Wer Ohren hat, zu hören, der höre;
wer Augen hat, zu sehen, der lese.
Ich sitze auf meinem Belvedere und schaue auf das stahlblaue Mittelmeer. Jeder fühlt, sobald er die Augen schließt und sich diese Farbe des Meeres vorstellt, daß die Sonne scheint und der Himmel, ohne jegliche Wolke, sich in einem etwas helleren, lichtdurchfluteten Azurblau ausspannt, das zum Horizont hin weißlich verschwimmt.
Der Horizont: eine leicht gewölbte, scharfe Kante und der stahlblaue Spiegel des Wassers.
Miramare: schau das Meer an.
Das Meer: von hier aus gesehen glatt, kühl, unendlich. Ein Auge, das in den Kosmos blickt, selbst ein Universum bis in’s Kleinste, ein Mikrokosmos. Die Ursuppe, aus der das Leben an das Land stieg, dessen Wesen das Meer, sein Wasser mit seinen Salzen und der Sauerstoff-Bindungsfähigkeit in seinen Blutgefäßen mitnahmen.
Dieses unser inneres Meer wird vom Puls angetrieben und schlägt an jegliches unserer Gestade.
Das große Meer wird vom Wind bewegt, von seinen Strömungen und der sich drehenden Erde an die Landschelfe geschleudert, von der Schwerkraft des Mondes angezogen und gehoben. Sonne und Mond durchleuchten es in seiner obersten Sphäre, aber schon nach wenigen Metern schluckt es die Farben Rot, Gelb und Grün aus dem Lichtspektrum und verweilt in einem immer tiefer und rätselhaft werdenden Blau. Einem gefährlichen, verführerischen Blau, dem Blau der tödlichen Tiefe.
Tauchen wir auf aus unseren Gedanken.
Schauen wir auf das Meer, so sehen wir, daß es trägt. Es trägt kleine Segelschiffe und große Containerschiffe, die wie eine schwimmende Straßenzeile aussehen. Am Abend zieht das Fährschiff, hell erleuchtet, zu den Inseln unter dem Horizont. Als Galileo beobachtete, daß die Masten der Segler langsam unter den Horizont verschwanden, folgerte er, daß die Erde keine Scheibe, sondern eine Kugel sei.
Das Meer vor meinen Augen trennt Europa von Nordafrika. Für einen Menschen unmöglich, von hier nach dort zu schwimmen. Das trennende Meer. Mit Hilfe von Booten und Schiffen wird es zum Bindeglied zwischen den Kontinenten. Gold, Silber, Edelsteine, Seide, fernöstliche Gewürze, Weihrauch, Sklaven werden über das Meer transportiert. Aus den armen Ländern suchen Menschen ihrem Schicksal zu entkommen und kaufen sich teuer einen Platz auf einem überladenen Seelenverkäufer; oft genug gehen sie unter.
Zu allen Zeiten wurden große Seekriege auf seinen Wassern ausgefochten, U-Boote versuchten einzudringen. Fremde Sprachen kamen über das Meer und hinterließen ihre Spuren in den Dialekten. Mit den Griechen kam ihre Musik, mit Hannibal seine Elefanten, mit den Mauren ihre Kunst und ihr Handwerk, ihre Poesie und ihre Religion.
Ein solches Hindernis, wie das Meer oder aber auch die Alpen, verbindet die Völker. Es fordert zu Einfallsreichtum auf, zur Entwicklung technischer Fähigkeiten, es regt zum Handel mit fremdartigen Gütern an.
Taucht man ab in dieses Meer, so taucht man ein in eine wunderbare Welt. Auf jedem Quadratzentimeter Leben in vollendeter Anpassung an den Lebensraum, oft Symbiosen; zwischen Tier und Bakterien, Tier und Pflanzenteilen in Form von chlorophyllhaltigen Zellen oder Nesselkapseln, Tieren unterschiedlichster Klassen und Arten.
Hier gibt es das lebenslange Zusammenwirken von Einsiedlerkrebs und Anemonen, die auf der vom Krebs bewohnten leeren Schneckenschale sitzen und bei jedem, durch sein Wachstum bedingten Schalenwechsel von ihm auf der alten Schale abgeholt und auf die neue gesetzt werden. Geisterkrabben leben in nesselnden Wachsrosen und sind dadurch geschützt. Putzerfische haben Stationen eingerichtet, zu denen ihre Kunden, die Fische, kommen, um sich putzen zu lassen; die Putzerfischchen ernähren sich davon. Nacktschnecken fressen Nesselkapseln von Pflanzen, transportieren sie intakt durch ihren Verdauungstrakt und durch ihr Gewebe und lagern sie in den Anhängseln auf ihrem Rücken ein, abschußbereit für den Fall, daß sie angegriffen werden. Seeigel finden die schönsten Muschel- und Schneckenschalen und laden sie sich auf: Tarnung oder Schmuck? Tintenfische bauen vor ihrer Höhle ganze Schmuckmauern auf aus Schalen von Muscheln, Schnecken und schönen Steinen: Schutz oder Ablenkung?
Soweit das Auge blickt, man sieht kein totes Tier: es wird sofort gefressen und damit wieder in den ewigen Kreislauf integriert. Ganze Gesellschaften verschiedener Spezies leben in den Seegraswiesen oder eingegraben im Sand, der wie eine Mondlandschaft daliegt und auf dem die Meister der Tarnung zu finden sind.
Das schöne, das liebliche Meer.
Aber plötzlich treten Strömungen auf und ziehen den Schwimmer hinaus. Wer mit den Wellen spielen wollte, wurde von ihnen erfaßt und an die Felsen geschleudert. Das wilde, das tödliche Meer, das Respekt einfordert. Es ist stärker als der Mensch.
Aus purem Zufall kamen sie zusammen, der Global player und das Universalgenie, beim Wasserabschlagen.
Mathematisch-geometrisch gesehen waren ihre Wasser-Parabeln vergleichbar: etwas hoch angesetzt, mit steilem Abfall.
Biologisch ähnliche Parameter hatten sie zudem: beide Rohre vergleichbar in Farbgebung, Größe, Umfang, Länge; eine und dieselbe Raumforderung
.„Welche Befreiung in einer Welt der Restriktionen!“
„Solange der Geist frei bleibt….“
„Man muß immer in die Zukunft blicken. Ich sehe vor mir: paradiesische Märkte…“
„Das Paradies als Markt?“
„….Massen von Konsumenten, billigen Arbeitskräften, Kindern.“
„Kindern?“
„Ja, die mit dem niedrigen Intelligenzquotienten.“
„Ach, übrigens: Die Würde des Menschen ist unantastbar.“
„Dagegen ist die Bürde umlastbar.“
„Wenn ich so etwas höre…“
„Allgemeingut des Denkens.“
„…fühle ich mich richtig schlecht.“
„Alles nur Ge-Fühle, Emotionen, die uns nichts bringen.“
„Ich werde auswandern.“
„Wohin?“
„China.“
„Unser Lieblingsglobalpartner.“
„Malediven.“
„Bald überschwemmt.“
„Südeuropa.“
„Tourismusverseucht.“
„Malle.“
„Das 17.deutsche Bundesland.“
„Domrep. Oder Ägypten.“
„Diktaturen, demokratiefreies Land.“
„Ach, gottseidank, ich vergaß: Ich bin ja längst gestorben, und vor meinem Tod hatte ich den Wunsch, alle hundertfünfzig Jahre noch einmal für einen Moment zur Erde zurückzukommen, um zu sehen, wie mein Ideal sich entwickelt. Salve!“
„Auweh!“
Es war einmal ein Individuum. Kein besonderes Individuum. Weder schön noch häßlich, weder reich noch arm, weder jung noch alt, weder gut noch schlecht. Es war stolz darauf, ein Individuum zu sein.
Die Werbung hatte es gelehrt, wie wichtig es ist, ein Individuum zu sein.
Ein Individuum muß immer darauf achten, sich von den anderen zu unterscheiden. Es hat den Komparativ für sich gepachtet: besser als, schöner als, angesehener als, beliebter als, geliebter..?
Und so war es immer darum bemüht, eine attraktive Schale zu haben, mit der es sich an der Umwelt reiben konnte. Das war zwar teuer, aber für ein Individuum gerade richtig: Man gönnt sich ja sonst nichts. Und weil es so an seiner Schale arbeitete und jeden Gedanken darauf verwendete, den Unterschied zu den anderen herauszuarbeiten, verlor es mit der Zeit immer mehr seine Seele.
Dinge wie: Mitleid, Empathie, Verständnis, Toleranz waren unangebracht und konnten das Individuum nur schwächen. Wichtig war ihm, daß es Biss zeigte, Durchsetzungsvermögen, Härte.
Sich die Butter nicht vom Brot nehmen zu lassen war die leichteste Übung. Bewußt zu belügen und zu betrügen war da schon die hohe Schule.
Immer weiter geriet es in den Haifischteich.
Mit der Zeit wuchsen ihm sofort Zähne nach, wenn es sich welche ausgebissen hatte. Es bekam kleine, strenge Augen und seine Mundwinkel strebten nach unten. Es war ruhelos und geriet immer häufiger in kollektiven Blutrausch.
Und ohne es zu bemerken, war es zum Egoisten mutiert.
Von nun an zog es allein durch die Welt. Es achtete peinlich genau darauf, nur ja nichts zu tun, was einem anderen nützen konnte.
Und weil es nicht der einzige Egoist auf der Welt war, mußte es heftig kämpfen, um seinen Platz zu verteidigen.
Vorbei die Tage, wo es als Individuum die Sonnenstrahlen genoß, jetzt waren harte Zeiten angebrochen, dunkle Wolken aufgezogen, der Wind pfiff eisig kalt.
Auf einem einsamen Spaziergang stürzte es und konnte nicht mehr aufstehen. Und obwohl viele Egoisten vorbeigingen, die sich um ihre eigenen Angelegenheiten kümmerten, erfror es jämmerlich und wurde erst im Frühling weggeräumt, als die Tage wärmer wurden und es zu stinken anfing.
Zum Beispiel das Wort: Umweltschutz. Vorsicht oder Rücksicht?
Hat man solche Sichten im ‚alten Europa‘, in Amerika?
Sind wir nun die Krone der Schöpfung? Wir haben uns die Erde untertan gemacht, rücksichtslos.
Und jetzt sind wir, wo wir sind: im Haifischteich, aus dem langsam das Wasser verschwindet.
Nimmt vielleicht die Natur Rücksicht? Kümmert sich ein Heuschreckenschwarm um die Sorgen der Bauern, deren Felder er verwüstet?
Wir sind ein Teil der Natur. Schert es einen Ölmulti, wem das Land gehört, auf dem er bohrt, wie es nachher aussieht?
Denkt ein kriegführendes Heer an den Wiederaufbau, bezahlt die Aggressor-Nation die Reparatur der Verwüstungen?
Umfließt ein Lavastrom die menschlichen Ansiedlungen?
Verschonen Meteoriten aus dem Weltall die Erde?
Wurden nicht Astronauten dem Glauben an die Technik, an die absolute Machbarkeit geopfert?
Ist nicht die Lehre von der Evolution ein schlagendes Argument für die Rücksichtslosigkeit? Der Stärkere siegt, die Menschheit entwickelt sich zurück.
Rücksicht! Vorwärtsschauen! Vorsicht?
Unsere Augen sind eine Ausstülpung unseres Gehirns in Richtung Außenwelt. Unsere Sicht der Dinge hat viel mit unserem Selbst zu tun.
Vorsicht, Rücksicht, Nachsicht – alles Ergebnisse von Denkprozessen, die sich der Welt mitteilen.
Die Augen sind ein Spiegel der Seele und der Umwelt. Machen wir so weiter, wie bisher, ohne nachzudenken, könnten unsere Augen sich einstülpen, sich in die dunklen Höhlen zurückziehen, nur noch auf uns selbst gerichtet schrumpfen und nicht mehr sichtbar sein. Vielleicht würden wir vorübergehend alle zu Zyklopen mit einem vor Empfindsamkeit schreienden einsamen Auge auf der Stirn, der Ausstülpung unseres dahinterliegenden Frontalhirns, dem Sitz von Ethik und Moral.
