Leise, für die menschlichen Sinne nicht wahrnehmbar, schwang sich Jenna über das Brett des nur leicht angelehnten Fensters ins Innere des Bungalows und landete auf einem weichen Teppich.
Sie verharrte Leinen Augenblick lang still und lies ihre Sinne vorauseilen.
Im oberen Stockwerk konnte sie den leisen Herzschlag und das regelmäßige Atmen von drei Personen hören, die offensichtlich im Tiefschlaf lagen.
Zufrieden wandte sie sich der Treppe zu und stieg die Stufen hinauf.
Anscheinend war die Frau des Hauses eine gute Hausfrau, denn es roch nach Möbelpolitur, einem Putzmittel mit Zitrone und den Düften vergangener Abendessen.
Da war sie schon in ganz anderen Behausungen gewesen!
Zielsicher wandte sich Jenna nach rechts, weg vom Schlafzimmer der Eltern, und wich auf ihrem Weg einem Paar herumliegender Turnschuhe aus.
Das gelang ihr ohne einen Laut zu verursachen, denn sie konnte im Dunkeln fast besser sehen als bei Tageslicht.
Völlig Geräuschlos öffnete sie die Türe, hinter der das einsame Schlagen eines einzelnen Herzes erklang.
Anscheinend machte die Hausfrau hier nicht sauber, dachte Jenna bei sich, als sie ins Zimmer schlüpfte und die Türe hinter sich schloss.
Hier roch es wie in einem typischen Teenagerzimmer.
Drei Tage alte Pizza, ungewaschene Socken, Wollmäuse und die Ausdünstungen eines männlichen Jugendlichen.
Sie rümpfte kurz die Nase und trat an das Bett, unter dessen Decke ein unförmiger, nach Schweiß und Kaugummi riechender Leib lag.
Jenna beugte sich über ihn, während das Brennen in ihrem Hals immer stärker wurde.
Sie hätte nicht so lange warten sollen, bis sie sich wieder nährte, das war ihr klar.
Sie konzentrierte sich und lies den Teenager tiefer in den Schlaf gleiten.
Der Junge würde morgen nicht merken, dass er als unfreiwilliger Spender hergehalten hatte. Er würde sich vielleicht über die zwei kleinen Moskitostiche an seinem Hals ärgern, aber sonst würde er einfach weiterleben wie bisher.
Eigentlich mochten Jenna und ihre Artgenossen das Blut eines Menschen lieber aus der Vene am Oberschenkel, anstatt das abgestandene aus der Halsschlagader, doch dann hätte sie es wie die anderen Vampire halten müssen, und sich den Lebenssaft beim Sex mit einem Menschen nehmen. Die Sterblichen merkten das in der Regel gar nicht.
Doch das behagte Jenna nicht, also musste sie mit dieser Variante zufrieden sein.
Das Brennen in ihrem Hals war mittlerweile schon ins Unerträgliche gestiegen, also schob Jenna das schulterlange, dunkle Haar des Jungen zur Seite und beugte sich tiefer über seinen Körper.
Sie spürte, wie ihre Fänge aus dem Zahnfleisch fuhren und sich fast auf das Doppelte verlängerten. Würde sie ihre geschlossenen Augen öffnen, würden sie wie eine LED- Lampe in tiefem Rot glühen.
Doch sie wollte verhindern, dass ein vielleicht schlafloser Nachbar den Schein bemerkte und die Bewohner am Morgen danach fragte, also ließ sie sie geschlossen.
Mit einem leisen Seufzer bohrte sie ihre Fänge in die weiche Haut unter dem Ohr und begann sofort zu schlucken.
Der stetige Strom aus der Ader des Jungen linderte das Brennen fast augenblicklich und erfüllte Jenna mit einem warmen Gefühl im Magen.
Als sie genug getrunken hatte, leckte sie mit der Zunge über die zwei winzigen Wunden, um sie zu versiegeln, und richtete sich auf.
