelchen aus, um durchzustarten; der andere hat sein Hinterteil in den Sand gesetzt und nimmt ein Bad, dabei schaut er, erhobenen Hauptes, in den Himmel; der dritte steckt den Kopf in den Sand.

 

Wir können uns aussuchen, wie wir mit den Dingen des Lebens umgehen. Unsere Entscheidung, ob wir uns niederdrücken lassen oder erhobenen Hauptes alles konfrontieren, dem wir nicht ausweichen können.

 

Dabei könnten wir die Augen offenhalten, unsere Umwelt zur Kenntnis nehmen, mit ihr kommunizieren. Unsere Spiegelneuronen spiegeln lassen.

 

Ich gehe ein paar Schritte weiter. Und sehe folgendes Statement:

 

 

 

 

Ja, das ist eine ganz andere Geschichte, und wahrscheinlich eine Geschichte mit Haken und Ösen, mit Winkeln und offenen Plätzen, mit einer Klaviatur von Gefühlen, die in meinen Ohren wie ein orgiastisches Konzert tönen. Dieser Sprayer hat den Kopf nicht in den Sand gesteckt! Sein Kunstgebilde ist den Elementen ausgesetzt und wird, ähnlich einem Tattoo, mit der Zeit altern und dann ganz verschwinden. Währenddessen hat er den Anlaß seines Statements längst vergessen.

 

Um wieviel schöner – und keinen Deut weniger lebensnah – ist doch der Satz, den sich dieser Edelmann um den Kopf geschlungen hat, und das schon 1380:

 

 

 

„Lieb ist ein wildiu hab. Hüt lieb, moren schbab.“ („Liebe ist ein unsicherer Besitz. Heute lieb, morgen abgeschoben.“)

 

Dann komme ich an einer Stelle vorbei und sehe diese Allegorie:

 

Hier brennt kein Herz mehr, hier bleibt die Küche kalt. Dampfablassen nicht mehr möglich, jedenfalls nicht gezielt.

 

 

 

 

 

 

 

Ein Ulmer Spaziergang an einem kalten, grauen Tag, dem 16.Februar 2011

 
















 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Moderne Musik in Ulm

 

Das Theater schraubt sich hinan bis zu Wagner. Respekt: Bei diesem Orchester und dieser Abonnentenschar aus dem ländlichen Umfeld kaum zu stemmen.

 

Auf meinem heutigen Spaziergang gelangte ich in ein wundervolles Gewölbe: dem Minne- (oder auch Meister-) -Singersaal. Minne verlangt Meisterschaft. Die hier gezeigten Musikanten entstammen dem Jahr 1380. Die Musikanten waren dünn, die heutigen Ulmer leiden weitgehend an Fettleibigkeit. Wenn man daran denkt, hat sich in Ulm die Musik in erbärmlicher Weise ausgedünnt.

 

Nach dem 2.Weltkrieg, als alles am Boden lag, entstand die Hochschule für Gestaltung und die vh (im Gedenken an Einstein und die Geschwister Scholl). Dort – und nicht nur dort - wirkten auch zwei Ulmer Musiker, die der Vergessenheit anheim gefallen sind.

 

Ihre Geschichte ist eine wunderbare.

 

Bernhard Rövenstrunck war durch den Krieg in den Süden Deutschlands verschlagen worden und lebte und arbeitete in Buchau am Federsee. Ein magischer Ort, ein Ort der Moorleichen. 

 

Jaime Padrós, ein Katalane, der Deutsch lernen wollte, hatte eine Brieffreundin, die in Buchau wohnte. Wie das Schicksal es wollte, wohnte sie zwei Stockwerke über Bernhard Rövenstrunck.

 

Eines Tages besuchte Jaime Padrós seine Brieffreundin, um sein Deutsch der Härte des Alltags auszusetzen. Wie er nun im Treppenhaus hinanstieg – es gab damals keine Aufzüge, und er brauchte auch keinen, wie man sieht – hörte er wundervolle Töne aus der Wohnung im Erdgeschoß kommen: Klavier, moderne Musik.

