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Schmecken Mädchen anders?


Ich mag meinen Penis. Auch wenn Zweifel daran aufkommen mögen, wenn man mich jetzt sieht: Gekleidet in dem Kimono meiner Mutter, das letzte Bisschen Virilität aus meinem androgynen Gesicht geschminkt. Das ist reine Eitelkeit. Ich bilde mir etwas auf meine feinen Züge ein, darum bringe ich sie so zur Geltung. Es hat nichts mit Transsexualität zu tun. Wie gesagt: Ich mag meinen Penis. Dennoch habe ich ständig mit diesem Vorurteil zu kämpfen, da ich zudem eine homosexuelle Neigung verspüre. Kurzgefasst: Ich bin ein hübscher, schwuler Junge, der sich gerne die Kimonos seiner Mutter borgt. Meist heimlich.

 

Aber nicht heute. Heute ist alles erlaubt. Es ist Karneval.

 

Meine Darstellungsader hat mir schon häufig Ärger eingebracht. Besonders bei heterosexuellen Männer, die zu spät begriffen haben, dass sie es mit einem Jungen zu tun haben. Was ich nun einmal bin, auch wenn ich mich gerne schön mache. Meistens bin ich also vorsichtig, gebe mich entweder sofort zu erkennen oder gar nicht – sprich: Ich bin weg.

 

Aber nicht heute. Nicht bei ihm …

 

Erneut werfe ich einen scheuen Blick über meinen Fächer hinweg in seine Richtung. Seit einer halben Stunde ist mir der Umzug einerlei. Ich stehe am Straßenrand, die Umzugswagen fahren vorbei, Bonbons prasseln auf meinen Pergamentschirm … All das geht völlig an mir vorbei, seit er aufgetaucht ist. Keine fünf Meter von mir entfernt steht ein Vampir. Nein, nicht so einer mit schwarzem Cap, Plastikgebiss und roter Schminke am Kinn. Er sieht erhabener aus. Zwischen all den Piraten und Clowns ist er etwas Besonderes. Er trägt eine Kniehose, Seidenstümpfe und ein Samtjackett, darunter ein weißes Rüschenhemd. Seine Haare hat er zu einem Mozartzopf geflochten. Aber auch ohne das Kostüm wäre er heiß genug, um meinen Blick auf sich zu ziehen. Er ist riesig. Zugegeben, mit meinen 1,60 bin ich nicht in der Position, darüber urteilen zu können, aber er ist mindestens 30 Zentimeter größer als ich. Sein Gesicht ist blass geschminkt und darunter europäisch markant geschnitten. Bei den dunkeln Augen und den schwarzen Haaren würde ich eher auf südländisches Temperament tippen.

 

Ich kann nicht aufhören ihn anzustarren. Da! Unsere Blicke begegnen sich. Abrupt beginne ich mich für meine Sandalen zu interessieren, ehe ich wieder auf die Straße sehe. Eine Angela Merkel in Strapsen zieht an mir vorüber. Dann lieber doch ihn angucken. Vorsichtig hinter meinem Fächer verborgen, schiele ich noch einmal in seine Richtung. Recht unverhohlen schaut er zurück. Als er mein Schielen bemerkt, lächelt er gewinnend, dabei blitzen scharfe Eckzähne auf. Ich deute ein schüchternes Neigen meines Hauptes an. Er legt den Kopf schief und mit drei Schritten ist er bei mir. Mein Magen beginnt vor Aufregung zu kribbeln.

 

„Bonjour, Schönheit“, raunt er mir charmant zu und macht einen recht passenden Diener dazu.

 

Ich spiele das Spiel mit und deute ebenfalls eine Verbeugung an. „Konnichi wa, Vampir-san.“

 

Dann lächle ich schüchtern und er erleichtert. Das sind die meisten, wenn sie feststellen, dass ich deutsch sprechen kann. Seine dunkeln Augen wandern interessiert über meinen Kimono. „Das ist wirklich das hübscheste Kostüm, das ich heute gesehen habe.“

 

„Ach, das ist doch nur ein alter Kimono meiner Mutter“, hauche ich bescheiden, ganz meiner Rolle ergeben. Dabei lasse ich einen anerkennenden Blick auf sein Kostüm fallen, sage aber nichts. Dennoch scheint er es bemerkt zu haben. Sein Lächeln wird selbstbewusster. „Bist du Japanerin?“

 

„Fast. Mein Vater ist Deutscher, meine Großmutter Chinesin. Also bin ich ein Viertel japanisch.“ Und ein Junge, aber das lasse ich lieber unerwähnt. Überhaupt frage ich mich, warum ich ihm das erzähle. Er macht mich ganz konfus mit seinem direkten Blick und dem gefährlichen Dauerlächeln. Scheinbar verlegen starre ich auf meine Füße.

 

„Eine schöne Mischung”, meint der Vampir und lacht angenehm auf. „Ich bin immerhin zur Hälfte Franzose.“

 

„Die bessere Hälfte?“

 

„Wie man es nimmt.“ Er grinst breit. „Mein Vater kommt aus Südfrankreich. Wohnst du hier in der Stadt oder bist du Karnevaltourist?“

 

„Zurzeit wohne ich mit meinen Eltern hier in der Stadt“, antworte ich brav. Der Hinweis auf meine Eltern ist der Versuch sittsam zu wirken und ihm deutlich zu machen, dass ich nicht so leicht zu haben bin. Auch wenn während der fünften Jahreszeit alle in der Stadt ganz wild darauf sind, sich mit Fremden zu paaren. Ich gehöre nicht dazu. Erst recht nicht, wenn er nicht weiß, wer ich wirklich bin.

 

„So? Hm, wie alt bist du denn?“, will er wissen. Immer noch das gefährliche Lächeln. Das sind die spitzen Zähne, die er sich aufgeklebt hat. Zumindest denke ich, dass er sie sich aufgeklebt hat. Es ist kein Plastikgebiss. Sieht toll aus.

 

„Wie alt bist du denn?“, gebe ich die Frage zurück und betrachte ihn etwas genauer. Der Fächer kommt mir dabei zugute, so sieht er nicht das freche Grinsen, das ich sorgsam vor ihm verberge, um die Illusion des schüchternen Mädchens aufrechtzuerhalten. Zumindest noch eine Weile. Meine Stimme ist dabei nur ein leiser Hauch. Das erspart mir das Verstellen.

 

„Vierundzwanzig“, gesteht er und seine dunklen Augenbrauen hüpfen vergnügt. Eindeutig zu alt, um noch länger veräppelt zu werden. Ich lasse die Maske fallen und nehme damit auch den Fächer zur Seite. „Was so alt schon?“

 

„Ach, das ist alt?“ Er lacht amüsiert. „Wie jung bist du denn dann?“

 

Seine Augen mustern mein Gesicht ganz verzückt. Er scheint nichts zu bemerken. Nun, dann ist er selber schuld. Ich beiße mich raffiniert auf meine Unterlippe und gluckse leise. „Achtzehn.“

 

„Dann geht es ja noch, nur sechs Jahre Unterschied“, stellt er zufrieden fest. Na gut, eigentlich sind es acht Jahre. Ich habe gelogen, aber mit sechzehn wird man nicht ernst genommen. Erst recht nicht als Junge.

 

„Das hältst du für wenig?“

 

„Na ja, solange der Mann älter ist“, erklärt er altmodisch.

 

Ich seine Ansicht aber dennoch recht süß und kichere erheitert. „Wie schön, dann können wir ja heiraten.“

 

„Hui … zielstrebig“, lacht er unangetastet. „Ich dachte, ich lade dich erst einmal ein und wir lernen uns etwas besser kennen. Wie wär’s? Nicht weit von hier kenne ich ein hübsches Café mit tollem Kuchen.“

 

Wer hier wohl zielstrebig ist. Aber bei Kuchen und einer so charmanten Einladung kann ich schlecht nein sagen. Eigentlich stehe ich nicht so sehr auf süß, aber bei Gebäck und Männern mache ich die große Ausnahme. „Oh, Kuchen!“

 

„Ist das ein Ja?“ Seine fast schwarzen Augen strahlen mich an. Ich nicke nur und hake mich bei ihm unter, als er mir wie selbstverständlich seinen Arm reicht. Es ist tatsächlich nicht weit. Ich habe kaum Gelegenheit mich auf dem kurzen Weg zu fragen, was ich hier eigentlich mache. Wirklich: Mich auf so etwas einzulassen, nur weil er mir so gut gefällt, ist doch hirnrissig. Ein entscheidender bereits erwähnter Teil von mir, wird ihm bestimmt nicht gefallen. Obgleich er selbst Schuld ist, wenn er es nicht realisiert. Erhöhter Schwierigkeitsgrad bei mir, das gebe ich zu … Außerdem behaupte ich ja nicht ein Mädchen zu sein. Zudem bin ich viel hübscher als die meisten dieser Gattung.

 

Das Café ist wirklich nett. Und die Kuchenauswahl riesig. Ich entscheide mich für eine Obsttorte und lasse mir das Stück von meinem Kavalier zum Platz tragen. Dann sitzen wir uns gegenüber. Er hat sich eine Marzipantorte ausgesucht, die auch ganz lecker aussieht. Außerdem bringt uns die Kellnerin noch zwei Tassen Kaffee. Wirklich nicht schlecht. Schwelgend widme ich mich meiner Portion, nachdem ich mich artig bedankt habe. Seine Augen verfolgen mich dabei ganz verzückt.

 

„Wie heißt du eigentlich?“, fällt ihm plötzlich ein.

 

„Sag ich nicht.“

 

„Warum nicht?“

 

„Weil du dich selbst noch nicht vorstellt hast.“

 

„Ich bin Louis.“

 

„Und ich bin Prinzessin Mononoke“, spotte ich kopfschüttelnd. „Und hab auch Anne Rice gelesen.“

 

„Tja, meine Eltern vielleicht auch, obwohl ich älter bin als das Buch. Ich heiße wirklich so, Prinzessin“, gesteht er vergnügt. „Und du?“

 

„Hiromi.“ Ja, ich gebe zu, es ist ein bisschen gemein, ihm nur meinen japanischen Namen zu verraten, der auch noch geschlechtsneutral ist – nicht dass er das merken würde. Bei Paul wäre er wohl endlich misstrauisch geworden. Dabei wollte ich doch aufhören, ihm etwas vorzumachen.

 

„Klingt sehr schön“, meint er freundlich.

 

„Danke.“ Ich lächle zurückhaltend. Es entsteht eine peinliche Gesprächspause, in der ich wieder seine Blicke auf mir spüre. Doch ich widme mich vornehmlich dem Kuchen vor mir. Schließlich räuspert er sich leise. „Ähm, wie kommt es, dass du da allein rum standest?“

 

„Ich habe meine Begleitung verloren“, behaupte ich, obwohl ich natürlich allein gekommen bin. Ich will schließlich nicht, dass die Typen aus meiner Klasse mich so sehen und Lei hatte keine Zeit. Dennoch, es war eine schlechte Ausrede, wie sich im nächsten Moment zeigt.

 

Er guckt recht bestürzt. „Werden die sich keine Sorgen machen?“

 

„Eher nicht“, beruhige ich ihn schnell. „Ich kann gut auf mich alleine aufpassen.“

 

„Tatsächlich?“ Nun wirkt er skeptisch.

 

„Na klar, ich kann Karate.“ Ich lächle ihm zwinkernd zu.

 

Interessiert beugt er sich vor. „So? Hast du einen Gürtel?“

 

„Nein, ich habe es in Japan in der Schule gelernt.“

 

„Dann bist du dort zur Schule gegangen?“

 

„Zur Grundschule.“ Ich nicke.

 

„Und was machst du jetzt?“

 

„Gymnasium.“

 

„Und danach? Müsstest ja bald fertig sein, nicht wahr?“ Er ist ziemlich neugierig. Fast wie im Kreuzverhör.

 

Ich schüttle leicht den Kopf. „Was machst du denn?“

 

„Ich studiere noch“, antwortet er schnell. „Auf Lehramt. Entschuldige, ich will dich nicht aushorchen.“

 

„Schon okay, aber ich bin mir noch nicht ganz sicher, was ich machen werde. Vielleicht auch studieren …“ Eigentlich habe ich ja noch zwei Jahre mehr zum Überlegen. Drei insgesamt. Jetzt bin ich erst in der zehnten Klasse. „Macht dir dein Studium Spaß?“

 

„Sehr“, behauptet er und grinst ironisch. „Aber bald bin ich fertig. Also … Wie lange bist du schon in Deutschland, wenn ich fragen darf?“

 

„Ach, das wechselt“, antworte ich verschmitzt. „Gezeugt wurde ich in Japan. Geboren in Deutschland und war hier im Kindergarten. Dann Grundschule in Japan und seit der fünften Klasse bin ich wieder hier. Mein Vater hat geschäftlich viel in Japan zu tun. Aber meiner Mutter gefällt es mittlerweile in Deutschland besser. Es ist nicht so teuer und Frauen haben noch ein bisschen mehr Freiheit. Wo bist du denn geboren? Frankreich oder Deutschland?“

 

„In Deutschland und hier auch ausschließlich aufgewachsen, obwohl ich viele Verwandte in Frankreich habe“, erzählt er offenherzig. „Meine Eltern haben sich scheiden lassen, als ich acht war. Daraufhin ist mein Vater zurück nach Frankreich und meine Mutter, meine Schwester und ich sind hier geblieben. Hast du Geschwister?“

 

„Nein, zum Glück nicht.“

 

„Warum? Zum Glück?“

 

„Ich genieße es ein Einzelkind zu sein“, gestehe ich frei heraus. „Die ganze Aufmerksamkeit meiner Eltern gehört mir allein.“

 

„Das stelle ich mir eher nervig vor.“

 

„Ach, sie sind ja nicht oft daheim.“ Ich schmunzle.