Der Junge hatte sich nicht gerührt und verharrte immer noch in seinen Träumen.
Ebenso lautlos wie sie gekommen war verlies Jenna den Bungalow auf demselben Weg wie sie gekommen war.
Wie ein Schatten glitt sie aus dem Fenster und die Straße entlang, sich immer unter den Bäumen und außerhalb der Lichtkreises der Laternen haltend.
Unter einer alten Eiche hielt sie inne und lauschte mit geneigtem Kopf.
„Was hat so lange gedauert?“
Natürlich hatte sie seine Anwesenheit längst gespürt, schließlich war er ein Artgenosse.
„Deacon! Verfolgst du mich?“ fragte Jenna leise.
Sie wandte den Kopf und blickte die schemenhafte Gestalt an, die auf sie zu glitt.
Erst als er direkt vor ihr stand, lies er zu, dass sie ihn sah.
Deacon, ihr bester Freund seit hundert Jahren, war der schönste Mann, den sie je gesehen hatte.
Sein ebenmäßiges Gesicht wurde von strahlendblauen Augen unter kühn geschwungenen Brauen dominiert. Sein stacheliges, tiefschwarzes Haar glänzte in der Dunkelhend er die Wohnung leer vor.
Jenna und erand it, und eine vorwitzige Strähne fiel ihm bis auf die elegant gezeichnete Nase. Sanft geschwungene, volle Lippen lächelten sie an und zeigten zwei Reihen perlweißer Zähne.
All das, zusammen mit seinem hochgewachsenen, muskulösen Körper, gab ihm das Aussehen eines Kriegers, von einem Meister aus Stein gehauen.
Kein Wunder, dass er jeden Tag eine Andere im Bett hat, dachte Jenna bei sich, während sie ihn erwartungsvoll anblickte.
„Nein“, antwortete er mit seiner leicht rauchigen Stimme.
„ich war auf der Pirsch und habe deinen Geruch aufgeschnappt. Ich war neugierig, wen du dir ausgesucht hast“ gab er zu.
Jenna schnaubte leise und ging langsam die Straße weiter entlang, in der Gewissheit, dass Deacon ihr folgen würde.
„Bist du mit dem Wagen hier, Jen?“
„Ja! Und du bist natürlich wieder geflogen, oder?“
Deacon nickte leicht, während er seine Freundin von der Seite her ansah.
Er konnte nicht verstehen, dass sie so eine Abneigung gegen das Fliegen hatte, er fand es berauschend.
Den Abend verbrachten die beiden zusammen mit ihrem einzigen menschlichen Freund, Leland. Leland war vor einigen Jahren von einem abtrünnigem Vampir entführt worden, doch bevor er ihm etwas antun konnte, hatten Jenna, Deacon und ihre Einheit ihn gerettet, seither waren sie dick befreundet.
Die drei lümmelten wie ganz normale Freunde auf dem Bett in der Wohnung der beiden Vampire und guckten sich einen alten Horrorfilm an, natürlich mit Vamps.
„Uh, was haben die, zum Teufel, immer mit ihrem Knoblauch? Ich liebe Knoblauch“, knurrte Jenna, während sie das Geschehen auf dem Bildschirm fixierte.
„Das ist das gleiche wie mit dem Sonnenlicht“, mümmelte Leland mit vollem Mund, er hatte sich über eine Tüte Chips hergemacht.
„Woher die diese Weisheiten nur immer haben?“
Kopfschüttelnd blickte Jenna Deacon an.
„Außerdem, kein einziger Vampir in diesem Film hat ein Hemd an, alle zeigen ständig ihren Waschbrettbauch. Warum hast du immer was an? Wieso läufst du nie so rum? Vampire tun das, wenn das Fernsehen das behauptet, musses ja wohl stimmen!“
Deacon warf den Kopf in den Nacken und lachte schallend, wobei er seine spitzen Fänge zeigte.
