Personen- und Ortsnamen sind frei erfunden. Die Geschehnisse sind pure extrapolierte Realität - Ähnlichkeiten mit hier beschriebenen Vorgängen können kein Zufall sein.
In dieser Welt, in der wir hilflos schweben,
ist nur ein Traum das ganze Leben.
Und jeder Mensch - das weiß ich nun –
träumt nur sein ganzes Sein und Tun.
Bis dann zuletzt die Träum‘ entschweben…
Was ist das Leben: Hohler Schaum?
Ein täuschend Bild? Ein Schatten kaum?
Gar wenig kann das Glück uns geben,
denn nur ein Traum ist unser Leben –
und selbst die Träume sind nur Traum.
<Calderón de la Barca>
Abstand und Anstand
„Halten Sie bitte Abstand und stellen Sie sich hinter der Linie auf dem Boden an: Diskretion!“
Frau Büchen hat, hinter dem Tresen vor ihren Computer sitzend, als geschulte Mitarbeiterin die Unruhe der Dame erspürt, die vor dem Aufnahme-Desk von einer zweiten – offensichtlich auch Patientin, wie sie, und nervös – flankiert worden war, und sie hat eingegriffen.
„Bitte.“
„Mein Name ist Band, Jil Band. Ich bin beim Kuhlekogel, bei Herrn Chefarzt, angemeldet. Er will mich heute operieren.
“Privat oder Kasse ?“
„Privat.“
„Das ist was anderes, dann unterschreiben Sie bitte den Behandlungsvertrag. ‚Bin einverstanden, daß Herr Dr.Wahnfried Kuhlekogel die Rechnung stellt, auch wenn ich von seinem Vertreter behandelt worden bin...‘“
„Aber er operiert mich doch selbst?“
„Wenn er Ihnen das gesagt hat, ja. Er ist auch schon im Hause. Jetzt fehlen mit nur noch: Mädchenname, Religion? Zimmer 16 im ersten Stock, Aufzug ist gegenüber.“
Frau Band rafft ihre Hand- und die Sport-Tasche hoch und macht sich auf den Weg.
„Und jetzt zu Ihnen.“
„Der Operationssaal wartet auf mich.
Hat denn Dr. Lettenbeutel, der Hartmut, mich nicht annonciert? Ich bin Frau Susemihl, habe schon bei ihm eine Anzahlung gemacht.“
„Dann muß ich nur noch Ihre Daten in den Computer eingeben, sonst ist ja alles schon erledigt. Abrechnen bitte mit dem Doktor persönlich. Zimmer 18, erster Stock.“
„Das ist hoffentlich ein Einzelzimmer.“
Frau Büchen hat jetzt Ruhe, eine liegengebliebene Anmeldung aufzuarbeiten. ‚Name: Mhmhmh, Vorname hat er auch, so.. Seit gestern Nacht hier, also das war der 4. Im letzten Zimmer auf Station 2, Einzelzimmer mit zweitem Bett, wird alles bezahlt, ja, der Vertrag ist unterschrieben. Fernsehen ja, Telefon nein.‘
In Zimmer 18 herrscht reges Treiben, die Schwestern auf Station wurden von Frau Susemihl aufgefordert, ihr beim Einräumen ihrer Sachen zu helfen, müssen aber noch die fehlenden Daten in die Akte eintragen: Frau, 55 Jahre alt, 162 cm, 50 kg, ledig, keine Kinder, Religion: römisch-katholisch.
„Das Beautycase bitte in die Naßzelle, räum ich später aus“.
Es klopft, Dr.Hartmut Lettenbeutel ist schon da, um seine Patientin abzuholen. Noch schnell die Vorbereitungspille mit einem Schluck Wasser. „Ich bin ja so aufgeregt, habe das Krankenhaus nicht sofort gefunden.“
„Ja, es liegt sehr diskret, und das ist gut so.“
Zwei Zimmer weiter, auf der 16, ist Frau Band zur Operation vorbereitet: weißes „Totenhemd“ angezogen, die Beruhigungspille genommen, wirkt aber überhaupt nicht. Die Schwester notiert ins Krankenblatt: Frau, 60 Jahre alt, 170 cm, 56 kg., verheiratet, Religionszugehörigkeit: keine. „Kinder?“ „Nein.“
Sie liegt im Bett und wartet. Das Kissen paßt irgendwie nicht. Trotzdem schläft sie ein. Und träumt. Der übliche Angst-Traum wie schon seit einigen Tagen: Sie steht am Krater eines schwarzen Vulkans und blickt in den rauchenden Schlund.
Im Operationssaal ist seit frühmorgens Licht. Ein Notfall? Nein. Das Team hat sich für einen außerordentlichen Fall einverstanden erklärt, noch in der Dunkelheit mit der Operation zu beginnen. Oberarzt Dr. Schlagintweit hat persönlich im Einzelgespräch allen Beteiligten erklärt, worum es geht. Ein zuverlässiges Team, nicht aus der obersten Etage, alle sind ehrgeizig, wollen noch was werden. „Wir müssen unserem special patient ein neues Gesicht verpassen, alles unter dem Siegel der allerhöchsten Verschwiegenheit, sonst paffpaff.“ Auch der Chefarzt war ausnahmsweise einverstanden, nicht auf dem ersten Platz des Tages-OP-Plans zu stehen, geschweige denn, den Eingriff selbst durchzuführen. „Da soll mein Oberarzt ran.“ Auf dem Plan steht der Patient als ‚Herr N.N.‘
Der Anästhesist blickt auf die Einwilligung und notiert die für ihn wichtigen Daten des Patienten: Größe 178 cm, Gewicht 94 kg, Leberwerte leicht erhöht, vor allem die Gamma-GT.
„Also: 7er Tubus nasal, 90 Grad-Winkelkonnektor, Gänsegurgel; zieh nochmal eine Ampulle Propofol auf, der braucht Stoff, die Leber ist trainiert.“
Fünf Minuten später wird der nakotisierte Herr N.N. in den OP-Saal gefahren. Der Eingriff kann beginnen, lange genug wird er ja dauern.
Herr Dr. Lettenbeutel, Hartmut, steht am Bett und streichelt die Hand von Frau Susemihl. „Ach, bin ich schon im Bett?“
„Du kannst die Augen jetzt nicht öffnen. Das wird noch ein paar Tage dauern; ist auch gut so, daß du dich so nicht im Spiegel sehen kannst.“
Auf der Karteikarte in seiner Hand – sehr dick, viele Einlegeblätter, ‚muß mir was überlegen für die Zukunft, vielleicht ein I-Pod‘ - steht die Vorgeschichte: Erstvorstellung mit 16 Jahren, damals Korrektur der Nase als Geburtstagsgeschenk von Mami. Gut gelaufen, keine Komplikationen. Dann lange Pause.
Vor 10 Jahren Wiedervorstellung, Fettabsaugen Bauch und Gesäß, Wiedereinspritzung in beide Brüste. Pünktlich bezahlt. Mehrfaches Nachbessern. Jetzt dellenartige Verformung der Haut im ganzen operierten Gebiet.
Zwischendurch Brustaufbau beidseits mit Siliconimplantaten. Ein bißchen hart, stehen aber immer noch.
2 Jahre Pause. Dann die Lider gemacht und den Hals gestrafft. Vorschlag: Botox. Siliconeinspritzung Lippen. 10mal konservativ. Abstände immer kürzer, Ergebnis immer weniger zufriedenstellend. Heute also dann: Gesichtslifting. Ein 10-Stunden-Meisterwerk. ‚Konnte sie immer aufbauen, immer überzeugen, daß was zu machen ist – das ist Freundschaft!‘
Zwei Zimmer weiter macht der Chefarzt seine zweite postoperative Visite; zwei sind abrechenbar. Er ist mit großem Elan und ebensolchem Bahnhof eingelaufen. Man soll sehen: Er ist in Eile, hat noch viel zu tun, ‚meine Patienten warten auf mich.‘
„Die weibliche Brust gehört in die Hand des Chirurgen“ doziert er, die jungen Kollegen nicken. Sie wissen noch nicht, daß die Gynäkologen federführend in der Entwicklung der Behandlungs-Leitlinien sind, zertifizierte Brust-Zentren betreiben und international zusammenarbeiten in der Entwicklung immer besserer Therapien der Brustkrebserkrankung. Er weiß es; zur weiteren Therapie nach der Operation wird er Frau Band an ein Brustzentrum überweisen; Chemotherapie belastet das Krankenhaus-Budget über die Maßen, auf Strahlentherapie ist sein Haus nicht eingerichtet - zu teuer.
Frau Band dämmert etwas vor sich hin, sie hat schon Schmerzmittel bekommen, die Ängste und Sorgen sind weg.
„Wir haben den ganzen Drüsenkörper entfernt und, wie besprochen, ein Implantat eingelegt. Im Schnellschnitt waren zwei Lymphknoten positiv, deshalb mußten wir die Achselhöhle ausräumen. Den Krebs haben Sie nicht erst seit einem Jahr. Alles weitere später, guten Abend.“ Ein Luftzug und Ruhe.
Da sie jetzt wach ist, denkt Frau Band über die vergangenen zwei Wochen nach: Knoten in der Brust getastet, Frauenärztin, Mammographie, Überweisung an Dr.Kuhlekogel, noch ein paar Voruntersuchungen, dann schneller OP-Termin. Gut so: Die Zeit war schrecklich, konnte nachts nicht mehr schlafen, da überfielen mich die Ängste, und tagsüber konnte ich an nichts anderes denken, als: Das war’s nun also. Was meine Freunde so umtreibt, was in den Nachrichten kommt: alles so weit weg, so lächerlich. Und dann: Diese verständnisvolle Art vom Doktor, schlägt mir vor, in der gleichen Sitzung ein Implantat einzubauen, damit ich mich nicht verstümmelt fühle. Ich finde es übertrieben, hatte mich schon mit meiner sicherlich nur noch kurzen ‚Zukunft als Amazone‘ angefreundet. Aber, wenn er meint... Die Frauenärztin hat von Kampf gesprochen, kämpfen kann ich. Manchmal habe ich sogar zu viel und auf verlorenem Posten gekämpft. Hat mir und meiner Karriere nicht gut getan; war den Chefärzten gegenüber nicht ausreichend verbindlich, anerkennend. Mein Mann hatte mir immer geraten: ‚Sag doch einfach: ‚Einen wunderschönen guten Morgen, Herr Chefarzt!‘ Schon das würde reichen. Oder : ‚Ich wollte es eigentlich anders machen, aber ‚vielleicht‘ - als Zugeständnis an meinen Charakter - haben Sie recht, Herr Chefarzt.‘
Aber nein, eher hätte ich meine Zunge verschluckt.
Doch all der Ärger hat mir jetzt diese Krankheit beschert; Brustkrebs ist Folge eines großen Kummers, eines anhaltenden Zustands der Hoffnungslosigkeit. Jetzt bin ich aber in Rente, außen vor. Ich werde, wenn ich wieder zuhause bin, ein Schiffchen falten, meinen Kummer darin aufschreiben und den Fluß hinunterschwimmen lassen, den großen Strom; fließendes Wasser, immer neu, immer alt, jeder einzelne Tropfen aus dem großen Kreislauf Fluß-Meer-Regen-Fluß, die Bewegung.
Im zweiten Stock ist der Zivilbeamte der Polizei auf seinem Zusatzbett der einzige, der N.N. im Blick hat. Die Schwestern sind angewiesen, nicht zu stören. Er hat sich etwas hingelegt, denn die Schicht geht bis Mitternacht, der Schichtwechsel muß diskret und durch die Hintertür erfolgen. Auch der Hausmeister legt eine Nachtschicht ein, um ihm und seiner Ablösung unbemerkt den Notfalleingang zu öffnen.
N.N. schläft ruhig unter seinem Mumienverband, das Kinn gebremst durch eine Gazeschlinge, deshalb schnarcht er wahrscheinlich nicht. Ein paar Mal ist er kurz aufgedämmert. Der Beamte ist angewiesen, auf regelmäßigen Atem zu achten; sobald ein Aussetzer kommt, soll er den Patienten ruhig kräftig schütteln und wecken, er hat ja einen Erste-Hilfe-Kurs gemacht, damals, während der Ausbildung. Aber die Schmerzmittel tun ein übriges, er kann entspannen.
Offensichtlich ist der Herr auch einiges an ‚Doping‘ gewöhnt und macht nicht so schnell schlapp. Sein Handy ist sicherheitshalber abgeschaltet. Wie besprochen, wird er es um 22 Uhr kurz aktivieren - aber nur kurz, damit sie nicht gescant werden können - und der Ehefrau - wenn sie anruft - berichten, wie es geht. Sie darf ihren Mann nicht besuchen – viel zu auffällig, viel zu gefährlich, auch sie steht sicherlich unter Beobachtung. Außerdem kann N.N. jetzt sowieso nicht richtig sprechen, also Kommunikation in Schmalspur und über Dritte. Ist nicht jedermanns und vor allem nicht jederfraus Sache, aber die beiden werden wissen, warum. Ist alles in allem ein angenehmer Job, könnte aber schnell auch brenzlig werden. Er hat wenig Information über die Vorgeschichte dieses Einsatzes, gerade mal das Nötigste, auch um sich selbst zu schützen. Journalist, Skandaljournalist, durch seine Berichterstattung über die Mafia in gefährliche Gemengelage gekommen, bekommt jetzt eine neue Identität und ein neues Gesicht. Der Staat schützt seine Bürger – bezahlen wird er die Sache ja wohl selbst. Ganz schön teure Angelegenheit.
N.N. seufzt kurz, räuspert sich und bringt ein bißchen altes Blut über die Lippen.
Jil Band hat die Narkose ausgeschlafen. Die Schmerzen sind erträglich. Sie hat schon allein eine kleine Runde gedreht: Toilette, zehn Schritte auf dem Gang vor ihrem Zimmer, dann aber schnell zurück, es zieht doch in der Brust. Ist besser, noch ein bißchen liegen zu bleiben. Zum Fernsehen keine Lust, zum Lesen keine Kraft.
Das bisherige Leben drängt sich in ihr Bewußtsein.
Gerade den vorgezogenen Ruhestand erreicht.
Sie hatte vier Jahre als Assistenzärztin - Lehrjahre - verbracht, dann den Facharzt „gemacht“ und acht Jahre an einer großen Klinik als Oberärztin gearbeitet. Das hatte Spaß gemacht. Da gab es medizinische Kriterien, nach denen gehandelt wurde, es gab Zeit zum Gespräch mit den Patienten, alle Spektren des Faches Anästhesie waren vertreten, ihr Fach wurde ernstgenommen, war emanzipiert und gleichberechtigt neben den anderen Fächern.
Nach einer großen Bauchoperation mit nur langsamer Erholung wechselte sie an das kleinere Krankenhaus in der Hoffnung, hier gehe es etwas ruhiger zu.
Die Jahre dort waren jedoch schlimm: Das Haus privatisiert, Sparen angesagt, ‚Verpflichtung zu wirtschaftlichem Handeln‘, Industrialisierung des Gesundheitswesens - das Krankenhaus als ‚Profit-Center‘, wohlbemerkt: nicht Profi-, sondern Profit-; der Betriebswirt hat das Sagen über die Ärzte übernommen, Personal – „der kostenintensivste Faktor“ – wird bis zur Schmerzgrenze reduziert, Rationalisierung nähert sich der Rationierung.
Ein in die Altersteilzeit verabschiedeter Chefarzt schreibt: ‚Auch ich hoffe auf eine
Tätigkeit an einem Ort, an dem ich die Liebe, das Leben und den Respekt für den Menschen und die Schöpfung neu entdecken kann.‘ *1)
Dieser Ort befindet sich – für ihn - in der 3.Welt. In unserer Krankenhauswelt ist eine solche Prägung der ärztlichen Arbeit in vielen Häusern, auch dem unseren, verloren gegangen. Nein, nicht verloren gegangen, sondern absichtlich durch die Produktionsprozesse aus der Wirtschaft ersetzt worden. Jetzt wird der Patient gesehen wie ein Werkstück; zuerst wird er acquiriert und dann zeitoptimiert und prozessorientiert bearbeitet, damit am Ende schwarze Zahlen stehen.
Das bringt Gewissens-Konflikte, wenn ärztliche und wirtschaftliche Kriterien gegeneinander stehen. Zum Beispiel wurden die Abläufe im Operationssaal zeitgeregelt, vom Eintreffen des Patienten bis zum Schnitt durch den Chirurgen waren zehn Minuten vorgesehen, dasselbe für die Zeit von der letzten Naht zur Übergabe an den Aufwachraum: zehn Minuten für die Narkoseausleitung. Beide Vorgänge risikobehaftet und von der Angst der Patienten erfüllt. So manche ihrer Kollegen, vor allem aus der Führungsebene, hatten damit weniger Probleme als sie.
Ihr Engagement war auch oft als ‚Einmischung in meinen Machtbereich‘ verstanden worden, der chirurgische Chefarzt sprach immer von ‚klein, aber mein‘. War ein Alpha-Tier, wie er sich selbst immer bestätigte, aber voller Minderwertigkeitskomplexe, ein Profilneurotiker, pathologischer Lügner und zwanghafter Intrigant. Er duldete keinen Oberarzt, der fachlich etwas konnte, noch nicht einmal ‚unter sich‘ in der Krankenhaus-Hierarchie. Über die Jahre hatte er vier von ihnen zuerst mit familienfreundlichen Arbeitszeiten geködert und dann gemobbt, so daß sie schlussendlich das Weite suchten.
Er brauchte weibliche Bewunderung wie das tägliche Brot; die bekam er von ihr, der einzigen weiblichen Kollegin nicht; so blieben nur die OP-Schwestern, die ihn allein wegen seiner Position bewunderten und ihm in seinem Sinne zuarbeiteten, indem sie ihm, während er sich zur OP wusch, tuschelnd Informationen über die Mitarbeiter zutrugen.
Auf diese Weise hatte sich mit der Zeit eine Kampfarena gebildet, mitten in einem Schlangennest, wo Jeder Jeden argwöhnisch beäugte und aushorchte.
Wenn sie einen medizinisch begründeten Therapie-Vorschlag machte, wurde dem grund-sätzlich widersprochen. Nie bekam sie Anerkennung für ihr Engagement und ihre gute Arbeit, sie wurde übersehen, manchmal noch nicht einmal gegrüßt. Hob sie das Telefon ab und der chirurgische Chefarzt war dran, bellte er nach einer Schrecksekunde seine Mitteilung in den Hörer. Arbeiteten sie im selben Operationssaal, breitete sich eine eisige und giftige Atmosphäre aus. Was am Kopfende des OP-Tisches gesprochen wurde, wurde in aller Stille belauscht. Mit einem Wort: Alle Kriterien des Mobbing waren erfüllt.
Viele Versuche, wegzukommen, waren gescheitert: Zu jener Zeit gab es Ärzteschwemme, im geographisch schön gelegenen Süden drängten sich die Kollegen, durch ihr Dienstalter war sie zu teuer, „ein Junger tut’s auch“. Qualifikation und Erfahrung galten nichts. Trotzdem hatte sie bis 60 durchgehalten. 30 Jahre Tätigkeit als Anästhesistin, davon 23 Jahre Oberärztin, die „älteste Schwester“ der Jungassistenten, wie sie es verstand. Am Ende war es eine Qual, nur die Arbeit direkt mit den Patienten ließ noch etwas von der Freude aufleuchten, die sie anfangs bei ihrer Arbeit empfunden hatte.
Am ersten Tag der Rente hatte ihr Mann den Knoten getastet.
Sie schläft ein. Im Traum sieht sie einen Lava--Strom, der sich großartig den Kraterabhang hinunterwälzt und alles verschlingt, was ihm in den Weg kommmt, ein kurzes Zischen, ein Auflodern, nichts bleibt übrig, der Strom fließt weiter Richtung Meer.
Beim Aufwachen fällt ihr ein, daß sie ja vor sieben Monaten eine Krebsvorsorge-Untersuchung mit Ultraschall, Mammographie und Tasten beider Brüste durch Ihre Gynäkologin und durch die Radiologin hatte durchführen lassen, wie jedes Jahr einmal. Diagnose: kein pathologischer Befund. Jedesmal ein großes Aufatmen – gottseidank, noch einmal davongekommen! Ein infamer Krebs! Versteckt sich bis zum letzten Augenblick und zeigt sich erst, wenn es sehr spät ist.
Hinterlistig. Sie hat alles getan, um nicht in eine solche Lage zu kommen, vergebens.
Andererseits hat sie lange Zeit Hormonpräparate genommen, erst die Pille - „Genuß ohne Reue“ -, die damals eine Befreiung von Schwangerschaftsnöten war und eine neue, angstfreie und genussbetonte Phase der Sexualität eingeläutet hat, dann – wie selbstverständlich – Östrogenpräparate, um die Wechseljahresbeschwerden zu bekämpfen und „saftig“ zu bleiben. Damals, erinnert sie sich, hat sie ein Buch einer amerikanischen Autorin gelesen, die die Einnahme von Östrogenen einfach zur Steigerung des Wohlbefindens und zur Bekämpfung von Falten empfahl. Es waren also "Lifestyle"-Medikamente, lebensverkürzende allerdings. Vom Brustkrebsrisiko sprach niemand, damals. Als dann klar war, daß Östrogene dieses Risiko erhöhen, kam ein Östrogen-Ersatzstoff auf den Markt, ein Präparat, das sich an die Östrogen-Rezeptoren auf den Zellen setzt, aber – wie es hieß – ‚keine östrogen-artige Wirkung entfaltet‘. Teuer war es. Kassenpatienten bekamen es nicht verschrieben, nur Privatpatienten hatten mit ihren Versicherungen keine Probleme. 10 Jahre später war klar: Auch dieses Präparat erhöht die Brustkrebsrate. Sie fühlte sich wie ein Versuchskaninchen oder – noch kleiner: eine weiße Maus.
Die Chemotherapie steht vor ihr, wie eine Wand. Als Anästhesistin hat sie zwar keinen Patienten durch die gesamte Therapie begleitet, aber sie kennt sie theoretisch und kann sich in etwa vorstellen, was eine solche Behandlung für den Körper bedeutet.
Sie kaut auf der Notwendigkeit dieser Therapie herum, macht sich endlich klar, daß sie ihr helfen wird, den Krebs anzugreifen, vielleicht zu besiegen. Sie beschließt, alle notwendigen Behandlungen mitzumachen, um zu leben. Sie denkt an ihren Traum, den Lava-Strom, zerstörerisch und gleichzeitig fruchtbar.
Sie ruft in Gedanken die kleine Jil, das Kind, das Mädchen in ihr Gedächtnis zurück. Als 8jährige hat sie schon einmal einen solchen Beschiß erlebt: Sie war einem Mann gefolgt, der ihr 10 Mark versprochen hatte; für die wollte sie für sich und ihre zwei Geschwister Süßigkeiten kaufen, in der Nachbarschaft war eine Konditorei, eine Qual, immer daran vorbeigehen und den süßen Duft riechen zu müssen, ohne Geld zu haben. Die Eltern konnten sich solche unnötigen Dinge nicht leisten, „das kommt nicht in die Tüte.“ Sie hatte zwar von ihrer Mutter gehört, nie mit Fremden zu gehen, aber sie roch förmlich schon den Schokoladenduft der 'Mohrenköpfe', die sie mit dem Geld würde für sich und die anderen kaufen können. Zusammen gingen sie an den nahegelegenen Fluß. „Wenn Jemand kommt, den du kennst, sag mir gleich Bescheid.“ Er suchte ein dichtes Gebüsch, sie gingen hinein, er zog seine Hose herunter. Da stand etwas, in ihrer Augenhöhe, ließ sich mit dem Finger leicht herunterdrücken und schnalzte wieder nach oben. Sie kannte dieses Organ vom Baden mit ihrem Bruder, aber so groß! Sie sollte sich auf den Boden legen, behielt ihr Höschen an, er legte sich auf sie, führte seinen Penis zwischen ihre Schenkel, bewegte sich auf und ab, stöhnte schließlich. Sie war naß zwischen den Schenkeln, er gab ihr ein Papiertaschentuch. Sie stand auf, er zog sich die Hose hoch, sie gingen zurück bis zum Hof, wo die Geschwister immer noch spielten. Keiner hatte ihr Fehlen bemerkt. Der Mann sagte, er habe jetzt keine 10 Mark. Er kam danach häufig wieder, sie bekam Angst, versteckte sich jedes Mal, ging nicht mehr mit, fühlte sich betrogen.
