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Inhalt




 3   Glück im Glas

 9   Leben, Sinn

14   Licht und Schatten

17   Nicht einmal ein Jahr Leben

20   Netz

23   Was für's Leben

31   Spiegel

31   Zähne

36   Transparente Körper


 

Glück im Glas




Der Zauberer hatte die zündende Idee: Da das Glück auf der ganzen Welt immer wieder leicht zerrann, verpuffte, sich in Luft auflöste und unversehens verschwand, und sich die Leute bei ihm darüber beschwerten, ließ er eine große Sendung feinstes böhmisches Glas kommen und schloß die jeweilige Portion Glück darin ein.

Er verfolgte damit zwei Absichten:

Erstens hatte sich das Glück im Glas gleichsam materi-
alisiert, war anschaulich geworden und konnte in die Hand genommen, ja sogar auf Reisen mitgeführt werden. Und da in der Welt vor allem das Materielle geschätzt wurde, hoffte er, das Glück könne in dieser Hülle eine höhere, ja eigentlich: die ihm zustehende Wertschätzung erfahren.

Zweitens hoffte er, es damit haltbarer gemacht zu haben, denn das Glas war mit einem Pfropfen versiegelt worden, und so konnte das Glück sich nicht mehr ohne weiteres auflösen, egal, in welchem Aggregatzustand es sich befand. Das machte ihn so mutig, daß er unten auf den Glasboden eine Haltbarkeitsgarantie klebte.

Als er das Regal mit den wunderschönen Fialen betrachtete, fiel ihm auf, daß der Inhalt der einzelnen Gläser sehr unterschiedlich aussah.
In einigen brodelte am Grund eine ölig-harzige Masse, in anderen schien unruhiges Quecksilber herumzuschießen und manchmal war das Glück auch ein azurblaues Gas mit leicht rauchigen Einschlüssen, das im Sonnenlicht waberte wie ein Nebel. In keinem der Gläser schien Ruhe zu herrschen. Glück ist wie Leben eine ewige Bewegung.

Dem Zauberer wurde alsbald ein Vorteil klar: Auf diese Weise würden sich die Klagen seiner ‚Kunden‘ minimieren lassen und er hätte Ruhe vor Gewährleistungsansprüchen, Reklamationen und eindringlichen Bitten um Kulanz.
Der Begriff des ‚haltbaren Glücks‘ war andererseits ein zündendes Werbeargument.

Und so wurde seine Höhle alsbald zum Wallfahrtsort, ganze Tourismusbusse schlängelten sich bergan. Eine Billigfluglinie erkannte den Boom und bot einen sehr preiswerten Flug zum nahegelegenen Airport an, der aus diesem Grund erst von einem ehemaligen Militärfliegerhorst zu einem ansehnlichen Flughafen mit allen Sicherheitsvorkehrungen mutiert war: „Last luck, last minute.“

Das schuf Arbeitsplätze in der Gegend, denn die Kunden mußte mit Nahrung versorgt, ihre Exkremente entsorgt werden. Kleine Hotels entstanden, immer größere folgten, Restaurants von einem bis zu fünf Sternen wucherten aus dem Boden, Wellnessoasen wurden eröffnet, die Grundstückspreise schossen schneller als die Bauten in den Himmel. Die anfangs glücklichen Bewohner des ehemalig kleinen und armen Dorfes waren auf ihre äußere Erscheinung bedacht und trugen Gold von den Zähnen bis zum Bauchnabel, vielleicht auch noch darunter in den ewig verhüllten Regionen. Da das Materielle so sehr im Vordergrund stand, versäumten sie, ihren Seelen Nahrung zu geben, ethischen und moralischen Gesetzen zu folgen und diese in ihrer Gemeinschaft zu entwickeln. Wucherer, Hasardeure, Terroristen wurden wie die Käfer vom Licht angezogen und infizierten die Gesellschaft, die keine Abwehrkräfte dagegen hatte, wie eine Krebsgeschwulst.

Die Regale in der magischen Höhle des Zauberers wurden richtiggehend leergeräumt und er bekam Probleme mit dem Nachschub. Mit extra lang ausgezogenen Pipetten schlich er nachts, erst um seine Höhle, dann in expandierenden Kreisen bis in’s ‚Klein-Vegas‘ und sog mit geblähten Backen die Reste Glück auf, die er entdecken konnte. Bei seiner Höhle war er häufiger fündig, aber in der nicht weit entfernten boomenden und vor Nachtleben wabernden Hochhaussiedlung war Ebbe, Glücks-Ebbe. Das führte noch einmal zu einem Preisanstieg seines Produktes, eine dreistellige Inflations- und Teuerungsrate waren die Folge.