Leland betrachtete sie fasziniert. Normalerweise achteten die Beiden immer darauf, in seiner Gegenwart so „Normal“ wie möglich zu wirken.
Das hieß, dass sie auch keine kleine Zwischenmahlzeit aus ihrem Kühlschrank zu sich nahmen, der mit kleinen Blutpäckchen gefüllt war, weshalb sie beide sich an Saft hielten.
Doch Leland war fasziniert von allem, was mit Vampiren zu tun hatte.
Er würde gerne mehr darüber hören, wie man in einen Blutsauger verwandelt wurde, doch Jenna und Deacon schwiegen eisern.
So viel er in den Jahren aufgeschnappt hatte, musste man drei mal Blut mit einem von ihnen tauschen, doch das war alles, was er wusste.
Als Deacon am nächsten Tag von der Arbeit kam, fand er die Wohnung verlassen vor.
Er und Jenna arbeiteten beide für das Institut.
Das Institut war eine Gemeinschaft von Vampiren, die sich darum kümmerten, dass keiner ihrer Artgenossen aus der Reihe tanzte und sich an die Regeln hielt.
Die Wichtigsten waren, dass kein Mensch getötet werden durfte, dass kein Sterblicher ohne Genehmigung des Rates verwandelt werden durfte, und dass niemand den Menschen von der Existenz der Vampire erzählen durfte.
Es gab im Institut zwar einige wenige Sterbliche, doch diese waren absolut vertrauenswürdig.
Jenna und Deacon gehörten einer der Einheiten an, die Abtrünnige Vampire aufspürten und eliminierten.
Doch Jenna hatte bei der Jagd nach einem besonders cleveren Blutsauger so viele Stunden angesammelt, da sie kaum geschlafen hatte, dass sie eine Woche Zwangsurlaub aufs Auge gedrückt bekommen hatte, was ihr gehörig gegen den Strich gegangen war.
Bei dem Gedanken an Jennas Gesicht, als der Leutnant ihr den Befehl überbrachte, musste Deacon grinsen.
Wahrscheinlich war sie mit ihrer Freundin Jax unterwegs. Die blonde Vampirin hatte sich gerade von ihrem Gefährten getrennt, deshalb kümmerte Jenna sich sicher um sie.
Während Deacon sich duschte und in bequeme Sporthosen und ein schwarzes T-Shirt schlüpfte, dachte er an die Menschenfrau, die er vorgestern im Club aufgerissen hatte.
Er bereute tierisch, dass er in einem unbedachten Moment seine Handynummer rausgegeben hatte.
Die brünette Tussi hatte seither schon fünf Mal angerufen, obwohl er ihr deutlich klar gemacht hatte, dass er keine Beziehung anstrebte.
Niemals und mit keiner! Schon gar nicht mit einer Menschin.
Jenna hatte ihn einmal gefragt, warum er so mit den Frauen umging, warum er einmal mit ihnen ins Bett ging und sie dann nie mehr anguckte.
Er hatte nur grinsend die Schultern gezuckt, denn was hätte er sagen sollen? Weil sie nicht du sind? Hätte er das sagen sollen? Es hätte nicht viel gefehlt, und er hätte es laut heraus geschrien.
Das war es nämlich, wovon er träumte. Jenna, immer nur Jenna.
Er liebte ihr schmales, cremeweißes Gesicht mit den dunklen, fast schwarzen Augen unter den fein geschwungenen Brauen und den unverschämt langen, dichten Wimpern.
Er liebte ihre hohen Wangenknochen und das energische Kinn unter den vollen, kirschroten Lippen.
Und ihr schmaler, biegsamer Körper mit den langen Beinen und den sanft gerundeten Hüften, auf welche ihr langer, geflochtener Zopf rabenflügelschwarzen Haares fiel.
Alles an ihr war einfach perfekt, doch Deacon hatte Angst ihre enge Freundschaft zu zerstören, wenn er Ambitionen in dieser Richtung anstreben würde.
Also lenkte er sich mit den Menschinnen ab.