 

Er schmunzelt.

 

Wir versinken in den Augen des anderen.

 

Junge, wach auf! Ich bin ein Typ! Verliebe dich ja nicht in mich! Schlimm genug, dass ich offensichtlich nicht mehr zurück kann. Er ist so hinreißend. Ich seufze leise.

 

Sofort wird er darauf aufmerksam. „Was?“

 

„Hm? Was was?“

 

„Du hast geseufzt“, stellt er besorgt fest. „Wird dir unser Kennenlerngespräch etwa schon langweilig?“

 

„Nein, hast du so wenig Selbstbewusstsein?“, necke ich ihn leicht.

 

Er lächelt. „Nein. Nun … Vielleicht ein wenig. Ich war ehrlich gesagt noch nie so dreist, jemand den ich nicht kenne, auf einen Kaffee einzuladen. Aber ich bin sehr froh, dass du ja gesagt hast.“

 

„Ich auch, der Kuchen ist toll“, ziehe ich ihn auf. Die Hülle des schüchternen Mädchens, habe ich schon längst aufgegeben. Ich bin weder das eine noch das andere.

 

„Ach, nur der Kuchen.“ Nun seufzt er tief. „Und ich dachte, mein Charme hat dich sofort umgehauen, Hiromi.“

 

Mir läuft ein Schauer über den Rücken, als er so unvermittelt meinen Namen ausspricht. Er hat ihn sich sofort gemerkt. Beachtlich. „Vielleicht war es ja auch dein Kostüm.“

 

„Auch nicht sehr schmeichelhaft“, entgegnet er. „Meine Schwester hat es mir aufgezwungen. Ich wollte mich eigentlich gar nicht verkleiden. Geschweige denn mir den Umzug ansehen … Aber jetzt bin ich froh, dass ich es getan habe.“

 

„Warum hast du es denn ursprünglich getan?“, frage ich das Nächstliegende.

 

„Meine besagte Schwester hat einen Auftritt mit ihrer Truppe auf einem der Wagen.“

 

„Hast du sie schon gesehen oder verpasst du sie jetzt?“

 

„Da gibt’s nicht viel zu verpassen“, entgegnet er grinsend und zuckt mit den Schultern. „Hauptsache ist, dass sie denkt, ich wäre dabei gewesen. Sie hätte mich ohnehin schwer in der Menge ausmachen können.“

 

„Wie alt ist deine Schwester denn?“

 

„Erst sechzehn“, antwortet er. Na also: Erst! Ich weiß doch, warum ich mich zwei Jahre älter gemacht habe.

 

„Also bist du nicht hingegangen, um kleine Mädchen aufzureißen“, schließe ich das Positive daraus.

 

Er lacht verblüfft auf. „Nein! Obwohl viele das an Karneval ja ins Auge fassen.“

 

„Aber du nicht …“

 

„Nein!“, beschwört er nochmals. Gut, dann wird er ja auch nicht allzu enttäuscht sein, dass ich auch kein Mädchen bin, das er aufreißen kann. Ich nippe an meinem Kaffee und sehe nach draußen. Wunderbar, es hat zu regnen begonnen. Ich rümpfe die Nase. „Ihhh … Es regnet.“

 

„Magst du keinen Regen?“

 

„Nicht in den Klamotten mit einem Pergamentschirm“, differenziere ich den Sachverhalt.

 

Er nickt und lächelt zufrieden. „Wunderbar, dann kannst du mir für die nächste Zeit immerhin nicht weglaufen.“

 

„Hatte ich gar nicht vor“, versichere ich lächelnd. Wieder sehen wir uns in die Augen. Es blitzt und funkt aus meiner Richtung. Seine zählt nicht. Er hat ja keine Ahnung, wer ich wirklich bin. Ich dagegen habe schon ein recht genaues Bild von ihm. Louis, vierundzwanzig, Student, Eltern geschieden, eine Schwester. Die Familienverhältnisse wären also geklärt.

 

„Was machst du denn so, wenn du nicht gerade von deiner kleinen Schwester herumkommandiert wirst?“, erkundige ich mich frech.

 

Er blinzelt, ist jedoch zu gutmütig, um es mir übel zu nehmen. „Das werde ich nur ganz selten. Ansonsten studiere ich, wie gesagt. Gebe viel Nachhilfe, um mir das Studium zu finanzieren und in meiner Freizeit, worauf du wohl hinaus wolltest, spiele ich Basketball.“

 

„Spielst du ihn einer Mannschaft?“

 

„Ja, aber ich bin nicht so richtig gut“, murmelt er bescheiden. „Machst du noch Karate? Oder was machst du?“

 

„Nein, Karate mache ich eigentlich nicht mehr … Hm, tja, was mache ich?“ Ich muss wirklich mal überlegen, was ich ihm erzählen kann. „Eigentlich habe ich keine direkten Hobbys.“ Außer Schminken und Kimonos anziehen, davon Fotos machen und sie ins Internet auf entsprechenden Cosplay-Seiten stellen. „Viel Internet, weil ich so mit Japan in Verbindung bleiben kann. Und hier natürlich Freunde treffen.“

 

„Hörst du Musik?“

 

„Klar.“

 

„Was für welche?“

 

„Japanische Bands“, antworte ich ausweichend, weil ihm die Namen sicherlich ohnehin nichts sagen.

 

Doch er überrascht mich: „Ich war letzten Sommer auf einem Festival. Da ist auch eine japanische Metal Band aufgetreten. Dir en grey. Hat mir gut gefallen.“

 

„Die sind sehr bekannt“, stimme ich zu. „Aber mir etwas zu hart.“

 

„Welche gefallen dir denn?“

 

„Pierrot“, nenne ich ein Beispiel.

 

Er runzelt die Stirn und muss zugeben. „Okay, sagt mir nichts. Was machen die für Musik?“

 

„Warte, ich habe meinen Mp3 Player dabei“, fällt mir ein. Geschickt fische ich ihn aus meinem Obi. Louis sieht mir dabei gespannt zu. Anscheinend wartet er darauf, dass sich mein Kimono öffnet und er freie Sicht hat. Typisch. Aber ich hätte auch nichts gegen freie Sicht auf ihm. Der Regen wird schlimmer. Ungünstig für Rosenmontag. Ich bin froh, hier bei ihm zu sein. Wir rücken dichter zusammen und ich zeige ihm meine Musik. Sie gefällt ihm. Zumindest beteuert er das aufrichtig.

 

Es wird später, ohne dass ich es so recht merke. Wir unterhalten uns auch darüber, was für Musik er mag. Dann erzähle ich ihm von Japan und er mir von Frankreich. Wir tauschen uns darüber aus, wie es ist Eltern aus unterschiedlichen Ländern zu haben. Eigentlich haben wir recht viel gemeinsam. So vergeht die Zeit.

 

Irgendwann trinken wir schon unseren dritten Kaffee und ich spüre, wie das Koffein mich ganz fahrig werden lässt. Vielleicht liegt es auch daran, dass er während der Unterhaltung immer dichter an mich herangerutscht ist. Unsere Beine berühren sich. Plötzlich greift er nach meiner Hand und beginnt sie zu streicheln. Mir bleibt beinahe das Herz stehen. Als Mädchen wäre es so einfach einen tollen Freund zu finden. Verdammter Mist.

 

Ich sehe nach draußen. Es regnet immer noch, aber allmählich wird es dunkel. Meine Güte, so spät ist es schon. Wir müssen schon Stunden hier rum sitzen. Louis bemerkt meine Unruhe. „Hast du heute eigentlich noch etwas vor? Ich will dich ja von nichts abhalten …“

 

„Hm eigentlich nicht“, gebe ich zu. Taktisch unklug, aber ich will ihn nicht anlügen. „Trotzdem sollte ich langsam heimgehen. Meine Mutter denkt, ich würde mir nur den Umzug ansehen und dann wiederkommen. Bei dem Regen macht sie sich bestimmt Gedanken.“

 

„Ich habe mein Handy dabei, wenn du willst, kannst du sie damit anrufen.“

 

„Dann willst du mich also noch nicht loswerden“, ziehe ich ihn mit seinem Vorschlag auf. Ich habe natürlich selbst ein Handy dabei. Allerdings, will ich ja nach Hause gehen. Doch er will den Wink mit dem Zaunpfahl offenbar nicht verstehen. „Nein, natürlich nicht. Ich könnte mich die ganze Nacht lang mit dir unterhalten …“

 

Er ist wirklich süß. Und ich sollte wirklich gehen. „Gibst du mir mal dein Handy?“

 

Treuherzig gibt er mir den Apparat. Scheint noch aus dem letzten Jahrtausend zu sein. Ich verkneife mir ein höhnisches Lächeln und gebe meine Nummer ein. Die letzten Ziffern verdrehe ich allerdings. Dann gebe ich es ihm zurück. Ein wenig verständnislos nimmt er es entgegen und studiert die Nummer. Erst ein Weilchen später macht es Klick und ein glückliches Lächeln breitet sich auf seinem Gesicht aus. „Deine Nummer?“

 

Ich nicke. „Allerdings habe ich mein Handy zu Hause gelassen. Ruf mich doch einfach mal an, wenn du Lust hast.“ Jetzt lüge ich ja doch. Aber es ist nur zu seinem eigenen Besten, wenn er sich schon so sehr über eine Telefonnummer freut.

 

„Gerne.“ Jetzt strahlt er geradezu. „Soll ich dich dann jetzt nach Hause bringen, oder bleibst du doch noch ein kleines Bisschen?“

 

„Ein Bisschen kann ich es noch aushalten.“

 

Er lacht zufrieden und nimmt wieder meine Hand. Seine Augen lassen nicht einen Moment von meinem Gesicht ab. Ich spüre eine leichte Röte in meine Wangen ziehen. Wie peinlich. Es wird nicht besser als sein Daumen über meinen Handrücken zu streichen beginnt. So zärtlich … Ich bekomme eine Gänsehaut davon. Wenn ich ihn jetzt küsse … Nein, kommt nicht in Frage. Ich wäre tot, wenn er dann im Nachhinein herausfindet, dass ich ein Junge bin. Aber wenn er mich küssen würde, wäre es ja nicht meine Schuld.

 

Wir starren uns immer noch an. Plötzlich ist sein Gesicht meinem so nah. Meine Augen schließen sich automatisch. Dann spüre ich seine Lippen auf meinen. Vorsichtig. Sanft. Wunderbar. Zaghaft erwidere ich seine Liebkosungen. Es bleibt bei diesem einen schüchternen Kuss. Danach zieht er sich zurück. Auch ein wenig verlegen. Leichte Panik steigt in mir auf: Merkt er schon, dass etwas nicht stimmt? Schmecken Mädchen anders?

 

„Ich glaube, wenn wir weitermachen, mag ich dich wirklich nicht mehr gehen lassen“, gesteht er mit belegter Stimme. Zucker pur. Ich muss darüber lächeln. Zu sagen weiß ich nichts. Ich bin sprachlos. Gerade hat mich dieser superheiße Typ geküsst. Es ist nicht mein erster Kuss. Aber es ist etwas anderes, wenn man es mit seinem Freund macht, den man schon lange kennt. Louis ist anderes. Er ist … nun, er ist ein Mann. Und er steht auf Mädchen. Kleine niedliche Japanerinnen. Verdammt!

 

„Dann …“, murmele ich durcheinander. „Vielleicht sollte ich wirklich besser sofort gehen.“

 

„Nein“, bittet er. Noch ein Kuss. Dann noch einer. Wir sitzen hier im Café. Die Leute gucken schon. Nicht weil sie sehen, dass ich eigentlich ein Junge bin. Nein, das nicht. Sie wollen nur keine Knutscherei mit ansehen, wenn sie gerade beim Essen sind. Zaghaft schiebe ich Louis zurück und sehe verlegen auf seine Brust. „Ich gehe doch lieber jetzt.“

 

„Ich bring dich“, entscheidet er schnell.

 

„Es ist nicht weit“, wende ich ein.