Auf einem internationalen Zaubererkongress sprach er hinter vorgehaltener Hand mit den Kollegen aus dem In- und Ausland und versuchte, an Glücks-Nachschub zu kommen. Da diese ihn aber um seine zündende Idee beneideten und selbst vorhatten, mit seinem Patent unter der Hand bei sich eine Glücks-Industrie aufzubauen, stieß er auf taube Ohren und die Bemerkung: „Glück, haben wir nicht. Und wer weiß, wenn Du es blöd anstellst und so weitermachst, wie bisher, könnte deines auch asymptotisch gegen Null gehen.“

Mittlerweile wurden Kriege um die Schürfungsrechte nach Glück geführt, Glücks-Aktien wurden an den Börsen der Welt gehandelt. Es war der Saft, das Blut, das ganze Gesellschaften am Leben hielt, vor allem die der Bänker und der Waffenproduzenten. Die hatten verstanden, daß es sich bei ihrem Rohstoff um eine rarifizierte Ware handelte, deren natürliche Vorkommen – nach allen Berechnungen der Wissenschaft - vielleicht noch 50 Jahre ausreichen würden, um gewinnbringend ausge-
beutet zu werden. Immer mehr schien es, daß die Prognosen der Insider und Fachmänner einer rasenden Inflation unterworfen waren, einer sprichwörtlichen Abwärtsspirale: über Null- zum Minuswachstum, ‚man könnte bald von einer Rezession sprechen‘. Ja, dass sogar, je weiter sich die Entwicklung auf die Ausbeutung des Glücks konzentrierte, die Glücksvorkommen in der Luft und zwischen den Menschen, die bisher wie Sonnenenergie gewesen waren, völlig verschwanden und auch die Fähigkeit, Glück aus dem Miteinander zu generieren, nicht mehr messbar und vorhanden war. Offensichtlich war dieses alte Wissen den Menschen verloren gegangen und die Eltern hatten es schon seit zwei Generationen nicht mehr an ihre Söhne und Töchter weitergegeben.

Stillstand also. Totenstille.

All die eleganten Hotels und designten Restaurants verlassen, erst von den Kunden, dann von den Besit-
zern. Plünderbanden überall, Bauten wie ausgemergelte Leichname, Häuser wie Skelette, Läden wie Knochen im Sand. Der Zauberer vertrieben von einer gierigen Meute, in’s afghanische Hochland geflohen. Nie mehr etwas von ihm gehört.
Glück ist wie Glas.





 

Leben, Sinn

 



Leben: bisher selbstverständlich, und plötzlich - Szenenwechsel - ein Geschenk, eine Chance, vergänglich. Vergänglich, wenn wir uns als Individuum begreifen. Der Gegenpol: Tod. Zeigt sich der Sensenmann am Horizont - wer weiß, vielleicht (hoffentlich) erwartet er uns als schöner Jüngling -, blinkt plötzlich auch die Frage nach dem Sinn des Lebens auf.
Wir sind irritiert, verängstigt, fühlen uns als Versager: Bisher war der Sinn unsere Lebens, daß wir als Rädchen im großen Gefüge funktionierten. Plötzlich bricht das Gefüge weg, das Rädchen dreht hohl; ist damit der Sinn weggebrochen ? Ja, die Leistungstochter hat den Übervater verloren und, mit Eintritt in das Pensionsalter und/oder die Krankheit auch das große Gefüge, das vorgegebene Programm. Und auch: Die Mutter hatte sie so geprägt, daß sie immer etwas für die anderen tun möchte und muß, sonst blickt sie in's Leere. Jetzt sollte sie endlich etwas für sich tun, aber der Sog des Vakuums macht ihr Angst.
Trotzdem heißt es: Mit der Hand an der Gurgel und ohne fremde Vorgaben ein eigenes Programm entwickeln: Sich selbst genug sein.
Zuallererst: Wir sind Wesen, sind als Einzelne nicht so wichtig, haben aber unseren Platz im Karussell des Lebens. Sind Individuen und müssen das am Schluss vergessen, denn wir gehen nach unserem Ende wieder in den Kreis der Elemente ein. Sind aus Sternenmaterial und werden zu Erde. Nähren damit Pflanzen und Tiere. Also: keine Panik, wir sind Teil des ewigen Kreislaufs.
Schon dieses Wissen ist Sinn genug. Das angstmachende Vakuum ist also nichts anderes als die Kraft, die alles in Bewegung hält. Die großen Mystiker wussten es: Wenn ich mich selbst liebe und respektiere, liebe und respektiere ich die Schöpfung. Mathematisch richtig, denn ich bin ein Teil von ihr, in mir ist sie präsent und repräsentiert. Deshalb bin ich wichtig, aus mir selbst heraus, nicht weil ich dies oder jenes gemacht, so und soviel verdient habe, diesen oder jenen Posten bekleidet und soviel erreicht habe. Das ist nur die Schale, die von uns abfallen muß, damit wir uns selbst gerecht werden können.
So einfach ist es, und so schön. Das Leben und sein Sinn.

