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Wahlabend


Der Wähler hat gesprochen. Er hat gesagt: Euch wähle ich nicht mehr. 

Die Partei bricht um die Hälfte ein.

Der Vorsitzende steht am Fernsehpult und bemüht sich, auf seine steinernen Züge einen Hauch Arroganz zu legen, wenigstens dieses Gefühl; alle Konzentration legt er hier hinein.

Da rutscht ihm schon so manches unglaubliche Wort zwischen den optimistisch hochgezwungenen Lippen hindurch. Kann das sein, so unbedacht? Gut, der Wahlkampf ist vorbei, man müßte eigentlich nicht mehr lügen, aber man hat sich das Lügen so angewöhnt, daß es zur zweiten Natur geworden ist. Die alten Worthülsen klingen blechern, aber sie bedecken immerhin die Scham.

Die Politiker stehen so da, wie Adam und Eva nach dem Sündenfall. Sie zeigen mit dem Finger auf die Schlange, mit der anderen Hand pressen sie das Feigenblatt zwischen die Beine, sie, die doch so gerne den Kranz aus Lorbeerblatt auf’s Haupt gesetzt hätten.

Sie haben vergessen, daß es nicht um sie geht, sondern um die Politik, die sie abgeliefert haben und die nun keiner mehr will. Es geht überhaupt nicht um sie persönlich, sie sind Beauftragte der Wähler. Das haben sie vor lauter verletzter Eitelkeit vergessen. In ihrem Hinterkopf rotieren, wie Maschinen im Bauch eines kenternden Ozeanriesen, die Gedanken: Wie kann ich die Verantwortung abwälzen, wie kann ich mich an Bord halten, das Gesicht wahren, an der Macht bleiben? Ein Königreich für ein paar neue Lügen.

Ihr einziges Glück ist, daß alle gleich sind, auch die Vertreter der anderen Parteien, ihre Gegner. Keiner sticht hervor, alle stechen um sich. Keiner fällt unten hinaus, alle wollen und müssen gefallen.

Es gab eine seltsam hohe Wahlbeteiligung. Ja, seltsam, daß die Menschen noch zur Wahl gehen, wo solche Lügner und Egoisten zur Auswahl stehen. Sie haben keine Wahl, eben nur die: sie abzuwählen. Es scheint ihnen nicht weh zu tun, das Zeichen wird nicht verstanden.

Die Menschen haben ein Gefühl für den Wert der Demokratie, diese Errungenschaft, die nicht zu bezahlen ist. Die Politiker nutzen das aus und sind es nicht wert.

 

 

 

 

 

 

 






Leben, Sinn

Leben: bisher selbstverständlich, und plötzlich – Szenenwechsel - ein Geschenk, eine Chance, vergänglich. Vergänglich, wenn wir uns als Individuum begreifen.

Der Gegenpol: Tod. Zeigt sich der Sensenmann am Horizont – wer weiß, vielleicht /hoffentlich erwartet er uns als schöner Jüngling -, blinkt plötzlich auch die Frage nach dem Sinn des Lebens auf. 

Wir sind irritiert, verängstigt, fühlen uns als Versager:

Bisher war der Sinn unsere Lebens, daß wir als Rädchen im großen Gefüge funktionierten.

Plötzlich bricht das Gefüge weg, das Rädchen dreht hohl; ist damit der Sinn weggebrochen ?

Ja, die Leistungstochter hat den Übervater verloren und, mit Eintritt in das Pensionsalter und/oder die Krankheit auch das große Gefüge, das vorgegebene Programm.

Und auch: Die Mutter hatte sie so geprägt, daß sie immer etwas für die anderen tun möchte und muß, sonst blickt sie in’s Leere.

Jetzt sollte sie endlich etwas für sich tun, aber der Sog des Vakuums macht ihr Angst.Trotzdem heißt es:

Mit der Hand an der Gurgel und ohne fremde Vorgaben ein eigenes Programm entwickeln: Sich selbst genug sein. 