Erst Jahre später, als die Mutter stammelnd versuchte, ein Aufklärungsgespräch mit ihren Töchtern zu führen, fuhr die Angst in sie, sie können von diesem alten Erlebnis schwanger sein. Sie schwitzte Blut und Tränen und hatte Angst davor, der Mutter alles zu erzählen. Sie fürchtete, wie so oft geschlagen zu werden.
*1) Zitiert aus DÄ 38 vom 19.9.2008 S.1683 W.Storm „Von Ärzten und Hampelmännern“
>Ab 30 ist jeder für sein Gesicht verantwortlich< (Albert Camus)
>Mit 40 muß sich eine Frau zwischen ihrem Gesicht und ihrem Hintern entscheiden< (Cocco Chanel)
Ganz andere Gedanken schwadern durch den Kopf von Andrea Susemihl, als sie aus der Narkose aufdämmert. Es ist schon dunkel draußen, um die Ecke, bei der Tür, ist ein Lichtschein. Mehr sieht sie nicht, nur mit Mühe kann sie die Lider einen Spalt weit öffnen, und das tut weh. Also besser die Augen geschlossen halten.
Umso lebhafter sind die Gedanken. Zuerst ist da ein Gefühl der Zufriedenheit mit sich selbst und des Stolzes, daß sie so mutig und unkonventionell mit dem Thema ‚Altern‘ umgeht. Es wird zwar viel in den Hochglanz-Journalen über Schönheitsoperationen geschrieben - ‚Neue Brüste müssen her und die Falten weg‘ - *2), so wie in letzter Zeit auch eher dazu geraten wird, eine Geburt als Kaiserschnitt zu planen‚ ‚ist besser für das Kind‘. Die Models und Prinzessinnen machen es auch so, Madrid ist ein Zentrum, also fliegen sie mit ihrem Bauch dorthin.
Auf dem Genfer See fährt ein Luxusboot herum. Hinten am Heck, dort wo sich sonst die Schönen in der Sonne räkeln, steht ein Operationstisch, in der frischen Luft. Ein Schönheitschirurg operiert dort im Angesicht der Majestät der Berge, mitten auf dem See. Exklusiv! Aber für sie zu teuer.
Nein, sie läßt sich vom Altern nicht unterkriegen, solange technisch noch etwas zu machen ist, nimmt sie das Angebot in Anspruch, sie hat ja sonst wenig Ansprüche. Andererseits würde sie sich als anspruchsvoll bezeichnen, nicht so einfach abzuspeisen, etwas Besonderes.
Heute kann man so viel machen! Hartmut berät sie immer großzügig.
Bisher konnte sie sich über die positive Wirkung nicht beklagen, die sie auf Männer hatte. Die Agenda voller Dates, es reicht, daß sie die Straße enlangtrippelt, sofort nimmt die Männerwelt von ihr Notiz. In der Flirt-Technik ist sie eine Meisterin, oft sind die anderen Frauen böse, stutenbissig.
So hat sie keine wirkliche Freundin. Sind ihr eben mit ihrem Aussehen konkurrenzlos unterlegen.
Natürlich verlaufen diese Beziehungen nicht so, wie sie es sich wünschen würde. Wie vom Blitz getroffen fliegen die Männer auf sie, kaum daß sie auftaucht; sie hat viele Sex-Techniken drauf und ist nicht zimperlich, in der Domina-Performance muß sie noch an sich arbeiten, das ist noch ausbaufähig.
Aber schon nach der ersten Nacht kühlt das Interesse ihrer Liebhaber allzu schnell ab, trotz aller Anstrengung.
Danach möchten die meisten Männer lieber nur noch mit ihr ausgehen, raus an die Öffentlichkeit, fahren mit dem Porsche vor und ab zur nächsten Vernissage.
Sie hat sich schon einen Vorrat an Small-talk-Sätzen über die Kunst zugelegt, schnell kann man dann auf Gesellschafts-Tratsch übergehen, da ist sie fit. Schön wäre es, sie könnte einen heiraten oder besser: einer würde sie heiraten; vielleicht sollte er nicht allzu jung sein, die Jungen sind bessere Lover und möchten in die Liebe, technisch, eingeführt werden. Mit 40 hatte sie in der Altersklasse der 25jährigen geast, das war damals direkt Mode.
Aber: War sie einem dieser Liebhaber menschlich näher gekommen? Konnte sie mit einem von ihnen über ihre innersten Sorgen und Gedanken sprechen, über Gefühle? Hat jemals einer von ihnen zu ihr gesagt, daß ihm die Beziehung etwas bedeutet?
Haben sie jemals gemeinsam Zukunftspläne geschmiedet? Fehlanzeige. Sie ist noch nicht einmal mit einem dieser Männer in Urlaub gefahren. Immer allein; hat ihre Bedürfnisse vor Ort gestillt. Dort war ja dann klar, daß es ‚Liebe auf Zeit‘ ist.
Einmal war sie auf Kur. Am ersten Abend wurde beim gemeinsamen Abendessen in der Kuranstalt sofort taxiert, ob sie einen Ehering trägt.
Hätte sie sich doch ein Ringlein übergezogen, dann hätte sie kein Problem mit den Angeboten von seiten der Kurschatten gehabt; verheiratete Frauen werden präferiert, denn nachher gehen sie wieder zu ihrem Ehemann und der Kurschatten ist aus dem Schneider.
Kinder kann sie sich nicht vorstellen, vielleicht eher nicht; heiraten schon. Aber zur Zeit ist sie wirklich solo, Single. Besser so, denn sie möchte auf keinen Fall, daß ein Lover sie so sieht, wie sie jetzt im Bett liegt. Das wäre zu viel Entzauberung!
Gottseidank kann sie sich selbst nicht sehen! Der Beautycase ist auch noch nicht ausgepackt, hoffentlich laufen die Flaschen und Tiegel nicht aus. Sind so teuer, die Sächelchen.
Sie schläft wieder eine Runde, die Schmerzmittel wirken noch gut und machen sie wohlig müde.
Mitten in der Nacht, ringsum ist tödliche Ruhe, wacht sie mit einem Schlag auf. Ist irgendwie vollständig ausgeschlafen, aber nicht erholt. Sie hat von ihrer Mami geträumt, dieser schönen Frau, die von ihrem Vater geheiratet worden ist mit sicheren sozialen Aussichten, er immerhin Sparkassenfilialleiter. Sie muß sich keine Sorgen machen, allein zu altern, es sei denn, es kommt ganz dick und zur Scheidung. Aber bisher gibt es keine Anzeichen dafür.
Daß man nie ruhig sein kann, sich immer anstrengen muß, attraktiv sein, lieb sein, gutgelaunt sein, unterhaltsam, verständnisvoll und was noch mehr! Auch andere Mütter haben schöne Töchter. Der Markt schläft nicht, der Marktwert muß gesteigert werden. Wachstum. Leistung.
Andererseits ist sie eine moderne Frau. Nach dem Hauptschulabschluß war es klar: Sie muß eine Berufsausbildung machen. Von wegen: Weshalb um alles in der Welt ein Beruf, sie heiratet ja doch.
War nicht schwer, die Eltern zu überzeugen, die Eltern aller Schulkameradinnen ringsum haben so gedacht, da wollte man nicht nachstehen.
Jetzt hat sie die Leitung einer der Filialen einer Drogeriemarktkette, hat sich hochgearbeitet, hochgemobbt, manchmal auch, wie man so schön sagt: hochgeschlafen; von wegen schlafen, das war manchmal harte Arbeit.
Nach der Lehre hat sie dafür Tag und Nacht gearbeitet, interne Fortbildungen und sogar Kongresse besucht, einmal sogar den Mitarbeiter-Treue-Bonus mit einer Woche Mallorca inclusive latin lover gewonnen – durch Leistung.
Schön war das, eine Anerkennung.
Und was heißt ‚Mobbing‘ ? Man muß sehen, wo man bleibt, die Konkurrenz ist groß und Cleverness ein Karrierekriterium; und es kommt in der Geschäftsleitung gut an, wenn man zeigt, daß man Biß hat. Wer nicht mitmacht, geht unter, ‚wer nicht mit mir ist, ist gegen mich‘, so ist es nun einmal.
Die Firmen-Philosophie: „Wir in der Firma sind alle eine Familie, und die Firma ersetzt damit eine eigene Familie“ war auch der Grund dafür, daß sie viele Überstunden gemacht und abends in ihrer Freizeit weitergearbeitet hat – es wartete ja keiner zuhause auf sie. Das wurde honoriert, so machte man Karriere.
Abends lief dann auch zwischen den Regalen und im Erfrischungsraum so einiges, bevor der Filialleiter nachhause zu seiner Familie ging. War auch nicht schlecht für’s Weiterkommen.
Aber ihre Treue zum Geschäft und die Verschmelzung mit der corporate identity hat sie unbrauchbar gemacht für den restlichen Markt.
Jetzt wackelt ihr Stuhl: Die Firma ist von einer amerikanischen Handelskette aufgekauft worden und nun durch Insolvenzgefahr bedroht.
Sie tröstet sich: „Denk nicht dran, wird schon schiefgehen.“ „Jetzt mußt du erst mal gesund und schön werden.“
Am nächsten Tag kommt Hartmut, um nach ihr zu sehen, muntert sie auf: „Das sieht doch aber schon sehr gut aus, das verheilt bei dir viel schneller als ich erwartet hätte. Aber: Noch immer Spiegelverbot! Bei welcher Kosmetikerin bist du eigentlich? Muß mal mit ihr telefonieren, damit sie weiß, wie sie mit diesem Kunstwerk umgehen muß.“
Nach seinem Abgang geht die Tür nur noch zweimal auf, als der Zivi das Mittag- und das Abendessen bringt. Sonst ist Ruhe, Stille, Einsamkeit. Keine Menschenseele kommt sie besuchen, sie hat „die Sache“ geheim gehalten. Aber selbst, wenn sie es herumerzählt hätte: Es gibt keinen Freund, keine Freundin, die sie hätten sehen wollen.
In der Nacht drückt der Verband an der linken Schläfe. Es tut richtig weh. Plötzlich fließt etwas Warmes die Wange hinunter, als sie danach tastet, ist die Hand voller Blut. Sie klingelt. Die Nachtschwester läßt auf sich warten, und als sie endlich kommt, ist Andrea außer sich: „Ich könnte hier im Bett verbluten und keiner kommt, wo waren Sie denn?“
„Ich bin nachts allein auf Station und habe noch schwerkranke Patienten nach großen Operationen zu versorgen. Einer von denen mußte auf den Topf. Hat es dann aber nicht mehr geschafft zu warten, bis der Topf da war – da ging alles in’s Bett, schöne Schweinerei. Konnte ihn doch nicht so liegen lassen.“
Sie stellt eine Nachblutung fest. Ruft den diensthabenden Stationsarzt, der per Vertrag nachts und am Wochenende auch für die Patienten der Beleger zuständig ist. Der wälzt sich zum vierten Male in dieser Nacht aus dem Bett und kommt, den Schlaf noch in den Augen, zu ihr. Er kommt zur selben Diagnose. „Ich muß Dr. Lettenbeutel benachrichtigen, er wird sagen, was zu tun ist.“
Dann geht alles schnell: Der Anästhesist kommt kurz vorbei und macht sich ein Bild von der Höhe und Kreislaufwirksamkeit des Blutverlustes, „wir müssen dann gleich ein Labor machen; sonst machen wir die gleiche Narkose wie heute morgen, ich lasse Ihre Einwilligung auch für diesen Noteingriff gelten.“
Sie wird im Laufschritt in den Operationssaal gefahren, steigt noch selbst auf den OP-Tisch. Diesmal hat sie keine Vorbereitungspille bekommen, erlebt alles im Wachzustand mit:
EKG-Kleber und Blutdruckmanschette, Sauerstoffsättigungsklammer, Punktion der Vene, Einspritzen des Einschlafmittels – es brennt fürchterlich. Dann taucht sie ab.
„Die Naht unter dem Haaransatz ist geplatzt, war wohl ein bißchen zu stark unter Zug. Der Skalp blutet dann gleich wie angestochen. Da steckt man nicht drin. Sieht primär mal schlimmer aus, als es ist. Habe die Naht jetzt noch einmal sicher gelegt. Hoffentlich geht es ohne schlimme Narbe ab. In der Einwilligung zur Operation stehen ja alle diese Komplikationen und ‚Nebenwirkungen‘, also: Fragen Sie Ihren Arzt oder Apotheker, haha! Hast du ja alles unterschrieben. Habe es zuerst wohl zu gut gemeint. Jetzt mußt du den Druckverband ein paar Tage länger tragen und auch ein bißchen länger bei uns bleiben. Natürlich ändert sich da der Preis.“
*2) Originalzitat web.de 07.09.2008
Zwei Tage nach der Operation wird den Patientinnen ihr Zimmer zu eng und zu einsam. Sie steigen aus dem Bett und machen sich auf zum ersten Spaziergang auf dem Krankenhaus-Flur. Am Ende des Flures stehen zwei Sessel unter ein paar Grünpflanzen, dort kann man von der Anstrengung des Umhergehens ausruhen. Hier treffen Andrea und Jil aufeinander.
Andrea kann ihre Augen jetzt einen Schlitz weit öffnen. „Sie sehen ja prima aus, sind Sie überhaupt operiert worden?“
Jil erklärt der Mitpatientin ihren Fall, auch die Krebs-Diagnose. Von den Ängsten erzählt sie ihr nichts, sie wirkt sehr gefaßt und hoffnungsvoll.
„Ja, ich habe die Operation gut weggesteckt; ich hatte schon andere Operationen, große Operationen im Bauchraum, da ging das mit dem Erholen nicht so schnell.“
„Bei mir gab es eine Komplikation, ich mußte nachts noch mal operiert werden. Jetzt sitzt die Sache, hoffentlich.“
„Das muß nichts heißen: ‚Komplikation‘; Hauptsache, man hat sie in den Griff bekommen.“
„Ach wissen Sie, bei mir geht nichts glatt über die Bühne. Bin halt ein spezieller Fall. Sie scheinen sich ja auszukennen: Mein Freund Hartmut, ich meine der Doktor, hat gesagt, es könne jetzt eine häßliche Narbe an der Schläfe geben. Wie ist es denn damit?“
„Man kann Narbenkelloide, so heißt das, später noch egalisieren, durch Abschleifen oder durch eine neue Operation; Sie können die Stelle auch bald mit einer Narbensalbe einreiben, man kann viel tun. Oder sie tragen, falls nichts hilft, eine Frisur, wo die Haare die Narbe bedecken.“
„Aber dann würde man sie doch im Liegen oder so sehen, nicht wahr?“
„Ja, schon.“
Jil denkt sofort daran, daß diese Frau dann eben ihre Sex-Gewohnheiten einmal ändern muß: raus aus der Missionarsstellung. Aber sie behält es für sich.
„Wissen Sie, mein Traum ist, daß ich gut aussehe. Es ist lebenswichtig für mich. Ich hätte mit einem solchen Makel große Probleme. Männer haben ja Schiss vor solchen Sachen: Operationen und so. Die würden sofort von mir ablassen, wenn sie die Spuren eines Eingriffs sehen.“
„Ja. Mein Traum ist, noch ein paar Jahre zu leben. Wie manche mit ihrem Leben umgehen! Raucher zum Beispiel leben im Durchschnitt 15 Jahre weniger als Nichtraucher. *3)
Aber sie wollen nicht hören, daß Rauchen eine Krankheit ist.“
Damit ist der Gesprächsstoff für’s erste erschöpft. Beide erheben sich und steuern auf ihr Zimmer zu.
*3) Quelle: WHO, DÄ 38 19.9.2008
Frank Sturz ist mittlerweile seit ungefähr 24 Stunden in seinem Zimmer. Die ersten Stunden hat er selig verschlafen, dank der Schmerzmittel. Einmal klingelte das Handy, es war schon dunkel, wie er durch die Augenschlitze sehen konnte.
Nena, seine Frau, war dran, und er gab mit seinem festgezurrten Kiefern ein kurzes, schmallippiges Statement zwischen den Zähnen hindurch; „Es geht so, alles spannt und tut weh, ein ziehender Schmerz ringsum im Gesicht, sehr unangenehm, macht mich ganz mürbe.“
„Leider kann ich nicht bei dir sein! Laß dir noch ein Schmerzmittel geben, es ist besser, du verschläfst diese erste harte Zeit. Dein Zimmergenosse sorgt ja hoffentlich für dich.“
„Ja, es geht.“
„Wir müssen aufhören, ich möchte nicht, daß die herausfinden, wo du bist, dann wäre alles umsonst gewesen. Ich liebe dich.“
„Ich dich auch.“
Der Beamte drückt die rote Taste auf dem Handy.
„Kann ich etwas für Sie tun? Ich habe ja nicht gelauscht, aber mitbekommen, daß Sie Schmerzen haben. Ich rufe die Schwester.“
Diese spritzt noch etwas in die Infusion. Er schläft wieder ein.
Ein ungeheures Wohlgefühl nimmt von ihm Besitz, jetzt, da das Gesicht nicht mehr schmerzt, es fühlt sich an wie ein dicker Schwamm ohne Konturen.
Er liebt sein Gesicht, so vom Leben geprägt, von Falten umrahmt, sein energisches Kinn, seine prominente Nase, seine wulstigen Augenbrauen, seine Krähenfüße und Tränensäcke - kein fahles, glattes Jünglingsgesicht, sondern sonnengebräunt und voller gelebter Persönlichkeit. Eine wahre Visitenkarte, auch beruflich. Aber vor allem privat. Tolle Wirkung auf junge Frauen. Nicht auf Mädchen, sondern Frauen, die sich schon die ersten Sporen im Leben verdient haben, aber noch voller Hoffnung und Energie sind. Die auch schon die erste Enttäuschung erfahren haben, auch in dieser Hinsicht ihre Jungfräulichkeit verloren haben und keine zu hohen Ansprüche stellen. Einen nicht mit unerfüllbaren Prinzen-Erwartungen sekieren, sondern auf Partnerschaft aus sind. Natürlich nicht weitergehend, denn er macht ihnen sofort klar, daß er verheiratet ist und es bleiben wird. Aber l’amour l’aprèsmidi, gestohlene Stunden haben ihren eigenen Reiz. Kein Pantoffel- und Zeitungsabend vor dem Fernseher, keine Frühstück-Mittagessen-Abendessen-Fragen: Was koche ich, was willst du essen? Stattdessen inszeniertes Liebesnest, immer woanders, seidene Dessous, Champagner, abgelegter Ehering, Abtreten nach dem Liebesakt ohne Duschen, kein makeupverschmiertes gemeinsames Erwachen mit schalem Mundgeschmack. Mit Nena ist abgesprochen, daß sie eine offene Ehe führen, all dies inklusive. So kann er ohne schlechtes Gewissen manche Nacht weg bleiben, ohne Vorwürfe ihrerseits. Wenn er das Haus betritt, ist keine schlechte Stimmung. Nena hat anfangs mal kleine, spitze Bemerkungen gemacht, nach Hinweis auf ihr Abkommen ist das nicht mehr vorgekommen. Und so geht das nun schon seit 18 Jahren. Sie sind weit und breit das einzige Paar, das diese Offenheit anhaltend lebt, alle anderen sind mittlerweile getrennt, geschieden, in alle Welt zerstreut. Zum Teil auch neu verheiratet und ganz bürgerlich geworden, haben die alten Ideen von Freiheit verraten aus Schwäche, sie zu leben. Er kann stolz sein.
Natürlich, das mit den „jungen Frauen“ stimmt, ehrlich gesagt, in der letzten Zeit nicht mehr so ganz. Die Tendenz ging schon eher in Richtung „junge Mädchen“. Jetzt „im Alter“, muß er bekennen, ist er richtig sexsüchtig geworden. Vielleicht aus Angst vor Verlust der Jugendlichkeit – obwohl er es mit manchem 48jährigen noch durchaus aufnehmen kann - ist er als Verführer immer dreister geworden, vernascht mit Vorliebe Studentinnen oder auch Schülerinnen. „Je jünger, desto besser“, ich bringe es noch.
Seine Jagdgründe sind jetzt eher die Discos mit ihrer Dunkelheit, der erfahrene Liebhaber an der Bar hängend, ein cooler Typ. Er hat aber immer mehr Probleme, durch die Gesichtskontrolle zu kommen: „Will Papa sein Töchterlein abholen?“ „Zombies kommen hier nicht rein.“ Hatte schon harte Rangeleien mit den Türstehern, mußte schlußendlich den Schwanz einziehen.
‚Vielleicht auch nicht schlecht, denn die Zeit nach dem Sex ist nicht der wahre Anton: „Die Kinder“ werden so kindisch und weinen nach ihren Spielsachen, dann will er sie schnell lossein‘.
Ob Nena das alles weiß? Ob Sie etwas ahnt? Schade ist, daß er mit ihr über diese Probleme nicht sprechen kann, sonst kann er über alles mit ihr reden.
Nena weiß das alles; was bleibt ihr anderes übrig, als die Überlegene oder auch – wenn sie gut ist - die Weise zu mimen, aber es kränkt sie. Trotzdem hat sie beschlossen, nicht Gleiches mit Gleichem zu vergelten. Das wäre ihr „zu schal“, eine solche Konsum-Einstellung wäre einem lover gegenüber nicht o.k., er würde sehr bald merken, daß er gar nicht persönlich gemeint ist. Also wartet sie auf den Eintritt der Weisheit bei ihrem Frank und hält sich in der Zwischenzeit körperlich und geistig fit. Aber ungerecht ist, daß sie immer um seine Anerkennung buhlen muß und eine Konkurrenz zu seinen jungen Frauen aufzubauen, wäre lächerlich. Sie ist schon ein bißchen enttäuscht, daß er so „an der Oberfläche klebt.“
Naja, auch wenn sie es merkt, ich bekomme Nena doch immer wieder rum. Ich muß sie nur lieb ansehen, die Stirn leicht in Falten legen und den Mund spitzen; meist kann sie mir dann nicht mehr böse sein. Wenn diese Unschulds-Mimik nicht reicht, muß ich Argumente bringen, wie: ‚Laß doch den kleinen Jungen in mir spielen!‘ Oder: ‚Das Weibliche fasziniert mich viel zu sehr, da kann ich nichts machen.‘ Oder: ‚Casanova oder Don Giovanni, du darfst es dir aussuchen.‘ Wie ein schmerzhafter Blitz durchfährt es ihn: ‚Ich habe nun ja mein Gesicht verloren.‘ Nena wird die einzige sein, die mich vorerst noch ‚kennt‘. Wird sie bei mir und meinem neuen Gesicht bleiben? Ich und sie: Wir haben unsere Vergangenheit verloren. Wenn sie mich anschaut, wird sie sich nie mehr wie von selbst an unsere erste Begegnung erinnern. Das war stark damals, und dieses Gefühl hat sich bis heute durch Dick und Dünn erhalten. Wir sind uns mit der Zeit vertraut geworden, unsere Gesichter, unsere Körper, unsere Stimmen, unser Geruch. Jetzt kommt alles in Schieflage.
Was, wenn dieses neue Gesicht eine Persönlichkeit ausdrückt, die ich nicht bin. Werde ich gespalten sein, hier Frank Sturz, der alte Schwerenöter, und dort eine aufgeklebte Maske ähnlich einer Perücke, der man das sofort ansieht. Ein – ja – alter Körper und vielleicht ein glattes Konterfei darüber, ohne Mimik und Ausdruck. Hatte ja doch eine gute, lederne Ausstrahlung, windgegerbt, durch viele Stürme geprägt. Als Mann ist man ja doch stolz auf seine Falten.
Er könnte in nächster Zeit nicht nach Italien fahren, seine zweite Heimat. Müßte zuerst einmal in sein neues Gesicht ‚hineinwachsen‘, Knochen und Muskeln müssen Kontakt mit der neuen Oberfläche aufnehmen, auch die Seele muß das Gesamt-Kunstwerk beziehen wie ein neues Haus. Seine Augen müssen sich an das neue Spiegelbild gewöhnen – die Augen werden doch hoffentlich noch dieselben sein!