Ohne Augen brauchen wir keine Sonnenbrille mehr.
Das Gehirn, weitgehend unbenutzt und nutzlos, verkleinert sich, der Schädel flacht ab, die Stirn flieht. Unser Körper spart Material, das nicht mehr benötigt wird.
So ist die Natur, effektiv.
Fehlende Vorsicht ist dabei nur ein Problem des Einzelnen und löst ein Einzelschicksal.
Fehlt aber Rücksicht, so explodiert der Einzelne und die Gesellschaft implodiert.
Da wir Teil des Systems sind, das Leben heißt, ist unsere Pflicht Symbiose, Zusammenwirken. Nur die Lösung dieser Aufgabe gibt unserer Existenz Sinn und ist der Zweck unseres Hierseins.
Verlieren wir die Bereitschaft zur Rücksicht, werden wir zu einer Krebsgeschwulst - aus Zellen, die, wenn sie im Gewebe an die Nebenzelle stoßen, nicht mehr aufhören können zu wachsen und sich endlos aufblähen -, zu anarchischen Rambos, und gleiten in die Selbstzerstörung.
Nachsicht ist ein Privileg des Weisen, die höchste Stufe der Toleranz, die richtige Sicht auf den anderen, denn sie gibt ihm Raum zum Wachstum.
Was für schöne Aussichten. Wollen wir wirklich weiter augen- und hirnlos durch die Welt stolpern?
Anti und Ali sitzen am Stammtisch. Nach getaner Arbeit.
Anti ist mit sich und der Welt höchst zufrieden. Den lieben langen Tag hat er viel Zuspruch für sich und seines-gleichen gehört. Nun ist er fast sicher, daß er als Meßlatte für die Allgemeinheit gelten könnte. Gemein und allgemein.
Ali hingegen schaut sorgenvoll drein. Er ist zwar kein Türke – "so schlimm ist es noch nicht" -, aber Tag für Tag sieht er mehr seine Felle davonschwimmen. Sorgfältig ausgewählte, mit Kunst bearbeitete und höchst wertvolle und schöne Natur-Felle. Jammerschade.
„Wer will denn so etwas? Wer kann es sich leisten? Wer kann es beurteilen?“ So beginnt Anti das Resumé des Tages.
Ali stößt sich sofort an der Dumpfheit dieser Fragen. Aber er hat die Hoffnung noch nicht aufgegeben, daß man mit Überzeugungsarbeit einiges erreichen kann. Er spült also seinen Ärger mit einem Schluck Wein hinunter, den er während der Passage durch den Gaumen ordentlich schmatzend goutiert.
„Plastik knistert. In PVC schwitzt man. Und stinkt.“
Anti ist sprachlos, sollte er die letzte Aussage auf sich selbst beziehen? Er hebt sein Bierglas und nimmt einen langen Schluck.
„Aber man kann es leichter mit der Maschine waschen und trocknen. Eine Waschmaschine und einen Trockner hat doch heute jeder.“
Lange Pause, unterbrochen durch diesen oder jenen Schluck Wein beziehungsweise Bier.
„Geschmack hat nicht jeder.“
„Über Geschmack läßt sich nicht streiten.“
„Hm.“
„Was ist eigentlich ‚Geschmack‘? Mir schmeckt mein Wein, aber kein Bier, zu pappig, zu harntreibend, zu schwerfällig.“
„Darf’s noch was sein? Ich höre ‚Wein‘ und ‚Bier‘, jeder noch eins?“ Die Kellnerin ist aufmerksam geworden.
„Jetzt geh‘ ich erst mal raus, bin gleich wieder da.“
„Wenn du dich erleichtert hast, kannst du dir ja gleich ein Argument ausdenken.“
Die Kellnerin serviert. Dabei macht sie Ali schöne Augen. Kommt aber leider bei ihm nicht so gut an, ist nicht sein Typ, zu blondiert
.„Schön, diese Tulpe.“
Anti ist wieder da. Die Kellnerin ist geschmeichelt.
„Ich höre. Wir hatten’s vom Geschmack.“
„Geschmack hin, Geschmack her, bei mir muß es Wirkung zeigen. Der Effekt ist alles.“
„Wirkung, Effekt. Was ist das? Wo und bei wem?“
„Du kannst saublöd fragen. Was Wirkung ist, weiß man, normalerweise.“
„Schönheit wirkt auf jeden Fall an sich. Wert auch.“
Darauf einen Schluck.
„Ist mir, bei Licht besehen, etwas zu elitär.“
Die Bierzunge scheint schon etwas dick und schwer beweglich zu werden. Die Kellnerin dimmt die Saalbeleuchtung.
„Richtig, Elite. Eliten braucht das Land.“
„Wer schert sich um die paar elitären Einfaltspinsel? Die Masse macht’s.“
„Die Masse macht was?“
„Die Masse kauft, konsumiert, bestimmt den Markt, zahlt jeden Preis, schert sich nicht um Qualität.“
„Da haben wir’s“ sagt Ali und fühlt sich beim Namen genannt.
„Die Masse wird beeinflußt, instrumentalisiert, von Werbung verführt. ‚Das Kaufverhalten läßt zu wünschen übrig‘, ‚die Konsumfreudigkeit hat ihren Tiefststand erreicht‘, damit sind Leute wie du gemeint.“
„Da siehst du, was wir bewirken können. Wir haben es in der Hand. Du stehst recht alleine da.“
„Wir? Ich sehe nur einen dasitzen. Und ich stehe übrigens nicht, sondern sitze bei dir, damit du nicht so allein bist. Masse!“
Die Kellnerin reagiert prompt und bringt eine neue Lage. Sie zieht sich einen Stuhl herbei und setzt sich zu den Herren. „Stört es euch, wenn ich eine rauche?“
„Fühl dich wie zuhause.“ Anti überschlägt sich als Kavalier. Er hat schon lange ein Auge auf das Frollein geworfen.
Seine Antwort bahnt sich einen Weg in sein Zielorgan. In seinem Navi-Hirn gibt er ein: zuhause.
„Ein Scheißtag ist das heute, keine Kundschaft.“
„Jetzt mal nicht so schwarz sehen: Sind wir niemand?“
„Kommt auf das Trinkgeld an.“
Schon hat Anti eine Idee, wie er Eindruck machen kann.Das Wortgeplänkel entwickelt sich schwerfällig zwischen Schwarz und Grau.
Ali, der schon deprimiert hereingekommen war, fühlt sich durch den spritzigen Wein alles andere als erleichtert und leichtfüßig. Er beschließt, zuhause die Toilette zu besuchen – der Geruch nach Bierurin scheint ihm unerträglich. Er tritt ab.
Anti und die Kellnerin entwickeln ihr Tete-à-tete. Es endet am Zielpunkt: zuhause. Auf dem PVC-Fell vor dem Sofa. Anti legt sich heftig in’s Zeug und entwickelt auf dem Fake four eine solche Dynamik, daß es Wärme entwickelt und eine Stichflamme aussendet, die die ganze Pracht seiner Schamhaare im Bruchteil einer Sekunde versengt. Keiner weiß, wie groß der restliche Schaden ist.
„Halt! Das riecht nach verbranntem Fell! Naturfell.“
Zwei -täten: Qu-Anti- und Qu-Ali-.
In der Krebsklinik ist Abendprogramm. Alle, die sich für ein Gitarrenkonzert interessieren und mobil sind, sitzen auf den Stühlen im Speisesaal. Nicht allzu viele, aber gute Köpfe.Im doppelten Sinne: gute Köpfe und gute Gesichter.
Die Musik macht sie weich, sie genießen das Abtauchen in die Schönheit der Klänge. Mit den kaum wieder gesprossenen Haaren stolze, wie modelliert wirkende Amazonenköpfe. Beseeligte Mienen.
Alle sitzen im gleichen Boot, haben die Diagnose einer vielleicht tödlichen Krankheit entgegengenommen und die harte Therapie hinter sich gebracht. Haben dabei gelernt und am eigenen Leib gespürt, wie endlich unsere physische Existenz ist und wie wertvoll jede Minute des Lebens. Wie sinnlos eine schlecht verbrachte Minute ist. Wie schön das Leben ist und wie viele Facetten es hat, selbst wenn man schwerkrank und ohne Kraft ist.
J.S.Bach „O Haupt voll Blut und Wunden.“
Gezeichnet ist jede von ihnen, aber so schön, daß sich die Freunde wundern.
Alle haben verstanden, daß sie mit der Krankheit ein wichtiges Zeichen bekommen haben: Schau dir an, was in deinem Leben nicht stimmt. Und ändere es.
John Dowland: „The lowest trees have tops.“
Häufig entdecken sie die Liebe wieder. Und üben sie untereinander ein. Breiten wieder ein Lächeln über ihr Gesicht, strahlen.
John Dowland: „Flow my tears.“
Schwemmen schlechte Gedanken und Gefühle damit hinweg. Sie lernen, ‚nein‘ zu sagen. Fühlen sich ausge-zeichnet, sind ausgezeichnet. Das Leben ist ihnen wiedergeschenkt. Für die Zeit, die ihnen bleibt.
John Dowland: „Weep you no more, sad fountains.“
Die Krebsklinik ist eine Insel der Seeligen.
„Nur keinen Umstand“ sprach die Vorsteher-Sekretärin, „ich bin in anderen Umständen.“
Die Drüsen!
„Die Umstände erfordern, daß ich den Vorstand spreche.“
„Dann müssen Sie später vorsprechen, der Vorsteher spricht gerade selber über den Stand vor und nach dem aktuellen Überstand und ich hoffe sehr, er hat damit nicht die Nachsicht.“
„Verstehe.“
„Meine Umstände habe ich einem Umstand zu verdanken, der nicht einzigartig ist.“
„Pluralistisch also.“
„Mono, solo, vor allem aber: umständlich.“
„Sie vergessen zu bedenken: Ich bin bi.“
„Denke, Sie sind vor allem einfältig.“
„Einmalig, bi, dreifältig, vierschrötig.“
„Ein Schuß zuviel.“
„Kimme und Korn.“
„Herrschaftliches Horn.“
„Stehe ich im Vorstellbuch?“
„Ich stelle mir vor, Sie Gehörnter stehen im Umstandsbuch, körnig und eindeutig, die Vaterschaft wird eine königliche sein, vor allem, was die Alimente angeht.“
„Nieder mit dem König, ein Hoch dem Vorsteher und seiner Nachkommenschaft, und sei sie noch so teuer.“
„Ich liebe Sie.“
„Ich sie auch.“
Welchen Wunsch hat die Wünschelrute? Oder kann sie nur wünscheln und nicht wünschen?
Mit unseren Wünschen extrapolieren wir uns in die Zukunft. Sie geben uns die Illusion, daß hinter dem Horizont noch eine Zukunft auf uns wartet.
Woher kommen unsere Wünsche?
Als Kinder durften wir uns zu besonderen Tagen etwas wünschen, Weihnachten und der Geburtstag waren solche Gelegenheiten.
In Zeiten des Wirtschaftswunders, wo sich die Menschen wieder etwas leisten konnten, kamen dazu: Valentinstag, Muttertag, Nikolaus, Ostern. Die festen Feiertage darunter sind in den heutigen Zeiten zum Konsumzwang degeneriert, die Werbung tut ein Übriges.
Heute, da wir alles haben, werden Wünsche künstlich provoziert von der Industrie, die uns als Konsumenten braucht und uns Konsumenten, haben wir einmal ange-bissen und nicht nachgedacht, um den Bart streicht - mittels der psychologischen Tricks der Werbeindustrie, die angefüttert ist und uns anfüttert; die ihrerseits fallen-gelassen wird und uns die Angst vermittelt, daß es mit uns genau so geht.
Das System muß am Laufen gehalten, seine Reibungsverluste müssen kompensiert und übertrumpft werden.
Wie oft sind wir mit einem Gefühl des Triumphes aus dem Sommerschlußverkauf heimgekehrt mit unseren Schnäppchen, die sich nach einer Minute des Verschnaufens als schlaffe Lappen mit schlechten Nähten herausgestellt haben, die uns nicht einmal passen? Die wir nicht brauchen und nicht brauchen können. Für die in unserem Schrank und in unserem Leben kein Platz ist.