 

Er lächelt. Schon wieder. Eigentlich tut er das die ganze Zeit. So süß. „Dann erst recht.“

 

Ich seufze leise. „Na gut.“

 

„Oder ist dir das zu aufdringlich?“

 

„Nein, eigentlich nicht“, gestehe ich. Dabei hätte ich nur nicken brauchen. Jetzt weiß er bald, wo ich wohne. Ach, er wird schon nicht auf die Idee kommen, sich als Stalker zu betätigen. Spätestens wenn er merkt, dass ich ihm eine falsche Nummer gegeben habe, wird er aufgeben. Außerdem sind wir ja nicht die einzigen, die in dem Haus wohnen. Und er kennt meinen Nachnamen nicht, der im Übrigen deutsch und unauffällig ist. Einigermaßen beruhigt, stehe ich auf. Lasse ihn zahlen und mich dann hinausbegleiten. Der Regen ist immer noch scheußlich. Schnell hasten wir durch die Straßen und haben dabei wenig Gelegenheit zum Reden. Immerhin habe ich nicht gelogen und es ist wirklich nicht sehr weit – zur Bahn. „Willst du wirklich mitkommen? Du musst extra ein Ticket lösen.“

 

„Nein, ich hab ein Studententicket, das ist schon okay“, versichert er und nimmt mir den Schirm ab, um wieder meine Hand zu nehmen. Ich hoffe, mein Make-up hat noch nicht den Geist aufgegeben. Es scheint nicht so. Er beugt sich noch einmal vor und küsst mich, während wir auf die Bahn warten. Auch darin küsst er mich weiter. Er kann das sehr gut. Ich dagegen fühle mich fürchterlich ungeschickt und unerfahren. Trotzdem gebe ich mich ihm hin. Beinahe verpassen wir so die richtige Haltestelle. Aber nur beinahe. Wir schaffen es noch rechtzeitig aus der Bahn und hasten weiter durch das blöde Wetter. Dann sind wir da.

 

„Hier wohne ich“, erkläre ich und bleibe stehen.

 

Er macht ein unglückliches Gesicht. „Schade, ich wäre gerne noch weiter mit dir rum gelaufen.“

 

„Nicht im Ernst!“, gluckse ich. „Bei dem Regen!“

 

„Ach, ich mag ihn ganz gern.“ Louis streicht mir vorsichtig über die Wange. „So hatte ich den ganzen Nachmittag um dich ein wenig kennen zu lernen. Hast du Lust das noch einmal zu wiederholen?“

 

„Klar, ruf mich einfach an.“ Ich fühle mich so niederträchtig, als ich ihm das vorschlage.

 

Er guckt auch wieder so glücklich. „Kann es kaum erwarten.“

 

„Ich auch nicht.“ Tatsächlich würde ich ihn gerne wieder sehen und noch einmal küssen. Für letzteres nutzt er die Gelegenheit gleich jetzt. Wir stehen vor der Eingangstür unter dem Vorbau. Ich könnte es hier ewig aushalten, aber ich habe Angst, dass mich einer der Nachbarn sieht. Das schlimmste Szenario, das mir spontan in den Kopf schießt, ist mit meinem deutschen Namen angesprochen zu werden. Und dann Louis entsetzten Gesichtsausdruck sehen zu müssen, wenn er angeekelt vor mir zurückweicht. Ich trenne mich vorsichtig von ihm.

 

„Also … Ich sollte hochgehen“, bringe ich zerknirscht hervor.

 

Louis nickt tapfer. Seine Augen funkeln sehnsüchtig. „Ich ruf dich dann an.“

 

„Okay, bis dann.“ Noch einmal stelle ich mich auf die Zehenspitzen und hauche ihm einen Abschiedskuss auf den Mund. Doch damit ist er nicht zufrieden. Er schlingt seine Arme um mich und zieht mich an sich. Erschrocken versteife ich mich. Doch er muss ja gesehen haben, dass ich nicht gerade viel Busen – eher überhaupt keinen, besitze. Außerdem bei den Kimonoschichten, spürt man das ohnehin nicht sehr. Trotzdem bin ich erschrocken.

 

Seine Lippen streichen über mein Ohrläppchen und meinen Hals. Wohlig atmet er ein. Mein Herz rast. Behutsam lege auch ich meine Arme um ihn. Abermals begegnen sich unsere Lippen. Mir ist ganz heiß. Ich sollte wirklich reingehen, bevor noch ein Unglück geschieht. Verstohlen schnappe ich nach Luft. Meine Wangen glühen. Endlich lässt er mich wieder los. Er grinst frech. Zusätzlich unterstrichen durch seine scharfen Zähne. Soweit ging der Kuss aber dann doch nicht, dass ich sie schon gespürt hätte. „Also dann …“

 

„Tschüß“, hauche ich und schließe eiligst die Tür auf. Er bleibt neben mir stehen und gibt mir noch einen Kuss, bevor ich ganz im Haus verschwunden bin. Atemlos komme ich im zweiten Stock an. Mein Herz schlägt mir immer noch bis zum Hals. Mein Bauch kribbelt. Ich habe feuchte Hände. Ich glaube, ich habe mich verliebt. Wie dämlich. Lieber gar nicht erst etwas einreden.

 

„Tadaima!“, rufe ich als ich die Wohnung betrete. Sofort kommt meine Mutter aus der Küche geschossen. „Okaeri. Na, wie war der Umzug? Du hast es ja lange ausgehalten bei dem Wetter.“

 

„Ich habe jemand kennen gelernt“, gebe ich zu.

 

Ihre Augenbrauen zucken verdächtig nach oben, aber sie bemüht sich neutral zu klingen. „In dem Kimono?“

 

„Ich habe ihn mir nicht zwischendurch ausgezogen“, spotte ich frech.

 

Sie schüttelt den Kopf und seufzt. „Nun, solange dein Vater davon nichts erfährt.“

 

Dann betrachtet sie mich eingehend und ein nachgiebiges Lächeln tritt auf ihre Lippen. „Du bist deiner Großmutter wie aus dem Gesicht geschnitten, kleiner Chinese. Von deinem Vater sieht man jedenfalls nichts mehr, wenn du so geschminkt bist. Mach das bitte ab und dann lass uns essen.“

 

„In Ordnung“, murmele ich. Auch ohne Schminke habe ich nichts von meinem Vater. Ich glaube das einzige, was ich von ihm geerbt habe, hängt zwischen meinen Beinen und das auch nur, weil ich es nicht von meiner Mutter haben kann. Aber ich bin ihm dafür dankbar. Ich bin wirklich gerne ein Junge. Auch wenn das bedeutet, dass ich Louis niemals wieder sehen darf. Es war schön. Kurz aber schön. Ich spüre immer noch seine Lippen auf meinen. Auf meinem Hals. An meinem Ohr. Schaudernd trotte ich ins Badezimmer und wickle mich dort zuerst aus der Kleidung. Dann schminke ich mich ab. Das Gegenteil macht es mehr Spaß.

 

Kurz überlege ich, ob ich noch duschen sollte. Nach dem Regen ist mir danach. Und überhaupt könnte ich da noch schnell etwas erledigen. Aber ich will die Geduld meiner Mutter nicht unnötig strapazieren. Mein Vater ist auf Geschäftsreise. Sie mag es nicht alleine zu essen.

 

„Triffst du dich noch einmal mit der Person, die du heute kennen gelernt hast?“, erkundigt sie sich so neutral wie möglich, als sie mir den Reis in eine Schale füllt. Ich schüttle nur den Kopf und greife nach den Stäbchen.

 

„Aber es hat Spaß gemacht?“

 

Ich nicke und seufze. Dann lässt sie es gut sein. Sie wollte wohl nur sicher gehen, dass alles okay ist. Und das ist es. Alles okay. Man verliebt sich ja nicht an nur einem Nachmittag. Nicht mal in einen sexy Vampir. Sorry, Louis.

Ich bin so ein Idiot

 

Ich bin so ein Idiot! Warum warte ich nicht bis morgen? Die Zeitspanne in der sie morgens zur Schule geht, ist sicherlich wesentlich kürzer als die, in der sie von dort zurückkommt. Aber ich habe einfach nicht mehr logisch denken können, nachdem ich herausgefunden habe, dass es nicht ihre Nummer ist. Ich musste einfach herkommen, um die Sache zu klären. Und nein, ich bin kein Stalker.

 

Es ist bereits acht Uhr abends. Ich stehe vor dem Mehrfamilienhaus, in dem sie wohnt. Es ist eine ziemlich noble Wohngegend. Sicherlich alles Eigentumswohnungen hier und groß genug um es mit Eigenheimen aufnehmen zu können. Da sie überdies recht zentral liegen, schätze ich, dass ihr Vater sehr gut verdienen muss. Das ist auch der Grund, warum ich mich immer noch nicht getraut habe zu klingeln. Das und die Tatsache, dass ich ihren Nachnamen nicht kenne. Aber langsam wird es wirklich albern. Sehr wahrscheinlich ist sie schon lange zu Hause. Und ich Idiot stehe mir die Füße platt. Gerade will ich mich endlich dazu überwinden notfalls ihre Nachbarn zu nerven, da höre ich ein leises Lachen von der Straße her. Ich bin mir nicht ganz sicher, aber ich vermute sofort, dass es Hiromi gehört. Erleichtert wirble ich herum.

 

Tatsächlich, da ist sie. Endlich. In den normalen Klamotten hätte ich sie beinahe nicht wieder erkannt. Sie wirkt recht burschikos. Was gestern noch ein Kimono tragendes Mädchen war, entpuppt sich nun als … Keine Ahnung wie man den Stil nennt. Damit kenne ich mich überhaupt nicht aus. Aber sie trägt diese engen Jeans, Chucks und eine kurze Jacke, dazu einen langen, schwarzrot geringelten Schal. Sie sieht immer noch sehr niedlich aus, wenn auch ganz anders als gestern.

 

Als mir der Typ neben ihr auffällt, versteife ich mich ein wenig. Auch ein Asiat. Ein Junge wohl in ihrem Alter. Sie lachen und blödeln rum, ohne jegliche Schüchternheit und mit viel zu viel Körperkontakt. Nun springt sie auf seinen Rücken und lässt sich den restlichen Weg tragen. Kaum zu glauben wie eifersüchtig ich bei dem Anblick werde. Dabei sind sie vielleicht nur befreundet und ich habe wahrlich keinen Anspruch auf sie. Noch nicht. Beherzt trete ich aus dem Schatten und warte darauf, dass sie auf mich aufmerksam werden.

 

Das wird zumindest Hiromi recht schnell. Kaum erblickt sie mich, rutscht sie vom Rücken ihres Freundes herunter und wirkt augenblicklich verlegen. Sie murmelt etwas zu ihrem Begleiter, das ich nicht verstehen kann. Dann kommt sie mit einem unsicheren Lächeln auf mich zu. „Konban wa, Vampir-san.“

 

„Bonsoir, Schönheit“, grüße ich lächelnd zurück.

 

Ihr Lächeln wird mutiger. „Was machst du denn hier? Wolltest du mich nicht anrufen?“

 

„Mein Handy hat den Geist aufgegeben.“ Die Ausrede habe ich mir während meiner Wartezeit so zurechtgelegt. Dann ist es gleichgültig, was für ein Grund die falsche Nummer hatte. Wenn sie sich vertippt hat, wird sie mir nun hoffentlich die Richtige geben. War es Absicht, wirkt mein Auftauchen wenigstens nicht ganz so armselig. Ihr ist jedenfalls nichts anzumerken. Glaubt sie mir? Oder ärgert sie sich gerade über meine Hartnäckigkeit? Kein Plan.

 

Sie macht ein bedauerndes Gesicht und ihre herrlichen Augen werden groß. „Oh, ist es ganz kaputt?“

 

„Nein, die SIM Karte ist kaputt“, lüge ich geschickt. „Keine Ahnung warum …“

 

„Na ja, es sah ja auch schon älter aus“, meint sie nicht überrascht. Sofort ändert sich der Ausdruck auf ihrem beweglichen Gesicht. Sie schmunzelt spitzbübisch. „Und jetzt willst du sie noch einmal?“

 

„Das wäre nett.“ Ich blicke kurz zu ihrem Begleiter, der sich still zu uns gesellt hat und amüsiert vor sich hingrinst. Es sieht nicht so aus, als wären sie zusammen, sonst wäre ihm wohl eine gewisse Eifersucht anzumerken. Was ich von dem Grinsen halten soll, weiß ich allerdings auch nicht so recht.

 

Hiromi kramt in der Tasche, die sie dabei hat. Sieht aus wie eine Schultasche. Und plötzlich hat sie einen Stift und Papier in der Hand und kritzelt flink ihre Nummer nieder. Es ist noch einmal die Gleiche, die sie mir bereits gegeben hat. Also die Falsche. Das sehe ich sofort, denn ich habe sie mir vorgestern auf dem Heimweg bereits so gut eingeprägt. Was soll ich jetzt davon halten? Vielleicht hat sie sich die auch einfach nur falsch gemerkt. Ansonsten wäre es doch merkwürdig, dass sie mir zweimal dieselbe falsche Nummer gibt. Jedenfalls sollte ich die Chance nicht ungenutzt verstreichen lassen. Ein bisschen hartnäckig sein, hat noch nie geschadet. Im schlimmsten Fall sagt sie eben, dass ich mich verziehen soll.