Als nächstes kommt die neue Identität. Akribisch ausgearbeitet, wird er sie lernen müssen wie ein Schüler. All die Jahre bisher ge-ext und resetet. Muß sich jede Einzelheit neu aneignen – dazu gehört, daß er zunächst seine wirkliche Geschichte vergißt; verdrängen wird nicht reichen, sonst bricht sie doch einmal durch, wenn er einen zuviel getrunken oder einen Augenblick lang nicht die vollständige Kontrolle über sich selbst hat. Ja, und dann neu lernen, tausendmal wiederholen: Meine früheste Erinnerung als Kind, als ich drei war. Kindergarten, Schule, Abitur, wilde Jahre, Berufsfindung – Gottseidank darf ich meinen Beruf behalten - , Studium. Alles an anderen Orten als den gelebten. Also muß ich die neuen Dörfer und Städte studieren, alte Fotos ansehen, alte Beschreibungen lesen und erinnern. Meine Kindergärtnerin, meine Lehrer werden alle schon gestorben sein, meine Eltern und meine Geschwister auch. Bin allein auf der Welt zurückgeblieben, Tod um mich herum. Und Fotos von Unbekannten, die man mit Liebe und Bedauern ansieht. Klassenfoto, Abschlußball der Tanzstunde, Fußballmannschaft, lauter fremde Gesichter. Hoffentlich kann er sich alles Neue merken, in letzter Zeit hatte er manchmal Schwierigkeiten, sich an gewisse Dinge zu erinnern. Das wäre nicht liebenswert, sondern lebensgefährlich.
Gottseidank haben sie nur eine Tochter, Biggy. Ist jetzt 15 und vernünftig. Noch vor kurzer Zeit war sie voll in der Pubertät, selbst im Stachelpanzer wollte sie nicht angefaßt, gestreichelt werden, setzte sich nicht mehr auf seinen Schoß abends am Kamin, stellte alles in Frage, vor allem ihn. Mit ihrer Mutter kam sie irgendwie besser klar. Aus dieser Phase ist sie, gottseidank, jetzt raus. Und als er ihr alles auseinandergesetzt hat, schien sie zu verstehen. Aber ist das alles nicht zu viel für sie? Was ist mit der Vertrautheit, die sich erst vor kurzem wieder zwischen ihnen eingestellt hat?
Jetzt kann er von Glück reden, daß das mit dem zweiten Kind nicht geklappt hat: Biggy kam nach vielen Versuchen der in-vitro-Fertilisation, das war ein Krampf, ein Kampf und dann ein unermessliches Glück! Kaiserschnitt bei diesem ‚wertvollen‘ Kind. Nena hatte eine zweite ‚natürliche‘ Geburt gewollt und so lange darauf gehofft und hingearbeitet, aber Fehlanzeige. Hätten sie den ersehnten Sohn bekommen, wie hätte er auf die Situation des ‚neuen‘ Vaters reagiert, Söhne in der Pubertät, die um ihre eigene Identität ringen, sind da sensibel. Schlußendlich hat sich der Fruchtbarkeitswahn von selbst erledigt: Als Nena 40 war, mußte ihre Gebärmutter Hals über Kopf entfernt werden: voller Myome - „ersatzlos rausoperiert, gibt’s da kein Ersatzteil?“.
Das war schlimm für sie. Gottseidank war da ihre Arbeit als Galeristin, sie hatte in den Jahren vor der Konzeption von Biggy eine kleine, aber feine Galerie für zeitgenössische Kunst aufgebaut. Während der Familienpause hatte eine Freundin die Galerie weitergeführt, aber da sie nur angestellt war, fehlte irgendwie der nötige Drive. Da konnte Nena sich jetzt reinhängen, oder besser: sie mußte.
Alles in allem habe ich das Gefühl: Ich stehe vor dem Nichts. Aber: think positive: Nichts ist unmöglich, Kojote!
Die Nachtschwester bringt etwas gegen die Schmerzen, das bedeutet: er kann die restliche Nacht über schlafen. Und sein Schatten auf dem anderen Bett auch.
So langsam tut ihm alles weh: Rücken, Hintern, die Beine und Schultern sind steif. Er kann aber die Augen einen Schlitz weit öffnen und sieht, daß der Beamte angezogen auf seinem Bett liegt und tief schläft. Er will ihn nicht wecken, deshalb arbeitet er sich mit angezogenem Atem und das Stöhnen unterdrückend aus den Laken, bleibt einen Moment auf der Bettkante sitzen, damit die Kreisel sich normalisieren können, und wackelt dann Richtung Toilette. Absichtlich schaut er dort am Spiegel vorbei – er kann kein Blut sehen. Die Erleichterung ist eine ungeheure.
Wäre das schön, wenn Nena ihn besuchen käme! Oder wenn er das Zimmer verlassen und eine kleine Runde drehen könnte, vielleicht sogar an der frischen Luft! Magari!
Da im Zimmer keine Sitzgelegenheit vorhanden ist – ‚muß ich monieren, wenn ich meinen Kommentar für den Kummerkasten schreibe‘, - bleibt ihm nichts anderes übrig, als wieder in’s Bett zu steigen. Vielleicht kann er die Rückenlehne etwas höher stellen, so hätte er wenigstens den Eindruck zu sitzen, und der Rücken wäre entlastet.
Er kann nicht lesen, nicht fernsehen, also läßt er das innere Kino wieder anlaufen. Er vermeidet, den gestrigen „Film“ weiterlaufen zu lassen, ruft lieber das Kapitel „berufliche Vergangenheit“ auf, ein Mammut-Thema mit vergnüglichen Aspekten, aber auch mit Suspense. So ausgiebig ist dieses Kapitel, daß er gut und gerne den ganzen Tag damit verbringen kann – ‚rumbringen‘ wäre der bessere Ausdruck -, er weiß jetzt schon, daß er einige Erinnerungsbilder als Endlosschleife in Zeitlupe betrachten wird, andere läßt er eher in Zeitraffer vorbeisausen.
Schon als 17jähriger, als er noch über die Schule stöhnte, wußte er, was er werden wollte: Journalist. Deshalb Abitur, Studium; alles Grund zum Kritisieren, zu theoretisch. Besser wurde die Motivation, als er ein Volontariat in einem Zeitungsverlag machte. Dort durfte er auch die ersten Artikelchen über lokale Ereignisse schreiben, mit der Rektorin einer Behindertenschule ein Interview führen. Die Frau war 42 und endlich schwanger und machte sich große Sorgen, ob ihr Kind behindert auf die Welt käme. Mit seinen 23 Jahren hatte er damals Schwierigkeiten, die Frau zu beruhigen und auf Linie zu halten. Solche Techniken hatte er mittlerweile drauf.
Damals hatte sich ihn ihm der Wunsch verfestigt, Enthüllungsjournalist zu werden. Dieses Klein-Klein, täglich neue Themen, die am nächsten Tag kein Interesse mehr hervorrufen. Das war nicht sein Ding. Er wollte recherchieren, den Dingen auf den Grund gehen, mit in die Politik eingreifen, und dann den Hammer bringen. In aller Munde sein. Vielleicht gar ein Sachbuch schreiben. Ja, das wäre ein lohnendes Ziel.
Außerberuflich war er in der linken Szene aktiv. Mit 20 Jahren dachte er ausgesprochen sozialistisch, wohnte in einer Wohngemeinschaft, schlief bis Mittag und lebte in der Nacht. Es wurde mit Mitbewohnern und zahlreichen Besuchern, die sich immer zur Essenszeit einstellten, diskutiert, alles von Grund auf infrage gestellt, angefangen vom Reinheitszustand des Badezimmers. Die mühseligsten Diskussionspunkte waren: Sitzpinkeln, Kochen, Küche aufräumen; hier sollten die männlichen Genossen sich emanzipieren. Die Frauen hatten ihre eigene Emanzipation, die allerdings keine so prosaischen Anliegen beinhaltete, wie: Müll runtertragen, Öl für die Öfen hochholen. Die einzelnen individuellen Zimmer waren gottseidank tabu. Sonst wäre keine Zeit mehr geblieben, übergeordnete Themen zu diskutieren, aus Politik und Gesellschaft zum Beispiel. Hier kam man schnell, ohne großes Gezeter, zur Synthese.
Worum es im Kern bei dem von ihnen praktizierten Sozialismus ging: Das Wenige, was man besaß, zu teilen – noch zu diskutieren, ob 1:1 –. Cuba gut finden, die Sowjetunion weniger, auch die deutsche KP war zu trotzkistisch. Freie Liebe, keine bürgerlichen Besitzansprüche etwa auf eine Frau oder die Ausschließlichkeit einer Beziehung. Bildungschancen selbstverständlich für alle. Problem: Wo sollten sie sich als Studenten in der Ideologie und Welt der Arbeiter einordnen? Waren sie nicht elitär?
Er schweifte kurz in die Gegenwart ab: Sozialismus heute im Zeitalter der Globalisierung heißt: Individualisierung der Gewinne, Sozialisierung der Verluste.
Manchmal ging er damals nach der Arbeit in die Pizzeria. Das ausgefallene Essen konnte er vom Haushaltsgeld einbehalten. Italien war in, zu jener Zeit, als Urlaubsland und als Herkunftsland der „Gastarbeiter“, die ihre Kultur mitgebracht hatten. Pizza und Eurokommunismus, compromesso storico (jäh zu Fall gebracht durch die Entführung und Ermordung Aldo Moro’s); natürlich auch Vino und Sole mio. Paolo Conte. Antipasti. Primo und Secondo. Capuccino, hierzulande den ganzen Tag über. Afanculo. Später Trapatoni und Sstrunz. Stronzo.
Er wiederholt in seinem Hirnkino die Passagen bei Salvatore. Mann, habe ich geschlemmt! Altro che patate. Seine paar gestammelten italienischen Worte aus dem Urlaub mit den Eltern, als Kind, fielen auf fruchtbaren Boden; Salvatore hörte geduldig zu und dachte sich den Rest dazu. Er verbesserte ihn, brachte ihm neue Wörter bei. Mit der Zeit entstand eine richtige Freundschaft. Jedesmal, wenn er kam, umarmte und küßte ihn Salvatore auf beide Wangen. Stellte ihn seiner Frau und seinem Sohn Fiore vor. Als dieser 18 wurde, war er in der Familie zum Geburtstagsfest eingeladen: fünf Gänge, Wein und Grappa in Strömen. Seither war er ‚Franco‘.
Er belegte an der Uni eine Italienisch-AG und machte schnelle Fortschritte, allerdings mit dem toskanischen Zungenschlag der Lehrerin. Salvatore, der aus Kalabrien kam und den er auch manchmal schlecht verstand, lachte sehr über seine Intonation.
Von da an fuhr er jeden Sommer in den Semesterferien nach Kalabrien. Salvatore hatte ihm in seiner Familie eine billige Unterkunft besorgt. Langsam schlich sich der kalabrische Wortschatz und der typische Singsang in sein Italienisch ein. Er hatte dort Familienanschluß, eine weitläufige Familie, cugini, nipoti, das mußte man logisch aufdröseln. Mit den Auftauchen seiner Freundin Hildegard hörten diese sommerlichen Reisen nach Kalabrien auf, sie hatte keinen Draht dazu. Hielt nichts davon, den ganzen Tag mit den Frauen in der Küche zu stehen, Kochrezepte und Strickmuster auszutauschen, die Männer ihrer Wege gehen zu lassen.
Salvatore machte in den Neunzigern eine Filiale in Erfurt auf. Vorher war er oft niedergeschlagen gewesen, sprach aber nie über die Gründe für diese Stimmung. In den „neuen Bundesländern“ herrschte Goldgräberstimmung, oder besser: Geldwäscherstimmung, wie er später erfuhr. Aber das Geschäft schien nicht gelaufen zu sein. Salvatore kehrte Erfurt endgültig den Rücken.
In den vielen Jahren dieser Freundschaft blieb auch seine Verbindung in Salvatores Heimatdorf bestehen. Viel später, als er schon verheiratet war – Nena gefiel die „zweite Heimat“ ebenso gut wie ihm – hörte er über Salvatore, daß in seinem Dorf ein Haus zu verkaufen sei. Salvatore vermittelte auch den Kontakt mit dem Besitzer, einem Onkel, die Abwicklung des Kaufs, Notar, Katasteramt. Er selbst hätte zu wenig Insiderwissen gehabt, um das allein zu schaffen. Und nun war er stolzer Hausbesitzer eines wunderschönen alten Gemäuers.
Es wurde ausgebaut, mit Bad, Heizung und einem Kaminofen versehen, eingerichtet. Schöne Jahre, das gemeinsam mit Nena zu machen. Ihr Geschmack war ausschlaggebend, ihr Kunstgeschmack zumal. Er lebte fast ein Drittel der Zeit dort und arbeitete als freier Journalist. Seit den Zeiten des Computers und des Internets hätte er ganz dorthin übersiedeln können, aber da war in Deutschland ja noch Nena’s Galerie, die sie nicht aufgeben wollte. Und das bessere Schulsysstem für Biggy. So wurde das kalabrische Haus Zielpunkt ihres Rentnertraums.
Die vielen Abende allein in San Benedetto verbrachte er mit Vorliebe in der Bar, wo die Männer saßen und Karten spielten. Bei diesem und jenem Glas Rotwein kam er mit der Zeit mit einigen von ihnen in’s Gespräch, und da er sehr hilfsbereit und technisch versiert war, wurde er nach und nach in die Häuser gebeten, um verschiedene kleine Probleme zu beheben. Danach war er selbstverständlich zum Essen eingeladen; die Frauen huschten nur kurz herein und servierten die Köstlichkeiten, die Männer blieben am Ende unter sich. Auf der Straße wurde er nun gegrüßt, er wurde nach seinem Befinden gefragt, ein kleines Gespräch über das Wetter und die Reife des Weins schlossen sich an.
Mit der Zeit wurde er auch in Sachen ‚Liebe und Familie‘ um Rat gefragt und in die intimsten Geheimnisse der Männerwelt eingeweiht. Die Welt der Frauen blieb ihm rätselhaft und undurchdringlich.
Er dachte daran, einmal – wenn er endlich endlos Zeit hätte – einen Roman über die Dorfgesellschaft zu schreiben. Sie schien ihm so archaisch, ihre Gesetzmäßigkeiten so festgelegt und klar; allerdings sollte er erst sehr viel später erkennen, wie weitgehend sie waren: bis in den Tod.
Den Roman hat er geschrieben: ‚Kaktusblatt‘. Allerdings nicht einfach über die Menschen in einem kalabrischen Dorf, sondern über die Mafia, die ‚Ndrangheta, die über sie herrschte, sie in der Hand hatte und deren Glieder sie gleichzeitig waren. Die ihr Gesetz war. Einer von ihnen war ihr Kopf.
Diese ehrenwerte Gesellschaft hatte in den letzten Jahren auch auf Deutschland übergegriffen; bekannt wurde einer ihrer Ehrenmorde in einer Düsseldorfer Pizzeria mit sechs Toten, der die Polizei vor unlösbare Rätsel stellte und dessen Aufklärung trotz internationaler Zusammenarbeit keinen Schritt vorankam. Da wurde klar, daß die Mafia auch in deutsche Behörden infiltriert war und von dort Tips bekam, um ausweichen zu können.
Dieser Roman war ein Schlager und verkaufte sich bestens. Aber er brachte ihm die Einsamkeit, er war in Lebensgefahr.
Nach einer schweren Zeit des Lebens im Untergrund und der absoluten Isolation hatte er das Angebot der Behörden angenommen, eine neue Identität und ein neues Gesicht anzunehmen, mit der Aussicht, einmal wieder an die Öffentlichkeit gehen und sich wie jeder andere in ihr bewegen zu können.
Jil Band ist zuhause. Die Brust mit dem Implantat ist wie ein Fremdkörper. Der Arzt hat ihr erklärt, daß der Krebs schon weit fortgeschritten war und den gesamten Drüsenkörper ergriffen hatte, so daß er nicht im Gesunden entfernt werden konnte. Das bedeutet volle Anschlußbehandlung: Chemotherapie, Bestrahlung und Antiöstrogene für 5 Jahre. Und sie hat Angst, ihre neue Brust zu betasten, die Haut zu pflegen. Sie will keine Krebszellen zur Streuung bringen.
Zwei Wochen später hat sie sich soweit durchgebissen, die Termine für die Chemotherapie festzumachen. Sie fürchtet sich davor, macht sich aber nach und nach klar, daß diese eingreifende Behandlung ihr ja helfen soll. 6 Zyklen alle 3 Wochen, sofern das Knochenmark mitmacht und die Abwehrzellen und roten Blutkörperchen ausreichend hoch sind. Den ganzen Sommer über! Die Hälfte der Zeit geht es einem schlecht, die andere Hälfte genießt man, weil es wieder besser geht. Man fühlt, daß man sich nicht unterkriegen lassen darf. Muß die Aufarbeitung des psychischen Tiefschlags verschieben auf bessere Zeiten, um für den Augenblick Kraft zu haben. Power-Frau? Gewesen. Den ganzen Sommer keinen Urlaub und auch sonst Rückzug in die Isolation, freiwillig, weil man einfach nicht anders kann. In den Tagen unmittelbar nach dem Einlaufen der Chemotherapeutika kann man noch nicht einmal telefonieren, geschweige denn Besuch empfangen - nur Erschöpfung, Schwäche und Übelkeit. Die Freunde haben Probleme damit, möchten sich kümmern, wollen sie hören und sehen, sind kaum abzuhalten. Sie hören sich die Schilderungen der Nebenwirkungen an und kontern: Du siehst aber gut aus! Besser denn je.
Nach zwei Zyklen fragen sie: „Ist es nun gut?“ „Ach was, so lange noch?“ Sie fahren in Urlaub, kommen zurück und fragen: „Was, immer noch?“ „Alles in allem 32 Wochen harte Therapie.“
In dieser Zeit ist sie wie ein blutiger Fleischklumpen und kämpft um physische Contenance. Ihr Geruchssinn ist feiner geworden, sie stellt überall schlechte, abgestandene Gerüche fest; an sich selbst riecht sie einen strengen Chemo-Geruch. Kein anderer kann ihr dies nachfühlen. Sie kann sich zeitweise selbst nicht mehr riechen. Der Geschmackssinn ist schlechter geworden – sie muß alles scharf würzen, um überhaupt noch etwas zu schmecken. Sie kann kein Fleisch und keine Wurst mehr essen, die widern sie an. Die Hände zittern, sie wird beim Greifen ungeschickter. Das Sehvermögen wird besser, sie braucht eine neue Brille. Sie wird vergesslich, ihr Hirn scheint angedaut.
Sie sitzt vor dem Fernseher und sieht in ‚Kulturzeit‘ einen Beitrag über alleinerziehende Väter, von denen einer sagt: „Ich habe einen Brustneid.“
Fast wie ein Außerirdischer sieht sie mit Verwunderung die Probleme der anderen. Auch die Werbesendungen werden unerträglich. Überhaupt: Diese Orientierung auf Äußerlichkeiten, Konsumzwang, Ablenken vom Nachdenken; Angst generieren mit Hinweis auf Konkurrenz, Unzulänglichkeit an der Oberfläche und Fassade; bewußtes Ausblenden von Themen jenseits von Wellness, Beauty und Zwang zu ewiger, bis hin zur Peinlichkeit betriebenen Jugendlichkeit. Grauharige Modells, die ihr Becken unter Schmerzen in die Pose des schüchternen jungen Mädchens zwingen. Sie lebt, meist vegetiert sie nur, auf einem anderen Stern. Der Gegensatz ‚innen‘/‘außen‘ nimmt ihre ganzen Gedanken in Anspruch, ihre Empfindsamkeit liegt ganz flach unter der Außenhülle, und die wird immer dünner. So viel wird klar. Die Neigung zur Oberflächlichkeit, zum Konsum, und das Schüren von Ängsten, um dieses Verhalten weiter anzuheizen, hat eine lange Tradition. Angst ist ein Katalysator zur Manipulation der Menschen, das haben Religion und Werbung gemeinsam erkannt.
Die Anschlußtherapie mit Antiöstrogenen wird sie wieder in die Wechseljahre zurückschleudern mit all den bekannten und schon einmal durchlebten Unannehmlich-
keiten: Hitzewallungen, trockene Scheide und Libidoverlust. Ein Problem in ihrer Ehe, die seit ihrer Erkrankung besser und belastbarer geworden ist. Sie muß sich etwas einfallen lassen, um die schönen Seiten wieder aufleben zu lassen: andere Liebestechniken und Gel.
Als die sechs Chemozyklen vorüber sind, ist sie mächtig stolz, bricht aber dann psychisch ein. Als sie ihren Nacken, der die Schläge tapfer entgegengenommen hat, entspannt, schwindet alle Motivation und alle Kraft. Nachts greift die Angst zu sterben wieder nach ihr. Die Gewißheit, den Krebs besiegen zu können, die ihr so viel Durchhaltevermögen gegeben hatte, weicht grausamen Zweifeln. Jeder hat eine Geschichte parat von einem, den er gekannt hat, und der dann auch gestorben ist. Sie weiß, daß diese Stimmungen sie schwächen, und daß sie das nicht zulassen darf. Aber sie sind ein Teil des Ganzen.
Während sie noch versucht, all das zu integrieren, beginnt die Strahlentherapie. Bestimmte Punkte werden eintätowiert und die Bestrahlungsfelder auf die Haut gemalt; so gezeichnet legt sie sich Tag für Tag auf den Bestrahlungstisch. Und das sieben Wochen lang. Sie tröstet sich mit dem Gedanken: ‚Ich habe ja sonst nichts zu tun, also mache ich das für mich.‘
Nachmittags hat sie ein zweites Programm: Die Scheide weiten – denn sie ist ganz eng geworden – und die Muskeln an den Beinen dehnen. Wenn schon Fegefeuer, dann richtig.
Das Implantat fühlt sich immer noch wie ein Fremdkörper an, das Gewebe darum herum ist ja auch nicht gesund und konnte inzwischen während der verschiedenen Therapien nicht zur Ruhe kommen und heilen. Im Gegenteil: Es ist in Aufruhr: ein Zeichen, daß noch Krebszellen vorhanden sind, auf die sich die Therapie stürzt?
Die Haare beginnen zu sprießen. Auf den kurzen Stoppeln beginnen ihre Mützchen zu schwimmen. Die Augenbrauen und Wimpern fallen aus.
Aber sie fühlt sich gut in ihrem Leben. Das negative Agens ist abgeschlossen, sie kann ihre Kraft auf sich konzentrieren. Die Zukunft winkt schon von weitem. Hinter dem Horizont geht’s weiter, ein neuer Tag, ein neues Leben?
Andrea Susemihl hätte sich am liebsten verschleiert wie eine Muslimin, um nach ihrer Entlassung aus der Klinik unerkannt nachhause zu kommen. Sie bittet darum, erst in den späten Nachmittagsstunden in ihr Leben zurückkehren zu müssen, wenn es langsam dunkel wird; sie läßt ein Taxi rufen mit einer Frau am Steuer.
Als ehemalige Disco-Queen muß sie jetzt ein Einsiedler-Leben führen, weil sie nach einer Woche immer noch nicht vorzeigbar ist – das ganze Gesicht ist jetzt blau unterlaufen und geschwollen, die Haut zeigt sich glatt und gespannt. Wie eine Aubergine.
Sie hatte vor ihrer Abfahrt in die Klinik den Kühl- und den Gefrierschrank gefüllt mit Fast food-Produkten, die müssen nun in den nächsten zwei Wochen zur Ernährung reichen, über die ‚grüne und die gelbe Periode‘ hinweg. Ist halt so mit Kunstwerken.
Ihre einzige Ablenkung, ihre einzige Beschäftigung ist in diesen Tagen: fernsehen. Gottseidank gibt es ‚Germany‘s next top model‘, da kennt sie sich aus. Zur Not auch noch ‚Deutschland sucht den Superstar‘ mit dem unflätigen Bohlen. Aber der darf das ja per Gerichtsbescheid. Formel 1, Tour de France; das reicht als Sport. Wenn sie nicht schlafen kann, schaute sie Boxen an; die kommen mit ähnlichen Gesichtern wie dem ihren aus der Manege.
Über diesen absoluten Rückzug in die freigewählte Isolation muß sie nachdenken, es ist ihr sehr langweilig. In den Frühabendprogrammen gibt es die Menge solcher Geschichten von unerfüllter Sehnsucht nach einem freundschaftlichen Liebesverhältnis. Auch sie hofft auf Liebe, einen Mann, der ihre Lebens-Geschichte akzeptiert und mit-liebt.
In der dritten Woche nach der Operation hat sie einen Wiedervorstellungs-Termin bei Harmut. Sie soll den Rest der Summe mitbringen, um die Operation plus den Notfalleingriff zu bezahlen. Aber sie muß sagen: Das ist es ihr wert.
Er ist sehr zufrieden mit dem Ergebnis: „Läuft alles ganz normal, d.h. bestens!“
Allmählich wagt sie wieder in den Spiegel zu schauen, vorher ihre Lieblingsbeschäftigung und ein veritabler Zeitvertreib. Ist schon recht nett, sie kann die Stirn nicht mehr runzeln und das Lächeln ist auch nur eine Andeutung, sehr rätselhaft. Wie heißt nochmal die berühmte Dame auf dem Bild: Mona Lisa. Ihr scheint sie nachempfunden. Dieses Gesicht hat einen Reiz, eine faltenlose Jugendlichkeit, eine wächserne Schönheit. Erinnert an eine Schauspielerin, wie hieß sie gleich?