Welch ein mieses Gefühl des Betrugs, des Selbstbetrugs im schlimmsten Falle!
Oder all die Geräte, ohne die wir nicht mehr leben zu können glauben: Apfelschneider, Eierkocher, Ananasschäler, Pommesfräsen, Eierharfe, Birnenspalter, Spargeltopf, Tupperschalen, Eianstecher, Brotschneider, Kiwimesser, Eisportionierer, Schlüsselanhänger, Handyschmuckkettchen, Taucherschmuck. Und was, wenn Haifische sich vom Geglitzer gestört fühlen und angreifen?
Recht haben sie. Kaum sind wir darauf hereingefallen und haben sie nachhause geschleppt, schon erhebt sich die Frage: wohin damit?
Fünfzehn Paar Schuhe, zwanzig Strumpfhosen in unmöglichen Farben – oft erinnern wir uns nicht einmal mehr, was da in unseren Regalen und Schubladen schlummert. Und kaufen uns dasselbe Modell ein zweites Mal.
Wir brauchen einen neuen Schrank.
Spätestens, wenn die Schränke überquellen und uns zu ersticken drohen, sollte wenigstens der Selbsterhal-tungstrieb einsetzen, wenn wir schon nicht mehr nachdenken können.
Die einzigen Wünsche, die wir uns und anderen erfüllen sollten, sind: Ein besserer Mensch zu werden, mehr und besser miteinander umgehen zu lernen, das Ego in die Grenzen zu weisen, unabhängig von Dingen zu werden, den Verführungen des Materiellen zu widerstehen.
Und am Ende unseres Lebens wunschlos zu sein. Und damit souverän und voller Würde.
„Darf ich Ihre Toilette benützen?“
„Bitte, aber ich lasse mich nicht gerne benutzen.“
„Sie sind ja auch keine Toilette.“
„Danke.“
Benützen und benutzen. Benützen heißt, ein Ding gemäß seinem Zweck zu nutzen. Benutzen kann man auch Menschen, und zwar zu einem Zweck, der einem selber nützlich scheint. Und der manchmal den Anderen ausnutzt, entgegen seinem Wohl und Willen.
Nützlich und nutzlos.
Eines klingt positiv, das andere negativ, beides möchte man nicht freiwillig gewesen sein.
Unnütz führt auch zu nichts.
Was wir nutzen können und öfter benutzen sollten, ist das Nutzungsrecht unseres Unterscheidungsvermögens. Ein wirklich politisches Vermögen. Ein Reichtum, der uns aus der allgemeinen Nützlichkeit heraushebt. Damit werden wir zu Handelnden und entscheiden selbst, ob wir konsumieren wollen, uns Wünsche einflüstern, aufzwängen lassen, berechenbar werden. Ob wir weiterhin der Schleim sein wollen, der das System am Durchdrehen hält, wenn’s sein muß bis in den Abgrund.
Es war einmal ein älterer Herr. Er hieß Brief. Er hatte die wundervolle Fähigkeit, in aller Ruhe und Gediegenheit über seine Gedanken nachzusinnen und diese dann, in vollendeter Form, auf das Papier zu bringen. Dabei war es unerheblich, ob der Inhalt seines Schreibens eine Kündigung war, ein Liebesbrief, ein Trennungsbrief, eine detaillierte Beschreibung seines Wohlergehens oder seines Seelenzustandes oder ein Abtauchen in seine Gefühlswelt mit dem Bedürfnis, das dort Aufgespürte mitzuteilen.
Zu seiner Zeit gab es wunderbares Papier, auf das er – meist in perfekter Handschrift – das Mitteilenswerte schrieb, um es dann in einen seidenpapiergefütterten Umschlag desselben Papiers zu stecken.
Die Adresse war ein Gesamtkunstwerk der Kalligraphie.
Manchmal hatte er schon parfümierte Briefe zurückerhalten. Es waren schon sorgsam gepreßte vierblättrige Kleeblätter und Veilchen herausgefallen, die ihren Duft noch nicht eingebüßt hatten. Einmal hatte er sogar ein getrocknetes Edelweiß in der papieren Hülle erhalten, die ihn bei der Lektüre in die majestätische Bergwelt entführte und ihn den Duft der Bergwiesen, das Rauschen der Bäche und das Zwitschern der Vögel miterleben ließ; er meinte sogar, den Wind durch die Haare streichen zu fühlen.
Das Gute war, daß so ein Brief ein ausgereiftes, sprachlich ausgefeiltes kleines Kunstwerk war, auf dessen Aussagen man sich verlassen konnte. Es gab lange Beschreibungen komplexer Zusammenhänge, aber auch handlungsreiche Prosa und farbige Lyrik mit und ohne Reim.
Man konnte sich Stunden und Tage damit beschäftigen, die Gedanken zur Reife kommen lassen und sie dann keltern wie alten Wein.
So hatte ein Brief zuweilen seine Jahresringe, und man konnte zwischen ihnen die Güte der Zeit ablesen, die sich in ihnen ausdrückte: war sie fett, war sie mager?
Ein solcher Brief war voller Farben. Der Schreiber konnte, wenn er sich Zeit ließ und ihn immer wieder vornahm, die Entwicklung seiner eigenen Gedanken und Gefühle entdecken. Die Zeit als Katalysator erleben. Überhaupt war ein Brief ein zeitgeprägtes und dadurch zeitlos gewordenes Schreibstück; bei seinem Verfassen wurde bedacht, daß er einige Tage würde reisen müssen, um beim Adressaten anzukommen – der Inhalt mußte also noch im Augenblick des Lesens Bestand haben. Spontaneität konnte erreicht werden, indem man den Stil änderte: kürzere Sätze beschleunigten das Gesagte. Dagegen nahmen längere, verschachtelte Sätze einen mit auf eine Bootsfahrt auf dem ruhigen Orcus.
Ein Brief hatte Stil.
Ich sage: ‚hatte‘, weil Herr Brief heute in Agonie liegt.
Allenfalls Kündigungen und Verträge, die der schriftlichen Form bedürfen, um rechtlich relevant zu sein, werden noch als Brief verfaßt.
Damit ist schon alles gesagt: in rechtlich relevanter Form. Knapp, präzise, in einer Sprache, die oft genug aufstößt und grammatikalisch fragwürdig ist, mit Worten, die zu Hülsen mutiert sind.
Was ist aus den Gefühlen, den Düften und Farben geworden? Gibt es sie noch, werden sie noch mitgeteilt?
E.Mail ist der Enkel von Herrn Brief. Sein Nachfolger. Er steht voll im Saft, hat die Kinderkrankheiten hinter sich, ebenso wie harte Virus-Attacken und Wurmbefall. Trojaner haben ihm zugesetzt, Legionen von Hackern lauern ihm auf. Ein tougher Bursche. Elektronisch, prompt, spontan.
Wenigstens wird in emails noch geschrieben, mit Punkt und Komma – was uns aus dem Schnabel, so wie er uns gewachsen ist, quellen will, wird wenigstens noch durch das gegenüber dem Sprechen zeitaufwendigere Schreiben gefiltert.
Andererseits ist keine Zeit zum Feilen am Ausdruck, zur Suche nach dem richtigen Wort.
Und so stolpern die Finger auf der Tastatur nur noch dem vulgären Schnabel hinterher und formen auf die Schnelle Worte, die man einem Brief niemals anvertraut hätte. Die Sätze schießen mit prägnanter Kürze in den virtuellen Raum und kommen, fast zeitgleich mit dem Abheben der Finger von der Tastatur, auch schon an. Nichts mehr zu korrigieren, auszuradieren, wiedergutzumachen. Die herrliche Spontaneität und beleidigende Ehrlichkeit sind für immer im Web und nicht mehr zurückzunehmen, zu spezifizieren, abzuschwächen, richtigzustellen.
Auf diese Weise häuft sich eine immer größere Menge Müll aus Gedanken und Geschriebenem im virtuellen Raum an, ähnlich wie der Schrott im Weltraum um unsere Erde.
Was, wenn das Schlechte das Gute überdauert, verdrängt, auflöst?
Man könnte den Eindruck gewinnen, das Negative hat eine längere Lebensdauer, eine Halbwertszeit, die den radioaktiven Substanzen nahekommt.
Und was ist mit der pubertierenden Esse Mess? Fräulein Mess. SMS, eine Domäne der jungen Mädchen. Lady Schnellfinger. Auf jedem Handy ist ein Wörterbuch vorprogrammiert, das eine Beurteilung der spirituellen Armut dieser Kommunikationsform erlaubt, in Anlehnung an den Grundwortschatz von rund dreihundert Worten, der landläufig ausreichen soll, um seinen Grundbedarf zu stillen, sofern dieser sich in Essen, Schlafen, Arbeiten, Fernsehen und Ficken erschöpft. So erschöpfend wie langweilig.
Die Sprache voller amerikanischer Ausdrücke und Abkürzungen, platter deutscher Werbesprüche - Ausdruck der Allmacht der Psychologie der Werbung - und achtlos hingerotzter, oft auch falsch gebrauchter Worte oder gar Wörter aus dem ehemaligen Schatz unserer Sprache.
Auffällig ist auch, daß für beide modernen Systeme der schriftlichen Kommunikation eine nicht gerade billige Grundausstattung an elektronischem Gerät notwendig ist. Diese Computer und Handys haben durch die rasante Entwicklung der Elektronik eine sehr kurze Halbwertszeit und daher einen hohen Erneuerungsbedarf, zumal Handys geradezu zu Statussymbolen avanciert sind.
Was man hat, das zeigt man, und die privatesten Dinge werden unbekümmert in die Welt posaunt oder geschossen.
Und doch ist in Japan die Kunstform des SMS-Romans entstanden. Die zeitgenössische Form von Choderlos de Laclos? Liaisons dangereuses? Dem Volks auf’s Maul geschaut und Literatur produziert?
Viele Fragezeichen.
„Ich bin ein Dackel“ sagte das Windspiel. „Ein Kraushaar, curley“.
Und hatte damit nur teilweise gelogen.
Es stand in diesem Augenblick vor seinem Finanzbeamten, der des Windspiels Steuererklärung durchforstete und der, da er in seiner Freizeit in seinem ihn finanziell langsam überfordernden und wildschweinverseuchten Revier unterwegs war, sehr wohl vom Jagdwert eines Dackels überzeugt war. Wohlgemerkt nicht gegen Wildschweine.
Bei der saugfingerunterstützen Prüfung der eingereichten Steuererklärungsformulare hatte der Jäger-Beamte diverse Punkte gefunden und mit dem Finger aufgezeigt, wo das Windspiel noch etwas hätte für sich gutmachen können. Falls es vor diesem Termin und dem damit verbundenen Offenbarungseid darauf gekommen wäre.
Jetzt war es zu spät.
Sein Jagdinstinkt machte den Finanzbeamten zum Winner, das Gejammere vom ‚Freund und Helfer‘ ging ihm schon lange auf die Nerven.
„Vielleicht sind Sie ja auch ein Wildschwein, oder gar eine Wildsau.“
„Ich bin ein das.“
„Was?“
„Ein Neutrum. D a s Windspiel.“
Schon wieder gelogen, das Windspiel war weder kastriert noch sterilisiert. Ein Blick des Kenners zwischen seine Hinterläufe hätte genügt, um es zuzuordnen. Der Finanzbeamte war kein Kenner.
„Sehen Sie, das ist es eben: Ich habe auf die Anschaffung von geschlechtsverhehlenden Unterhosen verzichtet, die ich ja hätte absetzen können. Nicht als Werbungskosten, sondern als das Gegenteil.“
„Das Gegenteil gibt es nicht.“
„Das Tragen von solchen Unterhosen ist nicht zu billigender Nachteil, eine Erschwernis, denn es verhüllt meinen wichtigsten Wettbewerbsvorteil und unterstützt die Pilzpopulation.“
„Damit unterstützt sie das Gesundheitswesen und die Pharmaindustrie.“
„Aber sie schadet der Solidargemeinschaft.“
„Pilzpopulation, Solidargemeinschaft! Hätte nie gehört, daß die ihrer Steuerpflicht nachkommen.“
Damit hatte der Finanzbeamte gelogen, denn die Mitglieder der Solidargemeinschaft zahlten sogar mehrfach Steuern: zuerst Lohn- bzw. Einkommenssteuer, dann Mehrwert-, gleichzeitig Mineralöl- und Versicherungssteuer, wenn es sein mußte Luxussteuer, dann Steuer auf die Rente und am Ende Erbschaftssteuer.
