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Sheherezade schlug die Zeitung auf :

 

 

Als Ärztin blätterte sie von hinten nach vorne: ‚Zuerst die Reklamationen!‘

Da, ein Name, der ihr bekannt vorkam: Ali Husseini.

War der nicht ein paarmal neben ihr in der ambulanten Chemotherapie gesessen, von der sie alle zusammen immer so viel Appetit bekamen, daß sie sich Rezepte erzählten, 1001 Rezepte, während die Tropfen des Giftes in ihre Venen flossen?

Er hatte zu den bodenständigen Gerichten aus Bohnen und Kartoffeln, die die Frauen aus dem Schatz ihrer großmütterlichen Küche hervorkramten, seine rätselhaften Kochkünste beigetragen, voller Düfte und Spezien aus fremden Ländern, Gewürzen wie Kardamon, Kurkuma, schwarzer Leinsamen, Geschmäckern, die die Nase verführten, den Gaumen kitzelten, wohlig dem Schlund schmeichelten und den Bauch wärmten.

Während der letzten Tropfen des aggressiven Gemischs saßen sie alle da, den Kopf voller Kochpläne, den Mund voller Wasser.

Ja, das war Ali Huseini – gewesen -, denn dort stand: Am Ende einer langen Krankheit ist er von uns gegangen.

Sheherezade verstand sofort: Sie war zwar eine gute Köchin und voller Fantasie am Herd, aber noch besser war sie als Geschichtenerzählerin, voller Fantasie, die in keinen Topf paßte.

Sie beschloß, ihre Geschichten zu erzählen. Sie fühlte sich todgeweiht, sie schrieb um ihr Leben.

Sie fing an mit einem Roman aus ihrer Zeit am Krankenhaus. 

 

Fiktive Figuren, scharf gezeichnet, zogen sie in die Geschichte, die unangenehmsten Protagonisten wurden ihr die liebsten; die, die ihr anfangs sehr fremd und verächtlich vorkamen, entwickelten während der Nächte, in denen sie nicht schlafen konnte, ein Eigenleben und nahmen ganz von ihr Besitz, bekamen ihre ganze Liebe. 

 

Es waren die Nächte der Fantasie. 

Am Ende war sie erledigt, vom Schlafentzug gepeinigt, zittrig und voller Nachtmahre, die alle ihre Sinne auf die Beobachtung der Umwelt zogen, voller Neugierde auf alle anderen, abgelenkt von sich selbst.

Als diese „Geburt“ nach unendlichen Wehen endlich ausgestoßen war, fühlte sie sich in der Nacht der Leere schwimmend.

Während der schlaflosen Stunden ergriff die Krankheit wieder von ihr Besitz, die schwarzen Gedanken an den Tod, die schmerzroten Blitze der Sterbensfurcht.

Sie nahm Zuflucht zu den anderen Geschichten, die sie Zeit ihres Lebens mit sich getragen hatte.

Sheherezade erzählte eine nach der anderen und hatte manchmal die Befürchtung, sie werden nicht ausreichen, um 1001 Nächte zu füllen, die Zeit ihres Überlebens.

Aber je mehr Geschichten vom Grunde ihrer Seele auftauchten und riefen: ‚Ich bin auch noch da, vergiß mich nicht!‘, desto reicher fühlte sie sich, desto mehr Trost machte sich in ihr breit. Sie fühlte tiefe Dankbarkeit für das, was ihr Leben bisher gewesen war, was sie erreicht, geschafft und erlebt hatte wie ein Geschenk.

Die Geschichten nahmen es auf mit ihren Ängsten; es tobte ein Kampf um Leben und Tod, zu dessen Schiedsrichter sie wurde. Die Beobachtung dieses Spiels der Giganten ließ ein Feuerwerk aufscheinen, so bunt und schillernd wie ein Leben selbst.

Sheherezade hat um ihr Leben erzählt, sie hat es dadurch gewonnen.

Wenn der Tod kommt, wird es nicht verloren sein.



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Texte: Copyright bei der Autorin
Tag der Veröffentlichung: 28.11.2010

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Der Name meines Leidensgenossen ist märchenhaft fiktiv

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