Die Waage, ihr bester und strenger, unbestechlicher Freund, zeigt an: abgenommen. War vielleicht das Krankenhaus-Essen, dampfgegart und ohne Farbe, nicht ihr Fall. Als sie ihre Sommerklamotten vor dem großen Spiegel anprobiert, ein Traum von Nichts, sieht sie zum ersten Mal Falten an den Innenseiten ihrer Oberarme und an den Oberschenkeln. Perfid. Darüber ein makelloses Gesicht. Kann nicht mehr schulterfrei gehen, die Röcke nicht mehr mini. Knieumspielend oder gleich Hosen. Und Liebe nur noch bei Rotlicht. Wie sieht das Decolleté aus? Wenn ich einen Bra trage, schiebt sich auch eine Andeutung von Fältchen über die Brusthaut. Also muß ich die Brüste so stehen lassen, wie sie, gottseidank, mit den Implantaten stehen. Kein Problem. Kann man an der Haut operativ nichts machen? Muß nächstes Mal Hartmut fragen, er ist immer so positiv.
Sie überlegt, wohin sie gehen wird, wenn sie zum ersten Mal wieder das Haus verläßt. Soll sie sich gleich der Konkurrenz aus der Frauenwelt zeigen, bei Tageslicht? Oder lieber nachts in die Disco gehen? Die spärliche Beleuchtung dort läßt Falten ganz besonders hervortreten. Sie träumt, sie sieht sich stylish gekleidet ausschreiten und lenkt ihre Traumschritte in dieses oder jenes Ambiente.
Als sie dann wirklich zum ersten Mal ausgeht, in ein Zwischending, eine Szene-Kneipe, ist der Erfolg ungeheuerlich. Sie ist dort noch nie gewesen, deshalb eignet sich die Bar für den Erstlings-Besuch. Als sie die Kneipe betritt, fährt ein Blitz in die Anwesenden. Keiner kennt sie.
Sie lehnt an der Bar, ordert einen Prosecco-Aperol und schlürft ihn so cool wie nur möglich. Sie bleibt nicht lange alleine. Der erste Mann, der sie anspricht, ist etwa in ihrem - wahren - Alter und zeigt keine große Phantasie in seiner Wortwahl.
„Haben wir uns nicht letztes Mal hier gesehen?“
„Kann ich mir nicht vorstellen, war teuer genug.“
Es sind genügend junge Typen da. Als der Alte abtritt, traut sich der erste von ihnen vor. Gutaussehend.
„Wir haben uns aber noch nie gesehen.“ Witzig. Ausbaufähig.
„Nein, bin letzte Woche erst geboren.“
„Schon ganz schön frühreif.“
„Was zu beweisen wäre.“
Ein gelungener Auftakt für einen vielversprechenden Abend. Und genauso verläuft er dann auch, inklusive der Nacht. Oder von einem Teil der Nacht, denn der junge Mann muß nach der Liebe und einer adäquaten Nachspielzeit aufbrechen, zurück in die Dunkelheit. Ihre Telefonnummer hat er eingesteckt. Sie ruft grundsätzlich nie als erste an.
Freitagnachmittag kommt sein Anruf.
„Ich gehe am Wochenende mit ein paar Freunden zum Rafting. Kommst du mit?“
Ihre Phantasie schaltet gleich auf: tosende Wasserwirbel, Kentern, Kopf unter Wasser, Frisur und Makeup dahin.
„Nein, leider, habe schon etwas vor. Sonntagabend bin ich noch frei, treffen wir uns wieder im Henry’s?“ Auf dem Trockenen sozusagen.
„Wenn wir rechtzeitig zurück sind, vielleicht.“
Das Sonntagstreffen klappt, die anschließende Nacht, der ‚ihr zustehende Teil‘, ist schön. Nach dem Liebesspiel erzählt ihr Jonas von seiner Ausbildung: Neben seiner Arbeit als Software-Spezialist geht er in die Abendschule, um das Abitur nachzumachen. Will Informatik studieren. Lebt auf ‚kleinem Fuße‘, hofft auf Bafög für sein Studium. Als er sie nach ihrem Beruf fragt und sie sich als Mitarbeiterin im Management einer großen Firma bezeichnet, ist er zufrieden und fragt nicht weiter nach.
Da er also an Wochentagen abends keine Zeit hat, ist sie gezwungen, sich allein umzusehen. Wohin sie geht, die jungen Prätendenten umschwirrten sie wie die Motten. Hartmut hat ganze Arbeit geleistet, ihr Puppengesicht hätte als das von Angela Jolie durchgehen können. Was für ein Glück, daß diese im Augenblick so angesagt ist.
Sie hat einige Gewissensbisse wegen ihrer Wirkung auf die Jungs – sie kann einfach nicht immer ‚nein‘ sagen und kommt dann an den Wochenenden in Schwierigkeiten mit den Ter-
minen für die Dates. Es ist auch körperlich anstrengend, sie ist ja eigentlich nicht mehr die Allerjüngste. Sie ist sich aber auch nicht sicher, ob Jonas eine feste Bindung mit ihr im Auge hat – bisher scheint alles noch sehr unverbindlich. Er hat eine Clique von Freundinnen und Freunden, die allesamt sehr sportlich sind, nicht gerade ihre Lieblingsbeschäftigung. Klettern, Mountainbiken, Segeln, und das im Kreise von ‚Kindern‘. Gar nicht ihr Ding. Und als sie zum vierten Mal absagt, hat sich die Sache erledigt.
Also doch was Älteres? Wo tut man so etwas auf? Vielleicht wäre etwas Sport nicht schlecht, Tennisspielen zum Beispiel? Schwimmen? Nicht so gut, da ziehen meist Frauen ihre Bahnen. Volleyball? Zu jung. Also doch Tennis. Sie wird Mitglied in einem Verein, ist doch nicht so teuer, wie sie befürchtet hatte, und ausreichend exklusiv. Am ersten Abend, beim Unterricht mit ihrem Tennislehrer, grüßt ihr Chef vom Neben-Court. Peinlich. Aber alles in allem die richtige Entscheidung, von der Klasse her.
Ihr Tennislehrer, Bubi, gibt sich übermenschliche Mühe mit ihr. Oft tritt er hinter sie und führt den Schlagarm, wie es sich gehört. Schnell sind sie ein Paar. Nach der zehnten Trainerstunde hört sie mit dem Unterricht auf. Sie hat beim Duschen eine andere Tennis-Schülerin kennengelernt, mit der sie von jetzt an spielt. Wichtig ist beiden das anschließende Zusammensitzen mit den anderen Vereinsmitgliedern, da lernte man tolle Leute kennen. Die Treffen mit Bubi trennt sie ab. Die finden ausschließlich im Privaten statt. Eigentlich immer bei ihr, denn Bubi ist verheiratet, die Ehe läuft aber nicht mehr gut. Mit Bubi kann sie neue Liebestechniken lernen und üben; sie will nicht immer nur ‚unterlegen‘ sein und die Entdeckung ihrer Gesichtsnarben – die linke ist wirklich kein Prachtstück - riskieren, also arbeitet sie sich ‚nach oben‘. Nach der Liebe muß Bubi alsbald aufbrechen, er ist noch nicht so weit, einmal eine ganze Nacht von zuhause weg zu bleiben. Irgendwie ist ihr das auch lieber, denn seine Themen sind nicht die ihren, und wenn er loslegt, schwankt sie zwischen Langeweile und Ärger: manches klingt wirklich leicht dümmlich. Zum Beispiel, wie er seine beruflichen Chancen oder seine Wirkung auf Frauen einschätzt. Völlig überzogen und unrealistisch. Sie weiß aber sehr genau, daß sie ihm in diesen Fragen nicht widersprechen darf, sonst hätte sie seine Potenz untergraben. Das war auch der Grund, weshalb seine Ehe gescheitert war. Also macht sie gute Miene zum immer langweiliger werdenden Spiel; ihre Mimik ist sowieso nach der letzten Operation eingefroren und verrät nicht mehr ihre wahren Gedanken. Das hat Vorteile, mit der Zeit aber immer offenkundigere Nachteile. Und so kommt es unweigerlich zum finalen Krach mit Bubi.
Wieder ist sie allein. Mittlerweile ist ihr klargeworden, daß sie nicht für das Single-Dasein geschaffen ist. Ihre Sehnsucht nach einem wirklichen Partner wird immer drängender. Wie soll er sein? Gesicht, Figur: keine besonderen Ansprüche. Alter: weiß nicht genau. Charakter: wie mein Vater: grundsolide, verläßlich, vielleicht sogar ein bißchen konservativ. Der Vater ist aber nie ausgegangen, wo trifft man also einen solchen Mann? In den Zeitungsannoncen? Im Internet?
Sie schreibt sich für einen Computer-Kurs bei der Volkshochschule ein.
Sechs Wochen nach dem Eingriff betrachtet sich Andrea im Spiegel und sieht deutlich, daß die Augen verzogen sind. Die Unterlider stülpen sich förmlich ein, die Oberlider sind so eng, daß sie die Augen nicht mehr richtig öffnen kann. Es schaut ihr eine teutonische Chinesin vom Barbie-Typ entgegen, so schlimm, daß sie sich im Spiegel nicht mehr anschauen kann. Auch ist die Narbe unter dem Haaransatz an der linken Stirn rot und aufgeworfen. Und die Nasenspitze ist kalkweiß und zeigt nach links. Sie muß dringend Hartmut sprechen.
In der Praxis schaut er sich die Bescherung an.
„Hab‘ ich es wohl mit der Hautresektion zu gut gemeint. Unmöglich, so was vorauszusehen. Bin nun um eine Erfahrung reicher, auch wenn ich das unentgeltlich reparieren muß.“
„Um Gottes Willen, nochmal eine Operation.“
„Wenn wir es so nicht akzeptieren: ja. Würde aber eher sagen: ein Eingriff.“
„Und die Narkose? Macht das nichts, zwei Narkosen in so kurzer Zeit?“
„Naja, die Narkose..... Aber ohne geht es eben leider nicht. Könnte schon sein, daß du danach ein bißchen plemplem bist. Ich scherze!“
Der Termin ist schnell gemacht – er möchte über Weihnachten zum Skifahren gehen.
„Wir haben da eine Hütte.“
Sie erinnert sich noch gut an die Formalitäten beim letzten Mal. Leider bekommt sie nicht dasselbe Zimmer, und, da die ‚Reparatur‘ kurzfristig festgelegt werden mußte, auch kein Einzelzimmer.
„Du wirst eine Nacht im Zimmer zusammen mit einer anderen jungen Frau verbringen, die sich Fett absaugen läßt.“
Einzug in’s Zimmer, Umziehen, ‚Leck-mich-am-Arsch‘-Tablette: schon ist sie für die Reise in den Operationssaal vorbereitet. Diesmal ist sie nicht so unbekümmert, wie letztes Mal. Sie fühlt sich irgendwie verarscht, aber wer ist schuld daran? Hartmut? Sie selbst? Jetzt ist der Zug am Fahren, sie kann nicht mehr abspringen.
Trotzdem ist das Einschlafen nicht unangenehm.
Hartmut hat sich steril gemacht und tritt mit großer Geste, aber nachdenklich, an den Operationstisch.
„Eine schöne Scheiße, daß das nicht geklappt hat. Sehr schwierig, so viele Stellen nachzuarbeiten. Wir haben um die Augen herum zuviel Haut weggenommen. Woher soll ich die jetzt nehmen, ohne viele Narben zu bekommen? Bei ihrer Neigung zu Kelloiden! Ich muß im äußeren Augenwinkel einen Schwenklappen machen und zwei künstliche Krähenfüße in Kauf nehmen. Lieber Kollege von der Abteilung ‚Gas und Glückseligkeit‘: Sehen Sie doch mal bitte in der Einwilligung nach, ob ich darüber aufgeklärt habe: ‚Zusätzliche Narben, eventuell Falten und/oder Krähenfüße‘“.
„‘Face-lifting zur Entfernung der Falten...‘ Nein, das war die Einwilligung zum ersten Eingriff! Hier: ‚Mögliche unerwünschte Auswirkungen: Infekt, Nekrose, Sensibilitätsstörungen, überschüssige Narbenbildung, Lungenembolie evtl. mit Todesfolge, das übliche. Ah ja, jetzt da: Besonderheit: Notwendigkeit eines Schwenklappens mit anschließender Nekrose - Absterben des Hautlappens - und weiterer Eingriffe, Narbenbildung, evtl. überschießend'. Krähenfüße und Falten nicht ausdrücklich erwähnt, Respekt!“
„Ja, also: an’s Werk!“
In beiden Augenwinkeln wird je ein dreiecksförmiger Schwenklappen eingenäht, so haben die Lidränder wieder etwas Spiel. An der Nase wird zur Aufhebung der Durchblutungsstörung an der Nasenspitze noch etwas Knorpel reseziert, und zwar exzentrisch, und die Nase somit insgesamt noch etwas verkürzt und begradigt – „hoffentlich sieht das nachher noch gut aus!“ - , die Narbe vom damaligen nächtlichen Notfalleingriff - wegen Nachblutung - wird abgeschliffen, Druckverband, Ende des Eingriffs von ungefähr sechs Stunden und der Narkose.
‚Dabei keinen Cent verdient. Reklamation. Wenn ich daran denke, was mich die Haftpflichtversicherung kostet! Ein Minusgeschäft!‘ denkt Hartmut.
‚Ich glaube, der macht das nicht mehr lange, die Operationsergebnisse sind einfach nicht befriedigend – mit anderen Worten: er kann’s nicht‘ denkt der Anästhesist.
Im Umkleideraum stoßen die beiden Herren aufeinander und stehen sich in der Unterhose gegenüber. Trotzdem sind sie nicht ehrlich zueinander.
„Eine sehr unangenehme und unzufriedene Patientin. Ihr ist nichts rechtzumachen. Wenn Operieren nicht mein Hobby wäre.....“
„Ich bin mit ihr zufrieden. Wann überweisen Sie mir die Narkosegebühren?“
Die postoperativen Visiten sind auch rar geworden. Erst am nächsten Nachmittag kommt Hartmut vorbei, kurz, weil er auf dem Weg zum Golfplatz ist und es bald dunkel wird.
„Was ich bis jetzt sehen kann: gut geworden. Wir müssen abwarten. Du tendierst doch eindeutig zu Komplikationen. Addio.“
Am Steuer seines Porsche 911 Carrera kommt er zur Einsicht, daß er sich persönlich besser, mehr und in anderer Weise um Andrea wird kümmern müssen, damit nicht noch einmal eine solche pekuniäre Katastrophe vorkommt. Sobald sie aus der Klinik entlassen und aus dem Gröbsten heraus ist, wird er einmal mit ihr ausgehen und den weiter geplanten Verlauf einfädeln. Eher geht ein Kamel durch ein Nadelöhr, als daß er da noch einmal operativ drangeht. Die bei einem solchen Verlauf auftretenden Selbstzweifel läßt er gleich gar nicht hochkommen, sonst könnte er ja gleich die Praxis aufgeben und den Strick nehmen. Seine Frau, die ihr Erbe in die Praxisgründung eingebracht hat, würde ihm etwas erzählen! Und er ist nie und nimmer finanziell in der Lage, sie auszuzahlen, um seine Ruhe zu bekommen. Sie ist jetzt mit dem Rottweiler auf dem Hundetrainingsplatz, hat aber sehr wohl mitbekommen, daß er heute eine Nullrunde gemacht hat – sie macht die Buchführung und hat ihn deshalb in der Hand. Er darf Andrea gegenüber seine Frustration nicht merken lassen, sonst ist sie nicht mehr zu beruhigen.
Wie negativ und unerfreulich sich die Dinge doch entwickelt haben! Früher war er, obwohl von kleiner Statur, der Hahn im Korb und als Arzt ein Super-Kandidat auf dem Liebes- und Heiratsmarkt. Heute ist er meist netzwerkmäßig unterwegs und mit Männern zusammen, von denen er sich ausrechnet, daß eine Hand die andere wäscht. Seine Frau ist auf den Hund gekommen und er auf die Sprechstundenhilfen. Die wagen wenigstens nicht, zu widersprechen, und beten ihn als Chef an. Hier und da gibt er dem Drang nach und pflückt auch eine Patientin vom Wegesrand. Da muß er allerdings darauf achten, daß deren IQ nicht zu hoch ist, sonst könnte es juristisch Probleme geben, und das wäre existenzgefährdend. Er steckt in einem engen Korsett.
Andrea wacht auf und blickt sich um. Wieder dieselbe Einschränkung der Sicht wie letztes Mal, natürlich. Die Augen sind fast zugeschwollen. Trotzdem sieht sie eine Gestalt auf dem Nebenbett liegen und fernsehen. Eine füllige Gestalt. Hatte Hartmut nicht gesagt, das sei eine Patientin nach Fettabsaugung?
„Kommen Sie erst dran?“
„Nein, alles schon gemacht, alles schon erledigt.“
„Und, wie war’s?“
„Schönheit muß Qual leiden. Er hat drei Stunden Fett am Bauch und am Hintern abgesaugt, das hat ein bißchen gezogen – hatte ja eine breitflächige lokale Betäubung – und das Abgesaugte am Busen wieder angelagert, besser gesagt: eingespritzt. Nächstes Mal lasse ich mir mein eigenes Fett im Gesicht einmodellieren, ich denke, am Hintern und an den Oberschenkeln kann er noch was wegnehmen. Meint Hartmut übrigens auch. Ich lasse nichts verkommen. Ist ja sowieso schon teuer genug. Und Sie?“
„Bei mir war kein Fett zu gewinnen, mußte andere Wege beschreiten“.
„Toll, was man heute machen kann. Und das ganz ohne Narkose, davor hätte ich Schiss gehabt. Da ich ein guter Futterverwerter bin und mein Freund so langsam seine Probleme mit meinem Schattenriss hatte, hab ich halt gespart, aber nicht am Essen.“
„Wir sind das Schreckenskabinett des Doktor Mabuse.“
Frank Sturz ist erst einige Tage nach seinen Leidensgenossinnen so weit, daß Dr.Schlagintweit an Entlassung denken kann. Er muß auf Nummer Sicher gehen und darf keine Nachblutung und keinen sekundären Infekt im Operationsgebiet riskieren, denn sein Patient entschwindet buchstäblich in’s Nirwana – in seine neue Existenz, über die niemand aus seinem alten Leben Bescheid wissen darf, außer seiner Familie, die alles mit ihm tragen muß – und muß dabei auch die Brücken zu ihm abbrechen.
So kommt der aufstrebende Oberarzt noch nicht einmal in den Genuß, sein Meisterwerk nach vollendeter Abheilung in Augenschein zu nehmen. Bisher hatte er immer versucht, die charakteristischen Gesichtszüge zu erhalten und herauszuarbeiten; dieses Mal muß er genau diese umarbeiten: keine jüngere Ausgabe derselben Physiognomie, sondern eine ebenso persönlichkeitsstarke Zweitausgabe modellieren und die Falten als Ausdruck der Mimik erhalten. An einigen wenigen Stellen hat er allerdings auch am Gesichtsausdruck gearbeitet: Durch Verkürzung einiger Muskeln hat er das Lächeln eingeengt und das Anheben der Augenbrauen abgeschwächt. Die Augenbrauen selbst hat er durch Implantation einiger Schamhaare verdichtet und eine Zornesfalte dazwischengezaubert, die ihresgleichen sucht; er ging davon aus, daß sie sich mit der Zeit und dem Ärger, der dem Patienten noch bevorstand, zweifellos weit tiefer eingraben würde. Damit hat er natürlich den Grundcharakter des Gesichts verändert und es tut ihm leid, den Patienten nicht langzeitüberwachen zu können, um die grundlegende Frage, die ihn beschäftigt, zu klären: Wie verändert ein gestyltes Gesicht den Charakter, das Verhalten und die Lebensgeschichte eines Patienten ?
Nun wurde N.N. also entlassen. Ein großer organisatorischer Aufwand läuft an: Ein Zivilfahrzeug der Polizei sowie ein Begleitfahrzeug mit speziell ausgebildeten Beamten in Zivil unter voller Bewaffnung warten bei Nacht und - buchstäblich - Nebel im Hinterhof des Krankenhauses. Frank zieht sich den vorbereiteten Trenchcoat an, stellt den Kragen hoch und rückt den Hut tief in die Stirn. Auf der Nase trägt er eine übergroße Sonnenbrille, unter der Nase einen dichten Schnurrbart, der mit Mastix festgeklebt ist und ihm fast den Atem nimmt.
Vor seinem Abgang muß noch geklärt werden, ob der nächste Tag in der Mitternachts-statistik zählt und bezahlt werden muß, und wohin die Rechnung für den gesamten Krankenhausaufenthalt inclusive der vom Chefarzt delegierten Leistungen geschickt werden soll, da Frau Büchen zu dieser späten Stunde nicht mehr an ihrem Platz in der Verwaltung anzutreffen ist und ihm damit die Rechnung nicht ausdrucken und mitgeben kann.
Als sich die Kolonne in Bewegung setzt, weiß Frank selbst nicht, wohin die Reise gehen wird. Soweit er durch die dunkle Brille erkennen kann, durchfahren sie lange Zeit Landschaften ohne Licht und mit wenig Gegenverkehr. Nach Stunden der Monotonie tauchen die ersten Häuser auf und das Panorama zeigt Hochhäuser, Ladenzeilen, Rotlichtmilieu, Shoppingmals. Inmitten einer Vorstadtsiedlung biegen die Fahrzeuge ein und kommen vor einem Mülleimer-Port zum Stehen. Hinter den Fenstern ist kein Licht zu sehen, sie blicken schwarz und grimmig zur Straße hinunter, diese und jene Satellitenschüssel reckt sich nach Südosten. Auf leisen Sohlen setzt sich die Gruppe in Richtung Haustür in Bewegung; wie von Engelshand dreht sich der Schlüssel im Schloß der Etagentür im ersten Stock. Auf dem Schild über der Klingel steht der Name ‚St. Furz‘. Hier würde er intervenieren, das ging zu weit.
Im ersten Stock hat er mit wenig Publikumsverkehr zu rechnen, der kurze Abschnitt Treppenhaus machte das unliebsame Treffen von Mitbewohnern unwahrscheinlich; außerdem kann er zur Not vom rückwärtigen Balkon aus auf das ungepflegte Rasenstück springen und sich in Sicherheit bringen, falls sich an der Wohnungstür etwas Verdächtiges ausmachen läßt.
Nena hatte auf ihn gewartet. Sie hatte das vorhandene Mobiliar etwas angenehmer angeordnet und einen Blumenstrauß aufgestellt. Eine Flasche Champagner liegt im Kühlschrank, der laut vernehmlich vor sich hinschnurrt. In der ersten Zeit würden sie ihre Zweisamkeit nicht genießen können, denn es würde immer ein Beamter in Zivil bei ihnen sein, rund um die Uhr. Keiner kann sagen, wie lange; es gibt wenig Erfahrung mit solcherart gelagerten Fällen. Die drei vorhandenen Nutellagläser werden gefüllt; sie stoßen auf die Zukunft an.
Nach einer einigermaßen ruhigen Nacht ohne Liebe wachen Frank und Nena auf und blicken aus dem Fenster. Was sie sehen „spottet jeder Beschreibung“, wie Frank sich ausdrückt: Der erste Blick auf seine Zukunft. Trüb und dunkel der Himmel und die Luft zwischen den Wohnblocks im Mietskasernen-Look, grau und heruntergekommen der Verputz, die Balkons überladen mit Sperrmüll und zugedeckt von Satellitenschüsseln. Hier und da eine Raffgardine, Nippes auf den Fensterbrettern. Auch ‚ihre‘ Fenster sind dicht verhängt mit Kunststoff-Gardinen, die das restliche Licht schlucken. An diese Umgebung also sollen sie sich anpassen, um darin aufzugehen und nicht aufzufallen. Wie um alles in der Welt sehen die Menschen aus, die hier wohnen?
Vereinzelt kommen Männer aus der Haustür, nehmen ihre abgetragene Aktentasche oder ihre Sporttasche unter den Arm und gehen in Richtung Auto oder Bushaltestelle. In Arbeitskleidung oder Sportanzügen aus billigem Nylon. Die Gesichter grau und müde, das Genick eingezogen, der Gang schleppend.