„Dackel sind in der Hundesteuer in einer niedrigeren Stufe,“ nahm das Windspiel das Gespräch wieder auf.
„Da ich – wie Sie sehen – ein Dackel war, muß ich heruntergestuft werden.“
„Wie ich sehe?“
„Haben Sie die Brille mit der richtigen Stärke auf der Nase? Wann waren Sie das letzte Mal beim Augenarzt?“
„Geht Sie nichts an, kann ich mir nicht leisten.“
„Meine Beine versagen mir ihren Dienst, sie brechen langsam zusammen. Meine Beinhöhe hat, seit ich hier vor Ihnen stehe, die eines Dackels erreicht. Lügen und Dackel haben kurze Beine. So wie ich.“
„Für die Einstufung ist die Augenhöhe ausschlaggebend.“
„Wie Sie sehen, habe ich gar keine Augen.“
„Darf ich mal?“
„Finger weg, unterstehen Sie sich, das ist Nötigung.“
„Wie Sie meinen, dann muß ich Augenmaß anwenden.“
„Dafür sind Sie noch zu jung, ich zweifle an Ihrer Erfahrung. Auch wenn Sie es nicht glauben werden, ich war in meiner Jugend Finanzbeamter, lange her.“
„Lügen Sie nicht so schamlos.“
„Man tut, was man kann. Überleben wird nur der Clevere.“
„Es lebe die freie Marktwirtschaft!“
„Ganz davon abgesehen, war ich auch einmal Philosoph. Kennen Sie das Buch: ‚Philosophie der Lüge. Ein erkenntnistheoretischer Ansatz unter besonderer Berücksichtigung der Postmoderne‘? Ist von mir.“
„Sie sind also Fach-Mann.“
„Ich bin allenfalls Fach-Es.“
„Wenn Sie so weitermachen, sehe ich mich gezwungen, Sie aufzufordern, das Bein zu heben.“
„Wie gesagt: Im Lügen macht mir keiner was vor.“
„Haben Sie eine Ahnung! Darin bin ich nun wieder Fachmann.“
„Stelle Ihre Geschlechtszuordnung in keinster Weise in Frage. Sie müssen es nicht immer betonen. Könnte Ihnen sonst Sexismus vorwerfen.“
Dem Finanzbeamten bricht allmählich der Schweiß aus. Auch der Fingerschweiß. Da er das ausgefüllte Formular fest im Griff hat, wird es langsam naß und nässer.
Am Ende sind die Eintragungen des Windspiels, die zugegebenermaßen dackelhaftehrlich waren, nicht mehr zu entziffern und als Dokument nicht mehr zu gebrauchen.
Damit hat der Meisterlügner sein Ziel erreicht und kann nun ein neues, diesmal verlogeneres Formular ausfüllen.
>Wir wissen nichts von diesem Hingehn, das nicht mit uns teilt.< (R.M.Rilke)
Wir kommen auf die Welt in der Gewissheit, sterben zu müssen.
Wir wachsen auf und denken nicht daran.
Wir gehen zur Schule und bereiten uns auf das Leben vor.
Wir durchlaufen die Pubertät und denken nur an Jungs oder Mädchen.Wir studieren und denken nur an die Prüfungen und den Abschluß.
Wir arbeiten und haben nur die Karriere im Blick.
Wir heiraten und gründen eine Familie.
Wir funktionieren.
Unser anfangs weiter Blick engt sich immer mehr ein.
Von dem natürlichen Ende des Lebens bekommen wir nicht viel mit. Natürlich ist einer unserer Schulkameraden bei einem Verkehrsunfall um’s Leben gekommen und hat uns mit dem Gefühl der Schicksalshaftigkeit, Sinnlosigkeit und Traurigkeit zurückgelassen. Er hat uns eine kurze Zeit lang gefehlt.
Später, in der Abitursklasse, hat sich unsere schwangere Mitschülerin umgebracht; sie war die klügste unter allen und ist mit dem bunten Leben nicht klargekommen. Ihr Platz in der Klasse blieb bis zum Schuljahresende leer.
Ein Onkel ist am Schlaganfall gestorben, eine Tante am Brustkrebs, beide im Krankenhaus unter den Händen der Fachleute für’s Leben und Sterben. Von ihnen kamen keine Weihnachtsgeschenke mehr. Bei den Familientreffen gab es weniger zu lachen, denn sie waren immer die lustigsten gewesen.
Aber es ist alles im Verborgenen vor sich gegangen. Wir haben diesen natürlichen Vorgang aus der Hand gegeben, an Spezialisten ausgelagert, die ihn professionell betreuen.
So haben wir keine Erfahrung damit und so macht uns das Sterben Angst. Ein Buch mit sieben Siegeln: Wie läuft das Sterben ab? Wie fühlt es sich an? Tut es weh? Ist es schwer? Traurig ja, für die Überlebenden. Ist es endgültig? Kommt danach noch etwas? Wo bleibt die Person, die Seele, die Energie der Sterbenden, wenn sie tot sind?
Die Religionen bieten uns ein paar Vorstellungen von einem Weiterleben an: im Paradies, Fegefeuer oder der Hölle, je nach Konto der guten Taten; oder im Nirvana, der große Leere; oder gar reinkarniert als Pflanze, Tier, Mensch gemäß unserem Karma. Die Naturphilosophen sprechen vom Weiterleben im großen Energie-Kreislauf der Natur. Niemand weiß es. Alle drücken damit eine Hoffnung aus, wirken gegen das Gefühl der Sinnlosigkeit unserer Existenz.
Beim Übergang in diesen rätselhaften Zustand, der Tod heißt, beim Sterben, lassen wir alle und alles zurück: unsere Nächsten, unsere Freunde, unsere Feinde und die große Masse derer, die uns nie gekannt haben. Auch unsere Stellung in Gesellschaft und Beruf streifen wir ab wie eine alte Haut. Die Allerwichtigsten unter uns werden unwichtig und ersetzt. All die angehäuften Schätze und Reichtümer, Besitztümer bleiben auf der alten Erde und müssen vererbt oder entsorgt werden. Wir, in deren Leben die Suche nach dem Materiellen so wichtig war, müssen alles hinter uns lassen. Loslassen auch die Menschen, die bis zum Ende um uns waren. Und, auch wenn wir in unserem Lebenslauf ab und zu mit dem Tod eines anderen konfrontiert werden und so mit der Nase darauf gestoßen werden, was wichtig ist und was nicht, ficht uns das wenig an: Wir gehen schnell wieder über zur Tagesordnung und können uns über einen Strafzettel ereifern, niedergeschlagen sein über ein Verlassenwerden und doch wieder aufstehen.
Mit großer Traurigkeit und Mühe können und müssen wir den Verlust eines Beines oder einer Brust verschmerzen und weiterhumpeln.
Im Leben haben wir vielfach Gelegenheit, das Loslassen zu lernen. Der Tod ist der Meister des Loslassens. Sterben ist eine geheimnisvolle Kunst, und es gibt niemanden, bei dem wir in die Lehre gehen können. Sterben ist die Kunst, die jeder im Sterben selbst erlernen muß.
Bei allen Gedanken über den Tod und das Sterben: Wenn wir aus den Leben scheiden, müssen wir die Bedeutung des Lebens bei ihm selbst lassen. Wenn der Sterbende so gegangen ist, daß die Nächsten weiter leben können, wenn er an der Brücke mitgebaut hat, auf der seine Liebsten die Todesschlucht überqueren und weitergehen können, der Sonne entgegen - so hat er die „ars mori-bundi“ gelebt; denn nicht der Tod ist schwer, sondern das Leben.
Und damit manchmal auch das Sterben.
Hat man einen Mord auf dem Gewissen, ist ‚lebenslänglich‘ eine furchtbare Strafe.
Hat man Krebs, wird ‚lebenslänglich‘ zur Chance und die Zeit zum Leben vielleicht sehr kurz.
‚Lebenslänglich‘ ist ein Begriff, der voller Leben ist. Er hat einen schicksalshaften Sinn und stößt uns mit der Nase darauf, was wir getan und was wir unterlassen haben.
Um allen Mut zusammenzunehmen und sich mit den Gedanken auf Wanderschaft zu begeben auf der Zeitschiene bis zum Ende des Lebens, muß vorher etwas Einschneidendes passiert sein.
Es muß ein Urteil gefällt oder eine Diagnose wie ein Damoklesschwert auf uns niedergegangen sein, eine Diagnose, die wie ein Urteil ist.
Im Falle des Mörders und seiner Strafe ist ‚lebenslänglich‘ eine Zeitspanne, in der er über seine Schuld nachdenken, büßen und wiedergutmachen kann.
Er taucht erst einmal in seine Vergangenheit ein, um die Lehre daraus zu ziehen und sie in die Gegenwart und Zukunft mitzunehmen.
Im Falle der Krankheit zeigt sich das Schicksal in seiner ganzen Unbegreiflichkeit und oft auch Ungerechtigkeit. Hier hat ein grausamer, alttestamentarischer Gott entschieden, ein weiser Gott?
Hier geht es nicht um Schuld, ein Wühlen in der Vergangenheit bringt keine Erklärung und keinen Gewinn.
Zeit kann nur dadurch gewonnen werden, daß man ihr Qualität verleiht, sie nicht als selbstverständlich ansieht, sie genießt, sie schätzt.
So kurz das Leben auch geworden sein mag, im bewußtem Erleben der Gegenwart erfährt die Zeit eine Verlängerung, eine neue Bedeutung, ein anderes Maß.
Ich habe drei Jahre Garantie auf mein neues Auto. Mein Paß ist um zehn Jahre verlängert worden. Nächstes Jahr fliegen wir nach Argentinien. Si Dios quiere.
So lange man auch sucht, man wird kein Wesen aus dem Tierreich finden, kein Fabelwesen, das dem Menschen gleicht. Bleiben wir also beim Menschen.
Der Mensch hat ein Potential.
Damit sind die Möglichkeiten gemeint, die in ihm angelegt sind, die er entwickeln kann, wenn er will. Die er entwickeln sollte, wenn er sich selbst treu bleiben will. Auch gegen Widerstände. Oft genug spielen solche Schwierigkeiten eine reinigende und klärende Rolle und stärken den Menschen in seinem Bestreben, sein Potential zu verwirklichen.
Nehmen wir zum Beispiel Mozart. Zugegeben, er hatte ein starkes Potential, eine geniale Begabung. Aber er hat sein ganzes Leben um Anerkennung gekämpft, zuerst bei seinem Vater, dann bei seinen Brotgebern. Er hat uns wunderbare Musik hinterlassen, die ihn und seine Widersacher überlebt hat und uns überleben wird.
Jeder Künstler lebt aus seinem Potential, das er nicht nur für sich, sondern für alle einsetzt, entwickelt, äußert.
Jeder Wissenschaftler entwickelt neue Erkenntnisse und Innovationen aus seinem Potential.
Jeder sozial engagierte Mensch ist nur durch sein Potential in der Lage, die Entbehrungen seines Berufes zu ertragen.
Damit ist klar: Potential ist eine Gabe, die nach außen wirken möchte. Diese Außenwirkung hat zwei Gesichter: In seiner Wirkung nach außen erfährt ein Mensch die Spiegelung seiner Existenz durch seine Umgebung. Gleichzeitig wird das Potential von den anderen als Effekt wahrgenommen und bewirkt etwas; es geht etwas Gutes von diesem Menschen aus, das für alle wirksam ist.