 

Er klingelte. Und unterbrach damit die Tonfolge.

 

Bernhard Rövenstrunck öffnete die Tür, beide sahen sich, erkannten sich und verstanden sich auf Anhieb.

 

Aus dieser Freundschaft entwickelte sich eine fruchtbare Phase in Beider Leben.

 

Sie zogen nach Ulm. Komponierten, lehrten, wurden zu wenig anerkannt, starben in hohem Alter.

 

Jaime Padrós erhielt wenigstens den Auftrag, die Musik zur Eröffnung des Stadthauses zu schreiben.

 

Bernhard Rövenstrunck vermachte sein gesammtes Werk dem Ulmer Stadtarchiv.Beide sind - Padrós in seiner alten und Rövenstrunck in einer neuen Heimat - begraben.

 

Die Zeit verschwimmt, die Donau fließt.

 

17.Februar 2011

Verborgene Schönheiten

 

 

Heute, wo Schönheit allgegenwärtig und wohlfeil ist - genauer gesagt: Schönheit, die durch Konsum zu erreichen ist – springen uns an jeder Straßenecke Piercing-, Tattoo- und Nagelstudios an. Die Frage taucht unausweichlich in uns auf: „Wer braucht das alles?“

 

Ja, wir Menschen brauchen Schönheit und Harmonie um uns herum.

 

Die Alten wußten das. Sie haben sich mit Schönheit umgeben. Sie wohnten darin, sie arbeiteten darin.

 

Zum Beispiel der „Reichenauer Hof“, im 14.Jahrhundert erbaut. Er hat die Zeit und den Krieg überlebt. Im Verborgenen öffnet er sich, ein wenig abseits der lärmenden ‚City‘. Über einen Innenhof mit Baum und Brunnen, der eine tiefe Ruhe bewahrt, steigt man zu ihm hinauf, auf einer breiten Treppe und unter romanischen Bögen. In seinem Inneren verbirgt er ein Juwel: einen gotischen Gewölbekeller voller Fresken: den Minnesängersaal, auch Meistersingersaal genannt. 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Schon beim Durchschreiten des Tors zum Innenhof sickert in unser Bewußtsein: Die Ruhe, die der Reichenauer Hof einschließt, ist sein Geheimnis. Sie bringt unsere Seele in die Grundschwingung, in der sie die Schönheit in sich aufnehmen kann. Diese Stille kann man förmlich hören. Die Musik der Minnesänger, eine Musik der Liebe.

 

 

 

 

 

Unweit davon verläuft die Ulmer Stadtmauer. An einer Stelle wird der Spaziergänger unversehens mit einem Ensemble von mediterraner Anmutung konfrontiert.

 

 

 

Im Grau des Wintertags hört er, tief in seiner Seele, die Zikaden singen.

 

Es trägt den Spaziergänger abseits der Straße zu einem weiteren Juwel, einem Renaissance-Lustbau, der Loggia im Garten des Gasthofs „Drei Kannen“.

 

 

 

 

 

Und um zwei Ecken weitergehend, kann er eintreten in das Eingangsgewölbe des Ehinger Hofs, des damaligen Privathauses eines Ulmer Bürgermeisters zur Zeit der Gotik.

 

 

 

Hier findet er sich von lebensgroßen Hirschen umgeben, deren Gehörn plastisch aus dem Fresko heraustritt.

 

 

 

Nicht auszudenken, daß Ulm vor dem Krieg voll war mit solchen Kostbarkeiten. Jetzt muß man sie kennen und im Verborgenen suchen und finden.

 

18.Februar 2011

 

 

 

 

Taubenhochhaus

 

Tauben haben eine schwierige Existenz. Seitdem die Ulmer Tauben mit einer biologischen Methode vom Münsterplatz ferngehalten werden – im Turm wurde ein Falke angesiedelt, der Jagd auf die Tauben macht – haben sie sich in den Schießscharten der Stadtmauer einquartiert:1 A –Wohngegend, mit Blick auf die Donau, die bayerische Seite und alle Müßiggänger, die dieselbe Aussicht suchen.Und die Tauben genießen sie, wie man sieht.