Nach ihnen gehen die Schulkinder aus dem Haus, übergroße Schulranzen aus buntem Kunststoff auf dem Rücken und viele mit Knopf im Ohr, in künstlicher Vereinsamung, aber so großzügig, daß sie selbst die Umgebung mit ihrer lauten Musik berieseln. Die Jungs nehmen sich gegenseitig hoch, hier und da versetzen sie sich kleine Schläge oder Tritte; die Mädchen tun sich zusammen und streben zielgerichtet zur Hauptstraße. Jetzt hören Frank und Nena, daß ihre Sprache durchsetzt ist mit fremden Akzenten, die Stimmen der Jungs laut und eher aggressiv, von den Mädchen ist wenig zu hören.
Frank geht als erster in’s Bad. Nena setzt sich ans Fenster und wartet auf das Erscheinen der Frauen. Es dauert geraume Zeit, dann schlägt die Tür verschiedene Male. Blondinen, die Zigarette in der Hand, und junge Frauen mit Kopftüchern, mit schönen Gesichtern und formlosen Körpern, machen sich auf in Richtung Straße und schleppen schon an der leeren Einkaufstasche; alte Frauen, auch sie mit wollenen Tüchern auf dem Kopf und ebenso formloser Gestalt, diese und jene mit einem kleinen Hund an der kurzen Leine, dessen Hinterteil zittert, während er auf seine Herrin wartet, versuchen ihre Gehwagen in Bewegung zu setzen und sich gleichzeitig darauf zu stützen. Keine scheint die andere zu kennen, alle sind wie Einzelwesen unterwegs, nehmen keine Notiz von ihrer Umwelt.
‚Ja, das ist eine Umgebung, die man nur abgeschirmt durchschreiten kann, um von ihr nicht angedaut zu werden‘, denkt Nena bei sich. ‚Aber es hilft ja nichts, ich muß mir anschauen, wie die Frauen gekleidet sind, wie ihre Erscheinung geprägt ist, zur eigenen Sicherheit, auch wenn es überhaupt keinen Spaß macht.‘ Sie würde ja zwar nicht immer hier wohnen, wäre nur manchmal zu Besuch da; aber gerade diese Besuche bei ihrem ‚neuen‘ Mann und ohne ihre Tochter hatte sie sich in ihrem Kummer romantisch ausgeschmückt.
Sie überlegt sich, daß sie in der Galerie eine Portion Kleider deponieren müßte, um sich dort umzuziehen und zur grauen Maus zu mutieren, bevor sie hierher aufbrach. So muß sie in der Galerie vorübergehend in eine Rolle schlüpfen.
Ja, ein Problem würde die Entfernung zur Galerie werden. Sie müßte sich einen gebrauchten Kleinwagen zulegen, um hier nicht aufzufallen. Mit ihrem Porsche Boxster würde sie dann bis zum Rand der City fahren und auf dem Parkplatz eines Großmarktes in den unauffälligen Kleinwagen umsteigen, mit dem sie dann vor Mietskaserne vorfahren würde. „Ein Vorteil, daß man eine Menge Phantasie – und ein noch größeres Quantum Verliebtheit – braucht, um den romantischen Traum weiterzuträumen.“
Wie wird Biggy mit der Situation umgehen? Nicht nur, daß sie am Bild des Vaters retuschieren muß, auch die soziale Umgebung, in der er jetzt für einige Zeit bleiben muß, ist für sie absolut neu. Sie hatten mit ihr gesprochen, ihr die Notwendigkeit dieses Wandels erklärt, hatten aber den Eindruck gehabt, sie wisse nicht genau, wovon sie sprachen. Wie auch?
In der Zwischenzeit hat Frank seine Morgentoilette beendet. Mit einem blutenden Schnitt quer über die linke Wange vom Rasieren.
Nena desinfiziert den Schnitt und klebt ein Pflaster darüber; dann küßt sie ihn auf die andere Wange und schleicht hinaus. Sie nimmt den Bus ins Zentrum.
Frank ist nun allein in der ruhigen Wohnung, in dem ruhigen Haus. Nur ab und zu hört man die Toilettenspülung irgendwo in einer Etage. Hier hat er keine Ablenkung, kein Radio oder Fernsehen, keinen MP 3-Player, keine Zeitung oder Zeitschrift, kein Buch. Und auch kein Laptop. Das einzige ist ‚Kopfkino‘, ein großes Opus: der neue Sturz, der kein Sturz mehr ist. Oder doch?
Er hält sich nicht lange mit dieser philosophischen Frage auf, diesem Widerspruch, den er zur Zeit noch nicht lösen kann. Um nicht in die Depression abzurutschen, beschäftigt er sich mit seiner objektiven Zukunft. Womit füllt er seine neue Existenz? Das einzige, was er kann, ist schreiben. Die Quellen, die er hierfür angezapft hat, sind versiegt. Sein ‚Lebenswerk‘ hat er geschrieben. Er fühlt sich leer, gedankenleer. Sein bisheriges Leben kann man getrost als Vorbereitung auf sein Mafia-Buch betrachten, alle schicksalshaften Vorkommnisse münden darin.
Er hat den Blues.
Aber dieser neue Abschnitt und Zuschnitt ist auch eine Chance. Durch den Verkauf des Hauses in Kalabrien hat er ein kleines finanzielles Polster, kann also in aller Ruhe an das Schreiben eines neuen Buches gehen. Als Schreiber sieht er eine Möglichkeit: Tagebuch. Mit seinem untrüglichen Instinkt fühlt er, daß er eine ganz besondere Geschichte erlebt; etwas, das sich viele wünschen mögen, die in ihrem Leben nicht zurechtkommen: ein abgewandeltes Auswanderungsepos, Robinson Crusoe auf seiner Insel innerhalb des Ozeans eines veränderten Körpers in einer anderen Welt. Und auf diese Weise kann er erst einmal Neues erleben und einen Schatz anlegen, aus dem er dann für ein Buch schöpfen kann.
Mit diesen Gedanken geht die Zeit dahin. Die Schulkinder gehen die umgekehrte Richtung, die Mütter sind vom Einkaufen zurück und die alten Frauen haben ihren Gehwagen in den Hausflur gehievt und das Hündchen an der Leine ins Haus gezogen.
Essensgeruch breitet sich aus: Kohl, scharfe Gewürze, Kartoffeln. Der Kühlschrank gibt eine Tiefkühlpizza her – schmerzhafte Erinnerung an die italienische Küche. Er beschließt, nach dem Essen ein Mittagsschläfchen zu machen, da er nicht wagt, bei Tageslicht aus dem Haus zu gehen. Er hat den ganzen Abend Zeit, die Gegend zu erkunden und nach einer Kneipe zu suchen; Nena bleibt heute bei Biggy, der beide noch nicht zumuten wollen, den noch nicht ganz verheilten neuen Kopf des Vaters zu sehen.
Bevor er in der Dunkelheit das Haus verläßt, ruft er beide zuhause an. Von seiner Stimmungslage spricht er lieber nicht, er läßt sich eher die Dinge des Alltags aus seinem alten Leben berichten. Bei Nena gibt er ein Laptop in Auftrag – er will am nächsten Tag mit seinen Tagebuch-Notizen beginnen. Der heutige Tag gibt, außer einer unbedeutenden Niedergeschlagenheit, nichts her. Er hat den Eindruck, er muß sich wieder den kleinen Dingen zuwenden, wieder empfindsamer werden, auf ein gefahrloses Niveau zurückkehren und den ‚normalen‘ Alltag beschreiben. Raus aus der Sensation, rein in die Sensibilität. Er meldet sich telefonisch bei seinem Begleiter, dem Polizisten in Zivil. Es ist abgesprochen, daß dieser ihn tagsüber während des Aufenthaltes in der Wohnung in Ruhe läßt und nur hinzukommt, wenn er das Haus verläßt. Sein Schutzengel, der Body Guard, braucht eine Dreiviertelstunde, bis er da sein kann und gibt ihm eine Zeit an, zu der sie sich vor dem Haus treffen.
Zu dieser Zeit geht er aus dem Haus, hinein in die Recherche eines anderen Lebens.
Rings um sich her sieht er einige beleuchtete Fenster, hier und da flimmert es bläulich. Sie gehen durch die absolute Dunkelheit und suchen nach einer Ansammlung von Licht ‚in Augenhöhe‘. Ihr Gang um die Häuserblocks geht ohne jegliche verdächtige Beobachtung vonstatten. Ein gelungener Start in eine neue Existenz.
Nach drei Ecken, sozusagen an der vierten, finden sie eine Kneipe. Sie beschließen, hineinzugehen und sich als ‚zwei Freunde, die sich lange nicht mehr gesehen haben‘ zu geben.
Die Kneipe ist nicht gut besucht. In der hinteren Ecke steht der Stammtisch. Hier lärmen vier Männer, die so ähnlich aussehen wie die, die Frank heute morgen auf dem Weg zur Arbeit beobachtet hat. Anscheinend sind sie ohne Umweg nach der Arbeit hierher gekommen, die Spuren ihrer Tätigkeit sind noch zu erkennen, obwohl die Gesichter mittlerweile ohne Zeichen von Frust, sondern eher eingeweicht und gut durchblutet scheinen. Auf den Bierdeckeln unter den Gläsern, an denen sie sich festhalten, sind jede Menge von Strichen zu sehen. Sie sind beim Thema ‚Politik‘ angelangt. Aus ihrer täglichen Erfahrung heraus schimpfen sie über die Ausländerpolitik, all die Türken und Russen, die polnischen Erntehelfer - ‚Autoklauer‘ - und thailändischen Krankenschwestern, die sich hier breitmachen. Sie sind die Vertreter einer Minderheit in diesem Viertel und möglicherweise auch an ihrer Arbeitsstelle. Frank denkt noch, daß heutzutage die Italiener gottseidank schon als integriert gelten können, sonst hätte er sich einmischen müssen. Der Polizist, sein ‚Freund‘, und er stellen sich vorerst an die Theke und bestellen jeder ein Bier.
„Ja, so trifft man sich wieder.“
„Wieviele Jahre haben wir uns nicht gesehen?“
Frank denkt blitzschnell nach über sein Alter, das seines Gegenüber und kommt zu einer plausiblen Zahl: „25 Jahre mindestens, ein Vierteljahrhundert.“
Damit ist die Tür für ein Gespräch über das Studium, die Uni und das Studentenleben aufgestoßen. Beim Durchhecheln der Studieninhalte und der beteiligten Professoren ist Phantasie gefragt, dabei stellt sich heraus, daß sein Begleiter offenbar keine große Erfahrung in dieser Welt der Universitäten hat. Schnell schwenken sie um und behandeln das Thema ‚Mädchen‘; schon läuft die Unterhaltung flüssiger; hier gibt es gemeinsame Berührungspunkte, auch wenn beide sich bemühen, artifizielle und virtuelle Schöne zu erfinden und mit Vergnügen auszuschmücken. Aber auch hier stellt sich schnell heraus, daß der beiderseitige Erfahrungsschatz sehr unterschiedlich ist und zu ganz verschieden vorstellbaren Vertreterinnen des anderen Geschlechts führt.
„Erinnerst du dich an die ‚schwarze Mambo‘?“
Kaum ausgesprochen, mischen sich lauthals die Stammtischbrüder ein und schießen eine Breitseite gegen die Neger. Beide müssen lachen, wagen aber nicht, es laut zu tun. Noch unter ihrer unterdrückten Eruption sehen sie, daß der Kellner das Telefon am Ohr hat und, mit dem Rücken gegen sie, leise etwas italienisches in die Muschel spricht.
Das ist das Signal zu einem überstürzten Rückzug; sie lassen die Zeche, großzügig berechnet, liegen und verschwinden in die Nacht.
Zuhause, nachdem der Polizist gegangen ist, denkt er nach über reale Gefahren und Verfolgungswahn. Eine klare Grenze zwischen beiden muß er ausloten, und das muß im Kopf geschehen, denn er kann sich keine Fehler leisten.
Langsam werden die Tage grau. Die tägliche Strahlentherapie geht ihrer Wege, bisher gibt es keine Komplikationen. Der Rest des Tages, von einem strahlenmüdigkeits-bedingten Mittagsschläfchen unterbrochen, zieht sich.
Jil Band kann noch keines ihrer Projekte angreifen, dazu fehlt die Zeit für den großen Wurf. Diese Existenz in der Hausfrauensphäre ist für sie sehr neu und ungewohnt. Und einsam. Das Stricken von Mützchen für ihre Glatze und von Stulpen gegen die Kälte ist abgehakt und war auch nie eine wahre Alternative, befriedigt nicht ihren Anspruch an Kreativität. Der Tag wird von den Essenszeiten strukturiert - einkaufen, kochen, essen, abwaschen: die Höhepunkte. Der Aufenthalt in der Wohnung mit den wenigen Ausflügen in den Supermarkt und in’s Café oder zu Freunden wird zur grauen Routine. Es ist November, voller Nebel und Sprühregen, die Bäume starren blattlos in den Wolkenhimmel. Volkstrauertag, Totensonntag. Jil merkt, daß sie erschöpft ist und in die Traurigkeit abdriftet, sie diagnostiziert bei sich selbst eine situationsbedingte Depression.
Ein Anruf bei ihrer Versicherung ergibt, daß sie die Kostenübernahme für eine begleitende Psychotherapie beantragen kann. Sie kann wieder etwas für sich tun und organisiert den Papierkrieg: Termin beim Gynäkologen mit der Bitte um Diagnosestellung und Rezept, formloser Brief an die Versicherung, Ausfüllen des zugeschickten Formulars.
In der Nähe praktiziert ein Psychoonkologe. Sie bekommt zügig einen Termin. Beim ersten Gespräch erklärt sie ihre Anamnese, die aktuelle Situation, ihre Gefühle.
Der Therapeut sagt: „Ja, das kenne ich, ich fühle mich auch oft ausgebrannt, meine Tätigkeit scheint mir im Grunde sinnlos zu sein. Wenn ich bedenke, mit wieviel guten Wünschen ich mein Studium begonnen und trotz aller Widrigkeiten und finanziellen Schwierigkeiten durchgezogen habe! Dann meine Weiterbildung, zuletzt in einer Krebsklinik mit einer Kinderstation. Und jetzt sitze ich hier in meiner Praxis, habe Existenzprobleme, mußte meine Sprechstundenhilfe entlassen und mache die Buchführung und Abrechnung selbst, am Wochenende. Manche der Patienten kommen nur ganz kurze Zeit, zu kurz, um etwas bewirken zu können – dann sterben sie. Wenigstens bringen sie sich nicht um, das würde ein schlechtes Licht auf meine Kompetenz werfen.“ Er weint.
Jil weiß nicht, ob sie lachen oder heulen soll. Offenbar strahlt sie noch immer so viel Energie und Kraft aus, daß sich dieser Therapeut ihr ‚anvertraut‘ hat, sie hat bei ihm etwas ‚zum Fließen‘ gebracht.
Die Dreiviertelstunde, die Therapiesitzung, ist vorbei. Sie tritt auf die Straße und weiß, daß sie sich wird selber helfen müssen. Vielleicht gibt es ja Tricks: schöne Dinge, Ausstellungen, Oper, Theater, Kino. Bloß nicht in die Shopping-Falle tappen: Kein schönes Stück Schmuck, kein noch so raffiniertes Dessous können auf die Dauer ihre niedergeschlagene Stimmung anheben. Im Gegenteil: Man fühlt sich, als hätte man sich selbst beschissen. Geld weg und no satisfaction.
Schon während der Zeit der Chemotherapie, in der es wenig gute Tage gibt, denkt Jil Band nach, wofür sie in der Zukunft ihre Zeit nutzen soll.
Nach der fremdbestimmten Arbeit für andere in den letzten Jahrzehnten ist sie es nicht mehr gewohnt, ihre Zeit selbst zu füllen, und zwar möglichst so, daß sie sich zufrieden fühlt.
Dabei ist die Zeit durch ihre Krankheit so viel wertvoller geworden; die Gegenwart rückt in den Focus, die Zukunft hat sie enttäuscht, betrogen. So fühlt sie jedenfalls. An einen schlechten Tag läßt sich aber kein Genuß empfinden, man kann ihn nicht mit Leben füllen und wartet nur, daß er vorbei geht. So kommt die Zukunft, in Form des ersehnten nächsten und hoffentlich besseren Tages, doch wieder näher.
Einen wichtigen Teil ihrer Zeit verbringt sie damit, sich zu pflegen. Der geschundene Körper bekommt seine Zuwendung und seine Streicheleinheiten und das ist gut, denn bisher hatte sie keine Zeit hierfür. Auch am Außenbild wird gearbeitet; und da die Freunde, die sie trifft, nach dem Einleitungsdialog - „Wie geht es dir?“ „Schlecht.“ - immer noch sagen: „Siehst aber gut aus, besser denn je“, weiß sie nicht: Soll sie sich darüber freuen? Oder sich ärgern?
Ohne Haare sieht sie gut aus, sie hat einen wunderbaren Kopf. Sie läßt Porträtfotos machen.
Als die Kräfte zurückkehren, geraume Zeit nach der Chemo, lädt sie sich nach und nach die Freunde zum Essen ein. Es ist eine Freude, dafür Zeit zu haben. Die Pflege der Freundschaften ist während ihrer Arbeitszeit viel zu kurz gekommen.
Langsam haben sich die Freunde an ihr ‚Damoklesschwert‘ gewöhnt und weichen ihm gekonnt aus. Ihre besten Freundinnen haben verstanden, daß sie sich besser zurückhalten und warten, bis sie sie selbst anruft. Aus dem Kreis der Bekannten kommen keine Pflichtanrufe mehr, ihnen ist mit der Länge der Therapie der Atem ausgegangen. Die Familie ist zur Tagesordnung übergegangen. Es bleiben also wenige Freunde, die Spreu ist vom Weizen getrennt. Ihr Mann, der in seiner Arbeit nicht sehr glücklich ist, beginnt wieder zu schimpfen, wenn er nachhause kommt. Er soll ein psychiatrisches Gutachten einholen, weil er sie bei ihrer Anschlußheilbehandlung begleiten möchte. Zu gefährlich, wenn er damit einen ‚schwarzen Fleck‘ in seiner gesundheitlichen Biographie hat. In der Arbeit, wenn er sich berechtigterweise kritisch in der Sache äußert, wird ohnehin schon großzügig darauf hingewiesen, daß seine Frau ja sehr krank ist, man müsse Verständnis haben. Die sachliche Kritik ist damit ausgehebelt, er bekommt sogar das Prädikat: ‚Alles in allem sehr unmännlich‘.
Also beschließen sie, daß sie alleine in die Kur geht. Er kann sie an den Wochenenden besuchen.
Reisen wird sie, sobald sie nicht mehr durch die Therapie angebunden ist.
Wenn es möglich ist, wird sie im Hospiz ihrer Stadt mitarbeiten, ehrenamtlich. Also doch Zukunft.
Frank wacht mitten in der Nacht an furchtbaren Schmerzen in seiner linken Wange auf. Die Stelle pocht und ist heiß, und als er aufsteht und in den Spiegel schaut, sieht er, daß die ganze Wange rot und extrem geschwollen ist. Da hatte er sich doch neulich beim Rasieren geschnitten, weil er seit der Operation die Haut nicht mehr richtig fühlt. Er hat auch Fieber, er schwitzt, ihm ist abwechselnd heiß und kalt. Ihm ist klar: Er muß so schnell wie möglich zurück in’s Krankenhaus, das ist eine Komplikation nach der Operation. Wenn er nun seine ‚ständigen Begleiter‘ alarmiert, dauert es, bis sie kommen. Schneller und raffinierter ist, wenn er beim Roten Kreuz anruft und eine Ambulanz kommen läßt. Ja, so macht er es.
Der Wagen fährt mit Blaulicht vor, aber ohne Martinshorn. Er hat die Sache dringlich gemacht. Er steigt ein und legt sich auf die Trage. Die Sanitäter verzichten auf besondere Maßnahmen, fahren schnell zum angegebenen Krankenhaus und liefern ihn in der Notfallaufnahme ab.
Dr.Schlagintweit muß zuhause angerufen werden. Nach geraumer Zeit kommt er, den Schlaf noch in den Augen.
„Die Wange ist infiziert. Antibiose und ausreichend Schmerzmittel. Stationäre Aufnahme. Davon abgesehen, ist die Operation ein voller Erfolg. Bin hochzufrieden. Sie sind nicht mehr wiederzuerkennen. Gute Nacht.“
Die Schmerzmittel wirken rasch, er schläft wieder ein, kaum daß er in einem Einzelzimmer in seinem Bett liegt. Aus dem Traum heraus hört er ein Geraschel neben sich. Als er vor Schreck die Augen aufreißt, sieht er eine Gestalt neben seinem Bett stehen, in der Dunkelheit. Es raschelt weiter, dann plätschert es. Es wird naß und warm in Höhe seiner Knie. Er sucht nach der Klingel. Macht das Licht an. Ein alter Mann steht neben seinem Bett und pinkelt, das Gesicht voller Erleichterung.
„Was machen Sie denn da?“
„Ich hatte einen Druck. Hab‘ diesmal aufgepaßt, daß ich nicht in den Schrank pinkle. Habe die Tür genommen und bin in’s Bad....... Woher kommen Sie denn da mit Ihrem Bett?“
Die Nachtschwester klärt die Angelegenheit und entschuldigt sich im Namen des Patienten, der nach seiner Operation ‚etwas neben der Kappe ist‘.
Das ganze Bewachungs-Brimborium wird wieder iniziiert. Es lohnt sich, denn Frank muß 10 Tage stationär bleiben. Zwei Tage nach seiner Aufnahme hat sich massiv Eiter gebildet, der Abszeß wird operativ eröffnet. Die Stelle muß aus der Tiefe heraus wieder heilen. Langsam läßt das Fieber nach, er fühlt sich nach und nach besser. Nena und Biggy schicken ihm über ein Blumengeschäft einen Strauß mit einem Briefchen: ‚Kopf hoch!‘ Leichter gesagt, als getan.
Da kommt ihm eine gute Idee: Er könnte doch zusammen mit seinen Bewachern arrangieren, daß Biggy ihn im Krankenhaus besucht. Zuvor muß er aber mit Nena sprechen und sie bitten, Biggy nun endgültig auf den ungewohnten Anblick vorzubereiten. Sie hat ihn ja noch nicht mit seinem neuen Gesicht gesehen. Könnte ein Schock für sie werden. Aber es bietet sich an, daß sie unauffällig in’s Krankenhaus kommt, um ihn zu sehen; das fällt bei dem allgemeinen Besucherstrom nicht auf und seine Verfolger sind abgelenkt, haben vielleicht noch nicht einmal spitzgekriegt, daß er sich dort aufhält.
Nena ist von dieser Idee begeistert. Sie beginnt mit der ‚Psychotherapie‘. Es braucht einige Tage, bis Biggy bereit ist. Er hofft, daß sie es schafft, während er noch seinen Verband trägt, dann ist der Eindruck der Gesichtsumwandlung etwas abgemildert.
Es klopft schüchtern. Biggy tritt sachte ein. Als sie ihn sieht, wird sie über und über rot und beginnt an der Oberlippe zu schwitzen. Sie zwingt sich förmlich, ihren Blick auf sein Gesicht gerichtet zu halten. Er wandert darauf herum und bleibt dann bei seinen Augen stehen.
„Gottseidank, die Augen sind noch deine. Aber was für lustige Augenbrauen! Mit Löckchen.“
„Komm her, ich bin es immer noch, dein Papa.“
„Hast du geweint? Hast solch roten Augen und Tränensäcke.“
„Ich traue mich gar nicht zu fragen, ob dir dein Papa so gefällt.“
„Mmmhh...“
„Setz dich her zu mir auf das Bett. Wir dürfen nicht nahe an’s Fenster gehen. Erzähl von dir. Wie läuft das Leben? Die Schule? Die Freunde?“
Biggy denkt: ‚Schön, daß ihm seine Stimme geblieben ist.‘ Sie kann sich nicht satthören. Sie möchte, daß er erzählt, damit die Vertrautheit zwischen ihnen zurückkehrt.
Er spricht zögerlich. Sagt, daß es wenig Neues gibt. Daß sein Leben zur Zeit nicht schön ist. Daß nichts passiert, was des Erzählens wert wäre. Über seine Angst, seine Langeweile und Niedergeschlagenheit spricht er nicht. Auch nicht darüber, daß sie - Biggy und Nena - ihm fehlen. Es ist immer so schwierig, über Gefühle zu sprechen. Ein Junge hat keine Angst. Ein Mann läßt sich nicht unterkriegen.
Nach kaum einer Viertelstunde ist der Gesprächsstoff ausgeschöpft. Auf beiden Seiten tritt eine Art Sprechhemmung ein. Ein unangenehmes Schweigen. Um die Peinlichkeit abzukürzen, verabschiedet sich Biggy. Sagt noch, daß sie wiederkommen wird.