Er wusste nicht, wie er reagieren würde, wenn Jen irgendwann einen Gefährten fände.
Stirnrunzelnd legte Deacon das Handy weg. Nun machte er sich doch langsam Sorgen.
Jenna war schon vierundzwanzig Stunden verschwunden, und niemand hatte sie gesehen, sie ging auch nicht an ihr Handy.
Auch leland hatte seit gestern nichts von ihr gehört.
Das war so untypisch für Jenna, da musste doch irgendwas passiert sein.
Er griff wieder nach dem schlanken, silbrigen Gerät und wählte.
„Jax? Hier ist Deacon! Hast du inzwischen was von Jen gehört?“ fragte er nervös.
„Nein“, erwiderte die Freundin, „doch ich habe mit dem Leutnant gesprochen. Er sagte, dass sie wohl ein Treffen mit einem ihrer Informanten hatte, mit diesem Vampir aus Texas!“
Deacon wusste, wo er suchen musste.
Er beobachtete den Texaner vom Dach einer alten Wäscherei, aus der es nach irgendwelchen Chemikalien roch.
Ein schlauer Vamp hätte ihn schon lange bemerkt, doch der Texaner ging weiter fröhlich seinen Geschäften nach und hatte einen Heidenspass dabei, dummen Menschen Drogen, Waffen und willige Frauen zu verkaufen.
Als der letzte Kunde eilig davon ging, zweifellos um sich irgendwo einen Schuss zu setzen, spannte Deacon die Beine an und sprang vom Dach. Kaum war er lautlos hinter dem anderen Vampir gelandet, da legte er auch schon die Arme um dessen Kehle und drückte ihm einen kleinen Silberdolch in die Seite.
Es gab nicht viel, was Vampiren gefährlich werden könnte, doch Silber war ziemlich schmerzhaft und verzögerte die rasche Heilung um ein Vielfaches.
„Was zum Teufel….“.
„Halts Maul“ unterbrach Deacon den schlaksigen Vampir, der nach Rauch und billigem Whiskey stank.
„Was weißt du von Jennas Verschwinden?“ fragte er mit vor Kälte klirrender Stimme.
„Jennas…wie bitte? Jenna ist…verdammt, keine Ahnung!“
Der andere Vampir klang nicht ängstlich, wie Deac bemerkte, sondern eher sauer.
„Ich würd der Kleinen nie was tun, sie is immer nett zu mir, Mann!“
Deacon wirbelte den Kerl herum und presste ihn, den Ellenbogen an seine Kehle gedrückt, an die Mauer dass die Putzbröckchen flogen.
„Erzähl mir keinen Scheiß, sie war mit dir verabredet“ sagte er gefährlich leise.
„Was? Von wegen, ich hab die Kleine schon zwei Wochen nicht gesehen. Wovon redest du, Mann?“
„Auf ihrem Pieper war die Nummer des Schuppens, in dem du immer rumhängst, mit der Nachricht, sie solle dich am Clearwater-Park treffen. Da trefft ihr euch immer, oder nicht?“
„Ja schon, aber die Nachricht war nicht von mir!“
Deacon löste seinen Ellenbogen von der Kehle des Mannes, denn er glaubte ihm.
„Wer könnte davon wissen, dass ihr euch dort immer trefft?“
„Niemand, ich pass immer auf, dass keiner zuhört!“ versicherte der Texaner, während er in der Tasche seiner engen Jeans nach dem Päckchen Zigaretten suchte.
„Was ist eigentlich los, he?“
Deacon erzählte ihm von Jennas Verschwinden.
„Nun, ich helf dir, ich mag die Kleine!“
„Gut, wir sollten schauen, ob sich einer erinnert, wer gestern um die Zeit des Anrufs am Telefon war“ schlug Deacon vor.
Der Texaner runzelte die Stirn. „Der Apparat hängt im Gang zu den Klos. Da könnte jeder hin. Aber ich frag mal rum, dir würde eh keiner was sagen, Junge!“
Ungeduldig wartete Deacon vor dem „Hells“, einer versifften Beize in einer zugemüllten Seitenstraße.