Zuallererst: Wir sind Wesen, sind nicht so wichtig, haben aber unseren Platz im Karussell des Lebens. Sind Individuen und müssen das am Schluß vergessen, denn wir gehen nach unserem Ende wieder in den Kreis der Elemente ein. Sind aus Sternenmaterial und werden zu Erde. Nähren damit Pflanzen und Tiere.

Also: keine Panik, wir sind Teil des ewigen Kreislaufs.

Schon dieses Wissen ist Sinn genug. Das angstmachende Vakuum ist also nichts anderes als die Kraft, die alles in Bewegung hält. 

Die großen Mystiker wußten es: Wenn ich mich selbst liebe und respektiere, liebe und respektiere ich die Schöpfung. Mathematisch richtig, denn ich bin ein Teil von ihr, in mir ist sie präsent und repräsentiert. Deshalb bin ich wichtig, aus mir selbst heraus, nicht weil ich dies oder jenes gemacht, so und soviel verdient habe, diesen oder jenen Posten bekleidet und soviel erreicht habe. Das ist nur die Schale, die von uns abfallen muß, damit wir uns selbst gerecht werden können.

So einfach ist es, und so schön. Das Leben und sein Sinn.

Alte Eichen

Wir glauben, ewig zu leben, machen Lebenspläne, strukturieren unsere Zukunft; Versicherungen und Kreditinstitute hängen sich an diese unsere Illusion und profitieren davon.

Wir haben das Gefühl für die Vergänglichkeit verloren; trotz aller Uhren hören wir nicht mehr die Zeit, die tickt.

Die Spuren der Zeit werden vertilgt, wegoperiert oder wenigstens zugekleistert, das Alter wird peinlich. Weil wir es am liebsten verdrängen würden, verlieren wir jeglichen Respekt.

Zwei Eichen standen auf der Gemeindegemarkung, sie standen seit 260 Jahren, bei Sonne und Schnee, Wind und Regen. Sie haben dem Frost, den Stürmen, der Trockenheit widerstanden, waren stark geworden. Jedes Frühjahr pumpten sie ihre Lymphe zusammen mit dem Chlorophyll aus den Wurzeln wieder in die Äste und ließen ein herrliches Blätterdach entstehen, das den Sommer über Schatten spendete und vielerlei Gästen Schutz bot. Im Herbst sammelten sie ihren Lebenssaft wieder in den Wurzeln und zeigten ihre pure Form. Schnee, Eis und kalte Winde konnten ihnen so nichts anhaben. Im Frühling stülpten sie ihr Leben wieder nach außen.

So weit, so selbstverständlich.

Sie hatten Napoleon mit seinem Heer vorüberziehen sehen, als er sich anschickte, ganz in der Nähe die österreichischen Truppen im Kampf zu besiegen. Sie hatten die Luftangriffe auf Ulm aus der Ferne erlebt, die heranfliegenden Bomber, den Glanz des Phosphorbrandes. Sie hatten das Dorf wachsen sehen, die Häuser kamen immer näher.

So nah, daß plötzlich ihre Herbstblätter in die Gärten wehten, die Kehrwoche kaum mehr zu bewältigen und die Grünanlage nur noch mit viel Arbeit sauberzuhalten war. Das ärgerte die wackeren Schwaben.

Am Stammtisch wurden die Gemeinderäte mit dem Thema befaßt. Es waren Ameisen am Stamm der Bäume gesichtet worden, die blähten sich auf und wurden zur Roten Waldameise. Alarm! Probebohrungen an Stamm und Wurzeln konnten den Verdacht nicht ausräumen: Vielleicht wurden sie ja nach und nach innerlich zerfressen, könnten dann auf die Häuser stürzen, alles verwüsten und Menschen erschlagen. Ein Horrorszenario. Vielleicht käme ja der Jahrhundertsturm oder gar der Jahrtausendsturm, wie gefährlich! 

Die nächsten Nachbarn, denen die Bäume an's Herz gewachsen waren, setzten sich für sie ein. Sie aktivierten den Bund für Naturschutz, appellierten an die Landschaftsschützer, argumentierten in der Gemeinderatssitzung für die hochbetagten und kraftstrotzenden Eichen, wollten das Gelände kaufen, um sie zu retten.