Als sie verschwunden ist, schrillt das Telefon. Hausinterner Anruf. Frau Büchen von der Rezeption sagt, daß ein namenloser Herr mit ausländischem Akzent nach ihm gefragt hätte. Sie habe ihm keine Auskunft gegeben und er sei wieder weggegangen.
Der Beamte ist in heller Aufruhr.
Andrea Susemihl hält ihren Computer-Kurs, einmal die Woche, mit Bravour durch.
Sie hat sich ein Laptop angeschafft und übt zuhause. Sie ist sogar schon so weit, sich eine email-Adresse eingerichtet zu haben. Und liest in web.de folgendes: ‚Immer mehr Deutsche lassen Schönheitsoperationen an ihren Geschlechtsorganen durchführen.‘ Es geht um Raffung der Schamlippen, Einengung oder Weitung des Vaginaleingangs. Und dann gibt es da noch Piercing der Schamlippen und Implantation von Stahlkügelchen zur besseren Penismassage. Auch die primär einfache Frage: ‚Soll der Venusberg rasiert werden?‘ wird kontrovers diskutiert. Engagierte Ablehnung kommt aus dem Kreis der Liebhaber von Rothaarigen. Ein orangerotes Gekräusel scheint das erotische Non-plus-ultra zu sein. Aber was, wenn man nicht zu diesen Auserwählten gehört und sich allmählich in ein von Natur aus aschbraunes Lockenbeet die Farbe – die ‚Un-Farbe‘ - Grau einschleicht? Das Pelzchen könnte mit seinen einzelnen grauen Haaren, und vielleicht auch sowieso schon altersgemäß, weniger dicht aussehen. Den Gedanken an Schamhaar-Transplantation denkt sie erst gar nicht, so vernünftig ist sie dann doch. Aber sie könnte den Hartmut doch mal befragen.
Gesagt, getan. Ein Termin ist schnell verabredet, ‚privat‘ natürlich.
„Wo liegen die Probleme?“
„Im Genitalbereich. Habe was gelesen und ein paar Fragen.“ Hartmut denkt wieder daran, vielleicht auszuhelfen. Er fühlt sich als absoluter Profi auf dem Gebiet der ‚Liebe ohne Folgen’.
Aber zuerst tut ein bisschen Selbstlob not und gut, auch für die Kasse:
„Das Gesicht ist ja super geworden. Mimik und Alter werden ihm nichts mehr anhaben können, die Narbenbildung ist zukunftsweisend. Da habe ich einen Traum der Menschheit realisiert, die ewige Schönheit.“
Andrea hat nicht den Mut, seine Euphorie zu stoppen mit der Bemerkung: ‚War ja auch schwierig genug. Und: Aber der Rest des Körpers altert eben doch und dann wird die Schere immer weiter.‘ Man stürzt sich auf den operablen Teilaspekt: das Genitale.
Sie besteigt wie eine Königin den gynäkologischen Stuhl, den Hartmut vorausschauenderweise bereits in seiner HNO-Praxis aufgestellt hat.
„Zu mir kommen immer mehr Frauen wie du, das war eine lohnende Anschaffung. Ganz locker, die Beine entspannen. Ja, wenn ich mir das so anschaue, ist es nicht besonders ansehnlich. Die äußeren Labien sind nur noch Hautsäcke, sie hängen. Macht das beim Vögeln keine Probleme, kommen die nicht in die Schlußlinie, wenn es losgeht?“
„Nein, keine praktischen Schwierigkeiten. Aber vielleicht doch ästhetische bei meinen Liebhabern? Hat zwar noch keiner was gesagt, im Gegenteil. Aber das ist ein anderes Thema.“
Der Scheideneingang wird eingehend inspiziert; nach dem Zwei-Finger-Prinzip ist er in Ordnung; der Beckenboden ist allerdings etwas schwächlich, deshalb könnte man daran denken, dort ein paar Nähte zu legen und ihn einzuengen.
„Aber das hat Zeit; inzwischen könntest du mit Geisha-Kugeln trainieren. Die Japaner haben uns da einiges voraus. Wenn du willst, bestelle ich dir welche. Vergoldet oder versilbert, auch gehärtetes Edelstahl ist möglich. Eine kleine Investition.“
„Aber meine Schamlippen....?“
„Lächeln und zuwarten. Ein Operationstermin ist schnell gemacht. Vorher möchte ich mit dir noch einen ganz anderen Termin ausmachen: Ich möchte mich mit dir privat treffen.“
„Hahaha! Privat oder Kasse? Bei dir oder bei mir? Da bleiben viele Fragen offen.“
„Komm, jetzt sei nicht so! Wir haben uns doch schon so aneinander gewöhnt.“
„Was soll denn das: Gewöhnung anstatt Liebe?“
Harmut sieht ein, daß seine Idee nicht gut war. Er muß zurückrudern.
„Habe es eben mal versucht, Versuch und Irrtum. Kostet ja nichts.“
„War aber auch keine gute Investition. Deine Aktie ist gefallen.“
Als Frank eines Tages vor seine Haustür tritt, um sich etwas die Füße zu vertreten, tritt er dort fast auf eine BILD-Zeitung. Rätselhaft. Ist sonst nicht gerade seine Lektüre. Offensichtlich hat jemand sie für ihn dorthin gelegt. Er hebt sie auf und nimmt sie mit in seine Wohnung.
Auf der Titelseite, groß aufgemacht und schwarz unterlegt: ‚Rekord!! Eisschmelze hat zugenommen.‘ Darunter: ‚Spritpreis auf hohem Niveau stabil.‘ Auf Seite 2: ‘Wachstum beim Wohlstandsgefälle.‘ Alles bedenkenswerte Superlative. Dann: ‚Vater der Turbo-Vierlinge wird 16‘. Hohe Arithmetik. Er überfliegt auch die Fotos von Mädchen mit aufgeblasenen Silikonbrüsten, über denen sich die geäderte Haut spannt und deren Brustwarzen kältebehandelt hochstehen; andere blicken den Betrachter dümmlich an mit geschürzten aufgespritzten Lippen, die Zungenspitze fährt gerade darüber: ein Schreckenskabinett aus der Retorte.
Schon will er das Blatt wegwerfen, da fällt sein Blick auf einen kleinen Artikel, der mit Marker hervorgehoben wurde: ‚Mafia-Boß auf freiem Fuß. Zeugen umgefallen.‘
Ein Schreck durchfährt ihn: Woher kommt diese Zeitung? Das kann doch kein Zufall sein.
Er meldet das Vorkommnis bei der Polizei. Sein ‚ständiger Begleiter‘ wird augenblicklich zu ihm beordert; nun wird er rund um die Uhr bewacht. Er muß in der Wohnung bleiben. Auf oberster Ebene soll, in Zusammenarbeit mit dem Geheimdienst, entschieden werden, wie weiter zu verfahren ist. Er darf jetzt nicht telefonieren, und da zu vermuten ist, daß die Wohnung bekannt und eventuell verwanzt ist, kein Gespräch führen. Alle Kommunikation mit dem Beamten läuft schriftlich. Nena darf ihn nicht besuchen. Er ist isoliert.
Die Konferenz zu seiner Sicherheit ergibt am nächsten Tag die Entscheidung, daß er nun ständig zwischen vier möglichen Wohnungen wechseln wird. Das bedeutet, daß er vier verschiedene Identitäten verkörpert. Anfangs muß er auswendig lernen, welche Kunst-Person welche charakterlichen Besonderheiten und charakteristischen Erscheinungsformen hat. Für jede der vier ist ein Profil erarbeitet worden, das bis ins kleinste Detail die Äußerlichkeit der jeweiligen künstlichen Identität festlegt, angefangen von der Haltung, dem Gang, dem Gesichtsausdruck bis zur Kleidung und der Art zu sprechen. Verschiedene Brillen, Hüte, anklebbare Schnurrbärte und Koteletten, Schmuckstücke, Piercings und aufklebbare Tatoos vervollkommnen das Trugbild. Die Fahrten zwischen den einzelnen Wohnungen wachsen sich zu Tagesausflügen aus, labyrinthisch auf wechselnden Straßenarten, manchmal auch auf einer Autobahn, deren Abfahrt in letzter Sekunde scharf genommen wird. Einige Zeit ist er vollauf mit diesem Versteckspiel beschäftigt, stellenweise versucht er sich zu amüsieren. Aber mit der Länge der Zeit nimmt das Gefühl der Isolation und des Gejagtseins überhand. Er wird immer depressiver und stellt sich deutlich die Frage: Welchen Sinn hat ein solches Leben überhaupt? Er hat keine Ruhe, gedanklich irgendein Projekt zu realisieren, Aufzeichnungen für ein neues Buch – diesmal eher belletristisch – zu machen, kontinuierlich an einem Exposé zu arbeiten. Damit war die ganze Operation absurd und sinnlos. Es blieb ihm aber nichts anderes übrig. Das Leben, das er geführt, das Buch, das er geschrieben hat, schlägt zurück.
Abends nach der Arbeit geht Andrea jetzt nicht mehr aus; sie sitzt an ihrem Laptop und chattet. Kurz nach ihrem Kurs hatte sie einen ‚Mitschüler‘ um erklärenden Beistand gebeten, der hatte aber offensichtlich Beischlaf verstanden. Jetzt wurstelt sie sich alleine durch, das Betriebshandbuch wird ihre Bettlektüre. Macht wenigstens keine erotischen Träume.
Unter den vielen Partnerschafts-Agenturen scheint ihr www.glueck42.de am ansprechendsten: nicht so viele Akademiker und auch nicht gerade Vertreter der Prolo-Sphäre. Richtig: Was sie sucht, ist Glück. Glück mit einem reifen Partner.
Sie schreibt sich ein, überweist den Beitrag. Dann kann sie sich registrieren lassen. Sie bekommt per mail ein Formular ‚personal characterization‘ zugeschickt. Sie nimmt sich viel Zeit, sich selbst zu beschreiben und ihre Wünsche – auch die geheimsten – anzuklicken. Nicht alle, die vorgegeben sind, sind nach ihrem gusto. ‚Sex only‘ z.B. fällt gleich raus.
‚Vorzeigefrau‘ auch. ‚Vorzeigegesicht‘ akzeptiert sie schon eher. Sie wählt die Bilder aus, die sie von sich preisgeben möchte. Damit man das Gesicht nicht so genau und ihre Erscheinung angedeutet sieht, wählt sie Oberkörper-Porträts aus und arbeitet sie in ihre Net-Präsentation ein. Obwohl es mittlerweile 23 Uhr ist und sie am nächsten Tag früh raus muß, läßt sie sich die Anzahl der kompatiblen Männer zeigen. Respekt: 92 positive Übereinstimmungen zwischen 50 und 98 %. Mit diesem erfreulichen Ergebnis legt sie sich schlafen.
Der nächste Abend gehört der Herrenwahl. Sie lockt sich bei ww.glueck42.de ein. Erstaunlicherweise hat sie schon einige Anfragen. Sigi, Joachim, Hans-Jürgen: Sie geilen sich über ihre Brüste auf.
‚Wie groß sind deine Nippel?‘
‚Hätte Lust, daran zu saugen, sie zu beißen.‘
‚Machst du auch französisch?‘
Was ist denn da passiert? Ach ja, sie hat den Fehler gemacht, Fotos bis zur Taille einzustellen. Das hat die spätpubertären Babies aus der Reserve gelockt, die mit ihrer Wahrnehmung noch die Mutterbrust phantasieren.
Zuerst bearbeitet sie also ihre Foto-Präsentation und wählt Bilder aus, die oberhalb der Mamillen enden, vielleicht gerade noch den Brustansatz zeigen. Dann nimmt sie die Fotos aus der Anfangsphase heraus, die Auserwählten sollen sie sich erst verdienen.
Endlich klickt sie ihre Match-Männer an.
Es scheinen Satzanfänge auf, der Beginn der Selbstbeschreibung der einzelnen noch virtuellen männlichen Glücksritter. Ganz prägnant formuliert. Darunter steht der Vorname und das Alter. Sie beginnt, die potenziellen Partner mit der höchsten Übereinstimmungs-Quote – den meisten Matching-Punkten - durchzugehen. Ein zeitraubendes Unterfangen. Sie muß sich klar werden, welche Altersklasse in Frage kommt. Also engt sie ein: auf die Altersklasse zwischen 45 und 55 Jahren. Das reduziert die Möglichkeiten beträchtlich. Friedrich, 46 Jahre, schreibt: ‚In welchem Universum schwebt die Frau....‘ Das sagt ihr zu, hier steigt sie ein.
F. sitzt offenbar dialogbereit vor dem Computer. ‚Mein kleines grünes Männchen ist von dieser Welt. Und ganz Bio.‘
‚Gut zu wissen, und nun zum Rest.‘
‚Zuerst mal: Wie sieht denn d e i n Rest aus?‘
‚Gibt’s bei Gefallen als Foto.‘
‚Also, gewonnen! Interessieren dich Maße?‘
‚Ja, die allover-Maße und eine knackige Beschreibung des Objekts der Begierde.’
‚Bin sehr ansehnlich, haben die Damen bisher jedenfalls immer behauptet. Und: Man hat was in der Hand bzw. zwischen den Schenkeln, je nach Wunsch.‘
Ein Fettwanst also mit einem grünen Schwanz. Und Bio... Wenn das den Geruch meint, dankeschön.
‚Weißt du was? Meine Schenkel haben kein Interesse.‘
‚Schade, sie verpassen was.‘
‚So what. Mach’s gut.‘
‚Mach’s besser.‘
Puhhh. Den kannste löschen. Wer kommt denn sonst in Frage?
Peter, 49 Jahre. Prolog: ‚Vom guten Leben gezeichnet....‘
‚Hallo, Herr Lebemann! Verstehe etwas vom guten Leben.‘
‚Sag bloß, du bist auch gezeichnet.‘
‚Nein, gemeißelt.‘
‚Also, meine Statue, sprich über dich.‘
‚Fange einmal allgemein an: Wunderschön war und bin ich, und das ist mein Problem. Maße und Namen sind Schall und Rauch.‘
‚Aha, Problemfrau!‘‚Wart’s ab. Und du?‘
‚Bin vom Leben gezeichnet und auch gebeutelt. War gut und übel, alles drin. Näheres mündlich, kann ich nicht dem www anvertrauen.‘
‚Hm, interessant. Was meinst du, sollen wir’s riskieren, uns ohne vorheriges Foto zu treffen?‘
‚Wäre doch ein Überraschungseffekt, ein Knaller!‘
‚Wo lebst du? Ich bin in D.‘
‚150 Kilometer weg. Bei dir oder bei mir?‘
‚In der Mitte, Prinzip der Gerechtigkeit. Wann?‘
‚Samstagabend.‘
‚O.k.‘
Die näheren Details werden noch ausgetauscht, dann schaltet Andrea ihr Fernrohr zur Welt ab.
Samstagnachmittag bringt ihr Auto sie in die fremde Kleinstadt. Das Café ‚Turnover‘ liegt am Marktplatz. Peter sitzt schon an einem Fenstertisch, erkennbar an einer weißen Nelke im Knopfloch. Sonst ist durch die spiegelnde Scheibe nicht viel zu erkennen, also muß sie sich überraschen lassen und richtig einsteigen. Mit offenem Visier agieren. Als er die weiße Nelke bei ihr sieht, springt er auf. Ist er nervös? Sie begrüßen sich mit Wangenkuß, savoir vivre nennt man das. Sie bestellen zwei Glas Champagner; sie bezwingt ihre Aufregung, da sie weiß, daß ihr Gesicht ‚parkettsicher‘ ist. Verstohlen betrachtet sie ihn. Solide äußere Erscheinung in puncto Haarschnitt, Bartpflege, Kleidung, Figur. Wie sehen die Finger und die Nägel aus? Hat er große oder kleine Füße? - ‚Mist, zu spät! Er sitzt schon und hat die Füße unter dem Tisch.‘ Graue Schläfen umrahmen ein sonnengegerbtes Gesicht mit ein paar alten Pockennarben. Nase? Nicht zu groß, wohlgeformt. Lachfalten, leichte Tränensäcke. Gefällt ihr.
„Prost, auf uns, so oder so!“
„Soso!“
Sie fühlt sich so leicht, hätte nicht gedacht, daß ein solches Treffen so unverkrampft verlaufen kann. Sie erzählen sich von guten und vom schlechten Leben, jeder in seiner Version. Peter hat gerade eine jahrelange Beziehung hinter sich. Weshalb sie auseinandergegangen ist, will er nicht erzählen. Er arbeitet als Systemadministrator bei einer namhaften Firma, welche tut nichts zur Sache. Sein Job macht ihm Spaß. Er reist viel, beruflich und auch privat im Urlaub. Er hat kaum Zeit zum Sport. Alles positive Aspekte, denkt sie. Er ist witzig, versucht, sie zum Lachen zu bringen. Offenbar überzeugt ihn der Erfolg nicht so richtig. Das erste Glas Champagner ist längst geleert, ein zweites, ein drittes folgt: ein langes Leben war das bisher. Es wird dunkel.
„Was machen wir jetzt? Sollen wir in die Sauna gehen?“
„Wir können auch gleich in’s Bett steigen.“
„Sparen wir uns das doch für das nächste Mal auf. Aber Essen wäre nicht schlecht, nach all dem Schampus und vor der Heimfahrt.“
Gesagt, getan. Ab jetzt nur noch Mineralwasser.
Für Sturz ist ein Tag wie der andere, mit einem Wort: beschissen. Er hängt in fremden Wohnungen herum ohne persönliche Dinge und vor allem: ohne seine Familie und ohne Möglichkeit, auch einmal auszuweichen. Alle paar Tage – nach dem Zufallsprinzip – wird er in ein abgedunkeltes und gepanzertes Auto verfrachtet und in die nächste Fremdwohnung verbracht. Er kann nicht schreiben, noch weniger recherchieren, er kann noch nicht einmal mehr denken. Er verbietet es sich auch, von Anfang an, um nicht schwermütig zu werden. Wenn er sich in seine Seele versetzt, muß er sich fragen, ob es dies alles wert war und er findet, daß die Strafe für einen Ansatz von Selbstverwirklichung unangemessen hart ist. Noch weniger wagt er, an eine Zukunft zu denken; die muß irgendwo hinter dem Horizont liegen, im Winterschlaf. Fräst wahrscheinlich gerade Mulden in den Sandstein, wie die Bären in vorgeschichtlicher Zeit in den Karsthöhlen Südfrankreichs. Frank fühlt sich wie ein Stalaktit, an dem die Zeit herunterrinnt und Kalk anlagert. Nur daß er nicht so viel Zeit hat wie die urzeitlichen, Stein gewordenen Zeugen der Wandlung.
An Nena und Biggy darf er gar nicht denken, er hört sporadisch über die Beamten von ihnen und bekommt, auch auf diesem Wege, manchmal einen Brief. Den er beantwortet, ohne wirklich auf seinen eigenen Gemütszustand einzugehen. Papierene Beziehung, seelenlos, ohne Körperlichkeit, Geruch, Geschmack. Soweit hat er es gebracht. So tief ist er gefallen.
Niemand kann ihm sagen, wie lange das noch so weitergehen wird. Muß. Es gibt hierzulande wenig Erfahrung damit, in den letzten Zeiten etwas mehr durch das Phänomen des Fundamentalismus und Terrorismus. Aber sein Fall dient letztendlich auch zur Sammlung von Fakten, zum Erlernen eines besseren Umgangs mit Bedrohungen der persönlichen Freiheit, in dieser und der anderen Richtung. Zum Nutzen des Individuums und auch des Gemeinwesens. Ein Trost?
Das einzige, was ihn außer seinen Fluchtfahrten und Nena’s Briefen mit der Realität draußen verbindet, sind die Blicke aus den verhängten Fenstern auf sozial entrückte Umgebungen und die Zeitungen, die die Beamten ihm mitbringen. Festtage! Im Zustand der Isolation blickt er da auf eine Außenwelt, die ihm immer fremder wird. Mit der ihn immer weniger verbindet, auf die er keinerlei Einfluß nehmen, mit der er nicht in Verbindung treten kann. Er bekommt biblische Visionen vom Schicksal: Er ist wie Jonas im Bauch des Walfisches. Der wurde einst am Ende ausgestoßen.
Jil Band stellt fest: Sie ist süchtig nach Sozialkontakten. Nach der langen Zeit des Abtauchens während ihrer Chemotherapie fühlt sie sich, trotz täglicher Bestrahlung, wieder so gut, daß sie sich nach ihren Freunden und Freundinnen sehnt. Sie telefoniert und fragt nach deren Befinden, lädt eine nach der anderen zum Essen ein, überschlägt sich als Hausfrau und Köchin. Die Freundinnen kommen und breiten ihre Probleme aus; manch eine fragt vorher, ob sie überhaupt kommen soll, sie sei so traurig.
Jil sitzt da und hört, wie das Leben außerhalb des ihren, zeitlich begrenzten, rauscht. Sie hört vor allem von Partnerschaftsproblemen und Schwierigkeiten mit den Mitgliedern der Patchwork-Familien. Alles scheint ihr fremd, unangemessen; sie fühlt, daß die Freundinnen das ewige Leben für sich gepachtet haben, außerdem selbstverständlich noch die ewige Gesundheit. Sie empfindet deren Probleme als Luxuserscheinungen. Trotzdem sind sie ernsthaft; wichtig ist auch, die Freundinnen zu bedauern, zu trösten, in den Arm zu nehmen.
'Vorsicht mit der künstlichen Brust! Tut weh, nicht zu stark drücken!'
Wenn sie Ratschläge formuliert, kommt ihr immer über die Lippen: „Sei froh, daß du gesund bist.“ „Ich sehe das jetzt aus einer anderen Perspektive.“ Heute hält sie gehörten Probleme für untergeordnet; wenn sie nachdenkt, erinnert sie sich aber auch gut daran, daß sie vor nicht allzu langer Zeit genauso gesprochen und gefühlt hat. Trotzdem ist sie weniger kämpferisch in ihren Lösungsvorschlägen und plädiert mehr für Aussöhnung und Kompromisse, Verständnis und gemeinschaftsorientierte Weisheit.
Ihr Mann sagt ihr: „In der letzten Zeit bekomme ich viele Angebote von weiblicher Seite.“ Er ist durch das, was er durchmacht, schöner geworden. Oder – darf man so etwas denken? – die Neandertalerin kommt bei diesen Frauen durch, denn sie wissen alle, daß er mit einer Frau verheiratet ist, die sehr krank ist. Ist damit sein Marktwert gestiegen?
Am Abend sieht sie eine Übertragung der ‚Zauberflöte‘: die Parabel vom Sieg der Liebe über das Böse, und von den Prüfungen, denen sich die Liebenden unterziehen müssen. Genauso kommt ihr die Zeit der Therapie vor: ein Durchgang durch einen dunklen Korridor in eine andere Art Leben, oder besser: Am Ende wird s i e eine andere sein.
Der heutige Tag ist sonnendurchflutet. Trotzdem wird sie langsam mürbe und ist schlechter Stimmung. Die Wimpern sind ihr nun doch noch alle ausgegangen, streng ist ihr Blick im Spiegel. Die wenigen privaten Pläne sind nach wie vor nicht sicher realisierbar, die Therapie mit den Nebenwirkungen und der Müdigkeit mit dem schicken Namen ‚Fatigue‘ hat sie fest im Griff.
>Normal ist, wenn die Düse klemmt< (Loriot)
In den politischen Sendungen dieser Tage werden die Königsmütter hervorgezogen: Barbara Bush verkündet, sie erinnere sich noch genau, einst habe sie ihrem Sohn die Windeln gewechselt, jetzt sei er Präsident. Und Frau Steinmeier lobt die Sparsamkeit ihres Sohnes: Von 2 Mark Taschengeld hat er 1 Mark 80 gespart. Respekt! Wie gut mit den Klischees gearbeitet wird. Merkt das einer der Nachrichten-Konsumenten? Und dann: ‚Obama. Der amerikanische Traum.‘ Der schönste Traum, der schönste Schaum.
Man müßte dagegen anschreiben, Frank ist zum Schweigen verurteilt. Seine
Sensibilitätsschwelle ist angehoben, er notiert sich die Punkte, die der Rede wert sind. Selbst wenn er keine kritische Tagespresse mehr zu sehen bekommt, Radio und Fernsehen genügen, um ihm unendlich Themen zu liefern. Themen auf Eis. Aus seiner Gefangenschaft blickt er auf das andere Ufer, sein Blick ist schärfer geworden. Er wird unruhig und ungeduldig. Er trägt in sich einen Vulkan, der rumort, kurz vor dem Ausbruch. Aber er muß im Standby bleiben.