Undefinierbare Gerüche waberten über den Abfallcontainern und er konnte das leise Trippeln unzähliger Rattenfüße hören.
Es dauerte nicht lange, bis der Texaner durch die Türe nach draußen kam.
Er trat auf Deacon zu und schüttelte den Kopf.
„Nichts, oder?“ ragte Deacon monoton.
„Ich höre mich noch ein wenig um und ruf dich an“, versprach der Mann, die Zigarette hing ihm qualmend im Mundwinkel.
Er roch nach frischem Blut, also hatte er sich wohl einen Schluck genehmigt.
Sie verabschiedeten sich voneinander, dann stieg Deacon in seinen Wagen und fuhr zum Institut.
Der unscheinbare, zehnstöckige Betonbau enthielt ein paar Überraschungen, von denen kaum ein Sterblicher wusste.
Durch die Fenster viel das Sonnenlicht, und man konnte hinausschauen, doch von außen war nichts zu erkennen, was sich im Inneren abspielte.
Von der eleganten Marmorlobby mit seinem halbrunden Tresen, hinter der zwei Wachmänner vor Monitoren saßen, gingen zehn Aufzüge ab, für welche man nicht nur einen passenden Code brauchte. Ein jeder war mit einem kleinen, silbrigen Gerät ausgestattet, auf dessen Sensorfläche jede Person einen kleinen Blutstropfen hinterlassen musste, um sich zu idendifizieren.
Deacon nickte den Wachmännern zu und betrat einen der Lifte. Er ritzte sich mit einem seiner Fänge in den Finger und lies einen Tropfen Blut hervorquellen.
„ Deacon Sullivan, welche Etage wünschen sie?“ schnarrte das Gerät nach wenigen Augenblicken.
„Achtes Untergeschoss!“
Das war noch eine Besonderheit. Nicht einmal die Bauaufsicht wusste von den insgesamt dreizehn unterirdischen Etagen, in denen sich Büros, Labore, Bibliotheken und sogar einige Wohneinheiten für diejenigen Vamps befanden, die nicht so nah an den Menschen leben wollten.
Er folgte dem langen, von hartem Neonlicht beleuchteten Flur, seine Schritte hallten auf dem robusten Fliesenboden.
Mit den Händen in den Taschen seiner Cargohosen folgte er einer Abzweigung nach links und hielt vor einer Schwingtüre an, um einen Code in das Display zu tippen.
Schließlich gelangte er in das geschäftige Großraumbüro der Sondereinheit, in der sich seiner und Jennas Schreibtisch befand.
Vielleicht würde er dort ja einen Hinweis suchen.
Nach einer halben Stunde war er fast schon genervt von den Fragen seiner Kollegen nach Jenna.
Im Schreibtisch hatte er auch nichts gefunden.
Ratlos setzte er sich auf Jennas Stuhl und nahm das Foto vom Schreibtisch. Darauf waren sie und er selbst zu sehen, sie saßen nebeneinander bei irgendeiner Party und hatten die Köpfe im Gespräch zueinander geneigt.
Sie war wunderschön auf dem Bild, das fließende, weiße Kleid mit dem kleinen Stehkragen ließ sie aussehen wie eine Fee, das langetiefschwarze Haar fiel ihr offen bis auf die Hüften.
Gerade stellte er es zurück, als er Schritte hinter sich hörte.
Es war Judith, die Sekretärin des Leutnants.
„Hallo Deacon, wie geht’s“, flötete sie und warf schwungvoll ihre blonde Mähne über die Schultern, bevor sie mit der Hand prüfend ihren engen Rock glatt strich.
„Ich habe schon von Jenna gehört, sie wird sicher bald….“.
„Ja ja, sie wird sicher bald auftauchen“, unterbrach er sie gereizt.