Hat ein Mensch eine solche Gabe, wird er bald erkennen, daß auch das Versprühen seines Potentials, die groß-zügige Schenkung, für ihn selbst nicht zum Nulltarif zu leisten ist. Das Potential hat einen Januskopf, es ist Gabe und Aufgabe.
Schon die Entdeckung, mit einem Potential ausgestattet zu sein, stößt einen Reifungsprozeß, einen Erkenntnisvorgang an. Die Verwirklichung des Potentials erfordert Zeit und Opfer. Sie macht sich nicht sofort bezahlt, man bekommt vielleicht niemals etwas zurück. Das Ausleben des Potentials ist, wie alles Leben, ein ewiges Suchen, Forschen und Versuchen. Bis zum Lebensende.
Der 17jährige Amokläufer hat sich diese Zeit nicht gelassen und nicht genommen. Im gesellschaftlichen Klima der sofortigen Bedürfnisbefriedigung wollte er, kaum den Kinderschuhen entwachsen, die augenblickliche Anerkennung seines Potentials durch die anderen erhalten. Er hatte keine Frustrationstoleranz. Er erklärte, daß deshalb 16 Menschen sterben mußten. Weil sein Potential nicht gesehen wurde. Welches Potential?
Hinter dem Horizont klingt der Song der Rolling Stones herauf: ‚You can’t always get what you want‘, aus einer anderen, einer untergegangenen Zeit.
Seit der Entdeckung der Neuen Welt, seit der Erfindung des Gummis, wird das Kondom sehr kontrovers diskutiert. Es ist sozusagen ein dehnbarer Begriff.
Der Vatikan – der Papst – hat vor einigen Jahren endlich Galileo rehabilitiert und damit die Richtigkeit der These, daß die Erde eine Kugel ist, bestätigt. Mit der neuen Welt hat er nach wie vor seine Schwierigkeiten. Obwohl er Aktieneigner großer chemischer Industriefirmen ist – da ist Geld zu machen –, hat der die Notwendigkeit des Gummis in der heutigen Zeit noch nicht erkannt, ja: Er hat seine Notwendigkeit absichtlich verkannt. Denn so kann er nach wie vor Druck ausüben auf den Menschen, der ein Grundbedürfnis, einen Urinstinkt auslebt: die Sexualität.
Da wir Menschen – jedenfalls die meisten von uns, und der ohne Schuld ist, der werfe den ersten Stein - ohne Sexualität nicht auskommen (wieso auch ?), kann eine solch fundamentale Ablehnung durch eine auf das Seelenheil des Menschen spezialisierte Institution – die Kirche, aber auch die strenge Auslegung der islamischen Religion – Schuldgefühle induzieren und damit auf die Menschen Einfluß gewinnen.
Da wir Wesen sind, die auf ein Gegenüber angewiesen sind, die nicht ohne sexuelles Erleben leben wollen, kommen wir an der Schuld nicht vorbei. Ist das die Erbsünde?
In der Religion gibt es das sechste Gebot. Ja: sechs wie Sex. Ganz einfach. Ein immanenter Zusammenhang? Entweder wir schaffen die aktuelle kirchliche Interpretation des sechsten Gebotes ab oder den Sex.
Da wir Menschen sind und die Natur in uns waltet, ist ersteres geboten. Die Kirche versucht – bisher ohne Erfolg – das zweitere.
Die Welt und vor allem der afrikanische Kontinent kämpft mit einer tödlichen Krankheit: AIDS. Unabhängig davon, wie sie entstanden ist und sich hat verbreiten können: Wir müssen versuchen, Mittel und Wege zu finden, ihre Ausbreitung zu begrenzen.
Schon allein die Schnelligkeit ihrer Verbreitung in der globalisierten Welt weist auf die Bedeutung und Unver-meidbarkeit sexueller Kontakte hin. Und das, obwohl die Kirche seit einigen Jahrhunderten davon abrät, dagegen kämpft, sie verteufelt. Heute, scheint es, hat ‚der Teufel‘ obsiegt.
Schluß mit der Manipulation!
Die Dinge, um die wir uns auf der Welt kümmern müssen, sind andere: Wir müssen die Armut bekämpfen, auf leiblicher und auf geistiger Ebene. In der Folge sind die sozialen und politischen Mißverhältnisse anzugehen. Das wird nur gelingen, wenn wir das Recht auf Bildung für alle verwirklichen. Wir müssen für die Gesundheit der Menschen arbeiten und für das Weiterleben unserer Erde. Hier ist die Kirche an vorderster Front gefordert.
Warum sind das nicht die Themen, die der Papst formuliert?
Eigentlich hatte ich anfangs die Idee, ein witziges Essay über das uralte Kondom zu schreiben. Geht nicht, ist immer noch schuldbeladen. Ist immer noch kein Lustobjekt. Es gibt noch immer nichts zu lachen, und das, obwohl wir alle doch wissen: ‚Spaß muß sein ‘.
Schade.
Es summt und brummt im Nucleus accumbens
Was für ein schönes neudeutsches Wort: Es knallt wie ein Sektpropfen, es perlt wie Champagner: Shopping!
Erste Stufe der Eindeutschung, der Verdeutschlichung: „Meine Freundin und ich fliegen über’s Wochenende nach Paris – zum schoppen.“
„Früh- oder Spät-Schoppen? Mit oder ohne Weißwurst?“
„Du willst mich nicht verstehen: Ich brauche die Kreditkarte.“
Shopping ist ein Lifestyle-Erlebnis. Shopping um die Ecke beim Gemüsehändler geht nicht. Fremde Großstädte sind der Anlaufpunkt, die Mastercard ist die Eintrittskarte in die Welt des hohlen Scheins. Die Objekte der Begierde haben wunderbare Namen. Es geht um Schuhe, Kleider, Kosmetika und Parfums. Weitgehend nutzlose Dinge, eben Luxus. Vorbereitet, gehirngewaschen durch die Werbung mit Sprüchen, wie: ‚Man gönnt sich ja sonst nichts…‘ und – wegen des Lustgewinns – den anderen Werbespruch: ‚Geiz ist geil‘ verdrängend, macht sich das Freundinnenpaar auf in die große Welt.
Der Flieger hat Verspätung, ist überfüllt mit halbangesoffenen Konsum-Kumpels - Frauen auf die Modemeile, Männer in’s Rotlichtmilieu. Essen, Getränk und Toilettengang sind gesondert kostenpflichtig; die Freundinnen haben Mühe, ihre gute Stimmung bis Paris zu retten.
Dort aus dem Flieger gepurzelt, fühlen sie sich wie Dorfschranzen, ihr Dialekt, der ihnen anfangs Zusammenhalt gegeben hat, wird ihnen peinlich, die Unterhaltung versickert. Ihr Schulfranzösisch reicht nirgendwo hin, „le malade imaginaire“ kredenzt ihnen keinen Champus zur Wiederherstellung ihrer guten Laune.
Mit ihren Landsleuten in den Shuttle-Bus gepfercht, verlieren sie das Flair, auf das sie hofften, um die letzten Französischreste aus ihrem Jungmädchengedächtnis zu erwecken.
Auf den Champs-Elysées ausgespuckt, werden sie leichte Beute der sie schon erwartenden Mäusefänger. Die Shoppingwelt hat ihre Zuarbeiter generiert und am Knotenpunkt zusammengezogen: gutaussehende, mit allen Wassern gewaschene Taschendiebe, glutäugige Verführer ohne Gegenwehr, ohne Gegenwert, deutschsprechend: wie praktisch!
Zuerst wird ein Bistro aufgesucht und der Apéritif zum Kaufgelage eingenommen; umso schneller und ge-schmierter rutscht die Hand in die Tasche zur Kreditkarte, umso hemmungsloser wird diese ausgebeutet. Der Mann und die häusliche Szene, die sie – kleinkarierterweise – mit Sicherheit erwartet, wird ausgeblendet. Beide geben sich gegenseitig ein Alibi. Ihr Erlebnis wird sie zusammenschweißen für immer und gegen jeden Gegenwind zuhause.
Nach der Einkaufsschlacht und mit den Tüten voller herrlicher, untragbarer Five o’clock tea-Etuikleider und Abendroben, Glitzersandaletten, falscher Wimpern und schwerer süßer Parfums und mit dem Kopf im Champagnerhimmel – ‚man lebt nur einmal‘ – unterliegen sie mit Wonne der Verführungskunst ihrer Begleiter und landen (‚l’amour l’après-midi) zur preisreduzierten Vorabendschicht in billigen Absteigen, deren Erbärmlichkeit im schwindenden Tageslicht zu romantischen Boudoirs mutiert.
Morgen geht es zurück nachhause. Morgen werden wir wieder zu Aschenputtel. Die Prinzen werden verschwun-den sein, der Flimmer und Flitter wandert in die Kleidersammlung und geht mit der Caritas nach Afrika.
Wir waren in Paris beim Shopping.
Von jedem ohne Geschmack in den Mund genommen: die Worte Streß, Schock, Panik und Depression.
Jeder hat Streß.
Ohne Streß fürchten wir offenbar um die gesellschaftliche Anerkennung.
Während der psychologisch Geschulte noch zwischen Eustreß und Disstreß unterscheidet und weiß, daß ersterer anregend und nützlich für die Entwicklung der Kreativität und daher nicht zu beklagen, Disstreß dagegen krankmachend und damit zu vermeiden ist, haben Putzfrau und Kassiererin eines gemeinsam: Streß ohne Ende.
In unserer Welt der Superlative sind die Anforderungen an den Einzelnen so hoch, daß Streß die allgemeine Antwort ist.
Da alle im großen Strom mitzuschwimmen trachten, hält jeder Streß wie ein Schwimmbrettchen vor sich hin. Wir beschleunigen, düsen, rasen ‚hart am Limit‘. Der Vorteil ist: Wir kommen nicht mehr zum Nachdenken. So müssen wir auch keine Konsequenzen ziehen. Wir sind Mitläufer. Schnell, schnell.
Auch Panik ist eine Modeerscheinung geworden. Ein Auswuchs des Zeitgeistes. Ist der Streß so groß geworden, daß die Schleusen brechen? Ist Disziplin so unmodern, denn sie könnte doch – täglich und im Vorfeld lange vor der Extremsituation eingesetzt –besänftigend wirken? Ist Innehalten, Nachdenken, Zu-sich-kommen nicht mehr up to date?
Panik ist Hilflosigkeit vor einer Prüfungssituation im weitesten Sinne. Amoklauf ist eine Panik-Aktion. Wir sind 'geschock't. Oder sind wir ‚nur‘ schockiert?
Medizinisch gesehen, ist der Schock der Offenbarungseid der Reaktionsfähigkeit der Körperorgane. Er führt unbehandelt zum Tode. Der Schock, von dem man landläufig so oft sprechen hört, ist kein Schock. Er ist allenfalls die psychische Reaktion auf etwas Unfaßbares und versetzt uns in eine ungläubige passive Haltung. Er beeinträchtigt unsere Handlungsfähigkeit, aber nur für kurze Zeit. Er ist nicht tödlich. Und damit ist der Ausdruck ‚ich bin geschockt‘ eine der Übertreibungen, die wir täglich schlucken müssen.
Und die ‚Depressionen‘, mit denen wir immer wieder konfrontiert werden?
Eigendiagnosen zum eigenen Wohl. Druckmittel, um sich Erleichterung zu verschaffen, das Vorhaben, Druck auf andere auszuüben. Verständlich vielleicht. Aber keine Depressionen. Alle mit Depression Erkrankten müßten geschlossen aufstehen. Können sie aber nicht, wegen ihrer Depression. So geht also auch diese Übertreibung ungestraft zu Markte.
Warum müssen sich heute so viele Menschen so krankhaft wichtigtun? Ist das der waidwunde Wunsch nach Anerkennung, Anteilnahme, vielleicht sogar Liebe? Der im Grunde nicht einmal so sanfte Druck, die Haut gesalbt zu bekommen an den Schwären, die das Gefühl der Minderwertigkeit hat aufbrechen lassen? Unter dem Motto: ‚Mach‘ mal.‘
Wenn es so ist, läuft etwas falsch. Die Medizin heißt nämlich: selbst an sich arbeiten. Liebe gehorcht niemals dem Zwang, auch nicht dem vermeintlich wohlverpackten.