Ein guter Gedanke kommt ihm: Er hat ja sein Laptop und – aus alten Zeiten – seinen Zugang zur Partnerbörse; damit kann er mit der Welt in Kontakt treten. Gesagt, getan.
Andrea hat sich wieder vor den Computer gesetzt. Sie ruft www.glueck42.de auf. Sie sollte sich wieder mal bei Peter melden. Auch wenn sie im Moment kein Bedürfnis für Saunagänge hat. Aber:
Man muß das Eisen schmieden, solange es warm ist. Und außerdem hat sie noch keine Reaktion von ihm auf ihr Treffen gehört. Sie hat damals beschlossen, ihm noch nicht ihre Visitenkarte zu geben und lieber weiterhin auf Abstand im Chat zu bleiben, das Treffen hat sie nicht überzeugt.
‚Guten Abend, mein lieber Nelkenmann. Bist Du aktiv?’
‚Ja, normal. Hab schon auf Dein Auftauchen gewartet. Geht es Dir gut? Fand unser Treffen sehr schön, vor allem dich.‘
‚Danke! Und was machen wir nun?‘
‚Bin in der nächsten Zeit beruflich sehr eingespannt, muß in’s Ausland. Mal sehen, ob es dort Internet-Anschluß gibt, dann melde ich mich.‘
‚Also dann, alles Gute, halt die Ohren steif.‘
‚Die Ohren?‘
‚Ja. Ciao.‘
Sie hat noch keine Lust, abzuschalten, und chattet weiter. Zurück auf die Partnerliste. Heute interessieren sie die Männer mit der geringeren Übereinstimmung. Sie möchte Peter noch eine Chance lassen. Sie stößt auf ‚Facciatosta‘, sonst kein Eingangskommentar. Seltsamer Name, Italiener, nicht normal.
Sie klickt sich ein.
‚Guten Abend, buona sera?‘
‚Stand by.‘
‚Sitze hier so allein und fingere vor mich hin. Was machst du?‘
‚Fange gerade an zu fingern. Fingere jetzt aber pulsschnell, da du mich angeklickt hast.‘
‚Erzähl von dir.‘
‚Steckbrief: Geheimnisvolle Existenz, Tanz auf dem Vulkan, Wolken und Nebelschwaden. Alles andere als normal.‘
‚Ich: Sonne im Herzen und im Gesicht.’
‚Sonne hab ich hinter mir, fürchte ich.‘
‚Also ewige Nacht am Nordpol, oder: Petersburger weiße Nächte?‘
‚Gefühlsmäßig eher Arktis.‘
‚Höchste Zeit für Reibungswärme.‘
‚Geht nicht, TNT.‘
‚Können wir uns treffen?‘
‚Nur virtuell.‘
‚Also dann, bis nächstes Mal, stand by!‘
‚Salve.‘
Angesichts der neu entwickelten Attraktivität ihres Mannes auf dem Markt der Möglichkeiten bemüht sich Jil vermehrt um das Sexleben in ihrer Ehe. Der Vaginal-Expander hat seinen Dienst getan: Trotz Antiöstrogentherapie und Wiedereintritts in die Wechseljahre ist der Scheideneingang jetzt wieder mühelos passierbar. Zur Aufrechterhaltung führt sie ab und zu ihre Geishakugeln ein und stolziert unter sphärischen Klängen durch die Wohnung, all das hat nur bei Bewegung einen Sinn. So wird die Vagina weit gehalten und der Beckenboden trainiert, muskulär und sensibel.
Sie denkt über die letzte Zeit nach: Mehr als ein halbes Jahr ist nun seit der Diagnosestellung vergangen und immer war sie Sklavin ihres Krebses und der notwendigen Therapie; es ging ihr so schlecht, daß sie ihr Leben auf das Minimum reduzieren mußte, sie konnte nichts planen, keine Konzertkarten besorgen, keinen Theatertermin aussuchen, sich keine Reise, keinen Besuch bei Freunden vornehmen. Das pure Überleben ist übriggeblieben von allem, was das Leben bisher ausgemacht hat. Und doch hat das Leben an sich an Stärke gewonnen, wenn auch mit dem Kopf im Morast und der Seele, die manchmal in einen dunklen See der Angst abtaucht. Als sie die Diagnose gehört hat, war das für sie erst einmal ein Todesurteil. Und jetzt hat sie der Krankheit schon über ein halbes Jahr Leben abgetrotzt. Der Inhalt dieses Lebens war: selbst überleben, die Krankheit und die Therapie. Die Zeit wird bedeutsam und kurz.
Sie hat, zusammen mit ihrem Mann, den Nachlaß geregelt und Betreuungs- und Vorsorgevollmachten erstellt. Sie hat sich über palliativmedizinische Anlaufstellen in ihrer Stadt informiert, sich vorsorglich in der Schmerzambulanz vorgestellt für den Fall, daß....
Nun gibt sie sich vollständig, mit Leib und Seele, in die Behandlung. Und damit in die Hoffnung, daß sie sich damit noch Lebenszeit erkämpft. Sie will nichts herausfordern und macht deshalb noch keine Zukunftspläne. Die Freunde fragen sie: “Wann gehen wir einmal wieder zusammen tauchen?“
Tauchen im Roten Meer.
Andrea hat die Stubenhockerei dick und beschließt, zusammen mit ihrer besten Freundin Susi wieder mal in die Disco zu gehen.
In der Stadthalle findet die Ü30-Party statt, dort wird nicht allzu viel Junggemüse anzutreffen sein. Als die beiden näher kommen, sehen sie, daß auch die Beleuchtung ‚altersgemäß‘ ist: schummrig und rot, gut bei Falten und anderen kleinen Schönheitsproblemen.
Die Bude ist schon brechend voll, auf die Musik aus den 80ern wird wild getanzt.
Andrea und Susi tanzen erst einmal ab. Im Nu ist Andrea umringt von hüftschwingenden Männern, alle in ihren Augen zu jung. Susi bewegt sich wie eine Schlange auf der Tanzfläche, macht aber wenig Eindruck.
Einer aus dem Mottenkreis nähert sich Andrea und schreit ihr in’s Ohr:
„Heute abend schon besetzt?“
„Ja, eher belegt.“
Er dreht ab.
Der nächste rollt auf sie zu. „Du bist eine geile Mieze. Geht was mit uns?“
„Wir lassen es besser beim Tanzen.“
Das nächste Stück ist eine langsame Ballade. Ein jugendliches Aknegesicht greift nach ihr und zurrt sie fest. Zwischen seinen Beinen regt sich etwas. „Spürst du, was ich fühle? Bin super drauf. One-night-stand wäre geil.“
„Nein, möchte lieber allein aufwachen.“
Dieser Zwang zur Verteidigung geht Andrea langsam zu weit.
Sie setzt sich in eine dunkle Ecke. Susi folgt ihr sofort.
„Na, Erfolg gehabt?“
„Nicht den richtigen. Und du konntest schön ausufernd tanzen, hattest ja jede Menge Platz um dich rum.“
„Sag mal: Bist du nicht zufrieden mit deiner Ausstrahlung?“
„Es ödet mich ziemlich an: diese Äußerlichkeit, und dann immer dieselben Eröffnungssätze.“
„Ich verstehe dich nicht, sei doch froh. Mich hat ein lendenlahmer Grauschopf – Typ Vaterfigur - angemacht, und das war auch nicht sehr witzig. Bin eigentlich ziemlich sauer. Du könntest sie alle haben und willst nicht, und zu mir verirrt sich nur der Ausschuß. Was willst du eigentlich? Das macht keinen Spaß mehr.“
„Eine Vaterfigur. Gehen wir.“
Zuhause kann sie, aus Ärger und Frust, nicht sofort in’s Bett gehen. Sie darf nicht darüber nachdenken, wie falsch die Dinge laufen, wie sehr alle an der Oberfläche kleben und wie sehr sie, Andrea, mißachtet wird.
Um sich abzulenken und zu beruhigen, fährt sie den Computer hoch. Sie schaut nach ihren Nachrichten bei der Partnerbörse. Peter schweigt nach wie vor. Aber Facciatosta hat sich gemeldet.
‚Es ist jetzt fast Mitternacht, wo bist du? Warte schon seit drei Stunden.‘
‚Bin zurück vom dancefloor. Bißchen Sport getrieben.‘
‚Einer oder Zweier?‘
‚Boxkampf.‘
‚Ich stelle bei mir fest: Bin süchtig nach dieser Verbindung mit dir.‘
‚Du bist und bleibst rätselhaft für mich. Wollen wir dieses Geheimnis lüften?‘
Pause.
‚Geht nur virtuell.‘
‚Virtueller Sex?‘
‚Können es versuchen. Bin gespannt, ob es dir gelingt, mich hochzufahren. Schick mir doch ein Bild von dir, am besten Ganzkörper und nackt.‘
‚Holla! Und du, mein Adonis? Vielleicht ein Bild mit Erektion!‘
Wo bekommt Frank ein solches Foto von sich her? Er muß sich von den Beamten eine Digitalkamera bringen lassen, sich dann ein paar schöne Gedanken machen, in den vorgesehenen Bildausschnitt stellen und den Selbstauslöser betätigen. Muß darauf achten, daß nicht allzuviel Umgebung zu sehen ist, törnt ab und ist verräterisch.
Dieses Projekt füllt seine Tage aus. Bei aller Dreistigkeit ist das eine Quelle für die Fantasie und gesund für die Seele. Es ist so schön steril und unverfänglich. Und unbedenklich für sein Gewissen. Er sollte den vulkanischen Aufruhr in sich ganz in seinen Schwanz fließen lassen. Eine kurze Eruption, dann kehrt Ruhe ein. Der Rest ist Schweigen.
Jil pilgert jeden Tag zur Bestrahlung, außer Samstag und Sonntag.
Es kommen wieder ungeduldige SMS auf ihr Handy: ‚Bist du jetzt fertig?‘ Nein, noch nicht fertig, aber langsam mürbe.
Ein Freund von ihr ist in der Anfangsphase ihrer Chemotherapie an Nierenkrebs gestorben. Ein dreiviertel Jahr vorher festgestellt. Genauso lang hat sie nun schon seit ihrer Diagnose überlebt, zwar eingeschränkt durch die Nebenwirkungen der Therapie, aber sie lebt. Allerdings ist sie meist zuhause, ‚unter Verschluß‘: zu müde, zu viele Viren unterwegs, zu schwach und eingeschränkt in ihrer Abwehr, physisch und psychisch. Und zu viel Abstand zum Außenleben mit seinen Erden-Problemen, mit seinen von der Werbung vorgegaukelten ‚Must‘-Zuständen, ‚man trägt heute...‘; vielleicht sitzt sie ja schon auf dem Mond, ist durch diese Krankheit von der Erde hinausgeschleudert worden, wie bei einer Geburt?
Durch Zufall kommt sie mit einer Nachbarin in’s Gespräch. Jil sieht man immer noch die Chemotherapie an, denn sie hat noch immer keine Haare und deshalb gegen Kälte ein Mützchen auf dem Kopf. Die Nachbarin erzählt, daß sie schwarzen Hautkrebs hat, mit 26 Jahren. Jil lädt sie ein, dann und wann auf ein Gläschen vorbeizukommen.
Im selben Haus arbeitet ein Mann, ca. 45 Jahre alt, bei dem ihr aufgefallen ist, daß er manchmal sehr schlecht geht und den rechten Fuß sehr vorsichtig aufsetzt. Er spricht sie auf dem Postamt an, während sie beide anstehen. „Wir zwei sind Leidensgenossen, wir sollten uns einmal auf einen Kaffee zusammensetzen; ich bin mit dieser Erkrankung schon vier Jahre vertraut, ich kann Ihnen ein bißchen davon erzählen.“
Es kommt der Tag, wo sie beide trifft, der Tag der Krebsgespräche. Aber sowohl mit ihr wie mit ihm halten sie sich nicht lange bei diesem Thema auf – das pralle Leben winkt. Der Krebs ist nur die Initialzündung für eine neue Freundschaft, und es ist schön, daß zwischen ihnen kein Graben, kein tiefer tosender Fluß ist, wie zur übrigen Welt; ihre Gefühle und Erfahrungen sind dieselben, und wenn sie sich dies gezeigt haben, können sie sich in die Zukunft träumen, so nah sie auch liegen mag.
Ein Päckchen kommt. Eine italienische Freundin schickt ihr ein Buch (‚du kommst ja jetzt zum Lesen‘): „Foglio di fico“ von Franco Caduta. Es handelt von der N’drangheta, ist erstaunlich gut recherchiert und mutig geschrieben. „Du hast Mut“ lautet die typische mafiöse Drohung, die bewirken soll, daß der Angesprochene die mutige Tat unterläßt.
Sie kann nicht mehr zu lesen aufhören. Nicht ganz ungefährlich für den Autor! Wie er wohl lebt?
Frank denkt daran, dass er noch Daten aus seiner Recherche besitzt, die er über die Aktionen der N’drangheta in Deutschland angestellt hat. Es handelte sich um heisses Material, das er damals von Manni bekommen hatte.
Manni. Nach vielen Jahren, in denen er nichts mehr von ihm gehört hatte, hatte Frank von ihm, einem Studienkollegen aus der ehemaligen Wohngemeinschaft, in der sie nächtelang über die Verwirklichung der Gerechtigkeit in der Welt diskutiert hatten, unter der Hand diese Informationen bekommen. Manni hatte inzwischen eine kleine, aber feine Unternehmensberatungsfirma aufgebaut und, dank der allgemeinen Einführung des Controlling, eine Mini-Karriere gemacht. Diese Tätigkeit hatte ihn in die obersten Zirkel aller möglichen Institutionen geführt, unter anderem auch bei Polizei und Ämtern der öffentlichen Verwaltung.
Die Infiltration der mafiöser Strukturen in diesen Institutionen war den Geheimdiensten, den polizeilichen Spezialisten für Bandenkriminalität und auch den Sektenbeauftragten vollkommen entgangen – so fein und gleichzeitig gewalttätig war die N’drangheta vorgegangen. Zuerst waren kleine Geldbeträge eingesetzt worden, dann das problemlose Durchwinken von grenzwertig illegalen Projekten, Erpressung unter Einschaltung des Mädchenhandels und des Wissens um Schwarzgelddepots, um am Ende Gewalt und Bedrohung gegen die anfänglichen Mitwisser und Mittäter anzuwenden. Sie hatten auf der untersten Ebene der Entscheidungsträger aus Verwaltung und Wirtschaft begonnen und hatten schnell ihre Finger in den Gremien der obersten Etage. So war zu erklären, dass auf allen Ebenen eisernes Schweigen herrschte und die große Organisation, die „Familie“ freie Bahn hatte.
Die von Manni gelieferten Informationen waren lückenlos und betrafen so gut wie alle Institutionen des öffentlichen Lebens.
Frank hatte sie jahrelang zurückgehalten, weil sich beim Schreiben seines Buches der Fokus vornehmlich auf Kalabrien gerichtet hatte.
Nun erinnert er sich an diesen Schatz. Nena ist im Bilde, wo er die Dokumente deponiert hat. Über den Beamten lässt er ihr einen Brief zukommen, in dem er ihr in zurückhaltenden Worten von seiner Einsamkeit berichtet und sie bittet, dem Beamten ohne viel Aufhebens den Ordner zu übergeben. Er muss darauf vertrauen, dass dieser nicht darin herumblättert.
Als Frank die Unterlagen in Händen hat, beginnt er einen Artikel zu schreiben. Das Thema ist aktuell.
Ein Problem tut sich auf, als er überlegt, wie er seinen Artikel bei einem der großen Nachrichtenmagazine unterbringen kann. Er darf seine Identität auf keinen Fall preisgeben. Damit wird es nicht einfach sein, unter Verschweigen seines Namens, der in Journalistenkreisen einen guten Klang hat, seinen Text zu plazieren. Auch Nena kann er damit nicht beauftragen, denn sie könnte die Aufmerksamkeit auf ihn selbst lenken. Manni als Informant fällt ebenso aus. Er muss also den Text, den er zu schreiben gedenkt, anonym unterbringen. Der Macht von Opferschutzorganisationen ist – so weiss er – keinen Pfifferling wert.
Er erinnert sich, dass in der Gruppe seiner Freunde aus den Zeiten von vor mehr als 30 Jahren einer war, der Journalist werden wollte. Sein Name ist ihm noch geläufig. So googelt er und findet Anschrift und Telefonnummer.
Endlich ist die Bestrahlung vorbei und damit die Zeit der harten Therapien.
Jil ist stolz. Sie fährt mit ihrem Mann für ein paar Tage in ihr Ferienhaus. Sie verspricht sich Erholung, Rückkehr zu den alten Kräften, Schöpfen von Hoffnung – alles Voraussetzung für den weitergehenden Kampf ihres Körpers mit der Krebserkrankung.
Sie hat mittlerweile verinnerlicht, daß der Krebs eine systemische Erkrankung ist, daß Mikrometastasen in ihr unterwegs sein und sich jederzeit irgendwo ansiedeln können.
Die kommenden Jahre – falls sie noch so viel Zeit hat, vom Schicksal, von wem auch immer zugestanden – werden die Jahre sein, in denen ihr inneres Immunsystem immer gut auf der Hut sein und seine Reparaturvorgänge durchführen sollte, so, wie ihre Abwehr vor der Entstehung des ersten anarchistischen Krebszellverbandes jede einzelne entartete Zelle ausgeschaltet hat, jeden Tag mehrfach und ihr ganzes Leben lang.
Sie sollte dieses Immunsystem unterstützen. Mit allen Mitteln. Aber vor allem mit ihrer Psyche. Eine ausgeglichene Seelenlage sorgt für positive Energie, für innere Harmonie. Und ist ein Bollwerk gegen Streß, Ärger, Kummer und Leid - alles unvermeidliche Begleiter auf unserem Lebensweg, der uns unausweichlich durch dunkle Täler und schwarze Wälder führt.
Nun steht sie in einem dunklen Tal. Sie muß die fehlende Sonne selbst in sich generieren.
Vor Schwäche gleitet sie aber in die Depression. Alles wird noch dunkler. Sie stellt fest, daß sie hier Hilfe braucht.
Sie analysiert aber auch selbst ihre Seelenlage: Was kann sie tun, um sich selbst gegenüber liebevoller zu sein, um sich gegen das Schwarze zu wehren, um ihr wertvolles Leben zu schützen?
Ihr ‚höheres Selbst‘, das sie bei ihren Meditationen anruft und um Hilfe bittet, zeigt ihr: Alles Kleinmachende, alles Krankmachende muß sie ausschalten.
Sie erkennt:
Ein entscheidender krankmachender Faktor waren die letzten frustrierenden Jahre an ihrer Arbeitsstelle – das hat sich erledigt.
Ein zweiter Faktor liegt in ihrer Beziehung: Ihr Mann versucht sie manchmal klein zu machen, wenn er selbst Probleme mit sich oder an seiner Arbeitsstelle hat. Dieser Punkt stellt eine Entweder-Oder-Situation dar; hier muß sie, um eine Trennung zu vermeiden, zusammen mit ihrem Mann am gegenseitigen Umgang arbeiten. Zu dieser Erkenntnis ist sie mit Hilfe ihrer eigenen Seele gelangt: Sie hatte abendeweise gegrübelt und nachts dann endlich einmal einen Traum gehabt, der ihr diesen Punkt genau aufgezeigt hat.
Ihr Mann ist ein großer stattlicher, schöner Mensch voller Kraft und Disziplin. Ihr wird klar, daß er in seiner Kindheit zu vielen Ansprüchen gerecht werden mußte; als einziger, lang ersehnter Nachwuchs sollte er perfekt sein, sauber, ordnungsliebend. Das Abziehbild seiner kleinkrämerischen Mutter, die Erbsen zählt oder ihrem Gegenüber die Schuppen von der Schulter zupft. Süße und Wärme wurden über Kuchen und Schokolade zugefüttert. Die Mutter war zeitweise außerstande, das Kind bei sich zu haben und gab es in eine Pflegefamilie ab. Jil wird klar, wie sehr diese Umstände ihren Mann als Kind kleingestutzt haben; sollte es möglich sein, daß er sich noch heute klein und nichtig fühlt und deshalb andere in seiner Umgebung herunterzieht?
Ja, so ist es. Und: Sein Perfektionismus gibt ihm Halt.
Nach dieser Analyse hat sie hat also erkannt: ‚Ich habe die heilmachende Kraft in mir, ich muß nur darauf hören, sie ernst nehmen, mich ernst nehmen. Und das nach außen mitteilen.‘ Und: ‚Ich muß meinen Mann bestärken, damit er sich aufrichten kann.‘
Sie nimmt die Arbeit auf. Für die Zukunft.
Frank schreibt an seinem Artikel. Zur Entspannung möchte er den Chat mit Andrea aufrechterhalten. Auch, wenn mittlerweile viele Fragezeichen darüber stehen.
Bis die Kamera eintrifft und das sexy Foto geschossen und übermittelt werden kann, bleibt noch Zeit. ‚Gottseidank‘, denkt Frank. ‚Auf was habe ich mich da eingelassen?‘ Das Ganze hat für ihn den Charakter eines Spiels, das Pokerface pokert. Aber auch Andrea spielt mit, bietet mit. ‚In welcher Ausnahmesituation mag sie wohl sein, daß sie so etwas mitmacht?‘
Frank hat das Gefühl, die Explosion stehe nahe bevor. Vor diesem Hintergrundgrummeln wird ihm beim Chat fast schwindlig ob der Falschheit und Verlogenheit der wie Peitschenhiebe hin- und herknallenden Sätze. Die Dynamik des Austausches verführt allzu schnell in die falsche Richtung.
Was hat das Ganze mit ihm und seinem Leben zu tun? Man kann es allenfalls als Interimsphänomen akzeptieren, als schwankende Brücke in die Zukunft, die nach dem Erreichen des rettenden Ufers abgesprengt wird. Es ist nur zu erklären als Wundermittel gegen seine Langeweile, gegen die innere Leere, die durch sein Fluchtdasein immer größer und schwärzer wird. Ein schwarzes Loch von allergrößter Dichte und erdrückendem Gewicht. Eine Sucht.
In der letzten Zeit sind keine subtilen Mafia-Drohungen mehr aufgetaucht. Das spricht für die Bäumchen-Wechsel-dich-Taktik seiner Bewacher, also wird es immer so weiter gehen. Immer? Wird es für ihn kein ‚normales‘ Leben mehr geben? Ein Leben mit seiner Familie, mit seiner Arbeit als Journalist? Wie wird es wohl seiner Frau und seiner Tochter gehen? Er kann mit ihnen keinerlei Kontakt mehr haben, wenigstens in der nächsten Zukunft. Sie müssen sich allein durchschlagen. Auch diese Gedanken schlagen ihm auf das Gemüt. Was Wunder, daß er sich ein kleines Laster genehmigt….!
Andrea sitzt vor ihrem Laptop und schaut auf den Bildschirmschoner: Sepp Vorderlader, der umschwärmteste aller Junggesellen Deutschlands, der Jagdtrompeter vom Berg - ein Mann nun schon nahe der Fünfzig, angedeutet graue Schläfen und lustige Lachfalten um Mund und Augen, ihr absoluter Schwarm und Traummann.
Ihre Augen driften in die Ferne ab. Wenn sie ihr Liebesleben bedenkt und mit ihren Bedürfnissen und Träumen abgleicht, klafft da ein Spalt wie eine Klamm. An ihrem Grund ein tosender Bach der Leidenschaft, darüber die Kühle und das Nichts.
Bevor sie sich in der Partnerschaftsagentur einwählt, denkt sie noch einen kurzen Moment über Sinn und Sinnlosigkeit ihrer virtuellen Aktivitäten nach.
Könnte es sein, daß die Langeweile ihres sozialen Lebens sie zu falschen Träumen verführt? Was soll eigentlich dieser Partner-Chat? Frank scheint auch nicht richtig anbeißen zu wollen, drückt sich vor jeder persönlichen Begegnung, und sei es nur ein Gespräch am Telefon – geschweige denn ein Treffen, ein Romantik-Rendezvous. Er gibt noch nicht einmal biographische Bemerkungen und persönliche Gefühlsäußerungen im Chat preis. Soll das nun ewig so weitergehen, das lustige und wendige Hin- und Herwerfen der Bälle, angetrieben von Erotik? Von Sex kann da ja nicht die Rede sein. Wohin soll das noch führen? Sie hat ja einige Erfahrung in puncto ausgefallene Praktiken, und was dann?