 

 

Beim Gurren der Tauben fällt mir ein wunderschönes Gedicht aus der maurischen Zeit Andalusiens ein. Abu l'Hasan Ali Ben Hisn hat es im 11.Jahrhundert geschrieben - Ulm ist erstmals urkundlich genannt am 22. Juli 854 :

 

Nichts hat mich so verwirrt wie eine Taube,

die auf einem Zweig gurrte zwischen Insel und Fluß.

Ihr Halsring war kupfergrün, steinblau ihre Brust, wie Sonne schillernd ihr Hals,

kastanienfarben der Rücken und die Spitze der Flügel.

Über dem Rubin ihrer Pupille ließ sie Lider aus Perlen kreisen,

eine Linie aus Gold umzog ihre Lider.

Schwarz war die scharfe Spitze ihres Schnabels

wie das Ende eines silbernen Federhalters, der in Tinte getaucht ist.

Sie lehnte sich auf dem Zweig des Baumes zurück wie auf einem Thron

und verbarg ihre Kehle hinter der Kurve eines Flügels.

Aber als sie meine Tränen sah, erschrak sie über mein Weinen

und reckte sich auf dem grünen Zweig.

Dann öffnete sie die Flügel, schlug sie und flog davon mit meinem Herzen.

Wohin? Ich weiß es nicht.

 

(Quelle:pixelio)19.Februar 2011

Hohe Geometrie

 

An wenigen Stellen sind in Ulm die mittelalterlichen Fachwerkhäuser erhalten geblieben, aus denen die Stadt vor dem Krieg hauptsächlich bestand.Die wunderbare Geometrie des Sichtfachwerks ist ein Spiel mit denselben funktionalen Elementen. Jedes Haus ist eine eigene Variation desselben Themas. Diese alten Häuser, die die Zeiten überstanden haben, sind ein Kontrapunkt zu den anderen, die in Ulm – meist allzu schnell nach dem Krieg – hochgezogen wurden, gebaut werden mussten; sie sind zwar funktionell, aber äußerlich langweilig, function without form.

 

 

 

An dieser Stelle ist an die Hochschule für Gestaltung zu erinnern. Sie wurde auf dem Kuhberg errichtet im Stil des Bauhauses. Form follows function.

 

20.Februar 2011

 

Tattoo und Glamour

 

 

 

 

 

 

 

 

Tattoo und Glamour >>>

 

"Éphémères" Streetart des Graffittikünstlers Gérard Zlotykamien, Ulm

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Türmchen, Türme, Münster

 

 

 

Der Ulmer Horizont ist durchsetzt, wie mit Spitzen gerahmt von Türmen, sie ragen bis weit in den Himmel.

 

 

Der Metzger- und der Gänsturm sind Bestandteil der ehemaligen Verteidigungsanlage.

 

 

 

 

Die nächste Steigerung ist der Rathausturm. Von dort wurde Feuer gemeldet.

 

 

Die Kirchtürme weisen alle anderen in ihre Schranken. Sie rufen zum Gottes-Dienst. Sie schlagen den Menschen die Stunden.

 

Und das Non plus ultra ist der Münsterturm. Der höchste Kirchturm der Welt. Ein Bau, zu Zeiten der freien Reichsstadt von den Ulmern finanziert - vom reichen Patrizier bis zum einfachen Bürger und kleinen Handwerker, jeder hat 'seinen Stein' dazu beigetragen. Stein gewordener urbaner Stolz.

 

 

All diese Türme zeigen uns: Es gibt etwas Höheres. Wir sind bewacht, beschützt, wir sind wie kleine Ameisen, die den Zyklus ihres Lebens fristen. Dann kommen die Nächsten und fühlen sich in dieser Stadt sicher. Wegen der Türme.

 

Kopf hoch!