 





Licht und Schatten



"Das weiße Papier ist so leer und so licht! Muss Buchstaben draufhämmern, damit Wohlklang und Sinn aus dem Schatten treten."

Also spricht diejenige, die schreibt.

Drucktintene schwarze Gestalten schleichen sich durch unsere Augen in unser altes Gehirn, das sie mit Farben durchdringt, mit Fleisch belegt, mit Blut in Wärme versetzt. Unsterblich sind sie so geworden; wer eine Nase hat zu riechen, nimmt ihren Duft auf, sie sind umgeben von Klang, sie sind das reine Gefühl.

So zieht der Blick Farbe und Duft aus dem alten Gehirn und entdeckt auf einmal Licht im Schatten, Glut im Kalten, Farbe im Dunklen.

‚Denn man sieht nur die im Lichte, die im Schatten sieht man nicht.' (B.Brecht)

Haben wir nicht ein drittes Auge? Das unsere Tagesrhythmen steuert, uns gegen die Depression feit. Auch dieses dritte Auge hat schon viel gesehen und legt seine eigenen Bilder auf das Bild der Welt, das auf diese Weise tiefer, kontrastreicher und überhaupt erst erfahrbar, erfühlbar wird.

Ein bunter Strauß im wandelnden Licht, im wandernden Schatten.








Noch nicht einmal ein Jahr Leben



Es war einmal eine Wanze. Im Frühjahr und Sommer war sie unauffällig grün und besuchte ihre Schwestern, die grünen Blätter, um deren Schmuck und Struktur abzukupfern. Gegen Mitte des Sommers legte sie ihr Hochzeitskleid an, einen purpurroten Mantel mit schwarzen geometrischen Mustern, geradezu psychedelisch. Und verdrehte ihrem Gegenüber so die Augen, daß beide beschlossen, sich zu paaren. Der Luststachel war an ihrem Hinterteil befestigt, gerade so wie der Köcher, der ihn aufnehmen sollte.

Mit bedächtigen Rückwärtsschritten gingen beide aufeinander zu. Ein ruhiger Hochzeitstanz, mit äußerster Ruhe und Präzision ausgeführt. Nun waren sie verbunden und es war schwierig, die Richtung zu bestimmen und zu finden. Einmal wurde die eine gezogen und setzte ihre Füßchen rhythmisch in den Rückwärtsgang, dann wieder die andere. Lange dauerte die innige Verbindung, beide lernten zurückzustecken, einmal stolzierten sie über meine Tastatur.

Es kam der Herbst, die Zeit der Früchte, die Zeit der Farbe. Jetzt konnte auch sie trumpfen. Sie zauberte zwei Masken auf ihren Rücken, durch die glänzende Augen blitzten, zwei lächelnde Münder und einen sternenbesetzten Mantelrand aus kleinen Nachthimmelausschnitten.

Bald kam der Winter. Und damit das Ende eines ereignisreichen Lebens, in Schönheit verbracht.

Die Wanze.






 

Netz



A: „War heute den ganzen Tag im Netz unterwegs, am Schluss bin ich abgestürzt.“
B: „O Gott, wohin?“
A: „Wie: Wohin?“
B: „In’s Leere? Hat es weh getan?“
A: „Nein, bin auf dem Boden angekommen; jetzt bin ich am Boden.“
B: „Brauchst du Hilfe?“
A: „Von wem? Von dir? Weißt du überhaupt, was das Netz ist?“
B: „Ich weiß sehr wohl, was ein Netz ist.“
A: „Das Netz.“
B: „Welches Netz?“
A: „World wide net.“
B: „Kann kein Englisch.“
A: „Macht nichts, ist amerikanisch:“
B: „Kann ich auch nicht.“
A: „Www.“
B: „Wie, wie, wie?“
A: „Nimm mich nicht hoch!“
B: „Ich denke, du bist am Boden.“
A: „Bin ich auch.“
B: „Kann ich dir helfen?“
A: „Du?“
B: „Ja.“
A: „Warum?“
B: „Wie denn?“
A: „Mir reißt bald der Geduldsfaden.“
B: „Besteht denn das Netz aus Fäden?“
A: „Nein!“
B: „Also, laß ihn reißen.“
Plong! Aufschlag! Wehwehweh!