Die Lieb‘ versüßet jede Plage, ihr huldigt jede Kreatur. Sie würzet uns‘re Lebenstage, sie wirkt im Kreise der Natur. Ihr hoher Zweck zeigt deutlich an: Nichts Edler‘s sei, als Weib und Mann. Mann und Weib, und Weib und Mann, reichen an die Götter an.(W.A.Mozart „Die Zauberflöte“)
„Also, war schön mit Dir. Nein, mußt mich nicht heimbegleiten. Habe keine Angst vor der Dunkelheit. Meine Telefonnummer hast du. Anruf genügt. Bis bald, hoffentlich.“
„Ciao.“ (‚Wo ist denn mein Handy? Ach, da.‘)Dingdongdungdongdingdingdang. „……“
„Hier auch. Schatz, ich mußte länger arbeiten. Komme aber jetzt nachhause. Bis dann.“
„…..“
„Ich dich auch.“
Scheint ja noch halbwegs gut auszugehen. Vielleicht überlegt er es sich ja noch. Daß die Leute immer die Autotüren so zuschlagen müssen!
„Auf keinen Fall! Das kann ich ihr nicht antun.“
„….“
„Ich habe ihr versprochen….“
„….“„Sie bringt sich um. Nein, das mache ich nicht. Das zwischen uns war ein Unfall."
„….“
„Ich habe dir von Anfang an gesagt, daß ich verheiratet bin.“
„….“
„Versteh doch, man sagt schnell mal was. Ist mir einfach rausgerutscht. Soll nichts heißen.“
„…. ?“
„Ja, das siehst du richtig.“
„…. ?“
„Ja, so könnte man sagen.“
„…. !“
„Bremse dich.“
„…. !!“
„Also, das war nicht das letzte Mal, daß du mit einem Schwein gesprochen hast. Nein, ich meine nicht, mit mir, oder doch?“
„……….. . .“
„Ich präzisiere: Du hast nicht zum letzten Mal mit einem Schwein gesprochen, aber das letzte Mal mit mir. Und: Ich bin kein Schwein!“
„….. … .. . !!“
„So, das reicht. Ein- für allemal. Lebwohl. Ich trenne jetzt.“
Buh, Fenster zu! Ruhe! Immer wird man in fremde Leben gezogen, gesogen. Das ist Soap opera, live und real time. Liebe, „Liebe“, die nicht „funktioniert“. Zum Spaß degeneriert. No risk no fun. Was übrig bleibt: Verlogenheit, die Einsicht: ‚das bringt mir nichts‘; und immer die gleichen Situationen mit immer denselben falschen Worten.
Zwei Stimmen, zwei Schritte kommen näher.
„Wie gesagt, ich bin da Fachmann. So macht man das nicht.“
„Meinst du nicht, es gibt auch eine andere Art, an die Dinge heranzugehen?“
„Seit Jahr und Tag sage ich: Ich sehe es so, und so ist es.“
„Aber denk doch mal nach, es kann sich doch auch mal was ändern.“
„Ja, du hast dich geändert. Das ist doch nicht mehr normal.“
„Bei deiner Art kein Wunder.“
„Was meint frau denn damit?“
„Denk nach.“
Die laute und die leise Stimme verflüchtigen, der schwere und der leichte Schritt entfernen sich und verhallen langsam.
Scheibenerschütternde Bässe in stupider Wiederholung. Anschwellend. Hustenlösende Vibrationen. Der Motor heult auf. Gottseidank, der Alptraum fährt weiter.
Wohnen in der Altstadt. Lebensqualität. Wo die Alpen-rosen blühn‘, dahin, dahahihin möchte ich ziehn‘ (Karl Valentin).
Es war einmal ein Orangenbaum. Er stand im Garten der Frau, die fand, es wäre günstiger, wenn er Zitronen trüge.
Der Gärtner kam und propfte auf den Orangenbaumstamm einige Zitronenschößlinge. Die Orangenzweige wurden geköpft.
Viele Jahre trieb der Baum nun Zitronenzweige, blühte und trug Früchte. Die Pracht der gelben Zitronen erfreute das Herz seiner Besitzerin. Sommers wie winters blühte er und sandte einen feinen Duft aus; zur gleichen Zeit trug er Früchte, über und über, und stand da als Sinnbild der Großzügigkeit der Natur.
Die Frau machte sich ihre Gedanken, wenn sie in seinem Schatten saß und den Geruch der Zitronenblüten einsog.
„Kann man in der Natur sein Wesen so einfach ändern?“ Sie kaute hin und her und dachte nach über: Anpassung und Opportunismus, Zwang und Unterwürfigkeit, Gesichtsverlust, Wesen und Charakter, Selbst und Umwelt, Ich und die anderen, Konsequenz und Nachgiebigkeit, Egoismus und Altruismus.
Diese Gedanken zogen sie immer weiter in ihre Umwelt hinaus, gleichzeitig schraubte sie sich immer tiefer in ihr Wesen und ihre Geschichte, in ihr Leben hinab.
Sie war als erstes von fünf Kindern auf die Welt gekommen, eine Welt voller Not und Armut. Die Mutter war kränklich; sie zog schon als Kind die Geschwister auf und führte den Haushalt. Ihr großes Problem war damals die karge Haushaltskasse. Der Vater war von großzügiger Gastfreundschaft, und so saßen immer wenigstens zehn Personen um den Tisch, wenn sie die dampfenden Schüsseln hereintrug. Andererseits liebte sie diese Tischgesellschaften, gab es doch immer etwas zu erzählen und viel Neues zu hören. Die Gäste kamen oft aus anderen Ländern und brachten fremde Gerüche und Geschmäcker, den Wind, das Meer, die Farben mit. Die Spanier und Südamerikaner waren schwarzgelockte, glutäugige Menschen mit einer zugleich harten und melodischen Sprache voller Rhythmen. Sie lachten viel und hatten einen eigenen Witz, mit dem sie ihre Beobachtungen im für sie fremden Land erzählten und somit manche Abstrusität in Lachsalven auflösten.
Ein Quell ständiger Heiterkeit war die feindselige Haltung der deutschen Nachbarn.
Ihr Männerideal war von ihnen geprägt, wie sie später feststellte.
Eines Tages trafen zwei Musikstudenten aus Uganda ein. Sie brachten einige afrikanische Instrumente mit: eine mit Schlangenhaut überzogene Trommel, eine andere, größere mit Löwenfell, eine Lyra mit zwei Ziegenbärten und ein Xylofon aus leichtem Holz, das von zwei sich gegenübersitzenden Spielern geschlagen wurde. Mit Stolz führten sie zwei alte Schellack-Platten vor, auf denen Instrumentalmusik zu hören war. An bestimmten Stellen brachen beide in schallendes Gelächter aus.
Auf die erstaunte Frage der Familie, was es da zu lachen gäbe, fragten sie: „Habt ihr die Geschichte nicht verstanden?“ Es waren also alles Geschichten ohne Worte, die Musik für jeden von ihnen als Geschichte verständlich: eine universelle Musik, Musik als direkte Kommunikation.
Die beiden fingen also an, den Kindern die afrikanischen Märchen zu erzählen. So lebten sie fortan in einer Welt, wo sich Schlange und Kaninchen ineinander verliebten, die Biene und das Krokodil verheiratet waren und ein Löwe sich unsterblich in eine Gazelle verknallte; wer hätte dies nicht voll und ganz verstanden bei ihrer Grazie?
Ihr Hund ‚Pit‘ wurde von den beiden mehr in ihr Leben integriert und in ihren Herzen verankert, weil sie sich immer zu seinem Interpreten machten und seine Äußerungen, seien sie auch noch so diskret, für sie in Worte übersetzten: „Pit sagte….“.
Die deutschen Nachbarn waren außer sich: „Die Spanier sind ja noch gegangen, aber jetzt bringen sie N e g e r in’s Haus!!!“ (Originalton Herr Schwer, der Name ist Programm, es konnte nicht anders sein: Er hatte es wirklich schwer mit ihnen.)
Die Schule und das Gymnasium durchlief sie geradlinig auf der Direttissima. Leistung wurde honoriert, damals. Einige Verwerfungen kamen dann aber doch: die Berufswahl war schwierig, sie hatte einige Begabungen. Die künstlerischen unter ihnen waren jedoch nicht ausreichend ausgeprägt; der Versuch, einen künstlerischen Beruf zu erlernen, scheiterte. Als zweites Interesse entdeckte sie die Arbeit für andere, besser gesagt: ihren Wunsch, etwas für zu andere tun. Sie wurde Ärztin.
Die Zeiten änderten sich, Leistung wurde nicht mehr honoriert, sondern nur noch ausgebeutet. Da in ihr Selbstverständnis ‚Leistung gleich Sinn‘ eingeprägt war, wurde sie in ihrer Arbeit unglücklich. Die Ver-Wirtschaftlichung der Welt des Krankenhauses, die Umwandlung der Krankenhäuser in Gesundheitszentren, ehrlicher gesprochen: in Profit-Zentren mit Klienten statt Patienten - deren Heilung nicht mehr interessant war, denn man wollte ja, daß sie Stammkunden bleiben – wurde zur unerträglichen Tagesroutine. ‚Zeit ist Geld‘ und der Zwang zur Dokumentation und Bürokratie stahl dem Umgang mit den kranken Menschen weitere Zeit und Zuwendung. Sie hatte robustere Kollegen, die alles so akzeptierten.
Sie schied aus, weil sie allein auf weiter Flur war im Kampf um das ‚menschliche Krankenhaus‘.
Nachdem sie außen vor war, wurde sie krank und lernte das System von der anderen Seite kennen. Sie mußte durch ein tiefes Jammertal gehen, sie hatte Krebs. Harte, an die Gurgel gehende Therapien, die einzige Hoffnung, der Krankheit zu begegnen. Langanhaltende Schwäche mit dem vornehmen Wort ‚Fatigue‘.
Jetzt saß sie unter dem Zitronenbaum und hing ihren Gedanken, fühlte ihren Hoffnungen nach. Dieser Baum mußte auch eine grundlegende Veränderung durchmachen und hat diese Prüfung mit Grandezza bestanden. Es geht, es muß gehen! Ein Gutes ist: die Richtung ist klar, die Aufgabe und der Sinn auch: leben. Alle Auffächerung kommt danach. Gut und schlecht, to be or not to be.
Ihr wurde klar: Sie mußte wieder austreiben, das konnte sie von ihm lernen.
Ein harter Winter. Im nächsten Frühjahr: der Baum voller Orangen, keine einzige Zitrone mehr. Sieg im Überlebenskampf.
Der Jung-Manager saß in seinem Büro, auf dem Mahagony-Schreibtisch vor ihm war seine Agenda aufgeschlagen. Er hatte noch so ein altmodisches Requisit, allerdings in Straußenleder, hellbeige, inzwischen mit einer eleganten Patina.
Natürlich führte er seine Termine auch auf seinem Notebook und synchronisierte dieses täglich mit seinem Handy. Durch dieses Vorgehen erhielten die Termine eine wachsende Wichtigkeit; dreimal notiert, das ließ sein Selbstgefühl in adäquatem Maß anschwellen und gab ihm einen Eindruck von Wichtigkeit und Sinnhaftigkeit seines Tuns.
Die Agenda zeugte von Seriosität; ihm lag daran, daß seine Sekretärin die ausgehandelten Termine und Ereignisse des Privatlebens in schöner Handschrift eintrug und ihm tagtäglich morgens, bei einer Tasse Capuccino, vortrug.
Natürlich, anfangs hatte sie damit wenig zu tun gehabt, denn die Tage waren eher voller „kreativer Pausen“, aber in der letzten Zeit strotzten die Seiten von schwarzen Eintragungen. Er sollte einmal darüber nachdenken, verschiedene Farben einzuführen; damit würde die Buntheit seines Tuns adäquat gewürdigt.
Das Notebook war ein notwendiges Accessoire, sowohl im Büro als auch außerhalb. In Bahn und Flieger, in den Wartesälen von Bahnhöfen und Flughäfen, in den Sitzecken vor wichtigen Büros konnte es auf den Knien aufgeklappt und bespielt werden: Wenn er dort so saß, bot er ein Bild vollendeter Konzentration, Zielgerichtetheit, Professionalität.