Ein langer Kampf, der jäh endete: Kurz vor der entscheidenden Gemeinderatssitzung schrieb der BUND in der Regionalzeitung einen polemischen Artikel über den ‚Fall‘, den Gemeinderäten fiel damit die Entscheidung leicht: ‚Fällen‘.

Das Fällkommando rückte an und machte ganze Arbeit; in wenigen Stunden fielen zweimal zweihundertsechzig Jahre Leben.

Man ließ dem nächsten Nachbarn netterweise einen der Bäume vor seiner Haustür liegen, sozusagen als Trost für einen frustranen Einsatz.

Das schöne Eichenholz! Landauf landab gibt es kein Sägewerk mehr, das das Holz hätte bearbeiten können, keine Maschine mehr von dieser Größenordnung. ‚Wir besorgen unser Holz aus China'. Der Nachbar hatte Monate zu tun, um aus dem Baum Brennholz zu machen. Einige wenige Stücke des Stamms hob er sich auf, um daraus Skulpturen zu machen, denn er ist Künstler.

Diese Eiche wird eine Metamorphose durchmachen: Sie wird als Kunstwerk weiterleben und Wärme geben. Ein schwacher Trost.

Noch nicht einmal ein Jahr Leben

Es war einmal eine Wanze. Im Frühjahr und Sommer war sie unauffällig grün und besuchte ihre Schwestern, die grünen Blätter, um deren Schmuck und Struktur abzukupfern.

Gegen Mitte des Sommers legte sie ihr Hochzeitskleid an, einen purpurroten Mantel mit schwarzen geometrischen Mustern, geradezu psychedelisch. Und verdrehte ihrem Gegenüber so die Augen, daß beide beschlossen, sich zu paaren. Der Luststachel war an ihrem Hinterteil befestigt, gerade so wie der Köcher, der ihn aufnehmen sollte. Mit bedächtigen Rückwärtsschritten gingen beide aufeinander zu.

Ein ruhiger Hochzeitstanz, mit äußerster Ruhe und Präzision ausgeführt.

Nun waren sie verbunden und es war schwierig, die Richtung zu bestimmen und zu finden. Einmal wurde die eine gezogen und setzte ihre Füßchen rhythmisch in den Rückwärtsgang, dann wieder die andere. Lange dauerte die innige Verbindung, beide lernten zurückzustecken, einmal stolzierten sie über meine Tastatur.

Es kam der Herbst, die Zeit der Früchte, die Zeit der Farbe. Jetzt konnte auch sie trumpfen. Sie zauberte zwei Masken auf ihren Rücken, durch die glänzende Augen blitzten, zwei lächelnde Münder und einen sternenbesetzten Mantelrand aus kleinen Nachthimmelausschnitten.

Bald kam der Winter. Und damit das Ende eines ereignisreichen Lebens, in Schönheit verbracht.

Die Wanze.

Lebensstaffel

Im Staffelwettlauf wird von einem zum nächsten ein Stab weitergereicht; im Lauf des Lebens und von einer Generation an die andere ist dieses Kontinuum die Liebe und Sorge füreinander. Liebe nicht in ihrem sexuellen Ausdruck, nicht als Gefühl, sondern in Form langlebigen und unvergänglichen Einstehens füreinander.

Hast du mir den Po abgewischt, wische ich ihn dir jetzt ab. Was in der jüngsten Kindheit wie eine Selbstverständlichkeit klingt, gerinnt im Alter zur Peinlichkeit. Warum?

Hilflosigkeit ist für den alternden Menschen eine Horrorvorstellung. Der Stolz des Erwachsenen ist seine Unabhängigkeit; um sie zu erreichen, muß der Heranwachsende alles lernen, viele Schulen besuchen, die Krönung ist die Schule des Lebens.

Das Gefühl der eigenen Unabhängigkeit gibt ihm die Kraft und den Mut, es mit dem Leben aufzunehmen, all seine unerwarteten und unvorstellbaren Wendungen hinzunehmen und, wenn es sein muß, ihnen die Stirn zu bieten oder sich ihnen zu unterwerfen.