Was für’s Leben



Warteschlange an der Kasse. Hinter mir ein junger Mann, er spricht so laut, ach ja: er telefoniert mit dem Handy am Ohr.
„Abitur ist doch scheiße. Die sind auch nicht besser dran, als ich. Da mach‘ ich lieber Gelegenheitsjobs oder, zur Not, Hartz vier.“
„……“
„Ich glaub‘, ich laß mir jetzt ein Piercing machen,
was für’s Leben..“
Leben ist für uns, so alt und krank wir auch sein mögen, ein langer Teppich, bestickt mit so vielen schönen Dingen, die wir uns kaufen können, aber gewirkt aus: Sinn. Ein Geschenk, dessen tiefe Gründe und Abgründe wir mit Deutung und Bedeutung füllen.
Jeder Einzelne sucht und findet seinen Lebens-Sinn. Die Suche dauert das ganze Leben an; Leben ist Sinn-Suche, das macht den Menschen aus.
Ein Piercing, ein Tatoo: was für’s Leben.

Da steht ein Mann am Ende seines Teppichs; der ist reichbestickt, ausgebleicht und fadenscheinig. In seinem zerfurchten Gesicht steckt ein Piercing, auf dem faltigen und abgemagerten Oberarm hat sich ein Totenkopf zur Grimasse verschoben, darunter der Name einer längst vergangenen Liebe, einer vergessenen Frau; ein altertümlicher Name, wie er heute nicht mehr gebraucht wird. Er schaut zurück und kann die Farbe des Teppichs nicht mehr ausmachen, die Muster nicht mehr erkennen. Mit seinen Cowboystiefeln bleibt der alte Junge in einer Schlaufe hängen – ein großes ‚G‘, oder vielleicht war es ein ‚A‘ oder ein ‚J‘ ? - und bricht sich den Hals.







Spiegel



Sie stellte sich vor den Spiegel und hob langsam den Kopf. Zuerst wagte sie nicht, aufzublicken; zu groß war ihre Angst davor, was sie zu sehen bekommen würde. Aber die Neugierde obsiegte.

Sie hatte sich einer jahrelangen "Kur" unterzogen.

Sie hatte sich die Bedingungen so eingerichtet, folgerichtig, daß sie früher oder später an diesen Punkt kommen mußte, an dem sie sich jetzt befand.

Sie war fertig, ausgepumpt, gequält, nicht mehr sie selbst. Sie hatte das eigene Abbild in ihrer Seele zerkratzt und untergraben, sie hatte ihren eigenen Wert zu Markte und dann zu Grabe getragen. Sie hatte sich missbrauchen und beleidigen lassen, schon zum zweiten Mal.

Sie traute sich nichts mehr zu, auch nicht: zur Vernunft zu kommen, den Blick vorwärts zu richten, jeden einzelnen Wirbelkörper, jede Rippe, jedes Gelenk wieder auszurichten, obwohl sie wußte, das würde den Schmerz lindern.

Dieser Schmerz war wie die Bestätigung ihres Unwerts, immer da und nicht wegzudrücken. Sie hatte sich in dieser Verneinung häuslich eingerichtet, gemütlich wie ein Fakir auf dem Nagelbrett. Sie nannte das "Liebe". Liebe und Leid, beides fängt mit L an. Das kann keiner abstreiten.

In dieser Lage unternahm sie Ausflüge in ihre Kindheit bis zu dem Punkt, an dem sie vergewaltigt worden war.

Am Quell der Trauer und des Schweigens badete sie wieder und wieder in den Blutfluten; sie war ihres wogenden Selbstgefühls beraubt. Nun sollten die Wellen andere schlagen. Und sie schlugen. Das war logisch und folgerichtig, weshalb sollte es falsch sein, weshalb schädlich?

Sie war ein hohler Körper geworden, zu einer einzigen Lüge mutiert. Und wunderte sich nun, daß die anderen - allen voraus: der andere - sie so behandelten, nicht klug aus ihr wurden, an ihr verzweifelten, sie in die Enge trieben mit Lug und Trug, um sie zu erspüren, endlich ihre Kontur zu fühlen. Flüchtig, körperlos und auf der Flucht vor der Wahrheit und in die Panik sägte sie am eigenen Ast. Strafte ihre Intelligenz Lügen, machte ringsumher alles zunichte.