 

„Wo wir uns jetzt gerade zufällig über den Weg laufen“, scherze ich, wie ich hoffe, charmant. „Könnten wir uns doch gleich verabreden. Wann hättest du denn Zeit?“

 

Sie scheint überrumpelt, lacht aber höflich über meinen dummen Witz. „Ja, sehr zufällig. Und du willst mich wirklich wieder sehen, auch wenn ich keinen Kimono trage?“

 

„Klar, willst du mich denn nur im Vampirkostüm sehen?“, frage ich leicht verunsichert. Aber das ist doch wirklich eine Banalität. Ich habe sie nicht wegen dem Kimono angesprochen, sondern weil sie niedlich aussieht. Auch jetzt ohne Schminke hat sie ein bildschönes Gesicht.

 

„Hm, nein, passt schon.“ Sie lächelt verschmitzt. „Wann hast du denn Zeit?“

 

Nun mischt sich ihr Freund ein. Er zischt ihr etwas zu, das ich nicht verstehe. Es ist nicht einmal deutsch. Sie antwortet ihm in derselben Sprache und an ihrem Tonfall erkenne ich, dass sie unterschiedlicher Meinung sind. Scheinbar will er nicht, dass wir uns treffen und sie hat ihm widersprochen und gleichzeitig beruhigt. Jetzt bin ich aber doch neugierig. „Wer ist eigentlich dein Freund?“

 

„Oh, das ist Lei, ein Kumpel von mir“, erklärt sie schnell.

 

Besagter Lei lächelt flüchtig zu mir auf und nickt freundlich. Dennoch bin ich verunsichert. Vielleicht ist da ja doch mehr und sie sind nur zu höflich, um mich darauf aufmerksam zu machen. „Ach so … Wie wäre es mit Freitagabend?“

 

„Schlecht, wie wäre es mit jetzt gleich?“, überrumpelt sie mich mit ihrer Spontaneität.

 

„Oh … okay“, willige ich ein. „Aber ich will mich nicht aufdrängen … Ihr habt doch sicher schon etwas vorgehabt.“

 

„Quatsch, Lei wollte mich nur nach Hause bringen“, behauptet sie konsequent. Die Augen ihres Freundes weiten sich darauf empört. Also hat sie gelogen. Aber eine niedliche Lüge.

 

Ich würde sie jetzt so verdammt gerne küssen. Aber vor ihrem Freund, der mich schon wieder so merkwürdig interessiert und gleichzeitig belustigt mustert, traue ich mich das nicht. Erst einmal versuche ich ihn zu ignorieren. „Dann ist ja gut.“

 

Sie lächelt und beißt sich dann leicht verschmitzt auf die Unterlippe. Es wirkt wie eine Einladung. Jedenfalls kann ich mich nicht mehr bremsen. Schon beuge ich mich vor und gebe ihr einen sachten Kuss. Mir leicht entgegenkommend, erwidert sie ihn sogar. Viel zu schnell weicht sie dann aber zurück. Etwas verlegen. Ich blicke kurz zu ihrem Freund. Der grinst nur breit und starrt zu Boden. Macht irgendwie keinen besonders intelligenten Eindruck.

 

„Ich sag Lei nur kurz Tschüß, okay?“, erklärt sie mit unschuldigen Lächeln. Das ist wohl eine verstecke Aufforderung, dass ich weghören soll.

 

Ich nicke gnädig und warte an Ort und Stelle, während die beiden in die Richtung laufen, aus der sie gekommen sind. Seufzend reiße ich mich von ihrem Anblick los und wende mich diskret ab. Kaum habe ich das getan, höre ich den Jungen lossprudeln. Ich verstehe ohnehin kein Wort von dem, was er sagt. Aber dem Klang seiner Stimme nach zu urteilen, zieht er sie auf. Er lacht und spricht ziemlich höhnisch.

 

„Klappe, Lei!“, knurrt Hiromi, um dem resolut ein Ende zu setzen und dann gibt sie ebenfalls ein paar Laute dieser niedlichen Sprache ab. Sie klingt aber überhaupt nicht niedlich. Ich runzle die Stirn. Offensichtlich kann sie auch anders. Das war nicht so sanft, wie sie mit mir spricht. Es passt mehr zu ihrem burschikosen Aussehen heute.

 

Die nächsten Minuten schleichen dahin wie Stunden. Sie diskutieren außer Hörweite. Ich drehe mich wieder zu ihnen um. Keine Ahnung, was es da zu reden gibt. Vielleicht will dieser Lei sie davon überzeugen, dass es keine gute Idee ist, mit einem Mann, den sie kaum kennt …

 

Plötzlich wirbelt sie zu mir herum und lässt ihren Kumpel zurück. Dieser lange Schal steht ihr wirklich gut. Das Haar hat sie offen gelassen. Es weht seidig im kalten Februarwind. Ich schlucke und kann keinen Moment den Blick von ihr lassen, als sie die Straße entlang schreitet. Dann winkt sie mir fröhlich entgegen. Ihre weißen Zähne blitzen auf. Wie hypnotisiert hebe auch ich die Hand und winke zurück. Ich glaube, ich sehe in diesem Moment wie der totale Volltrottel aus. In ihrer Gegenwart komme ich mir jedenfalls so vor. Normalerweise bin ich nicht so unsicher. Es war mir allerdings auch noch nie so schnell so ernst.

 

„Hey“, grüßt sie vergnügt. „Sorry fürs Wartenlassen. Gehen wir ein wenig spazieren?“

 

„Ähm, klar“, murmle ich überrumpelt und überlasse ihr bereitwillig meine Hand, nach der sie wie selbstverständlich greift. „Ich hoffe, Lei ist nicht sauer?“

 

„Ach Unsinn“, tut sie das sorglos ab. „Er wird’s überleben.“

 

„Und ihr seid wirklich nur Freunde?“, hake ich sicherheitshalber nach.

 

Sie nickt. „Ja, ich bin nicht ganz das, worauf er steht.“

 

„Wieso?“, wundere ich mich erstaunt. Ich kann mir nicht vorstellen, dass ihr irgendein Junge widerstehen könnte. Sie ist so toll.

 

Jetzt gluckst sie leise und meint dann. „Er bevorzugt das andere Geschlecht.“

 

„Oh“, hauche ich begreifend und befangen zugleich. Der Kerl ist also schwul. Na ja, soll mir nur recht sein. Ich lächle sie an. „Also, wohin gehen wir?“

 

„Ach, einfach nur so ein bisschen hier lang.“ Sie lächelt zurück und hüpft fröhlich neben mir her. Sie wirkt gerade sehr jung. Eigentlich sogar noch ein bisschen kindlicher als meine eigene Schwester, was ein komisches Gefühl in mir auslöst. Doch auf der anderen Seite ist sie auch so fürchterlich süß, dass ich kaum wegsehen kann. Eine Weile gehen wir so schweigend neben einander her. Ich bin noch etwas überfahren von der Situation und muss erst einmal meine Gedanken und Gefühle ordnen. Nachdem ich gestern Abend so einen merkwürdigen Typ statt Hiromi am Telefon hatte, habe ich nicht mehr hiermit gerechnet. Natürlich sah es so aus, als hätte sie mir absichtlich eine falsche Nummer gegeben. Aber dann war ich mir nicht mehr so sicher. Und nun kann ich es mir gar nicht mehr vorstellen.

 

„Was hast du heute so getrieben?“, beginnt sie plötzlich das Gespräch.

 

„Nicht viel. Mit meiner Lerngruppe getroffen.“ Das war am Vormittag. Seitdem stehe ich auf der Straße und warte darauf, dass sie aus der Schule heimkommt. Sechs Stunden! Wenn sie das jemals erfährt, wird sie mich für verrückt halten. Aber ich konnte ja nicht wissen, dass sie solange ausbleibt.

 

„Ach ja, du gibst ja Nachhilfe“, erinnert sie sich. Das hat sie sich gemerkt? Wow! Kaum zu glauben wie glücklich mich das macht.

 

Allerdings. „Hm, nein. Ich meine, eigentlich schon ja, aber diesmal war es meine eigene Lerngruppe. Ich habe bald Prüfung. Das Semester ist fast vorbei.“

 

„Ach so.“ Sie lächelt freundlich. „Ist es sehr stressig?“

 

„Nein, es geht“, behaupte ich. „Was hast du denn heute gemacht?“

 

„Ich hatte Schule bis um zwei und dann war ich bei Lei. Wir haben Konsole gespielt, falls es dich interessiert.“

 

Mich interessiert alles an ihr. Doch ich schlucke das kitschige Kompliment hinunter und frage stattdessen. „Was für ein Spiel?“

 

„Lego Star Wars“, antwortet sie und lacht vergnügt. „Das ist wirklich süß. Man kann sich seinen eigenen Jedi zusammenbasteln. Sogar mit rosafarbenen Afro.“

 

„Ist ja schräg.“ Bei der Vorstellung muss ich ebenfalls lachen. „Ich hab früher auch immer mit Lego gespielt.“

 

„Ich eigentlich nicht.“

 

„Womit dann?“, frage ich neugierig.

 

Sie zögert, erzählt mir dann aber von ihren alten Spielsachen. Nichts Ungewöhnliches dabei. Nur auch nichts, was ich erwartet hätte. Kein Wort von Puppen oder so. Dabei benimmt sie sich jetzt wieder sehr mädchenhaft. Trotz der Klamotten. Wir kommen zu einem Spielplatz. Der ist so spät zu dieser Jahreszeit natürlich leer. Im stillen Einvernehmen setzen wir uns auf die Schaukeln. Die sind tierisch niedrig für meine langen Beine und ich habe wieder einmal die Befürchtung mich ganz und gar lächerlich zu machen. Ach, da stehe ich drüber.

 

„Ist dir nicht kalt?“, frage ich besorgt. Mädchen neigen ja immer dazu, recht schnell zu frieren. Mir war auch schon einmal wärmer. Zum Beispiel an Tagen, an denen ich nicht die ganze Zeit blöd eine Straße auf und ab gegangen bin.

 

„Nein, dir?“, fragt sie zurück und beginnt mit ihren Beinen Schwung zu holen. Für sie hat die Schaukel fast noch die richtige Größe. Wie klein sie ist.

 

Ich muss schmunzeln und sehe ihr angetan zu. Beinahe vergesse ich dabei ihr zu antworten. „Oh, äh … nein, es geht.“

 

„Du hast doch nicht lange auf mich gewartet vorhin?“

 

„Eine Weile schon“, gebe ich zu und lenke schnell ab. „Kommt Lei auch aus Japan?“

 

„Nein, China.“

 

„Ah, was war das dann für eine Sprache, die ihr gesprochen habt?“

 

„Mandarin“, antwortet sie.

 

Ich erinnere mich dunkel, dass das so etwas wie Chinesisch ist. Mit Asien und den Sprachen dort kenne ich mich kein bisschen aus. „Geht er in deiner Klasse?“

 

„Nein, er geht auf die Realschule.“

 

„Dann ist er jünger als du? Wie habt ihr euch kennen gelernt?“

 

„Warum reden wir über Lei?“, weicht sie unverhohlen aus und lacht. „Bist du etwa eifersüchtig?“

 

Freches Ding. Ich schüttle lachend den Kopf und greife nach ihrer Schaukel. Mit ein bisschen Mühe gelingt es mir, sie anzuhalten und zu mir zu ziehen. Ich will sie doch schon die ganze Zeit küssen. Jetzt setze ich es in die Tat um. Hiromi lässt sich auch nicht lange bitten. Die Welt um uns herum verschwindet für ein paar selige Momente. Bevor es mich zu sehr erhitzt, weiche ich aber zurück. „Wie lange kannst du noch bleiben?“

 

„Eine Weile schon noch“, haucht sie ein wenig atemlos. „Meine Mutter denkt sicher, ich wäre noch bei Lei.“

 

„Gut“, murmle ich und küsse sie erneut. Aber nur kurz. Dann stehe ich auf und nehme ihre Hand, um sie mit mir zu ziehen. Die Schaukel ist zu unbequem für mich. Außerdem wird mir ohne Bewegung doch ziemlich kalt.

 

„Ich will nicht, dass du dich erkältet“, erkläre ich mein Handeln. „Weißt du nicht einen Ort in der Nähe, wo wir ins Warme können? Ein Café oder so?“

 

„Nein, keine Ahnung. Nicht hier im Wohngebiet um diese Zeit.“ Sie wirkt zerknirscht. „Wo wohnst du eigentlich?“

 

„Das ist ein bisschen zu weit weg. In der Nähe der Uni.“

 

„Schade, ich hätte mir gerne angesehen, wie du so lebst. Wohnst du allein?“

 

Ich nicke. „Ja, kleine Bude. Nicht sehr hübsch.“

 

„So …?“ Sie zieht mich wieder zu sich runter. Behutsam fordern ihre Lippen einen neuen Kuss von mir.