Nähern wir uns dem Tod als alter Mensch, haben wir Gelegenheit, Schritt für Schritt und Tag für Tag, immer mehr, wieder zum Kind zu werden und so den Bogen des Lebens zu vollenden. Und so, wie unser erster Triumpf die Leistung war, auf’s Töpfchen zu gehen und die Windeln ablegen zu können, so ist eine unserer letzten Aufgaben, zur Windel zurückzukommen und uns den Hintern abwischen zu lassen, im besten Falle von einem unserer Kinder.

Ein banales Beispiel für die Kontinuität des Lebens und für alles, was von Generation zu Generation weitergegeben wurde.

Wir befinden uns in einer Gesellschaft von Singles, Individuen, Egos. Die Mobilität hat die Familien auseinandergesprengt, die Ichbezogenheit tut das Ihre, zementiert die Mauern zwischen dem Einen und dem Anderen.

Das Sichumeinanderkümmern ist eine Einbahnstraße geworden. Es erschöpft sich während der Zeit der Kindererziehung und verpufft an der Schwelle zum Erwachsenwerden. Es ist nicht mehr umkehrbar, sondern hat sich als sozialer Klebstoff verflüchtigt.

Was bleibt, muß bezahlt werden und wird professionell erledigt, im Takt der Stechuhr und wie am Fließband. Diese letzten Dienste werden von Dienstleistern geleistet.

Schöne neue Welt.

Richtig: Schön, daß unter meinen Freunden einige sind, die sich die Zeit nehmen, ihren alten Müttern den Hintern abzuwischen, von allem anderen einmal zu schweigen, und die bei ihnen alle Peinlichkeiten und Bedenken auflösen mit den Worten: ‚Du hast das auch für mich gemacht.‘

Licht und Schatten

"Das weiße Papier ist so leer und so licht! Muß Buchstaben draufhämmern, damit Wohlklang und Sinn aus dem Schatten treten."

Also spricht diejenige, die schreibt.

Drucktintene schwarze Gestalten schleichen sich durch unsere Augen in unser altes Gehirn, das sie mit Farben durchdringt, mit Fleisch belegt, mit Blut in Wärme versetzt. Unsterblich sind sie so geworden; wer eine Nase hat zu riechen, nimmt ihren Duft auf, sie sind umgeben von Klang, sie sind das reine Gefühl.

So zieht der Blick Farbe und Duft aus dem alten Gehirn und entdeckt auf einmal Licht im Schatten, Glut im Kalten, Farbe im Dunklen.

‚Denn man sieht nur die im Lichte, die im Schatten sieht man nicht.' (B.Brecht)

Haben wir nicht ein drittes Auge? Das unsere Tagesrhythmen steuert, uns gegen die Depression feit. Auch dieses dritte Auge hat schon viel gesehen und legt seine eigenen Bilder auf das Bild der Welt, das auf diese Weise tiefer, kontrastreicher und überhaupt erst erfahrbar, erfühlbar wird.

Ein bunter Strauß im wandelnden Licht, im wandernden Schatten.

Netz

A: „War heute den ganzen Tag im Netz unterwegs, am Schluß bin ich abgestürzt.“

B: „O Gott, wohin?“

A: „Wie: Wohin?“

B: „In’s Leere? Hat es weh getan?"

A: „Nein, bin auf dem Boden angekommen; jetzt bin ich am Boden.“

B: „Brauchst du Hilfe?“

A: „Von wem? Von dir? Weißt du überhaupt, was das Netz ist?“

B: „Ich weiß sehr wohl, was ein Netz ist.“

A: „Das Netz.“

B: „Welches Netz?“

A: „World wide net.“

B: „Kann kein Englisch.“

A: „Macht nichts, ist amerikanisch:“B: „Kann ich auch nicht.“

A: „Www.“

B: „ Wie, wie, wie?“

A: „Nimm mich nicht hoch!“

B: „Ich denke, du bist am Boden.“

A: „Bin ich auch.“

B: „Kann ich dir helfen?“

A: „Du?“B: „Ja.“A: „Warum?“

B: „Wie denn?“

A: „Mir reißt bald der Geduldsfaden.“

B: „Besteht denn das Netz aus Fäden?“

A: „Nein!“

B: „Also, laß ihn reißen.“

Plong! Aufschlag! Wehwehweh!