Sie war bis auf die Knochen abgemagert, ausgekühlt, hockte mit angezogenen Beinen auf dem Stuhl, nahm kaum mehr Platz ein.

Aus dem Spiegel schaute sie ein Kindergesichtchen an. So klein und rund, so zart und rein, so hilflos und nach Milch duftend. Und so neugierig, so offen für die Welt, voller Selbstvertrauen.
Das war es also. Das war sie. Der letzte Appell: "Liebe mich!"

Liebe dich!





 

Zähne


Die Hai-Mama hat ihre liebe Not, dem kleinen Hailein beizubringen, seine Zähne zu zeigen.


"Was soll noch aus ihm werden? Er zeigt sie noch nicht einmal, geschweige denn, daß er sie mal einsetzt."

Der Kleine wird in der Haischule bös gehänselt, vor allem wegen seines fliehenden Kinns. Klar, daß der Ausdruck seiner Augen eine Erbarmungslosigkeit entwickelt, die allein einem schon die kalte Angst einjagen könnte (und sollte), ohne daß man seine Zähne auch nur gesehen hätte.

Als er größer wird, begegnen ihm auf seinen ruhelosen Touren dieser und jener Fisch und Zeitgenosse; und da sie alle früher oder später der Meinung sind: ‚Er kann ja nichts dafür, wie er aussieht' oder: ‚Er meint es nicht so' und: ‚Man muß ihm eine Chance geben' verliert er jedes Selbstbewußtsein und mickert vor lauter Hunger nur so dahin. Ein humaner Hungerhai.

Die Blätter mancher Pflanzen sind glatt umgrenzt, andere haben Zähne. Sie zeigen sie, fletschen sie im Wind, manch ein Insekt verliert unversehens den Boden unter den Füssen und fällt zwischen ihnen hindurch in den Abgrund. Manchmal unauffällig chlorophyllgrün, ein anderes Mal gerändert und mit eindrucksvollem Farbenfeuerwerk im Gegenlicht, spielen die Pflanzen auf der Klaviatur von ‚form does not follow function'. Diese Formvariante hat keinen anderen Zweck als Variation, Fantasie, Überraschung für den, der Augen hat zu sehen.

Zähne. Der Hai hat sie in Fülle, die Pflanze hat sie manchmal, wir haben zwei Ausstattungen davon. Und häufig zu viel Biß. Die dritten sind dann teuer.





Transparente Körper



    Trauben hängen am Weinstock, etwas versteckt und geschützt unter den Blättern. Eine paradiesische Pracht! Fällt ein Sonnenstrahl darauf, entfalten sie unserem Blick die Saftigkeit ihres Inhalts, ihre Süße. Diese körperhafte Transparenz weckt all unsere Sinne: Geruch, Geschmack, Sehen, aber auch ein Gefühl für die kühle Oberfläche, die Textur der Haut, die pralle Elastizität. Ein Wunderwerk unserer neuronalen Verschaltungen, die sich im Laufe unseres Lebens mit der wachsenden Erfahrung geschaltet und verfeinert haben.

Eine Qualle zieht durch das Wasser. Sie breitet ihren Schirm aus und zieht ihn wieder zusammen, so bewegt sie sich voran. Ein zartes, zerbrechliches Gebilde mit wunderfarbigem Innenleben und gefährlichen Fäden, die sie als passives Verteidigungsinstrument hinter sich herzieht. Nicht alle Quallen sind gleich nesselnd, und doch geht bei uns Badenden die rote Lampe an. Ein Schrei und nichts als weg! Keinen Blick mehr für dieses transparente Wunderwerk.

Transparenz ist: Leichtigkeit, Größe mit wenig Material – eine geniale Konstruktion -, ausgedehnte Oberfläche mit geringer Masse, gleichzeitig Festigkeit und Zartheit. Jeder Architekt, jeder Ingenieur gerät in’s Schwärmen; er wird diese Kunstfertigkeit nie erreichen, die die Natur entwickelt hat.

    Und: Transparenz übermittelt uns Wohlgefallen und Panik, ist ein Prinzip und mit gänzlich entgegengesetzten Signalen. Der Unterschied entsteht blitzschnell in unserem Gehirn, aber wir sind nicht Herr der Lage.

 



E N D E

 

Impressum

Texte: Copyright bei Cecilia Troncho (Text) und Annegret Pohlmann (Fotos)
Tag der Veröffentlichung: 11.02.2011

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Dank an Mario Fuß für sein Quallenfoto und die Aufnahme des Kirchenfensters

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