21.Februar 2011

 

Auch

 

oder (in der Landessprache) : Scho au

 

Löwen sind auch Menschen.

 

Vor mehr als 30 000 Jahren wurde im Lonetal bei Ulm diese Statue geschnitzt.

 

Sie besteht aus Mammut-Elfenbein und ist von bewundernswerter Schönheit. Ihr Schöpfer ist ein Mensch der Gruppe Homo sapiens, die – aus dem Süden Europas kommend -  in diese Gegend eingewandert sind und den Neandertaler verdrängt haben.

 

Diese Menschen haben erstaunliche Kunst produziert.

 

In den Höhlen des Lonetals und des Blautals wurden andere Statuetten gefunden: ein weiterer, kleinerer Löwenmensch und eine Frauenstatuette, die ca. 35000 Jahre alt ist; aber auch Musikinstrumente, wie z.B. eine Flöte aus dem Oberschenkelknochen des Singschwans.

 

Der im Ulmer Museum zu betrachtende Löwenmensch wurde im August 1939 in der Stadelhöhle im Lonetal von Otto Völzig gefunden, der seit zwei Jahren zusammen mit Robert Wetzel dort gegraben hatte. Die Ausgrabung mußte abgebrochen werden, weil Otto Völzig bald nach der Entdeckung des Löwenmenschen den Einberufungsbefehl bekam und in den Krieg ziehen musste. Hastig wurden die gefundenen Schätze asserviert.

 

Erst 30 Jahre später wurde die archäologische Sensation erkannt, die hier aus der Tiefe von ca. 1 m Höhlenschutt an’s Licht des Tages gekommen war. Im Oktober 1969 stieß Joachim Hahn bei der Inventarisierung der Ausgrabungsfunde auf einen Karton, dessen Inhalt bemerkenswerte Spuren der Bearbeitung aufwies. Er rekonstruierte aus ca. 200 Einzelteilen die Elfenbeinfigur, wie wir sie auf den Fotos sehen.

 

Es hob eine Diskussion an, wie diese Figur zu interpretieren sei. Mischwesen aus Tier und Mensch waren schon an mehreren Orten gefunden worden.

 

Menschliche Darstellungen sind fast ausschließlich Darstellungen von Frauen. Man geht von einem Matriarchat aus, von Frauen in der Funktion der Lebensgeberin. Man vermutet, sie sei auch die Vermittlerin zur Götterwelt gewesen, Naturgötter in diesem Falle.

 

Der Löwenmensch, so wie er rekonstruiert war, zeigte keine geschlechtlichen Attribute. Im unteren Bauchbereich ist ein Dreieck eingeritzt, auch eine Querfalte. Keine Brüste, kein Penis.

 

Die Interpretationen schossen in’s Kraut. Sensationell wäre es ja, wenn es sich hier um die Darstellung eines Mannes handelte, eine absolute Rarität. Das Schamdreieck wurde von einem Archäologen als ‚hängender Penis‘ gesehen. Das Fehlen der Brüste war ein weiteres Indiz. Die Brille des Archäologen sollte einen Mann fokussieren. Jetzt sieht es so aus, dass sie die Sicht verdunkelt, den Blick fehlgeleitet hat.

 

In den letzten Jahren wurde die Ausgrabung der Höhle wieder aufgenommen. Der Detritus am Boden wurde durchsiebt und archäologisch untersucht.

 

Dabei tauchten viele kleine und größere Teile aus Elfenbein auf, die als zu der Figur gehörend identifiziert wurden. Der fehlende rechte Arm wurde gefunden und andere Stücke, die – wie in einem Puzzle – jetzt der Figur hinzugefügt werden. Vielleicht sind auch die Brüste dabei...

 

Nein, Brüste wurden nicht gefunden. Der Löwenmensch bleibt männlich, bleibt Mensch.

 

November 2013

 

 

 

 

Impressum

Texte: bei der Autorin
Bildmaterialien: bei der Autorin, ausser dem Taubenbild: pixelio
Tag der Veröffentlichung: 16.02.2011

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