Geschichten in Schichten

Die Geschichtenerzählerin schließt den Mund und öffnet die Augen. Sie hat eben eine wunderbare Geschichte zutage gefördert: die Geschichte zweier junger Menschen, die ein gemeinsames Leben beginnen, eine Liebesgeschichte. 

Für die Beiden ist alles neu: die Textur des geliebten anderen Körpers, die Facetten seiner Seele, die sich in den Augen spiegelt, seine Vorlieben und das, was ihm verhaßt ist. „Ja, aber warum?“ „Weil ich als Kind…..“ 

Und schon beginnt eine andere Geschichte, sie ist Teil des Werdens und erklärt die Haken und Ösen, die sich gebildet haben.

„Erzähle.“…..

„Auch meine Eltern haben eine Geschichte. Sie sind nicht hier geboren, sondern mußten flüchten.“So hatten sie ihren Anteil an der Geschichte.

 „Meine Großeltern mußten auch fliehen. Danach gab es Krieg, sie waren mitten drin. Mein Großvater kann Dir Geschichten erzählen!“

„Meine Uroma, die ich noch gekannt habe, erzählte mir einmal, daß sie früher an den langen Winterabenden zusammengesessen seien und sich Geschichten erzählt hätten. Damals gab es kein Radio und Fernsehen, unglaublich!“

„Ich weiß auch noch: Als Kind bekam ich jeden Abend vor dem Einschlafen meine Gutenachtgeschichte. ‚Für gute Träume‘, wie es hieß. Und dann habe ich auch sehr behütet geschlafen."

Soweit wir zurückgehen: Geschichten sind der Stoff, der die Vergangenheit in unser Leben einwebt, ein reiches historisches und soziales Gedächtnis, Kapitel eines Lehrbuchs, das mündlich – und damit um so plastischer – weitergereicht wird, aus dem Mund von Menschen, die wir kennen und lieben, die für uns begreifbar sind.

Aus krank mach gesund: Krankenhaus wird Gesundheitszentrum

Früher wußten die Menschen, wo sie sich hinwenden sollten, wenn sie krank waren: an das Krankenhaus am Rande des Städtchens.

Heute hat ein Gesundheitszentrum das Krankenhaus geschluckt, hat sich darum herumgeschlungen wie eine Krake, und hat damit zu tun, dieses zu verdauen – es liegt ihm schwer im Magen. Denn es produziert Kosten, rote Zahlen gar.

Die Schilder, die zum Gesundheitszentrum weisen, sind Legion; ein so großer Bedarf an Gesundheit? Schon, aber: Mit Gesundheit wird vor allem Geld verdient. Wenn ich dort eintrete, von der Werbung angestachelt, was erwartet mich?

Ich schaue mich um: Arztpraxen, eine Apotheke, ein Wellnesscenter, ein Friseur, ein Restaurant mit Bistro. International! Also könnte man auch die Zentren unserer Städte als Gesundheitszentren bezeichnen? Dort muß ich nur ein paar Schritte gehen und habe noch die freie Auswahl, Arztwahl. Und das ohne Zwangsbeschallung. 

Bei Licht besehen ist es eine marktbereinigende Meisterleistung, ein Gesundheitszentrum zu installieren.

Neben einem Konzept, das auf vielen Beinen steht (Gesundheit in Form von Arztpraxen und allen oben genannten Institutionen, Krankenhaus, Altenheim) muß es sich vor allem der Geisel der heutigen Menschheit öffnen, der Überalterung häufig alleinstehender Menschen, und diesen beizeiten Wohnungen in einem Komplex für betreutes Wohnen zum Kauf bereitstellen, solange diese sie noch bezahlen können. Hierbei hat man mit den etablierten Institutionen für Altenpflege zu kämpfen.