Wenn die Zeit gekommen war, war das Notebook mit einem Griff im eleganten Lederetui verstaut, grauschwarzes Leder mit Patina, passend zu den seriösen Anzügen in derselben Farbe, italienische Modelle, auf einem Knopf geschlossen. Nur die Krawatte brachte Farbe in’s Geschehen, manchmal auch das Hemd.
Das Handy, schlußendlich, verband ihn auch verbal mit dem Rest der Welt. Er konnte sich nicht beklagen, es schnurrte und vibrierte fast ununterbrochen in seiner Hosentasche - die reine Freude. Er trug es ohne Etui, ohne ‚Halfter‘, - so konnte er schneller ziehen.
Tatsächlich, manchmal schwante ihm, er werde von außen beschossen, mit Informationen und beruflichen Ge-sprächen. Auf den ersten Blick nichts Bedrohliches, oft aber unerwartet, manchmal – sage und schreibe – störend.
Aber er war doch mehrfach belastbar!
Auf der anderen Seite gab sein Termin-Management ihm innere Sicherheit und Stabilität. Das Skelett der Unter-nehmungen trug ihn von Stunde zu Stunde, er hatte sich organisiert, er überließ nichts dem Zufall. Er war Herr seiner Zeit. Der Manager seines Lebens.
Da lief ihm eine Frau über den Weg. Besser gesagt, sie saß ihm im Flughafenterminal gegenüber, während sie beide auf die Öffnung des Check in-Schalters warteten. Wer weiß, wie lange sie ihn schon im Blick gehabt hatte, denn er hatte konzentriert seine Agenda bearbeitet und sicherlich spät, zu spät für einen guten ersten Eindruck, auf das unfaßbare Brennen reagiert, das ein Blick aus so schönen Augen auf der Haut des Gesichts hinterläßt. Sie hatte damit – so vermutete er - alle Zeit der Welt gehabt, ihn zu taxieren, angefangen vom Outfit, den Händen und Füssen, der Frisur, der Größe der Nase. Zu welchen Schlußfolgerungen wird sie gekommen sein?
Junge, setz dein schönstes Lächeln auf, wenn du etwas gutmachen willst! Und überlege dir gleichzeitig – Mehrfachbelastung – den ersten Satz, den du zu ihr sprichst. Blitzschnell heißt es, sie einzuschätzen; das ist er von seinen beruflichen Verhandlungen gewöhnt, man bestätigt ihm immer öfter ein hohes psychologisches Einfühlungsvermögen während der Poker-Phasen der Gespräche.
‚Schönes Wetter heute‘, nein! ‚Hoffentlich ist der Flieger pünktlich‘, stupid. ‚Vielleicht sitzen wir nebeneinander‘, klare Anmache. ‚Fliegen Sie Business?‘, uncool. Dies alles scheidet von vorneherein aus. Zu provinziell.
Er sollte aber schnell werden, denn die Sitzordnung im Flugzeug ist, wenn man nicht unmittelbar in derselben Reihe unterkommt, zutiefst antikommunikativ und die Begegnung umsonst gewesen, denn alle stürmen am Ankunftsterminal hinaus, kaum daß das Flugzeug den Boden berührt hat. Man sollte meinen, sie sind froh, mit dem nackten Leben davongekommen zu sein und stürzen sich auf ihre Koffer mit den Kleidern. Auch am Koffer-Transportband keine Chance, er reist mit leichtem Gepäck, hand luggage.
Eigentlich könnte sie ja auch anfangen. Frauen sind doch begabter, was Gespräche angeht. Weshalb müssen immer wir Männer unser Hirn zermartern? Sie wird doch hoffentlich emanzipiert sein? Ich würde dann gewiß die Initiative im Bett ergreifen, keine Frage. Aber jetzt weiß ich wirklich nicht…. O, Schande, jetzt kommt mir: Habe doch fast vergessen, den Termin mit dem Monsignore einzutragen! Wann war das denn nochmal? Auweia, ich vermute, gleich heute nachmittag. Mit oder ohne Lunch? Muß schnell mal meine Sekretärin anrufen.
Handy: Büro.
„Barbie, schau doch bitte in meiner Agenda nach: wann treffe ich heute den Monsignore?“
„Ja,mmmh, nach dem Abendgebet. Habe extra nachgefragt, wieviel Uhr das ist. Er sagte: 22 Uhr. Vorher ist er beschäftigt. Ach, übrigens, gut daß Sie anrufen: Ihr Urologe hat hier nach Ihnen gefragt, er schien besorgt zu sein und es eilig zu haben. Habe ihm allerdings nicht Ihre Handynummer gegeben, privacy! Sie sollen ihn aber umgehend kontaktieren. Das Ergebnis sei positiv, soviel hat er gesagt.“
Positiv?
Die junge Frau beugt sich etwas vor und schaut ihm geradewegs in die Augen. Sie öffnet die Lippen und fragt: „Was für ein Tag ist heute? Ich sehe, Sie bearbeiten Ihren Kalender, deshalb frage ich Sie.“
„Donnerstag, der 1.Mai.“
„O je, dann habe ich mich im Datum vertan. Vielen Dank, auf Wiedersehen.“
(geschrieben im Jahre 2009 - eine der beiden Figuren ist im Nirwana verschwunden, die andere agiert noch. Die Gesichter sind in ihrer Künstlichkeit auswechselbar, deshalb bleibt die Geschichte wahr )
Es gibt keine Clowns mehr. Und je weniger es im Großen und Ganzen zu lachen gibt, desto mehr fehlen sie uns.
Bei Shakespeare gab es an jedem vernünftigen Hof einen oder mehrere Narren; selbst Macbeth beherbergte in seinem verlotterten und zugigen Gemäuer einen Narren, den er als Concierge angestellt hatte. Ein wenig politisches Geschäft.
Rosenzweig und Güldenstern waren am dänischen Königshof schon andere Kaliber und hatten sich auf die Intrige spezialisiert.
König Lear schließlich mutierte mit wachsender Verzweiflung selbst zum Narren und wurde daran verrückt. Ein weiser Narr, wie überhaupt der Beruf – die Berufung ? – des Narren Weisheit und Bescheidenheit voraussetzte.
Beides mangelt den Witzbolden, die sich im Augenblick vor unseren Augen und Ohren entpuppen. Aber wie sollte man sie sonst bezeichnen? Für einen Clown sind sie zu grau-in-grau, für einen Harlekin zu unelegant, für einen Bajazzo zu tollpatschig. Und für einen Narren zu durchschaubar und dumm. Eine neue Kaste also.
Ich spreche von zwei Politikern, die sich aktuell auf der europäischen Bühne performen. Es gibt nur dieses eine Wort aus der Welt des schönen Scheins, das ihr Tun und ihre Absichten richtig beschreibt. Denn sie müssen sich dabei nicht verformen, sondern nur sie selbst bleiben. Sie sind tatsächlich Vertreter einer neuen Spezies. Hatten bisher die Politiker streng darauf geachtet, seriös zu sein oder wenigstens zu erscheinen, um wiedergewählt zu werden, sprechen diese beiden, offen oder hinter vorgehaltener Hand, in der sie ein Mikrofon verborgen halten, absichtlich und schamlos eine Mehrheit an, von der sie wissen, daß sie grobe Scherze liebt und honoriert. Vermutlich haben ihnen ihre Berater gesagt: „Die Demokratie ist eine Sache der Majorität, der Quantität. Ihre Wähler gehören zu dieser Mehrheit, denn sonst wären Sie nicht gewählt worden. Eigentlich logisch. Also: Schauen Sie dem Volk auf’s Maul, schmieren Sie ihm Brei um den Bart, sprechen Sie ihm nach dem Mund.“ (So führt Demokratie geradewegs in die Diktatur des schlechten Geschmacks.)
Dem sind sie gefolgt, um zu verführen, zumal ihre körperliche Erscheinung nicht gerade verführerisch wirkt: klein, arrogante Gesichtszüge der eine, geliftet und voller Schwellungen der andere, implantierte Haare der andere und immer denselben Verlobungsring verschenkend der eine. Wenn schon ihre Wählerschaft finanziell nicht mit ihnen mithalten kann, so soll sie wenigstens den Eindruck gewinnen, sie sei eines Geistes Kind mit ihnen. Ein tumber Geist.
Diese Politiker gehören keiner Elite an, schon gar nicht einer geistigen, sondern eben nur einer Geldsack-Sahneschicht Typ selfmade. Zuviel Sahne führt zu Erbrechen. Müssen wir auf die Revolution der Mägen warten, darauf, daß sie sich uns allen umdrehen?
Zum Leben braucht es Mut. Zum Sterben auch, aber sterben geht auch ohne, unausweichlich. Leben nicht.
Mut ist ein einsames Geschäft. Mut ist das Ergebnis vieler Entscheidungen, vieler richtiger Entscheidungen. Mut ist nicht einfach.
Politisch Mutige hat es immer gegeben: Hans und Sophie Scholl, v.Bonhoeffer, v.Stauffenberg und seine Gruppe sind einige der Namen von Menschen, die den Mut hatten, für ihre Ideen den Tod in Kauf zu nehmen. Heute sind hierzulnde die politischen Bedingungen besser, gibt es deshalb keine Mutigen mehr?
Mut hängt nicht an der großen Glocke. Seit Ende des Krieges verteidigen die Mutigen unsere Demokratie, und sei es „am Hindukusch“.
Gerade für diese Mutigen ist klar: „Auch wenn uns die Argumente für einen solchen Einsatz fadenscheinig und durchsichtig erscheinen und die Vermutung naheliegt, ‚Demokratie‘ sei hier mit ‚wirtschaftlichem Vorteil‘ und ‚Energiesicherheit‘ – dreimal darf man raten, für wen? - verwechselt worden, wir halten den behelmten Kopf, die Haut hin. Auch wenn viele in sicheren, komfortablen Deutschland sagen: ‚Die bekommen ja Geld dafür‘.“
Im sicheren und komfortablen Deutschland gibt es andere Mutige: junge Männer und Frauen, die Komasaufen, als Geisterfahrer mit Moped oder Auto in der falschen Richtung auf der Autobahn unterwegs sind, nachts in den Großstädten mit aufgemotzten Fahrzeugen Rennen veranstalten, Bungee-Springen. Sie setzen ihr eigenes Leben und das der unschuldigen Anderen auf’s Spiel.
Welchen Wert hat in solchen Köpfen das Leben? Ist es so wohlfeil geworden, daß man sich zum Terminator ernennen kann, weil man selbst seine Frustration nicht mehr ertragen will? Sind diese Menschen soweit zu Konsu-menten mutiert, daß sie ihrem Leben selbst keinen Sinn mehr zu geben fähig und bereit sind?
Sie leisten es sich, die Bemühungen in den Wind zu schlagen, mit denen die Eltern, Erzieher, die Gesellschaft ihnen Angebote zu Bildung und Entwicklung anbieten: ‚Mir ist langweilig! Tu was!‘
In der großen weiten Welt gibt es andere ‚Mutige‘: Zum Beispiel solche, die mit dem Dynamitgürtel um den Bauch und dem Turban auf dem Kopf ihre letzten perversen Gedanken in die Kamera sprechen, bevor sie sich und Unschuldige in die Luft sprengen. Ihre Lebenssituation ist durch die Aufteilung der Welt in 1. und 3.Welt und durch die Ausbeutung der 3. durch die 1. hoffnungs- und aus-sichtslos, verzweifelt: der Boden, auf dem Fundamentalismus, Terrorismus wuchert und gedeiht. Was ist hier das Leben wert? Gibt es Leben 1. und 3.Klasse?
Die Welt hängt zusammen, wir sind alle verwoben.
Wir sollten unseren Mut auf den Versuch richten, solche Verhältnisse zu verändern. Das beginnt damit, daß wir uns hinsetzen, Ruhe einkehren lassen und nachdenken. So werden wir feststellen, daß wir für die Fantasie unserer Kinder verantwortlich sind; wir müssen sie schützen vor zuviel Konsum von Medien, wie Fernsehen und Computerspiele. Das erfordert weniger Mut, als vielmehr Einsicht und Konsequenz, Tag für Tag.