„Ähm…genau. Ähm, ich…also ich wollte dich fragen, ob du nicht Lust hättest, dich mit mir zu verabreden“ stammelte die blonde Vampirin und klimperte mit den Wimpern.
Deacon starrte sie entgeistert an.
„Meine beste Freundin ist verschwunden, und du willst ein Date? Spinnst du? Ich mache mir Sorgen wie ein Blöder, und du willst rummachen, oder wie?“ schrie er aufgebracht.
„Du hast sie doch nicht mehr alle, Frau! Du….“.
„Deacon!“ ertönte eine sanfte Stimme.
Schnell drehte er sich um.
„Dorian, du bist wieder da? Gott sei Dank! Keiner wusste, wo du warst die letzten Monate!“ rief Deacon erleichtert.
Er hatte schon die letzten Stunden überlegt, den Meister nach Dorians Aufenthaltsort zu fragen.
Denn was nur wenige Personen wussten, der weißhaarige Vampir mit dem Aussehen eines Teenagers konnte geistige Verbindung mit ihm bekannten Personen aufnehmen.
Deacon ließ die beleidigte Blondine stehen, ging auf Dorian zu und zog ihn am Arm mit sich.
„Ich muss mit dir reden“ raunte er und führte Dorian in ein leeres Besprechungszimmer.
„Ich weiß, als ich heute früh erwachte, wusste ich dass du mich brauchst. Es geht um Jenna, nicht wahr?“
„Ja, sie ist verschwunden“ erklärte er leise und beobachtete, wie der junge Vampir sich auf den Boden im Schneidersitz hinsetzte.
„Nun gut, ich will mal sehen, was ich erreiche. Bitte sei ganz ruhig jetzt!“
Dorian schloss die Augen und lies sein schönes Gesicht zu einer Maske aus Stein erstarren.
Wie er so dasaß mit seinen langen, weißen Haaren und dem jugendlichem Gesicht, welches durch die weiten Baggyjeans und das rote All Stars- T-Shirt noch unterstrichen wurde, sah er aus wie ein hipper High-School-Junge.
Doch Deacon wusste, der mit hundertfünfzig Jahren noch junge Vampir konnte tödlich sein.
Fast eine ganze Stunde verharrte Dorian in dieser Stellung.
Deacon beobachtete ihn reglos, er wusste, wenn er ihn störte, würde er gar nichts erreichen.
Nachdem Dorian so lange geschwiegen hatte, erschrak Deacon fast, als seine leise, tonlose Stimme erklang,
„Ich kann keine Verbindung mit Jenna aufnehmen, irgendwas stimmt nicht!“
„Aber sie…sie ist noch am Leben?“ fragte Deacon besorgt.
„Ja, aber es wirkt wie…als würde ich versuchen, unter Wasser etwas zu hören, und das mit Watte in den Ohren. Sehen kann ich sie gar nicht, ihr Geist ist irgendwie betäubt. Doch da ist ein Junge bei ihr, er hat außergewöhnliche geistige Fähigkeiten. Noch untrainiert, aber ich kann ihn, glaube ich, erreichen. Warte bitte….“
Dorians Gesicht war nun keine steinerne Maske mehr. Er runzelte angestrengt die Stirn, und auf seiner Oberlippe bildeten sich feine Schweißperlen.
Es gehörte schon viel dazu, einen Vampir zum Schwitzen zu bringen, er musste unfassbare geistige Kräfte mobilieren.
„Wer bist du?“
Im ersten Moment dachte Deacon, er rede mit ihm, doch gerade noch rechtzeitig schluckte er die Frage hinunter, obwohl sie ihm fast im Hals stecken blieb. Gespannt lauschte er der monotonen Stimme des anderen Vampirs.
„Ja, Freunde von Jenna. Wo seid ihr?“
Nach einer Weile sagte er: „Gibt es ein Fenster? Was kannst du erkennen?“
„Wie viele sind es? Was wollen sie? Wie geht es Jenna?“
Bei dieser letzten Frage hob Deacon ruckartig den Kopf, doch Dorian verfiel wieder in Schweigen.