 

Ich schlinge meine Arme um sie und lasse mich ganz darauf ein. Wenn sie sich für meine Wohnung interessiert, heißt das sie möchte mehr? Allein der Gedanke daran erregt mich bis ins Mark. Aber so schätze ich sie eigentlich nicht ein. Trotzdem. Ich hätte nichts dagegen. Aber das ginge wohl viel zu schnell. Wunschträume. Die können recht peinlich werden, wenn sie sich bemerkbar machen. So wie leider jetzt. Hiromi stutzt und rückt dann vorsichtig von mir ab. Mist. Was sagt man in so einem Fall? Ist ja nicht so, dass ich gleich über sie herfallen will. Sie gefällt mir nun einmal so gut. Das ist eine ganz normale Reaktion darauf. Aber erkläre das einmal einem Mädchen. Ich hätte mir einen Parker anziehen sollen. Ich Idiot. Jetzt habe ich sie erschreckt.

 

„Ähm …“ Sehr eloquent Louis. Wirklich sehr eloquent. Ich könnte mir in den Arsch beißen. Doch da grinst sie plötzlich und ehe ich mich versehe, liegt ihre zierliche Hand auf der peinlichen Härte in meinem Schritt. Ich zucke alarmiert zurück. Tja, jetzt besteht wohl erst recht kein Zweifel mehr daran, dass sie es bemerkt hat. Danke schön. Verdammter Mist. Und jetzt?

 

„Das muss dir doch nicht peinlich sein.“ Sie grinst schelmisch. „Ist schließlich ein Kompliment, nicht?“

 

Wow. Sie ist toll. In meinem Kopf entsteht ein unschmeichelhaftes Vakuum. Doch schließlich gebe ich mir einen Ruck und lächle selbstironisch zurück. „Schön, wenn du das so sehen kannst. Ich will nur nicht, dass du denkst, ich wäre … so unbeherrscht. Normalerweise habe ich mich besser unter Kontrolle.“

 

„Tatsächlich?“ Hiromi lacht leise und schmiegt sich wieder zutraulich an mich. „Gut, das ginge mir auch etwas zu schnell.“

 

Ich schlucke und nicke nur. Behutsam lege ich meine Arme wieder um sie. Ihre Hand, also, die liegt übrigens immer noch da. Jetzt noch ein bisschen fester. Aber das kann auch Einbildung sein. Jedenfalls, wenn es ihr zu schnell geht, sollte sie ihre neugierigen Fingerchen da lieber schleunigst wegnehmen. Dadurch wird es nämlich bestimmt nicht besser.

 

Nun, stattdessen fängt sie plötzlich an auch noch daran zu reiben. Ganz leicht nur. Durch den Stoff hindurch. Liebe Güte … Kaum zu glauben, was das mit mir anstellt. Mist! Ich bin doch auch nur ein Kerl. Ich hab nur genug Blut für das eine oder andere. Kopf oder Schwanz. Ein Keuchen unterdrückend, versuche ich mich zusammenzureißen. Behutsam, so behutsam es geht zumindest, schiebe ich ihre Hand fort. „Ähm, lass das lieber …“

 

„Warum?“, erkundigt sie sich unschuldig. Aber ihre Augen sehen plötzlich gar nicht mehr so unschuldig zu mir auf. Ich schnappe überrascht nach Luft. „Nun, ich dachte, es ginge dir zu schnell … Wenn du da … Na ja, dadurch geht es nicht weg.“

 

„Wenn ich es lange genug mache schon irgendwann, oder?“ Sie gluckst und zwinkert mir leicht verdorben zu. Am liebsten würde ich ihre Hand wieder loslassen und sie machen lassen, was sie meint tun zu müssen. Dennoch nicke ich tapfer. „Schon – aber das musst du nicht tun.“

 

„Und wenn ich es tun will?“, provoziert sie leise. Es ist kalt, wir befinden uns im Freien und ich könnte mir wirklich einen angenehmeren Ort und einen besseren Zeitpunkt vorstellen: Trotzdem finde ich sie gerade so unwiderstehlich, dass ich es darauf ankommen lassen würde. Ich schmunzle leicht verloren. „Nein, lieber nicht.“

 

„Angst, dass jemand kommen könnte oder ist es dir doch zu kalt?“, fragt sie frech.

 

Ich lache schwach. „Nein, nein, das ist es nicht. Obwohl, ich könnte mir einen besseren Ort für so etwas vorstellen. Außerdem wäre es mir unangenehm, wenn nur ich meinen Spaß hätte.“

 

Idiot! Ich bin ein Schwachkopf!

 

„Das ist schon okay“, versichert sie vergnügt und ich mache Bekanntschaft mit ihrer anderen Hand, die ich nicht festhalte. „Ich denke dann später an dich, wenn ich in meinem eigenen warmen Zimmer bin.“

 

Leere. Völlige Blutleere in meinem Kopf. Unfassbar, dass ich nicht ohnmächtig werde. Alles was ich noch wahrnehme, ist eine zierliche kleine Hand, die sogar durch den dicken Stoff meiner Jeans einigermaßen geschickt ist und es schafft, mich noch weiter in die völlige Idiotie zu treiben. Ich lasse ihre andere Hand auch noch los und schmiege mich halt suchend an sie. Wenn sie durchaus unbedingt mit mir da unten spielen will … Wie kann ich da widerstehen? Vor allem, wenn … wenn sie nachher wirklich … Oh mein Gott … Allein der Gedanke ist beinahe zu viel für mich. Dann öffnet sie auch noch meine Hose und fährt ohne Scheu mit einer Hand hinein. Sie geht aber nicht unter meine Shorts. Dafür bin ich auch ganz dankbar, denn ihre Hände sich nicht unbedingt warm. Trotzdem … Sie scheint genau zu wissen, wo sie streicheln muss, damit es auch so reicht.

 

Verloren suche ich nach ihren Lippen. Sie sind sofort da und küssen mich zärtlich. Ihre Hand wird schneller. Ich keuche und presse sie enger an mich. Ohne mich noch länger zurückzuhalten, komme ich mit einem ergebenen Schauern. Shit, jetzt ist meine Hose feucht. Wunderbar. Ich seufze leise und bemühe mich meine Jeans schnell wieder zu schließen. Nun, da das Blut in meine Gehirnzellen zurückkehrt, ist es mir doch leicht peinlich, so etwas zugelassen zu haben. Auch wenn sie das definitiv nicht zum ersten Mal gemacht hat. Kleine, geheimnisvolle Hiromi. Ich werde einfach nicht schlau aus ihr.

 

Wir schweigen beide etwas verlegen. Doch dann begegnen sich unsere Blicke und wir lächeln uns zurückhaltend an. Schließlich gebe ich mir einen Ruck und küsse sie noch einmal. Dann lächle ich wieder. „Hm, weißt du, ich würde mich gerne dafür revanchieren …“

 

„So?“, haucht sie leise und schmunzelt wieder so spitzbübisch. Ihre Wangen sind etwas rot. Sie hat sich aus meinen Armen gelöst. Irgendwie wirkt sie auch erregt. Sogar ziemlich verstörend offensichtlich. Das ist wohl auch der Grund, weshalb sie nun meinem Blick ausweicht.

 

„Ja“, gebe ich zu. „Wann hättest du wieder Zeit? Magst du mit mir ins Kino gehen?“

 

Sie zögert merklich, doch dann nickt sie langsam. „Klar.“

 

„Freitag hattest du aber keine Zeit?“, hake ich nach. Sie schüttelt den Kopf. „Da bin ich leider schon auf eine Party eingeladen.“

 

„Schade“, murmle ich, denn am Samstag kann ich nicht. Meine Schwester hat Geburtstag. Da sie sechzehn wird und meine Mutter meint, dass wäre ein ganz besonderes Alter, hat sie alle Verwandten eingeladen. Was bedeutet: Wenn ich nicht dabei bin, bin ich tot. „Wie sieht es Sonntag bei dir aus?“

 

„Gut“, haucht sie und lächelt mich zurückhaltend an. Plötzlich ist sie wieder ganz anders als zuvor. Ich bin total verwirrt. Eben hat sie mir noch ungeniert einen runter geholt und nun wieder dieses schüchterne Wesen. „Wann denn? Wollen wir nachmittags ins Kino gehen? Da ist es noch nicht so voll.“

 

„Gute Idee“, stimme ich zu. „Soll ich dich abholen?“

 

„Wenn du magst.“ Sie lächelt süß. Selbstverständlich mag ich. Ich kann es kaum erwarten. Fasziniert sauge ich ihren Anblick in mich auf. Bis Sonntag sind es noch vier Tage! Keine Ahnung wie ich das aushalten soll.

 

„Drei Uhr?“, schlage ich vor. Sie nickt. Als ich sie noch einmal küssen will, merke ich, dass sie sich nicht noch einmal an mich drücken lassen will. Für was hält sich mich wohl? Als könnte ich jetzt noch einmal hart werden. Ich meine … Sicher könnte ich … Aber ich würde mich nicht noch einmal so gehen lassen. Jedoch, anständig wie ich bin, respektiere ich ihren Wunsch und streiche ersatzweise liebevoll über ihre Wange. Ihre Haut ist ganz zart und rein. So etwas Schönes habe ich noch nie gesehen.

 

„Gehen wir noch ein Stück?“, schlage ich schließlich vor. Ich will mich noch nicht von ihr trennen, aber hier weiter herumzustehen, halte ich auch für gefährlich. Sie nickt wieder, lächelt und greift nach meiner Hand. In stiller Eintracht verlassen wir den Spielplatz.

 

Ich habe immer noch nicht ihre richtige Telefonnummer fällt mir ein. Allerdings kann ich sie kaum darauf ansprechen. Abermals verfalle ich darüber ins Grübeln, warum sie mir zweimal die gleiche Falsche gegeben hat. Das kann unmöglich Absicht gewesen sein, nachdem was sie gerade gemacht hat – oder? Ehrlich gesagt, kann ich sie nicht einschätzen. Überhaupt nicht. Darum verwundert es mich auch so, dass ich schon so heftig in sie verliebt bin. Eigentlich entbehrt das jeglicher Vernunft. So ganz ohne Vertrauensbasis … Aber wer braucht schon Vertrauen. Sie sieht außerdem auch nicht so aus, als müsste man sich vor ihr in Acht nehmen. Ganz und gar nicht.

 

„Wie spät ist es eigentlich?“, erkundigt sie sich nach einer Weile.

 

„Kurz vor neun“, antworte ich nach einem flüchtigen Blick auf meine Uhr. „Wieso? Musst du heim?“

 

„Ja, bald.“ Ihre Stimme drückt leises Bedauern aus und auch ihr Gesicht wirkt unglücklich. Mein Herz bekommt augenblicklich einen kleinen Stich. Ich drücke ihre Hand kurz und ziehe sie dann zu mir. Verliebt versinke ich in ihre Augen, als sie zu mir auf sieht.

 

„Wie heißt du eigentlich mit Nachnamen?“, fällt mir ein.

 

„Brandt“, antwortet sie lächelnd. „Hiromi Brandt. Klingt scheiße, oder?“

 

„Hm, eher interessant“, meine ich und lächle zurück. Obwohl es mich etwas pikiert, wie einfach ihr das Wort «Scheiße» über die Lippen kommt. Wieder einmal völlig widersprüchlich zu ihrer zeitweise aufkommenden Schüchternheit.

 

„Wie heißt du denn mit Nachnamen?“

 

„Schneider.“ Ich rolle mit den Augen. „Das ist nach Müller und Schmidt der häufigste Name in Deutschland. Ich hätte lieber den Namen meines Vaters behalten. Louis Schneider klingt auch merkwürdig.“

 

„Wie heißt dein Vater denn?“, fragt sie neugierig.

 

„Chevallier.“ Ich neige den Kopf leicht zur Seite. „Klingt doch besser, oder? Louis Chevallier?“

 

„Kannst du dich umbenennen lassen?“ Der französische Name scheint ihr auch besser zu gefallen.

 

„Ich glaube, das würde meiner Mutter das Herz brechen.“ Lachend winke ich ab. „Ich trag’s mit Würde ein Schneider zu sein. Wie hieß denn deine Mutter mit Nachnamen?“

 

„Nakamoto.“ Sie hüpft grinsend auf und ab. „Geschrieben mit dem Kanji für «zwischen» und dem für «Buch». Ich muss eine Leseratte unter meinen Vorfahren gehabt haben.“

 

„Interessant“, staune ich. Ehrlich gesagt habe ich keine Ahnung, was ein Kanji ist, aber ich vermute mal, dass es etwas mit der Bedeutung der Schriftzeichen zu tun hat. Um von meiner Unwissenheit abzulenken, erkundige ich mich: „Und du? Liest du gerne?“

 

„Nein“, gesteht sie frei heraus. „Keine Zeit. Aber früher habe ich gerne gelesen. Du?“

 

„Es geht“, gebe ich zu. „Wenn ich nicht so viel für die Uni lesen muss, mag ich Fantasy Romane ganz gerne.“

 

„Deswegen die langen Haare?“, erkundigt sie sich gewitzt.