Bei der Auswahl der Ärzte, die in’s gelobte Land einziehen dürfen, sind es die hohen Mietpreise, welche die Spreu vom Weizen trennen: die Spreu fliegt raus.

Klingt nach Dreschflegel, die Klientel – Landbevölkerung, bäuerliches Umfeld - versteht dieses Bild sogleich. 

Für die ärztlichen Mieter ist ein solches Konzept ein hohes unternehmerisches Risiko, in das sie nur mit dem Hinweis auf Marktbereinigung und exklusive Position gelockt werden können. 

Das Krankenhaus im Innern des glasblitzenden Stahlgebäudes bringt die Klientel ein, der nichts anderes übrig bleibt, weil sie wirklich krank ist. Und die hofft, daß die Gesundheit des Gesundheitszentrums auf sie abfärbt. Sobald diese Patienten wieder aus dem Bett kommen, nehmen sie hoffentlich die Angebote des Friseurs, des Restaurants und Bistros, vielleicht auch – sofern sie keine Schwären haben – die der Wellnessabteilung in Anspruch. 

Eine Hand wäscht die andere, in Desinfektionsmittel und Unschuld.

Und die Gesunden, die Krankheit schon vorher als aus der Gesellschaft ausgeschlossen und in die Hände von Spezialisten gelegt erlebt haben, haben einen neuen Illusionstempel: das Gesundheitszentrum.

Schattenhaushalt

Bei Nacht und Nebel entschwebt ein Gespenst dem Schattenhaushalt. Es ist schwierig zu erkennen und festzumachen. Aber es irisiert ein wenig. Könnte eine Lüge sein, eine Notlüge, eine Ausrede?

Ah, jetzt sieht man: Es ist gebrochen. Ein gebrochenes Versprechen.Trotz des Windes stabilisiert es seine Form.

Cool! Wohlig breitet es sich aus, schwebt hierhin und dorthin, wird dick und rund, verführerisch. Gegen eine so faszinierende Lüge hat die graue Wahrheit nichts auszurichten. Welch ein Einfallsreichtum, welche Fantasie, welche Unverfrorenheit waren da am Werk! Man könnte fast sagen: innovativ.

Deutschland braucht Innovationen!

Macht macht verführerisch, Macht macht schöpferisch. In manche der Worthülsen, die dabei herauskommen, muß ein dicker Hund verpackt werden, eingepreßt, und zwar so, daß von ihm möglichst wenig zu sehen und zu riechen ist. Denn: Es stinkt zum Himmel. Und das kommt nicht gut an. 

Aber da die Menschen schon daran gewöhnt sind, daß Worthülsen leer sind, werden sie hoffentlich nicht extra nachsehen. Und: Der Souverän hat gesprochen, jetzt sind die Fachleute am Werk, der Souverän kann und wird sich zurücklegen und die Spezialisten machen lassen. ‚Lassen Sie sich verwöhnen‘, werden sie rufen, ‚gönnen Sie sich etwas! Am Ende kommt die Rechnung.‘

„Wir gehen schwierigen Monaten entgegen, das will ich gar nicht verschweigen.“ Das Gesicht in Falten gelegt, die Hände gefaltet. Diesen Gestus kennen wir von der Kanzel, vom Altar. So stehen sonst Männer da in langen Frauenkleidern. Moderne Zeiten. Emanzipation in die alte Richtung. Wer hatte geglaubt, sie sei eine Entwicklung nach vorne, zum Besseren hin? Getäuscht! Die neuen Gebete sind: ‚Herr, gib uns wieder unser altes Wachstum zurück!

Das Wunderland der sozialen Marktwirtschaft. Wir haben unser Gewissen nicht erforscht, unsere Fehler nicht benannt und korrigiert. Wir haben vom Wähler die Generalabsolution erhalten.‘

 

Impressum

Texte: Copyright bei der AutorinCover: Skulptur von Friedrich Frankowitsch
Tag der Veröffentlichung: 23.10.2009

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