Jeden Tag finden wir uns auch in Situationen wieder, in denen wir Mut beweisen können: Da schimpft ein Kollege über Schwule, reißt Türkenwitze, Österreicherwitze, Blondinenwitze. Wir sollten etwas dagegen sagen.
Da sitzt man am Grillplatz mit einem älteren Herrn zusammen, der sich als Nicht-Herr erweist: Er erinnert sich, daß man bei der Hitlerjugend die Höhe der Flamme mit dem Hitlergruß bemaß und beginnt, das dazugehörige Lied zu schmettern (er hat schon einiges an Bier intus) und den Arm zu heben. Wir drücken die Augen zu.
Jugendliche bezeichnen auf der Straße ein Mädchen als ‚Fotze‘, wir sollten als Vorbeigehende eingreifen.
Viele kleine Mutproben gegen den Kleinmut. Sie dienen dazu, Klarheit herzustellen, schwarz als schwarz und braun als braun zu bezeichnen; sicherzustellen, daß jeder Mensch Mensch ist und Würde hat, die wir nicht zerstören dürfen; und nicht zuletzt: die Vergangenheit endlich zu begraben und reinen Herzens in die Zukunft zu gehen.
Was haben wir geschuftet, damals nach dem Krieg, den Nacken gebeugt und gebuckelt! Wir – die Nazis – hatten ihn angezettelt, hatten alle ringsherum angegriffen, hatten im eigenen Land und in dem der anderen gesäubert und gemordet, deshalb fühlten wir uns nach dem Alptraum auch so schuldig und sehnten uns nach Erlösung.
Die kam mit dem Marshall-Plan, eine todsichere Investition in ein ausgehungertes, schuldbeladenes Land mit sprichwörtlichem Fleiss.
Es begann die große Ära des Wohlstands, der materiellen Wertschöpfung, des Materialismus. Die Spirale begann sich zu drehen, in immer dichter werdenden Kreisen, mit immer schwindelerregenderen Folgen, in Superlativen negativer Worte, die uns als tolle Errungenschaften präsentiert werden.
Schon in der Kindererziehung haben wir gelernt, daß ein kindliches Gehirn ein ‚nicht tun‘ mit einem ‚tun‘ gleichsetzt und die Verneinung nicht registriert; es scheint, daß wir Erwachsenen jeden Superlativ, sei er auch noch so negativ besetzt, bedingungslos umjubeln – wie sonst wären die täglichen Hiobsmeldungen auszuhalten, die uns die schön aufgemachten Damen und Herren mit ihren sonoren Stimmen um die Ohren schlagen?
Inzwischen ist das Materielle ausgereizt, die Märkte sind gesättigt, die Nachfrage bricht, zusammen mit der Wirtschaft, dramatisch ein. Auch wir sind satt und übergewichtig, krank. Die Ressourcen sind ausgebeutet, die Umwelt ist geschädigt, der Ast, auf dem wir sitzen, ist angesägt.
So sehen unsere Körper aus, was aber ist mit unseren Seelen? Schon das Aussehen zeigt, daß unsere Selbstachtung verkümmert, und unsere Haltung drückt aus, daß es um unsere Würde schlecht bestellt ist. Unsere Gesichter sind von innen heraus fahl, auch wenn sie noch so gebräunt sind unter tropischer oder künstlicher Sonne. Die nichterfüllten Erwartungen an den Erwerb des Materiellen ziehen unsere Mundwinkel nach unten und nehmen den Augen ihren Glanz. ‚I can’t get no satisfaction‘.
Das wäre der Moment, in dem wir uns vom materiellen Denken befreien und die Werte, das Geistige und Spirituelle wieder ausgraben könnten, um unseren Hunger zu stillen.
Es scheint, wir haben diese Chance nicht erkannt, vertan. Anstatt selbst etwas dafür zu tun, geben wir uns wieder mit der passiven Rolle zufrieden, lassen andere für uns arbeiten. Für uns? Gegen uns! Die Werte werden unter dem Deckel gehalten.
Der Computer ist da und mit ihm das Internet und die große und verlogene Welt des Virtuellen. Sie wirkt auf die hungernden Seelen wie ein Heilsversprechen: ‚Kauf mich, wähl‘ dich ein, und du wirst glücklich‘. Ein Click, eine Investition und sonst keinerlei eigene Leistung. Alles schon von perfiden Anderen gemacht, die in den Startlöchern sitzen im Run auf das große Geld, unser Geld.
Wir sind durchschaut, alles ist schon fertig, die Fallen sind aufgestellt. Für Träume muß man zahlen, aber müssen wir gleich die Seele verkaufen?
Genau an diesem Punkt sind wir heute; nur eine Windung der angsterregenden Spirale weiter in Richtung Implosion und schwarzes Loch. Die Zentrifugalkraft hält ihr die Waage: Es fliegen raus all die Armen und Hungernden, die Opfer von Aids und anderen Infektionskrankheiten, die an unserer Welt Verzweifelten und in den Fundamentalismus Abdriftenden.
Mit unserem Hochmut mögen wir denken: ‚Schwund ist bei allem‘, aber wir selbst könnten bald der Ausschuß sein.
Die Welt des Virtuellen ist groß, unüberschaubar, unfaßbar und voller krimineller Energie. In ihren Augen sind wir nichts, nichts als Geldbringer, Lumpen zum Auswinden. Je mehr sie zuschlägt, desto mehr Heil versprechen wir uns von ihr. Das Virtuelle ist ein Stoff, er kann abhängig machen, grausamer als Heroin und Cocain. Er kitzelt unsere niedersten Instinkte hervor und fängt uns damit ein. Er ist von Menschen ausgedacht und gemacht, die nichts Gutes mit uns vorhaben. Er ist ein böser Götze.
Und die Gurke nicht mehr. Oder wieder? Form follows norm.
Seit ein paar Tagen befinden wir uns, was die Form der Gurke angeht, in einem Vakuum.
Die EU-Behörde hat ihre Form-Vorschrift aufgehoben, nach der – zur Freude der Verpackungsfachleute und der Gemüseregalbeauftragten - die Gurke nur noch akzeptiert wird, wenn sie gerade gewachsen ist. Nationale, neue, noch strengere DIN-Normen sollen fürderhin die Gurke in Form pressen und das Vakuum füllen.
Mit noch mehr Geschmacklosigkeit. Denn keinen – weder den Produzenten noch den Konsumenten - interessiert der Geschmack der Gurke, der Erdbeere, des Spargels und des Salats, und infolgedessen essen wir all das in all seiner Geschmacklosigkeit. Hauptsache, es läßt sich platzsparend und mit wenig Aufwand verpacken. Kann uns Gourmets das interessieren? Wir bezahlen teuer für ein wäßriges Etwas von unnatürlicher Form, und wenn man uns die Augen zubindet, können wir nicht mehr sagen, was wir da zwischen den Zähnen und auf der Zunge haben.
Ein Triumpf der Oberflächlichkeit. Zu wessen Nutzen?
Laßt uns uns alle mit Gurken, geraden und krummen, bewaffnen und diese landauf, landab, von Brüssel bis Berlin, über Stuttgart bis auf den kleinsten Acker, den Verantwortlichen um die Ohren schlagen; wobei die krummen effektiver sind und schönere Kollateralschäden verursachen. Haut über 30 braucht mehr Feuchtigkeit und eine Gurkenmaske ist ein Wundermittel gegen Falten und einen mißmutigen Gesichtsausdruck.
Mann und Frau, in diesem Fall Herr und Frau Schäuffele, sitzen im Auto.
Mann: "Immer dieser Verkehr!"
Frau: "Unser Büble wird groß. Was soll er mal werden?"
Mann: "Groß ist er schon."
Frau: "Ich denke an etwas krisensicheres."
Mann: "Heutzutage. Man weiß nicht mehr, was man raten soll."
Frau: "Guck mal raus, vor uns fährt ein Leichenwagen: ‚Europa’s führendes Sargdesign‘."
Mann: "Ja, und?"
Frau: "Das ist doch ein krisensicheres Geschäft, was für's Leben."
Mann: "Ein Leichenwagen was für's Leben?"
Frau: "Ja, für den der drin sitzt, nicht für den, der drin liegt."
Mann: "Sitzengeblieben ist er ja schon."
Frau: "Also die besten Voraussetzungen."
Mann: "Gestorben wird immer, in guten und in schlechten Zeiten."
Frau: "Bis daß der Tod euch scheidet."
Mann: "Uns."
Frau: "Wie: uns?"
Mann: "Uns!!"
Frau: "Ach ja, so haben wir mal geschworen, lang ist's her."
Mann: "Olle Lamellen. Aber bequem."
Frau: "Was soll denn das heißen?"
Mann: "Du kochst so gut."
Frau: "Danke für das Kompliment."
Mann: "Bitte, bitte."…………………..
Frau: "Um was bittest du?"
Mann: "Um eine Gehaltserhöhung."
Frau: "…?"
Mann: "Meinen Chef."
Frau: "Mitten in der Krise? Deutschland's Chefin hat doch gesagt: ‚Schwierige Zeiten, jeder muß bescheiden sein'."
Mann: "Wir verkaufen fast nichts mehr auf dem Markt."
Frau: "Aber gestorben wird immer!"
Mann: "Das kostet seinen Preis, aber man hat nachher nichts in der Hand."
Frau: "Eben wie immer: Angebot und Nachfrage."
Zwei Wählerstimmen.
Warum siedeln sich Menschen immer wieder und wiederholt am Fuße von aktiven Vulkanen an oder bauen Großstädte auf den Rändern auseinanderdriftender Festlandsschelfs oder über Stellen, unter denen sich zwei Erdplatten aufeinanderschieben und regelmäßig die Erde beben lassen? Ist es die Herausforderung an die technischen Mög-lichkeiten, der Anstoß zur Entwicklung immer raffinierterer Kompensationsmechanismen, deren Produkte dann den Härtetest machen sollen?
Haben die Menschen nicht schon selbst genügend Orte geschaffen, an denen das Leben in Gefahr ist?
Gerodete Wälder erleichtern Erdabgänge und Schlammverschüttung, heruntergewirtschaftete Alpenlandschaften erhöhen die Gefahr von Lawinen, begradigte Flüsse rufen alljährlich Überschwemmungen hervor, Massenansiedlungen an Tourismusstränden könnten mit Tsunami-Adventure locken, Slums ohne Hygiene sorgen für hohe Sterblichkeit, Bürgerkriege und marodierende Privatheere jagen ganze Völker in die Flucht und in den Jammer.
Der Mensch sucht die Herausforderung. Sie ist das Ferment, das die Entwicklung weitertreibt. Und wenn die Gefahr aus etwas Größerem als er selbst kommt, ist sein Antrieb umso mächtiger.
Trotzdem ist die Frage erlaubt, warum er seine Kreativität nicht dafür einsetzt, unter seinesgleichen gerechtere Bedingungen zu etablieren, Ausbeutung abzuschaffen, jedem seine Chance für ein menschenwürdiges Leben zu geben.
Sollte die Erklärung hierfür sein, daß er dann kritisch mit den Anderen und vor allem selbstkritisch mit sich selbst umgehen, Mut entwickeln und der Wahrheit ins Gesicht sehen, ja, überhaupt erst einmal der Wahrheit zum Durchbruch verhelfen müßte? Im Grunde einfache Verbesserungsvorschläge, die nichts kosten; die zehn Gebote könnten das Drehbuch dafür sein, das Manual, die Bedienungsanleitung.
Warum werden sie nicht in Betracht gezogen? Warum sind sie nichts wert? Weil sie nichts kosten? Weil wir dafür keinen Kaufvertrag mit Gewährleistung abschließen können und vielleicht die gewohnten zwei Jahre Garantie vermessen sind?
Viele Fragen. Die ersten Schritte sind klein. Die ersten Antworten einfach.
Texte: Copyright bei Cecilia Troncho
Tag der Veröffentlichung: 28.10.2009
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