 

„Nein, das ist meine Leidenschaft zu Metal, die da durchkommt.“

 

„Dafür bist da aber noch ganz normal angezogen“, neckt sie frech. „Musst du nicht Band T-Shirts tragen? Schwarz mit mutierten Föten oder dergleichen?“

 

„Die trag ich nur, wenn ich auf Konzerte oder in Clubs gehe“, spotte ich. „Aber nicht im Alltag, nein. Dazu bin ich vielleicht doch zu eitel.“

 

Sie lacht nur und zieht mich weiter. Ich habe das ungute Gefühl, dass wir die Richtung zu ihrem Zuhause einschlagen. Tatsächlich. Drei Straßen weiter und wir stehen wieder vor ihrer Tür. Ich seufze unglücklich. Eigentlich habe ich gar keine Lust sie gehen zu lassen. Aber ich sollte vernünftig sein. Sie lächelt fröhlich. „Also dann … Bis Sonntag.“

 

„Ja, bis dann.“ Ich beuge mich noch ein letztes Mal zu ihr herab, um sie zu küssen. Eine kleine Ewigkeit später lasse ich sie dann atemlos ins Haus verschwinden. Mit breitem Grinsen mache ich mich selbst auf den Heimweg. Ich habe ein Date mit ihr. Immer noch die falsche Telefonnummer, aber eine Verabredung und einen wirklich schönen Spaziergang. Oh Gott! Nicht zu fassen, was da auf dem Spielplatz geschehen ist. Wie kann sie nur trotzdem so niedlich bleiben?

 

Meine Hochstimmung hält an, bis ich mein Apartment erreiche. Zunächst schmeiße ich meine Jacke nachlässig auf dem Boden und ziehe mir notdürftig die Hose um, ehe ich mir eine heiße Brühe mache, weil ich immer noch völlig durchgefroren bin. Erst danach, werde ich auf das Blinken meines Anrufsbeantworters aufmerksam. Neugierig spiele ich die Nachricht ab. „Hallo Schatz, wenn du am Freitag noch nichts vorhast, wäre es mir lieb, wenn du auf Julies Gesellschaft aufpassen würdest. Sei doch so lieb und tu mir den Gefallen. Mich will sie auf keinen Fall dabei haben, aber dich als großen Bruder würde sie wohl gerade noch so tolerieren. Ruf mich zurück, wenn du dir eine Ausrede überlegt hast. Ich werde sie dann entkräften. Bis dann.“

 

Das ist ja mal wieder typisch. Frustriert betrachte ich das Gerät. Nein, ich habe Freitag leider nichts vor. Zumindest nichts was sie gelten lassen würde. Einmal mehr bedauere ich, das Hiromi schon etwas vorhat. Hilfe, Kindergeburtstag! Ich werde sterben.

Willst du ihn sehen?

 

Haare! Ich hasse sie! Nie wollen sie so sitzen, wie sie sollen. Besonders, wenn sie zu lang sind, aber noch nicht lang genug. Vielleicht sollte ich sie wieder abschneiden lassen. Aber was ist dann mit Louis? Ach, Schwachsinn. Er wird es ja ohnehin bald erfahren. Spätestens nach dem Kino, wenn er mich nach Hause bringt, werde ich ihm reinen Wein einschenken. Wenn ich die Tür schon halb hinter mir geschlossen habe und in Sicherheit bin. Bis dahin werde ich mein Date genießen. Er ist nämlich toll. Offensichtlich blind, aber toll.

 

Zwischenzeitlich dachte ich, na ja, vielmehr habe ich gehofft, dass er es begriffen hat und es ihm gleich wäre. Ich meine, wie genial wäre das denn: Wenn er von Anfang an gewusst hätte, dass ich ein Junge bin und es für ihn okay gewesen wäre? Aber nein, so naiv bin ich nicht. Längst nicht so naiv wie er sein muss. Was ihn aber irgendwie noch anziehender macht. Süß eben.

 

Seufzend starte ich den sechsten Angriff auf mein schulterlanges Haar. Es ist schräg gestuft und soll eigentlich fransig in mein Gesicht fallen. Ursprünglich war es ganz einfach gewesen es cool zu stylen, aber ich habe den Übergang verpasst. Jetzt ist es zu schwer für das Haarspray geworden.

 

Kein Wunder, dass Louis mich immer noch für ein Mädchen gehalten hat. Ich hatte an dem Tag keine Lust gehabt sie zu frisieren und sie hingen einfach nur glatt herunter. Aber so kann ich nicht auf Julies Party gehen. Alle werden da sein. Zumindest alle die zählen. Es ist so toll, dass sie mich auch eingeladen hat. Ich hatte nicht unbedingt damit gerechnet. Immerhin bin ich nicht gerade ein Mädchenschwarm. Klar komme ich mit allen aus meiner Klasse ganz gut zurecht. Doch weder die Jungs noch die Mädchen können wirklich was mit mir anfangen. Überraschung. Die Jungs sind nicht schwul und ich stehe nicht auf Mädchen. Nicht, dass ich mich schon geoutet hätte. Trotzdem … Die Schwingungen fehlen einfach.

 

„Paul! Wie lange hast du denn noch vor, dich darin einzusperren?“, erklingt die Stimme meines Vaters von außen genervt. Ich strecke ihm die Zunge raus. Mit der Tür zwischen uns kann ich mir das ganz gut erlauben. Er ist gestern heimgekommen. Am liebsten hätte er mich sofort zum Frisör gezerrt, als er mich gesehen hat. Ich wünschte, ich hätte ihm sein Willen lassen. Na ja, zu spät. Viel zu spät. Ich hätte schon vor einer halben Stunde bei Julie sein müssen. Ach egal, es gehört schließlich dazu zu spät zu kommen.

 

„Noch zehn Minuten!“, brülle ich nach draußen und donnere eine neue Ladung Haarspray auf die Strähne, die ich mir mit zwei Fingern vor die Augen ziehe. Zum Glück habe ich schwarze Haare. So muss ich sie wenigstens nicht färben. Obwohl so eine farbige Strähne … Nein, mein Vater würde mich umbringen.

 

„Fünf Minuten und ich renne die Tür ein.“ Schallt seine Drohung zu mir herein.

 

„Okay!“, rufe ich um des Friedens Willen zurück. Wird er ohnehin nicht machen. Seelenruhig lege ich die zweite Strähne zurecht. Letzten Endes sieht es doch ganz gut aus und das Haarspray meiner Mutter ist alle. Mit meinem Wachs ging auch gar nichts mehr.

 

Als ich nach draußen trete, fange ich einen irritierten Blick von meinem Vater ab. Doch er sagt nichts. Stattdessen stürmt er erleichtert aufs Klo. Glück gehabt. Schnell greife ich nach meiner Tasche mit dem Geschenk und mache mich auf die Socken.

 

„Wann kommst du wieder?“, will meine Mutter noch wissen.

 

„Keine Ahnung“, brumme ich.

 

„Nicht später als zwei. Du kannst uns auch anrufen, wenn du abgeholt werden möchtest“, bietet sie an.

 

Ich zucke mit den Schultern. „Okay. Bis dann.“

 

Erleichtert trabe ich die Treppenstufen hinunter und dann zur Bahn. Julie hat mir ihre Adresse aufgemalt. Eigentlich kenne ich sie kaum. Wir haben noch fast nie miteinander geredet. Eventuell hat Kerstin sie dazu überredet mich auch einzuladen. Mir ihr unterhalte ich mich öfters und ich glaube, die beiden Mädchen sind enger befreundet. Und Kerstin steht auf alles, was aus Japan kommt und ist so was wie ein Emo. Man könnte mich auch für einen halten. Vom Aussehen her. Aber keine Angst. Ich heule nicht die ganze Zeit herum. Eigentlich komme ich mit der Welt ganz gut klar.

 

Im Treppenhaus von Julies Haus höre ich schon, dass die Musik nicht unbedingt mein Geschmack ist, aber das war auch nicht zu erwarten. Julie lässt mich ein. Sie strahlt gut gelaunt. Zum Glück fällt mir gerade noch ein, dass wir ja reinfeiern und ich ihr noch nicht gratulieren darf. Keine Ahnung was ich jetzt sagen soll. Ich lächle etwas verlegen. „Hi! Sorry, ich komm etwas zu spät.“

 

„Ach, wie die meisten.“ Sie winkt freundlich ab und zieht mich hinein. „Sind erst eine handvoll Leute da. Hast du gut hergefunden?“

 

„Klar, war einfach“, behaupte ich und hänge meine Jacke und den Schal an die schon gut gefüllte Garderobe. „Soll ich die Schuhe ausziehen?“

 

„Nein, lass besser an. Übrigens finde ich deine Schuhe toll. Woher hast du sie?“

 

Ich nenne ihr den Laden und komplimentiere auch ihr Outfit. Wir bleiben noch eine Weile im Flur stehen, weil man sich hier besser unterhalten kann, als in dem lauten Wohnzimmer, dessen Tür allerdings geöffnet ist. Als unser Gespräch ins Stocken gerät, schiele ich neugierig hinein. Auf den ersten Blick kenne ich erst einmal nur Kerstin. Die Jungen sind älter.

 

„Mein Bruder hat noch zwei von seinen Freunden mitgebracht“, erklärt Julie stolz und verlegen zugleich. „Meine Mutter hat’s ihm erlaubt, damit er aufpasst …“ Sie rollt mit den Augen.

 

Ich nicke verständnisvoll.

 

„Aber wenigstens hat sie sich aus dem Staub gemacht. Und mein Bruder ist ganz in Ordnung. Komm ich stelle dich vor!“ Schon werde ich ins Wohnzimmer gezerrt. Darin sind doch mehr, als ich im ersten Moment gesehen habe. Immerhin doch noch vier andere aus meiner Klasse. Vielleicht war ich ja durch die älteren Jungen abgelenkt. Sie haben auch längeres Haar wie Louis und dürften etwa in seinem Alter sein. Das kann einen schon einmal verwirren. Ich glaube, ich würde ihn zurzeit in jedem fremden Gesicht vermuten, so verknallt wie ich in ihn bin. Erst recht nach Mittwoch.

 

„Hey, Paul ist da!“, ruft Kerstin auch schon erfreut und stürmt auf mich zu. Ich grinse fröhlich und lasse mich von ihr arglos umarmen und abschlecken. Na ja, dieses Küsschen hier und Küsschen da. Das Übliche halt. Ich begrüße auch noch die anderen Bekannten im Raum und erhalte ein dementsprechendes Echo. Ein merkwürdiges Kribbeln auf meiner Haut lässt meinen Blick schließlich in die andere Richtung wandern. Von dort werde ich aus einem geweiteten, dunklen Augenpaar angestarrt. Erschrocken zucke ich zusammen, als ich es erkenne. Kein Zweifel, diesmal sehe ich keine Gespenster. Es ist tatsächlich Louis.

 

„Verdammte Scheiße“, entweicht mir ein leises Flüstern.

 

„Was denn, Paul?“, wundert sich Kerstin, die noch in meiner Nähe steht. Paul. Da. Er hat’s gehört. Er hat es auch verstanden. Schon beim ersten Mal. Jetzt ist es vorbei. Mein Magen dreht sich um. Einmal abgesehen von dem Namen: Ich trage nur ein enges, schwarzes Shirt. Was der Kimono und die Jacke zuvor noch ganz gut kaschiert haben, wird nun allzu offensichtlich: Kein Busen. Nicht mal der leiseste Ansatz. Warum auch? Bin schließlich kein Mädchen.

 

Er starrt mich immer noch entsetzt an. Vielleicht hofft er noch auf ein Wunder. Dass mir Brüste wachsen oder ich mich als Zwillingsbruder seiner kleinen, asiatischen Flamme offenbare … Aber ich habe keine Schwester. Ich bin ein Junge. Dank meines ebenfalls geschockten Blickes, dürfte ihm klar sein, dass auch ich ihn wieder erkannt habe. Abrupt wende ich mich von ihm ab und richte mich an Kerstin. „Ach nichts. Was ist das für Musik? Gibt’s nichts anderes?“

 

„Hast du auch was mitgebracht?“, erkundigt sie sich hoffnungsvoll. Ich nicke. Ein Schatten zieht an mir vorbei. Eine Tür knallt. Als ich noch einmal in Louis Richtung schiele, bestätigt sich mein Verdacht: Er hat das Zimmer verlassen. Das schlechte Gewissen bringt mich beinahe um. Es überrollt mich geradezu. Doch ich versuche mir nichts anmerken zu lassen. Dann haut er halt ab. Immer noch besser, als wenn er mich vor all den Leuten hier zu Rede gestellt hätte. Nun ja, aber trotzdem. Es tut mir fürchterlich leid. Aber ich bin nun mal kein Mädchen. Spätestens morgen Abend hätte ich es ihm ohnehin gesagt … Wahrscheinlich. Ach Scheiße. Er hätte mir eine reinhauen sollen, dann würde ich mich jetzt besser fühlen. Na, kann ja noch kommen.

 

„Was hat dein Bruder denn?“, erkundigt sich Kerstin bei Julie verwundert. Die zuckt mit den Schultern und wendet sich wieder an einen der älteren Typen. Was? Er ist Julies Bruder? Auch das noch! Ich beschließe mich erst einmal um die Musik zu kümmern. So entfliehe ich auch Kerstins Aufmerksamkeit, während ich an dem Computer und den Boxen rumspiele. Das gibt mir Zeit zum Nachdenken.