Andrea beschließt, heute eine Bremse einzubauen, falls sich nichts in Richtung Treffen tut. Sie hat keine Zeit mehr zu verlieren, die Bombe tickt. Ihr Gesicht ist allerdings von der Zerstörung, die ‚Alter‘ heißt, ausgenommen, aber sonst….. Irgendwie merkt sie allmählich, daß die Lust am Spielen nachlässt, daß ihr gesichtsbedingtes ewiges Barbiepuppen-Dasein sie anödet, daß die Sehnsucht nach dem wirklichen reifen Lebenspartner wächst, der um ihretwegen mit ihr zusammen ist und nicht wegen ihrer schönen Schale. Aber: Wie soll sie es anstellen, ihn zu finden, den Mann, der – wie sie glaubt - irgendwo auf der Welt schon auf sie wartet? Sobald sie sich von Angesicht zu Angesicht zeigt, rutscht die Geschichte sofort ab in Richtung „meine Süsse“. Nun hat sie im virtuellen Medium den Versuch gewagt, ohne den Einsatz von Äußerlichkeiten voranzukommen, mit welchem Erfolg? Vielleicht sollte sie sich endlich als Person outen, ohne Kompromisse? Viele Fragen, eine Antwort: Mut!
Sie loggt bei www.glueck42.de ein und ruft Frank auf. Er ist aktiv.
‚Guten Morgen, mein Lieber.‘
Das ‚gut geschlafen‘ verkneift sie sich, sie will keinen Anlaß mehr für schlüpfrige Kommentare geben.
‚Den allerbesten…‘
Jetzt nur nicht nach dem Foto fragen, würde ja eher ein Körperteil ablichten, das sie – ehrlich gesagt – momentan weniger interessiert.
‚Muß ernsthaft mit Dir reden.‘
‚O lala! Ich höre.‘
‚Ich finde, wir haben uns jetzt genug in Richtung ‚fun‘ treiben lassen. Ich muß Dir offen sagen, daß ich einen Lebenspartner suche.
Aus bestimmten Gründen habe ich das virtuelle Medium gewählt. Über diese Gründe können wir uns jederzeit unterhalten, aber im persönlichen Gespräch. Wenn Du mich siehst, wird die Sache klar.‘
‚Darf man gespannt sein?‘
‚'Ja.‘
‚Im positiven oder im negativen Sinn?‘
‚Schluß mit lustig!‘
‚Also, dann im Ernst: Ich kann momentan niemanden treffen, auch Dich nicht. Über die Gründe kann ich nicht sprechen: top secret.‘
‚Im positiven oder im negativen Sinn?‘
‚Über die Gründe darf ich nicht sprechen.‘
‚Tja, wie soll es dann weitergehen?‘
‚Ich laß Dir etwas zuschicken, das – wenn Du weiterdenkst – vielleicht einiges erklärt. Gib mir bitte Deine Adresse.‘
‚Schicke es postlagernd.‘
‚O.k.‘
‚Ja, so, also….. Ich melde mich wieder bei Dir, sobald ich weitergedacht habe.‘
Andrea wartet zwei Tage, bevor sie zu Post pilgert. Noch nichts für sie da. Sie pilgert und pilgert, die Sendung braucht ganze zehn Tage, bis sie für sie bereitliegt. Ein Buch! „Kaktusblatt.“ Aha: Autor: Frank Sturz. Wahrscheinlich ‚ihr‘ Frank. Sie blättert darin. Offensichtlich ein Mafia-Schocker. Hinten im Buch, auf dem Umschlag, das Foto des Schriftstellers. Respekt! Ein reifer Mann, der gelebt hat.
Zwar kein Sepp Vorderlader, beileibe nicht. Aber in seiner Art auch nicht schlecht.
Je länger sie die Gesichtszüge betrachtet, desto mehr wird sie von ihnen angezogen. All ihre Träume beginnen sich in diese Physiognomie einzugraben, fangen an, sie zum Leben zu bringen und von innen her zu beleuchten.
Sie sieht in ihnen den Frank, den sie von ihrem Chat her kennt, er hat so ein verstohlenes Lächeln, das mehr verspricht. Scheint witzig zu sein, viel zu lachen. Hat den Schalk in den Augen. Die Nase ist groß – das soll ja ein guter Hinweis auf einen anderen Körperteil zu sein…
Der Mund lächelt, ist volllippig. Die Falten in diesem Gesicht weisen auf eruptive Lachsalven hin.
Je mehr sie ihn betrachtet, desto mehr gefällt er ihr.
Sie malt sich aus, wie er wohl spricht, wie seine Stimme sein mag, was er sagt. Wie er schaut, wenn er ihr seine Liebe erklärt, wenn sie miteinander schlafen…
Nach einiger Zeit hält sie ihn für ihren Traummann. Sepp Vorderlader hat ausgedient. Als Bildschirmschoner wählt sie eine Wüstenlandschaft.
Zuerst meint Andrea, er habe ihr das Buch wegen des Fotos geschickt.
Erst nach Tagen kommt sie darauf, daß vielleicht auch der Inhalt des Buches eine Rolle spielt.
Sie beginnt zu lesen.
Es ist spannend geschrieben, voller Details, blendend recherchiert. Das staunende Publikum begreift das wahre Ausmaß dieses gesellschaftlichen Geschwürs, das nicht nur in Süditalien wuchert, sondern mittlerweile ganz Europa unterwandert hat. Ganz zu schweigen von Amerika.
‚So ein intelligenter Mann hat sich mit mir abgegeben! Er muß doch in einer ganz anderen Umgebung leben! Ich verstehe das nicht.‘
Erst durch eine Fernsehsendung, die sich mit diesem Thema befaßt, erfährt sie, daß Frank nach der Veröffentlichung seines Buches – eines Bestsellers nicht nur in Deutschland - in den Untergrund hat abtauchen müssen.
Da wird ihr klar, wie seine Situation ist. Warum er ‚nicht kann‘ und ‚nicht darf‘.
Und ihr wird klar, wie aussichtslos ihre neuempfundene Liebe ist.
Es dauert Tage, bis sie sich wieder per Computer bei Frank meldet.
In diesen Tagen hat sie ständig die Worte widergekäut, die sie ihm schreiben will, hat an den Sätzen gebastelt und gefeilt.
Jil dankt ihrem ‚höheren Selbst‘ für die Erkenntnisse, die es ihr in Meditation und Traum offenbart hat.
Sie ahnt nicht, wie schwer es sein wird, ihre Liebe für ihren Mann, die sie warm und lebendig in sich fühlt, auch wirklich nach außen zu bringen.
Auf einer Kur in einer onkologischen Nachsorgeklinik lernt sie erst einmal, all die Frauen, die ihre Schicksalsgenossinnen sind, zu lieben.
Da gibt es Frauen verschiedenen Alters, aller sozialen Schichten und jeden Temperaments, mit der unterschiedlichsten ‚sozialen Kompetenz‘; solche, die nachdenklich geworden sind und an sich arbeiten und solche, die alles einfach weiterlaufen lassen.
Die meisten haben dieselbe ‚Frisur‘ wie sie, nämlich keine: einfach wenige Millimeter oder im besten Fall Zentimeter kurze Haarstoppeln, aber wunderbare Köpfe von einem amazonenhaften Stolz.
Sie wissen, wovon sie sprechen, wenn sie sich über die aktuelle Lage unterhalten, über das Durchgemachte und Durchgestandene und den Punkt in ihrem Leben, an dem sie stehen. Jede hat verstanden, die meisten schöpfen Mut für eine neue Zukunft, die oft harte Entscheidungen fordert: endlich den falschen Beruf oder die nicht passende Arbeitsstelle aufgeben, den Mann verlassen, mit dem einen nichts mehr verbindet, dem Liebhaber Adieu sagen, den man aus alter Gewohnheit weiterhin getroffen hat, die Kinder ziehen lassen.
Sie alle - jede einzelne von ihnen - anzunehmen, zuzuhören, mitzufühlen fällt ihr leicht.
Natürlich gibt es diese oder jene, die ihr nicht so liegen, deren Themen nicht die ihren sind, deren Stimmung sie niederdrücken könnte; schwieriger ist die Liebesgeste bei neunmalklugen oder einfach dummen Frauen; sie lernt, sie zu lieben, wie sie lernt, richtig zu atmen oder sich gesund zu bewegen. Und diese zugewandte Haltung macht das Gegenüber schön.
Diese Haltung sollte sie ihrem Mann gegenüber einnehmen. Das bedeutet: den ehelichen Machtkampf aufgeben. Ihr Mann gibt am liebsten das Alpha-Tier. Sie wird also das Beta-Tierchen werden. Sie sollte nicht versuchen, allzu mütterlich zu sein, denn das ginge in die falsche Richtung und würde die traumatischen Erfahrungen mit seiner Mutter auf den Plan rufen.
Sie will weiterhin seine Partnerin sein. Aber vielleicht nicht mehr so hart, kämpferisch, einen Tic weniger ehrgeizig und selbstbewußt. Einfach – so schwierig es ist – die alte Bahn verlassen, auf der sie in ihrer Arbeit in der Männerwelt unterwegs war. Ihre im wahren Sinne krankmachende Prägung aus dieser Männerwelt abschütteln und, wenn sie weiterhin klebt, abstreifen. Ihren Liebsten loben, bestätigen, sich anschmiegen. Vielleicht werden dann auch ihre Verspannungen besser.
Ein stolzes Programm.
Frank wählt und wählt sich auf seinem Partnerschafts-Konto ein. Keine Nachricht.
Nach qualvollen und langweiligen Tagen ist endlich eine Antwort von Andrea da.
‚Lieber Frank – und das meine ich wörtlich - habe Dein Geschenk bekommen; welche Überraschung! Ein Buch! Von Dir! Zuallererst habe ich Dein Foto betrachtet und mich in Dein Gesicht verliebt. Du strahlst mir da als der Mann entgegen, den ich gesucht habe, seit ich denken kann. Natürlich fürchte ich, daß ich mich in etwas verrannt habe: zu weit weitergedacht. So weit gedacht, daß ich Dich zu lieben begonnen habe. Übrigens: Das Foto, über das wir im Chat gesprochen haben, ist uninteressant geworden.
Und dann Dein Buch. Habe es verschlungen, bewundere unendlich Deine Fähigkeiten, Deine Kenntnisse und nicht zuletzt Deinen Mut. Es muß die Welt aufrütteln und ich kann mir vorstellen, daß es auch Deine Welt in Bewegung versetzt hat.
Ja, da stehe ich nun und kann nicht anders…
Gruß Andrea‘
‚In Bewegung versetzt..‘? Nein, in die Enge getrieben. In ein Mauseloch ohne Notausgang. Keine Maus würde sich so eingraben.
Mit Andrea’s Liebeserklärung kann er rein gar nichts anfangen, was soll das? Dachte sie, er hätte bisher in seinem Dasein nur auf sie hingelebt? Liebe!
Das war es jetzt also mit seinem suchthaften Erotik-Chat. Schluß, noch nicht einmal eine Erklärung.
Nun muß er sich ernsthaft überlegen, womit er seinen Tagen einen Sinn verleihen kann.
Schreiben! Immer und immer wieder, aber vielleicht anderes?
Und, als er eine Sensibilität für sich selbst entwickelt und sich hineinhört, beginnt er zu träumen, lebhaft und voller Bilder, archaisch und farbensprühend. Dort sieht er klar die Zusammenhänge, die Meridiane seines Lebens, aber auch die Winkelzüge, mit denen er sich selbst zum Stolpern gebracht hat, die Fallen, die er gebastelt hat und die jetzt zugeschnappt sind. Der Frank seiner Träume hat sein altes Gesicht, das neue ist ein Alptraum. Das hätte alles nicht passieren dürfen. Welchen Anteil hatte er selbst an dieser Tragödie? Und wohin führt ihn sein Lebensweg? Ist dieser Faden noch zu entwirren?
Aber: So ist es nun. Der Blick zurück macht keinen Sinn, er muß vorwärtsschauen.
Den Artikel hat er fertiggestellt; er hat mit äusserster journalistischer Sorgfalt gearbeitet. Die Arbeit daran erfüllte sein Dasein wieder mit Sinn.
Über den Beamten schickt er den verschlossenen Umschlag an seinen im Internet wiedergefundenen Freund. Dieser hatte ihm zugesichert, dass ihm ein Weg einfallen würde, den Artikel adäquat unterzubringen.
Er wird nun nichts mehr mitbekommen, keine Reaktionen auf sein Schreiben und hoffentlich auch keine Racheaktion der N’drangheta.
Frank fühlt sich jetzt leer. Es kommt ihm vor, als habe er die letzte Liane gekappt, die ihn noch mit der Realität verbunden hat, als schwebe er nun im luftleeren Raum. No present, no future.
Er bittet um einen Traum, der ihm seine Zukunft zeigt.
In den nächsten Tagen steht der Computer nicht mehr still. Er läuft heiß in der Erwartung eines Lebenszeichens von Frank.
Als eine Woche ohne Nachricht vergangen ist, dämmert Andrea, daß sie von ihm nichts mehr hören wird.
Zuerst ist sie besorgt, daß ihm etwas passiert sein, daß die Mafia ihn gefunden und liquidiert haben könnte.
Nach Tagen des panischen Schreckens und des Gefühls, mit einem todbringenden Schicksal verbunden zu sein, kommt langsam der Gedanke an die Oberfläche, daß er den Kontakt zu ihr bewusst abgebrochen hat. Sie denkt und denkt darüber nach, sie kaut und kaut darauf herum wie auf einer alten Speckschwarte. Sie gibt sich selbst die Schuld, grübelt nachts in dunklen Gefilden herum, hadert mit ihrem Schicksal.
Mit der Zeit hebt sich in ihrem Geist klar das Gebilde eines Zusammenhangs ab:
Auch wenn keiner von „ihren Männern“ den Mut und die Bereitschaft zur Analyse aufgebracht hatte, kommt sie darauf:
Alle ihre plötzlich und abrupt von ihnen beendeten Beziehungen waren reine Oberflächlichkeit. Sie sind an ihrem Gesicht abgeprallt, dieser harten Narbenplatte ohne Seelenausdruck und Leben; und auch ihre Regungen konnten über die Barriere dieses Gesichts nie hinaus. Sie kann nicht mehr nonverbal mit ihrer Umgebung kommunizieren, und alle Worte helfen nicht über diesen „eisernen Vorhang“ hinweg.
Vielleicht wäre es gut, sie könnte sich verschleiern. Unser Kulturkreis schaut aber mit Missachtung auf den Schleier. Über diese Gnade sind wir längst hinaus. Wir tragen unser Gesicht zu Markte.
Ihr dämmert weiterhin, daß sich an dieser Tatsache nie mehr etwas ändern wird. Im Gegenteil: Mit wachsendem Alter wird eine immer größere Lücke klaffen zwischen ihrem Gesicht und ihrem Wesen. Sie kann diese Larve nie mehr ablegen, nicht mehr entwickeln. Sie wird als alte und weise Frau für immer von diesem schönen, jungen und leeren Gesicht gefesselt sein, sie wird das ewige Sexualobjekt sein.
Frank kommt sich vor wie ein Unmensch. In seinem ganzen Leben ist es noch nie passiert, daß er eine Beziehung abgebrochen hat, ohne der Frau Respekt zu zollen und genau die Gründe für seine Entscheidung darzulegen. Er war und ist sogar umgekehrt der Ansicht, daß das Graben nach den Gründen auch ihm weiterhilft.
Aber dieses Mal legt er den Offenbarungseid ab. Es ist zu schmerzlich für ihn, sich selbst einzugestehen, daß er Andrea mißbraucht hat, um für Augenblicke aus seiner Langeweile auszubrechen. Diese Sucht, woher ist sie gekommen?
Am Anfang stand die Begeisterung, sich als Journalist weiterzuentwickeln und sich an das Schreiben eines Sachbuches zu machen.
Sein Leben – der selbstbestimmte und der schicksalshafte Teil – hatte ihn nach Italien, nach Kalabrien geführt. Dort hatte er mit dem Interesse und der Neugier des Reporters die Zustände betrachtet und beobachtet. Seine politische Einstellung hatte ihn dafür sensibilisiert, daß an diesen Machtzuständen etwas geändert werden muß. Er hat sich nichts anderes dabei gedacht und sein Buch geschrieben. Eine zugleich bewußte und schicksalshafte Entscheidung. Dieses Geschick hat ihn völlig umgemodelt, im wahrsten Sinne. Seine Helfershelfer sind die N’drangheta und die Gesichtschirurgen.
Und nun ist er in der Isolation, dem tödlichsten Zustand, in dem sich ein Journalist befinden kann; versteht er sich doch als Bindeglied zwischen der großen weiten Welt und der heimatlichen Sphäre. Ihm wird bewußt, daß der Reichtum seiner inneren Welten nicht ausreicht, um hier eine Brücke zu äußeren Welt zu schlagen und einen Roman zu schreiben. Diese Brücke wäre zugleich seine Leitplanke in die Zukunft, sie würde ihn vor dem Absturz bewahren.
Diese Erkenntnis schlägt ihm vollends vor den Kopf, direkt auf sein neues Gesicht, mit dem er sich nicht hat anfreunden können.
Andrea geht müde zum Briefkasten; was soll sie schon erwarten, vielleicht Rechnungen. Das wahre, ihr verbleibende Leben geht im Internet ab, so hat sie jedenfalls gestern noch gedacht.
Hartmut schreibt ihr. Habe doch bei ihm alles bezahlt, denkt sie.
Der Brief hat einen unerwarteten Inhalt:
‚Liebe Andrea!
Habe von der Internationalen Gesellschaft für plastische Operationen eine Anfrage bekommen: Auf den diesjährigen Jahreskongreß in Sharm el Sheikh sollen erstmals Patienten eingeladen werden, die sich einer plastischen Operation unterzogen haben. Das ist eine einmalige Gelegenheit, Deine positiven Ergebnisse vor einem wissenschaftlichen Weltpublikum vorzustellen.
Wäre Dir dankbar, wenn Du einverstanden wärst, daran teilzunehmen.
Bitte melde Dich vor dem Monatsende, damit ich die notwendigen organisatorischen Schritte in die Wege leiten kann.
Vielen Dank und freundliche Grüße
Hartmut‘
Andrea ist überwältigt. Natürlich wird sie sich dort präsentieren. Sofort ruft sie in Hartmut’s Praxis an:
„Guten Morgen, hier Susemihl.“
„Frau Mihl, guten Morgen. Moment, ich suche Ihre Karte: Suse Mihl? Mihl mit h?“
„Susemihl am Stück und mit h. Man gönnt sich ja sonst nichts.“
„Habe notiert: Sausemehl.“
*
Der Beamte bringt Post mit. Die Post, die noch an seine alte Adresse ging, dorthin, wo Nena und Biggy wohnen.
Viel Werbung ist dabei und ein Schreiben:
‚Sehr geehrter Herr Sturz,
leider haben Sie sich nicht mehr zur Nachuntersuchung bei mir vorgestellt.
Ich hoffe also, daß Sie mit dem Operationsergebnis zufrieden sind.
Weltweit ist bei medizinischen Fachkongressen eine Entwicklung zu verzeichnen: Der Patient wird zunehmend mit einbezogen.
Beim bevorstehenden Weltkongreß für plastische Chirurgie und plastische Operationen wird erstmals ein Vormittag den face changing-Operationen als eigenem Themenkreis gewidmet. Da wir in diesem Rahmen Ihren Fall vorstellen wollen, möchte ich Sie zur Teilnahme an dieser Präsentation einladen.
Einzelheiten werde ich Ihnen nach Ihrer Zusage mitteilen.
Mit freundlichem Gruß
Dr. Bernd Schlagintweit‘
Frank ist verdutzt. Er hat nicht übel Lust, seiner Misere für ein paar Tage zu entkommen. Natürlich sagt er ja.
Äusserste Diskretion, Polizeischutz bis zur Maschine auf dem Rollfeld und Begleitung durch einen Beamten bis nach und in Sharm el Sheikh wird ihm zugesagt.
*
Jil hat einen Termin zur Nachuntersuchung bei ihrem Operateur. Er schaut sich die operierte Brust an und ist sehr zufrieden.
„Das ist ja ein wunderbar ästhetisches Ergebnis. Die anschließende Therapie ist ja nun auch fast abgeschlossen. Ich kann Sie also in die Weiterbehandlung zu Ihrer niedergelassenen Gynäkologin entlassen.
Eine Frage, fast eine Bitte, hätte ich noch:
Ich hatte in der Vorbesprechung ja schon gesagt, daß ich eine neue Operationstechnik entwickelt habe, die bessere ästhetische Ergebnisse liefert und weniger Infektionen und Narbenzüge produziert. Da in der Medizin viel Wert auf evidence based-Vorgehen gelegt wird, ist es immens schwer, etwas Neues zu etablieren.
Lange hat es gedauert, bis ich meinen Chef von meiner neuen Operationstechnik überzeugt hatte.
Nun bin ich auf einen internationalen Kongreß eingeladen worden, bei dem ich meine Technik vorstellen kann und wo erstmalig die Präsentation von Patienten vorgesehen ist. Ich kann Ihnen die Unterlagen mitgeben. Ich würde Sie dort gerne vorstellen – wie Sie wissen, sind wir einem weltumspannenden Netz von Brustzentren angeschlossen, dort werden Ergebnisse und auch Problemfälle vorgestellt, um Erfahrungen auszutauschen. Sie haben eine Woche Bedenkzeit, die Auslagen werden von uns übernommen. Rufen Sie mich an.“
Jil hat sich zwar noch immer nicht mit ihrem Implantat angefreundet. Sie denkt deshalb nicht unbedingt nur positiv darüber.
Die ganze Brust ist unter der Chemotherapie und unter der Bestrahlung nicht zur Ruhe gekommen; sie ist immer noch heiß und prall, auch das Gefühl ist im Narbenbereich und an der Brustwarze noch nicht wieder zurückgekehrt. Sie schmerzt auch noch leicht. Optisch steht die Brust mit dem Implantat da, wie eine Eins, aber etwas größer als die gesunde. Bleistifttest positiv. Die andere ‚stinkt dagegen ab‘. Im Stehen geht es noch, aber im Liegen..... Beim Liebemachen ist ihr Mann sehr vorsichtig und rührt die neue Brust nicht an. Jil wird abwarten, wie sich die Lage entwickelt, wenn die Therapien ausgestanden sind. Sie hofft, daß sich keine Verhärtung durch Kapselfibrose bildet. Kosmetisch wird man dann sehen, ob etwas korrigiert werden muß. Sie ist eher dagegen. Vielleicht läßt ja mit dem Alter die Eitelkeit nach. Und da ist immer noch der Gedanke: Vielleicht erlebe ich es nicht mehr.
Trotzdem findet Jil die Idee, an dem Kongreß teilzunehmen, sehr ansprechend. So kommt sie doch einmal aus ihrem Nest heraus, wo ihr mittlerweile fast das Dach auf den Kopf fällt. Sie ist wieder unter Kollegen. Sie hört die neuesten Erkenntnisse über die Krankheit, die sie auf das andere Ufer geschleudert hat. Und sie kann mitarbeiten an der Etablierung einer neuen Operationstechnik.
Sie sagt zu.
Aus den mitgegebenen Unterlagen erfährt sie:
‚Kongreß für plastische Chirurgie und plastische Operationen – Wiederherstellungschirurgie - Implantologie - dekorative Chirurgie - face changing in Sharm el Sheikh‘
Ein Verkehrsflugzeug ist beim Anflug auf den Flughafen Sharm el Sheikh aus ungeklärter Ursache abgestürzt.
Die Behörden gehen jeder denkbaren Absturzursache nach; neben menschlichem oder technischem Versagen ist auch ein terroristischer Hintergrund nicht auszuschließen, ebenso wenig wie eine Vergeltungsaktion aus Kreisen der Mafia.
Der Flugschreiber mit der Aufzeichnung der Flugparameter, des Funkverkehrs, sowie der Gespräche und Geräusche im Cockpit, wurde mittlerweile von den Rettungsmannschaften gefunden.
Von den an Bord befindlichen 183 Menschen hat keiner das Unglück überlebt. Unter den Passagieren waren auch vier Deutsche. Das Auswärtige Amt hat eine Notfallnummer geschaltet.
Der Tod ist groß.
Wir sind die Seinen
lachenden Munds.
Wenn wir uns mitten im Leben meinen,
wagt er zu weinen
mitten in uns.
(Rainer Maria Rilke)
Texte: Copyright bei Cecilia Troncho
Bildmaterialien: Cover Gert Binder Collage aus Sandro Botticelli
Tag der Veröffentlichung: 31.10.2009
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
gewidmet den Meistern der Missachtung