Deacons Gedanken arbeiteten fieberhaft.
Also wurde sie irgendwo festgehalten.
Wer konnte schon einen Vampir mit seiner übermenschlichen Stärke und seinen überentwickelten Sinnen irgendwo festhalten, wo er nicht bleiben wollte?
Nur ein anderer Vampir, der wusste, was er tun musste war dazu in der Lage.
Doch wer? Ein wütender Gefährte, dessen Partner nach einer Verfehlung hingerichtet worden war? Doch was sollte derjenige mit Jenna vorhaben, wenn er sie bis jetzt nicht eliminiert hatte?
Und was hatte es mit dem Jungen auf sich, der bei ihr war? Er redete anscheinend mit Dorian, um ihm zu helfen, also kein Wächter.
Er wollte Jenna zurück, sofort!
Er hatte gar nicht gemerkt, dass er die Augen fest zusammengekniffen hatte. Als er sich zwang, sie wieder zu öffnen, bemerkte er, dass Dorian ihn reglos anstarrte.
„Was? Was ist? Was hast du rausgefunden? Wer hat sie?“
Dorian erhob sich seufzend.
„Ich weiß nicht wer sie entführt hat, sie waren maskiert sagt der Junge, doch am Geruch merkte er natürlich dass es Artgenossen waren. Sie sind in einem kahlen Raum mit zwei Pritschen unter der Erde, und sie haben Jenna schon zwei Mal geholt und…wieder gebracht. Es müssen auch Menschen dort sein, Evan , so heißt der Junge, hat sie gerochen. Er…“.
„Stopp!“ unterbrach Deacon unwirsch. „Was verschweigst du mir? Was heißt, sie haben sie geholt?“
Dorian zögerte kurz, doch er sah an Deacons eisigem Gesichtsausdruck, dass er sich nicht mit irgendwelchem Wischi-Waschi abspeisen lassen würde.
„Anscheinend…foltern sie Jenna. Teilweise waren die Wunden noch nicht wieder verheilt, als sie sie brachten!“
Deacon sog scharf die Luft zwischen den Zähnen hindurch.
„Ich werde sie töten, jeden Einzelnen von ihnen, langsam und schmerzhaft! Und die Menschen, die dort sind, werde ich mir schmecken lassen bis ich platze! Wo ist sie Dorian? Weißt du wo sie ist?“
Er atmete erleichtert aus, als Dorian langsam nickte, einen mitleidigen Ausdruck auf dem schönen Gesicht.
„Ich glaube, ich kann es rausfinden. Wir fahren los nach Westen, ich werde den geistigen Signaturen des Jungen folgen. Aber erst werden wir uns bewaffnen, es wird nicht einfach! Deacon, da ist noch etwas….“.
„Was?“ fragte der Vampir unwirsch, auf das Schlimmste gefasst.
„Sie ist unter Drogen gesetzt, anscheinend haben sie etwas entwickelt, das auch bei Vampiren wirkt. Der Junge übermittelte mir als erstes eine Frage, nämlich ob ich Deacon sei. In den ersten Stunden sagte Jenna das immer wieder. Er wird kommen und uns rausholen sagte sie. Deacon wird uns finden, da war sie sich völlig sicher!“
Ein kratziges Gefühl stieg in Deacons Hals auf, und verwundert bemerkte er, dass ihm die Tränen in die Augen stiegen. Er hatte seit dreihundert Jahren nicht mehr geweint, seit seiner Verwandlung zum Vampir.
„Ja, ich werde dich holen“, flüsterte er voller Inbrunst , er hatte die Fäuste so fest geballt, dass einige Blutstropfen an seinen langen, schlanken Fingern herabrollten und auf dem Boden auftrafen.
„Halte durch, Jenna, ich werde kommen…………..“.
Tag der Veröffentlichung: 26.01.2011
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