 

Soll ich es überhaupt noch drauf ankommen lassen? Am besten verschwinde ich schnellstmöglich wieder von hier. In meinem Kopf dreht sich alles. Mir ist schlecht. Geistesabwesend kopiere ich meine Musik zu den anderen Sachen auf den Computer. Jeder hat etwas mitgebracht, so war es vereinbart. Verdammt, Louis ist Julies großer Bruder! Sie wird es auf jeden Fall erfahren. Unsinn … Er würde das niemals erzählen. Dann müsste er ja zugeben, dass er einen Jungen geküsst hat. Und sich von einem Jungen an den Schwanz hat fassen lassen. Nein, ich bin einigermaßen sicher, dass er das mit in sein Grab nehmen würde. Aber mir eine verpassen, kann er immer noch. Soll ich etwa darauf warten? Nein.

 

„Was hast du da mitgebracht?“ Plötzlich steht Julie wieder neben mir. Der Typ, mit dem sie eben noch gesprochen hat, ist ebenfalls verschwunden. Sehr wahrscheinlich um zu sehen, was mit Louis los ist.

 

„Oh, das ist ein bisschen J-Rock“, murmle ich noch etwas verstört.

 

„Ist was?“, wundert sie sich. Ich schüttle nur den Kopf. Mir fällt keine Ausrede ein. Es ist beinahe so, als würde mein Schädel explodieren. Ich sehe die ganze Zeit Louis entsetzte Augen vor mir. Genau so hatte ich mir das vorgestellt. Seinen Gesichtsausdruck, wenn er es erfährt. Genau so. Aber irgendwie hatte ich dennoch gehofft, dass es eben nicht so laufen würde. Wie denn dann? Na, dass er es okay findet. Bi ist. Keine Ahnung.

 

„Kennst du meinen Bruder?“, wird sie direkter. Also ist es ihr nicht entgangen, wie wir uns angestarrt haben.

 

Ich zucke mit den Schultern. „Nicht wirklich.“

 

„Und unwirklich?“, hakt sie hartnäckig nach. „Ich meine, ist sonst nicht so seine Art fluchtartig das Zimmer zu verlassen. Hatte das was mit dir zu tun? Bisher hat er jeden Gast genau unter die Lupe genommen oder wenigstens begrüßt. Er ist eigentlich richtig nett. Darum … Woher kennt ihr euch?“

 

„Er hat mich verwechselt“, behaupte ich ungeschickt. Julie mustert mich skeptisch. Auch ein wenig Ungeduld schimmert in ihren Augen. Sie hat die gleichen wie Louis. Oh Mist! Scheiße! Hilfe! Ich will gehen! Im Boden versinken! Oder auf der Stelle sterben …

 

„Ach und mit wem?“, will sie wissen. Ich zucke mit den Schultern und spiele unruhig mit der Computermaus in meiner Hand, um ihrem Blick nicht länger ausgeliefert zu sein. Schließlich zuckt sie auch nur mit den Schultern. „Dann frage ich eben ihn.“

 

„Mach das“, murmle ich nur. Ungünstig sich mit der Gastgeberin anzulegen. Aber mir ist wirklich nichts eingefallen. Ich hätte ebenfalls aus dem Zimmer stürmen sollen. Eventuell Louis hinterher und mich entschuldigen. Aber wofür denn? Dass ich ein Junge bin? Dafür kann ich doch nichts. Er hätte doch wirklich auch schon früher darauf kommen. Zum Beispiel auf dem Spielplatz: Welches Mädchen würde so etwas machen und auch noch hart werden? Natürlich hat er das nicht bemerkt. Aber nun nehme ich an, ist das der Knackpunkt, der ihn an der Sache am meisten stört. Es sollte ihm klar werden, warum ich mich danach nicht mehr umarmen lassen wollte. Andererseits: Er ist ja auch nicht der Einzige, der sich unglücklich verliebt hat. Warum sollte nur ich leiden?

 

Irgendwann setzt sich Mirko zu mir. Er ist ganz nett und auch in meiner Klasse. Wir besorgen uns was zu trinken und ziehen dann ein bisschen über die Lehrer an unserer Schule her. Viel haben wir uns aber auch nicht zu erzählen. Schließlich überredet er mich dazu, ihm meine Musik zu zeigen. Das mache ich auch. Kaum erklingt das erste Lied, öffnet sich plötzlich die Tür des Wohnzimmers. Louis, mit unbeweglichem Gesicht, steht in ihrem Rahmen und sein Blick trifft auf meinen. Ich würde am liebsten unsichtbar werden. Zumindest ducke ich mich in der Hoffnung, dass er mich vielleicht doch noch übersieht. Das tut er anscheinend. Sein Blick wandert weiter. Er stellt sich zu seinen Freunden und beachtet mich nicht weiter. Puh. Irgendwie erleichtert und frustriert zugleich atme ich auf. Er hat sich beruhigt und macht einen auf: Es ist nie passiert.

 

„Schon krass, dass Julies Mutter uns einen Aufpasser gestellt hat, was?“, spottet Mirko beschwingt.

 

Ich zwinge mich zu einem Lächeln und nicke.

 

„Aber er ist ganz okay. Hab vorhin schon mit ihm gesprochen“, erklärt Mirko stolz.

 

„Worüber?“, höre ich mich interessiert fragen.

 

„Ach nur so … Was er macht und so …“

 

„Und was macht er?“

 

„Er studiert wohl. Lehramt. Ich dachte, er spielt vielleicht in einer Band, aber nein, tut er nicht“, plaudert Mirko weiter. Ich wünschte, er würde aufhören. Aber dann will ich doch alles über Louis erfahren, was ich vielleicht noch nicht weiß. Verstohlen blicke ich wieder in seine Richtung. Er hat mir den Rücken zugewandt und spricht mit seinen Freunden. Sie haben jeder eine Flasche Bier in der Hand. Lässig. Im Gegensatz zu dem Zeitpunkt, als ich angekommen bin, bilden sie jetzt ihre eigene Liga. Seine Freunde scheinen ihn abzuschirmen. Selbst wenn ich wollte, könnte ich nicht mit ihm sprechen.

 

Ohne wirklich darauf zu achten, worüber wir reden, benutze ich Mirko, um mich abzulenken. Er ist ja auch ganz nett. Aber als seine richtigen Freunde kommen, hat er dann genug von mir und lässt mich stehen. Natürlich könnte ich mich auch dazugesellen. Stattdessen gehe ich auf Klo. Vor dem Spiegel bleibe ich stehen und strecke mir die Zunge raus.

 

Ha, ich sehe gut aus. Die Haare sind mir wirklich gelungen. Vor allem hält das Haarspray. Und was bringt das? Nichts. Ich wünschte, ich hätte jetzt Lei dabei. Er ist immer mein Freund. Egal, ob ich im Kimono stecke oder aussehe wie jetzt. Er hat auch kein Problem damit mich zu küssen, wenn ich einen Kimono trage. Anderseits, wenn ich so bin wie jetzt, würde er mich auch niemals anrühren. Was würde Louis machen, wenn ich mich jetzt schminken würde und als Mädchen zurück in den Raum komme? Kotzen? Mich auslachen? Jedenfalls würde er nicht positiv reagieren. Bestenfalls Mitleid mit mir haben. Aber ich will kein Mitleid und ich will auch kein Mädchen sein.

 

Es klopft an der Tür. Ich schrecke zusammen. Wie lange starre ich mich jetzt schon so an? Verlegen ordne ich meine Haare. Völlig unsinnig. Sie sind so perfekt, wie sie in ihrer Länge sein können. „Moment.“

 

Als ich den Schlüssel umdrehe, wird die Tür auch schon aufgedrückt und, ehe ich mich versehe, stehe ich mit Louis zusammen in diesem verflixten Badezimmer. Er zieht die Tür sofort wieder hinter sich zu und schließt sogar ab. Oh Scheiße. In mir bricht eine mittelschwere Panik aus. Ehrlich gesagt, habe ich doch keine Lust darauf geschlagen zu werden.

 

„Fandest du das witzig?“, erkundigt sich Louis ohne Einleitung.

 

„Was?“, frage ich unschuldig zurück.

 

„Mich anzulügen“, knurrt er böse. Seine Augen funkeln ungehalten. So habe ich ihn bisher noch nicht kennen gelernt. Er hat eigentlich immer gelächelt oder gar gelacht. Ich weiche seinem Blick aus und mustere die grauen Fliesen am Boden. Am besten ich lasse mir nichts anmerken. „Findest du es so schlimm? Ich meine, was sind schon zwei Jahre mehr oder weniger?“

 

„Bitte?“, keucht er nur ungläubig. „Ich rede kaum von deinem Alter!“

 

„Ansonsten habe ich nicht gelogen“, behaupte ich und sehe ihn wieder an. Stimmt ja auch.

 

Louis glotzt fassungslos auf mich herab. „Du meinst, abgesehen von der Kleinigkeit, dass du ein Kerl bist!?“

 

„Hab ich je etwas anderes behauptet?“

 

Er gibt einen grimmigen Laut von sich. „Du hast gesagt, du heißt Hiromi! Kein Wort von Paul!“

 

„Ich heiße Paul Hiromi Brandt“, erkläre ich fest. „Ich habe nicht gelogen!“

 

Er holt tief Luft für eine Erwiderung. Doch es kommt nichts. Für einen Moment habe ich ihm wohl den Wind aus den Segeln genommen. Schließlich meint er aber: „Es war recht offensichtlich, dass ich davon ausgegangen bin, dass du ein Mädchen bist, oder?“

 

Ja, das war es. Ich presse zerknirscht die Lippen aufeinander und blicke wieder zu Boden. Da kann ich mich schlecht rausreden. Ich habe nicht gelogen. Aber ich habe ihm auch nicht die Wahrheit gesagt. Schließlich entweicht mir ein zitteriger Seufzer. „Es tut mir leid.“

 

„Wunderbar“, brummt er sarkastisch. „Dann ist ja jetzt alles wieder in Ordnung.“

 

Ich lasse mich nicht provozieren und schweige.

 

„Hast du dir mal überlegt, was du mir damit antust?“, fragt er vorwurfsvoll.

 

„Nein, keine Ahnung. Was habe ich dir denn angetan?“

 

„Du hast … du hast …“, stottert er und macht ein angeekeltes Gesicht. „Ich stehe nicht auf Jungs und du hast mich geküsst und …“

 

„Eigentlich hast du mich zuerst geküsst“, erinnere ich ihn. Man stelle sich mal vor, ich würde auch nicht auf Jungs stehen. Was hätte er mir da nur angetan? Die Bemerkung verkneife ich mir aber lieber.

 

„Weil ich dachte, du wärest ein Mädchen!“, entfährt es ihm. „Ich meine, welcher normale Junge verkleidet sich so!?“

 

„Es war Fasching und es hat mir gut gestanden, oder etwa nicht?“

 

Er stöhnt leise. Die Situation scheint ihn mächtig zu überfordern.

 

Ich beschließe noch eins draufzusetzen. „Außerdem … Ich hatte es bei dem einen Mal belassen wollen, aber dann bist du ja einfach noch einmal vor meiner Wohnung aufgekreuzt. Ich kann nichts dafür, dass du es noch nicht einmal da gerafft hast.“

 

„Du hättest mir sagen können, dass ich mich verziehen soll“, grummelt er. „Das wäre wohl das Beste gewesen und unmissverständlicher, als mir zweimal eine falsche Nummer zugeben.“

 

Dann hat er das also schon bemerkt. Aber wieso zweimal? Dann hat er die Nummer beim ersten Mal gar nicht verloren, sondern war nur hartnäckig? Ui, muss ihn ja wirklich erwischt haben. Aber er hat mir immer noch keine runtergehauen. Dafür ist er wohl einfach zu nett. Er ist eben toll. Ich lasse meine Schultern hängen und seufze leise. „Der Ansicht war ich nicht.“

 

„Du bist schwul.“ Es ist mehr eine Feststellung als eine Frage.

 

Ich nicke.

 

„Nun, ich nicht“, behauptet er.

 

„Ich weiß“, murmle ich nur.

 

„Wenn du das weißt, findest du nicht, du hättest es mir erst recht sagen müssen!?“, empört er sich gleich wieder. „Wieso hast du es nicht?“

 

„Weil es mir gefallen hat“, gestehe ich verzagt. „Und küssen Mädchen anders? Sind ihre Hände sanfter? Was genau stört dich daran, dass ich ein Junge bin?“

 

„Nun, zum Bespiel das zwischen deinen Beinen“, brummt Louis. Er klingt erschöpft und niedergeschlagen. Ist ja auch eine Scheißsituation für uns beide. Er sieht mich noch einmal skeptisch an. „Hast du wirklich einen Penis?“

 

„Willst du ihn sehen?“, frage ich frech zurück und etwas von meiner wahren Persönlichkeit schimmert wieder durch.

 

Er rümpft die Nase und schüttelt schnell den Kopf. „Nein, danke.“

 

Überrascht mich nicht wirklich. „Und jetzt?“

 

„Tun wir so, als wäre nie etwas geschehen“, verlangt Louis hart.

