Sergej Iwanowitsch, der Lastwagenfahrer, hatte eine eilige Fuhre. Es war Winter, strenger Winter; der Baikalsee war gefroren und die Straßen um ihn herum nicht geräumt von den Schneemassen. So beschloss er, über den von einer dicken Eisschicht bedeckten See zu fahren, auf einer Route, die er vor Jahren schon einmal gewählt hatte.
Er erinnerte sich genau an die kalte Leere, das Eisblau, den Wind, der einen feinen Schnee über die Fläche blies, die Weite, die Einsamkeit.
Während der vielen Stunden Fahrt war er keinem Menschen begegnet, hatte kein Lebewesen gesehen, war in Trance geraten, dort auf dem großen Auge, das in den Weltraum blickt.
Er versuchte damals nicht daran zu denken, welche Tiefen unter seinen Rädern lagen, Abgründe, in die kein Tageslicht mehr dringt. Er hatte Vertrauen zu der Eisschicht, die ihn und sein Gefährt, schwerbeladen, sicher trug. Hinter dem Steuer mußte er nur die Kompassnadel im Auge behalten und seine Fahrt 73 Grad , ostnordost, um keinen kleinen Strich ändern, sonst wäre er verloren gewesen. Wäre er zu weit nach Süden geraten, hätte die Eisschicht nicht mehr ausgereicht, um ihn, den Lastwagen und seine Fracht zu tragen.
Seine Fahrt damals hatte sich mit ihren Bildern und Gefühlen in sein Gedächtnis eingegraben, war tief in seine Seele eingesunken.
Er war damals gerade frisch geschieden und sein Herz war wie mit einer dicken Eisschicht überzogen, vor der er sich fürchtete, weil sie sich wie ein schmerzender Panzer anfühlte, der es am Schlagen hindern wollte.
In den drei Tagen der Passage, in mondartiger Einsamkeit und konturenloser Kälte, hatte er mit seinem Herzen gesprochen.
Ein Tag war damals eigentlich sprachlos vergangen; erst am zweiten hatte er sich geräuspert und gesagt: „Du wirst sehen….“ „Der Tag wird kommen..“ „Verzweifle nicht. Schlag bis dahin weiter.“ „ Rette mich, erkalte nicht.“
Daran musste Sergej jetzt denken, als er mit Marie im Führerhaus des Lastwagens eine Stelle am Ufer suchte, die sanft abfiel und die er im rechten Winkel ansteuern konnte, um auf das Eis zu kommen.
Bis zu diesem Moment hatten sie viel gesprochen und gelacht, Marie und er. Jetzt machte sich schon die kalte Magie bemerkbar und beide schwiegen.
Sergej hatte Marie vor fast genau einem Jahr kennengelernt. Im kalten sibirischen Winter. Sie waren beide schon vom Leben, von der Liebe gebeutelt; aber es war bei jedem von ihnen noch ein einziger Funken da, der sich entzünden konnte.
In diesem Winter hatten sie die Kälte nicht bemerkt.
Dann kam der Frühling mit der übermächtigen Welle neu ersprießenden Lebens, das ihnen vorkam, wie von ihnen selbst genährt.
Der Sommer hatte beiden die Leichtigkeit des Lebens vorgeführt.
Und Anfang des Winters, als Sergej diesen Frachtauftrag bekommen hatte, hatte er Marie gefragt, ob sie ihn begleiten wolle.
Sie war überglücklich. Hatte vorgekocht, Schinken und Käse gehortet, Schnaps eingelagert, Tee in die Thermoskanne gefüllt.
So waren sie aufgebrochen, vor zwei Tagen.
Sergej hielt strikt die 73 Grad der Kompassnadel ein.
Das gegenüberliegende Ufer sollte in drei Tagen in Sicht kommen. Bis dahin würden sich ihre Augen im Blau verlieren und ihre Gedanken mit den auf dem Eis dahinpeitschenden Schnee wandern, bis sie sich nach innen gewandt und ihr Innerstes ergründet hätten.
Nach drei Tagen wunderten sie sich, daß das Ufer noch nicht zu sehen war. Vielleicht lag es im Dunst.
Sie hatten genug Vorräte an Essen und Sprit und machten sich keine Sorgen, sie waren sich selbst genug.
Der nächste Tag war von kristallener Klarheit. Kein Ufer zu sehen. Sergej versuchte, sich selbst Mut zu machen; er stützte seine Stimme, um kein Schwanken durchklingen zu lassen. Dann schwieg er. Marie wurde still und sprach sich im inneren Monolog Hoffnung und Vertrauen zu.
Allmählich mussten beide daran denken, daß die Vorräte endlich waren. Marie machte sich noch keine wirklichen Sorgen, denn sie hatte hungern gelernt. Sergej berechnete in seinem Sinn die Dieselvorräte: Sie hatten noch für 150 Kilometer, dann wären der Tank und die Kanister leer.
Er konnte sich nicht erklären, wieso nicht endlich das Ufer in Sicht kam. Er hatte, trotz der lebhaften Unterhaltung mit Marie, die sich manchmal an ihn geschmiegt hatte, akribisch auf die Position der Kompassnadel geachtet.
Ihm brach der kalte Schweiß aus. Langsam kroch die Verzweiflung in ihm hoch und umfasste mit eisiger Hand seine Kehle. Erfrieren ist ein gnädiger Tod, dachte er sich, man sollte nur nicht dagegen ankämpfen, es wäre sowieso sinnlos.
Marie blickte mit wärmendem Glück auf ihr Leben zurück. Das Schlechte und Böse hatte sie tatsächlich alles vergessen, sie konnte sich nur noch an schöne Erlebnisse erinnern; das schönste war, daß sie Sergej getroffen hatte.
Sie saßen beide zusammen in dieser Schicksals-Kabine. Sie schwiegen und dachten über den Sinn ihres Lebens nach. Sollte es wirklich so sein, daß ihnen der gemeinsame Tod in der Eiswüste beschieden war? Ja, so konnten sie wenigstens zusammen sterben.
Der Motor tuckerte noch einmal kurz, dann stand die Maschine still.
Sergej ließ den Kopf hängen. Marie blickte durch die Scheibe in die Weite und rief plötzlich: „Aber da vorne ist ja ein Mensch!“
Wie von Sinnen vor Glück stiegen sie aus und liefen der Gestalt auf dem weiten Eis entgegen. Sie schrien aus Leibeskräften, all ihre Angst entwich mit dem erfrierenden Atem und löste sich wie eine Fahne in der Kälte auf.
Der Mensch war ein Fischer. Er hatte seinen Schneeschlitten in der Nähe am Ufer geparkt, man konnte ihn jetzt im Dunst nicht sehen.
Vor ein paar Monaten war ein Meteorit in der Nähe niedergegangen und hatte die Gegend nach seinem Einschlag umgepolt. Sergej hatte nichts davon gehört.
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Tag der Veröffentlichung: 03.02.2011
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