 

Ich lache unlustig auf. Das war jetzt auch nicht sonderlich überraschend. Aber was kann ich tun? Nichts. Höchstens dankbar sein, dass er so nett ist. Aber ich kann es nicht. Ich bin todtraurig und enttäuscht.

 

„Dann gehe ich heim“, entschließe ich mich kurzerhand.

 

„Das darfst du nicht!“, überrascht er mich. Verstört blicke ich zu ihm auf. Er macht ein verlegendes Gesicht. „Julie feiert schließlich rein. Es wäre merkwürdig, wenn du schon gehen würdest.“

 

„Ich könnte behaupten, mir wäre schlecht.“

 

„Sie ist mir eben schon auf den Keks gegangen. Tu mir den Gefallen und verhalte dich einfach normal“, bittet er noch einmal eindringlich, ehe er die Tür aufschließt und verschwindet. Scheiße. Wenigstens ist es besser gelaufen, als ich befürchtet habe. Er hat nicht zugeschlagen. Das beweist aber nur noch mehr, was für ein toller Typ mir da durch die Lappen gegangen ist. Er ist so … Wow …

 

Aber was soll ich da machen? Ich bin eben ein Junge. Verdammt. Wie kann er so verliebt in mich sein, wenn ich ein Mädchen bin und so gar nicht, nur weil ich ein Junge bin? So groß ist der Unterschied nun auch nicht. Eigentlich nur 13 Zentimeter, wenn er steif ist. Wirklich nicht besonders groß also. Scheiße!

 

Ich schlage ungeduldig gegen das Waschbecken und verlasse dann ebenfalls das Badezimmer. Inzwischen hat sich die Zahl der Gäste verdreifacht. Also so ungefähr zwanzig Leute stapeln sich im Wohnzimmer auf den Sitzgelegenheiten. Sie hören Musik, quatschen und die üblichen drei Mädels versuchen es mit Tanzen, wie auf jeder Party. Es gibt auch Alkohol, aber nicht viel. Hat sicherlich Julies Mutter nicht erlaubt. Bislang wissen die Jungs wohl auch noch nicht, wie sie Louis einschätzen sollen und halten die mitgebrachten Flaschen gut unter Verschluss.

 

Nun, Louis steht wieder bei seinen Kumpels. Sie haben immer noch Bierflaschen in der Hand, die bei uns noch nicht so beliebt sind. Zu herb und so. Die meisten stehen auf Mischgetränke. Ich mag auch kein Bier. Darum hole ich mir noch ein Glas Cola und setze mich zu den Mädchen, bei denen auch Kerstin sitzt. Sofort beginnt die mich wieder über Japan auszufragen. Ich habe bald einen begeisterten Kreis an Zuhörern. Ein Zeichen dafür, dass die Party noch nicht so richtig angefangen hat. Also spiele ich ein bisschen den Entertainer. Das kann ich gut. Dabei schiele ich unauffällig in Louis’ Richtung. Seine Kumpel sehen ab und zu herüber, aber er scheint es sich konsequent zu verkneifen. Es fällt mir immer schwerer meine Niedergeschlagenheit zu verbergen. Irgendwie habe ich das Gefühl, dass die anderen das auch merken müssten. Diese aufgesetzten Gebärden …

 

Schließlich kommt doch noch Stimmung auf und ich trete erleichtert in den Hintergrund zurück. Jetzt ist da nur noch Kerstin, die sich weiter mit mir unterhält. Das Gespräch wird etwas tiefer. Irgendwann erwische ich mich sogar dabei, dass ich ihr erkläre, wie man ihre Augen besser mit Schminke betonen könnte. Sie ist im ersten Moment etwas irritiert, aber dann fragt sie auch nicht nach, woher ich das weiß, sondern nimmt die Ratschläge einfach nur an. Anschließend halte ich mich noch mehr zurück. Kerstin wird von Julie zum Tanzen gezwungen. Mich versucht sie zum Glück nicht zu überreden. Ich hocke auf dem Boden in der Nähe der Boxen. Hier kann ich ungestört Musik hören und außerdem kann ich ebenso ungestört Louis beobachten.

 

Er unterhält sich mit Marlene. Die ist auch in meiner Klasse. Ich bin so eifersüchtig auf sie. Warum muss es ausgerechnet ein Mädchen sein? Ich sehe doch ohnehin viel besser aus als die da. Plötzlich fällt Louis Blick doch auf mich. Aber nur kurz. Als er bemerkt, wie ich ihn anstarre, guckt er sofort verlegen fort. Muss ihn ja verdammt peinlich sein, dass er auf mich hereingefallen ist.

 

Es wird später. Halb elf inzwischen. Julie und Kerstin tanzen gemeinsam auf dem Couchtisch. Immer wieder verschwinden ein paar Leute nach draußen. Kein Zweifel, dass sie sich heimlich mit Alk versorgen. Dabei scheint es unnötig. Louis selbst trinkt nach meiner Berechnung auch schon das fünfte Bier und kann daher ebenfalls nicht mehr besonders nüchtern sein. Er und seine Freunde ziehen sich dann auch irgendwann in das Zimmer seiner Mutter zurück, um uns ungestört feiern zu lassen. Vielleicht aber auch, weil ihm meine Blicke auf den Keks gehen. Nach einer anderen Berechnung von mir, haben wir uns seit dem Badezimmeraufenthalt immerhin noch siebenmal angesehen. Das heißt, ich habe ihn die ganze Zeit angestarrt. Er mich eben siebenmal.

 

„Hier, trink mal was“, fordert Mirko mich auf und reicht mir ein Glas mit einer verdächtig durchsichtigen Cola.

 

Ich schüttle nur den Kopf. „Ich vertrage Alkohol nicht besonders gut.“

 

„Ach komm schon“, nötigt er mit breitem Grinsen. „Da ist kaum was drin! Du sitzt hier so still in der Ecke. Komm schon mitfeiern!“

 

Ein Glas davon und ich sitze mit hochrotem Kopf in der Ecke oder penne gar im Stehen ein. Wenn ich sage, dass ich keinen Alkohol vertrage, meine ich das auch so. Aber es ist auch unhöflich eine solche Einladung abzulehnen. Also greife ich nach dem Becher und nehme einen höflichen Schluck. Beinahe verschlucke ich mich daran. Das ist fast Wodka pur. Mirko lacht nur und weigert sich das Glas zurückzunehmen. Stattdessen zieht er mich auf die Beine und schleppt mich dann zu seiner Gruppe zurück.

 

Ich habe noch gar nicht alle begrüßt, das holen wir jetzt erst einmal nach. Es scheint allen besser zu gehen als mir. Außerdem sind auch schon alle fröhlicher als normal. Da ich Louis ohnehin nicht weiter anstarren kann, lasse ich mich von der Stimmung mitreißen. Sogar zum Tanzen lasse ich mich auffordern. Immerhin lenkt es mich von dem tauben Gefühl in meinem Inneren ab. Mehr aus Gewohnheit nippe ich immer wieder an dem Glas, obwohl ich gar nicht trinken will.

 

Dann beginnt die Welt etwas zu verschwimmen. Ich merke, dass meine Bewegungen ungelenker werden. Schließlich muss ich mich hinsetzen und irgendwann liege ich sogar nur noch benommen auf dem Boden. Scheißalkohol. Dabei weiß ich doch, dass ich ihn nicht vertrage.

 

„Oh Mann, guck mal! Paul ist schon völlig fertig“, dringt eine Stimme zu mir durch. Ich kann sie aber nicht so recht einordnen. „Hey, alles okay?“

 

„Schläft er?“

 

„Nein, guck, seine Augen sind auf.“

 

Ich rühre mich, damit sie sehen, dass ich nicht tot bin. Aber artikulierte Worte bringe ich nicht über die Lippen. Ich habe eher das Gefühl, dass ich japanisch spreche. Nicht dass ich selbst wüsste was. Irgendein Blödsinn. Dass ich vielleicht doch nicht so gerne ein Junge bin, oder so.

 

„Sollen wir ihn da liegen lassen?“

 

„Nachher muss er noch kotzen“, wendet jemand ein.

 

„Sollen wir deinen Bruder holen?“

 

„Was? Bloß nicht! Dann erfährt es sicher meine Mutter!“ Das war dann wohl Julie. „Bringen wir ihn erstmal in mein Bett.“

 

Schon greifen mich ungefähr drei Paar Hände. Unter meinen Schultern, meine Beine und irgendwer etwas ungeschickt an meinem Bauch. Ja, ich glaube, wenn sie so weitermachen, muss ich echt kotzen. Zumindest dreht sich alles. Oh Shit.

 

„Paul ist dir schlecht?“

 

„Hai“, murmele ich jämmerlich. Ich hab das Gefühl, dass mein Magen einen Purzelbaum schlägt, als sie mich auf die Matratze werfen.

 

„Hier, ich stell dir einen Eimer neben das Bett, okay?“

 

Ich nicke nur. Wie spät ist es jetzt? Mist. Ich muss doch um zwei zu Hause sein. Wie soll ich das machen, wenn sich alles so dreht? Am besten die Augen schließen. Es schaukelt trotzdem. Oh Gott …

 

Keine Ahnung wie viel Zeit vergangen ist. Die Tür öffnet sich. Laute Musik und Stimmengewirr aus dem Wohnzimmer dringen herein. Sie singen jetzt sogar schon. Irgendein Geburtstagslied. Offenbar ist es zwölf.

 

Der Eingetretene bleibt zunächst eine Weile an der Tür stehen. Dann kommt er mit schweren Schritten ans Bett. Als er sich zu mir setzt, vibriert die ganze Matratze. Mein Kopf dröhnt. Es riecht nach Alkohol. Bier. Mein Herz fängt an zu rasen. Aber ich traue mich nicht die Augen aufzumachen. Ich könnte die Enttäuschung nicht ertragen, wenn es nicht Louis ist. Oder wenn er dann noch etwas Gemeines sagt und geht.

 

Eine Weile geschieht nichts. Es ist ganz still. Er muss mein Herzschlag fast hören können. Plötzlich bin ich wieder ziemlich nüchtern. Zumindest hat das Schaukeln aufgehört, auch wenn ich meiner Motorik noch nicht ganz traue. Ich blinzle dennoch vorsichtig. Tatsächlich. Louis. Unwillkürlich halte ich den Atem an. Doch er sieht nicht zu meinem Gesicht auf. Mit der stoischen Mimik eines Betrunkenen glotzt er auf meine Brust. Oder sollte ich ‚nicht vorhandene’ Brust sagen. Das beschreibt den missmutigen Ausdruck um seinen Mund dabei am ehesten.

 

Dann geht plötzlich ein Ruck durch ihn. Er sieht mir ins Gesicht. Aber offenbar bemerkt er mein Blinzeln nicht. Denn er scheint beruhigt. Vorsichtig, so vorsichtig wie ein offensichtlich Angetrunkener sein kann, streckt er seine Hand aus und fährt über den Stoff meines T-Shirts. Nein, tatsächlich: Der Oberkörper eines Jungen. Man kann die Gedanken geradezu von seinem Gesicht ablesen.

 

Sein Blick wandert weiter zu meinem Schritt. Oh nein, das wird er nicht tun. Doch. Ein wenig fassungslos registriere ich, wie seine Hand über meinen Körper abwärts rutscht und sich an meiner Hose vergreift. Ehe ich selbst weiß, was ich tue, greife ich nach ihr und halte sie fest. Er zuckt zusammen und blickt erschrocken zu mir auf. Wir sind ungefähr für zehn endlose Sekunden schrecklich verlegen. Dann reißt er seine Hand zurück und stottert. „Tut … tut mir leid.“

 

„Schon okay“, nuschle ich undeutlich und setze mich etwas schwerfällig auf. „Ich hatte dir ja angeboten ihn dir zu zeigen. Allerdings dachte ich nicht, dass du willst.“

 

„Will ich auch nicht“, beteuert er schnell. Er kann mir nicht einmal in die Augen sehen. „Ich dachte … ich dachte nur, wenn ich es sehe, hört es … auf …“

 

Ich runzle die Stirn. „Was soll aufhören?“

 

„Ich bin betrunken“, stellt er fest und lacht verwirrt. Er greift sich ungeschickt an die Stirn. Ja, er ist wirklich betrunken. Aber was aufhören soll, habe ich jetzt doch begriffen. Vielleicht … Wenn es ihm hilft … Ich hole tief Luft. Die Befangenheit will nicht weichen. Aber dann steht mein Entschluss fest. Ohne noch länger zu zögern, streife ich mir das Shirt über den Kopf. Erschrocken sieht er mir dabei zu. „Was machst du …? Wenn jemand reinkommt!“

 

„Du willst doch den Beweis, oder?“, erinnere ich ihn verlegen, hole noch einmal tief Luft und ziehe mir dann die Hose über den Hintern. Louis starrt mich schockiert an. Seine Augen hasten unruhig über meinen entblößten Körper. Dann gibt er ein unwohles Stöhnen von sich und springt auf. Mit drei Schritten ist er zur Tür und, mit einem letzten gehetzten Blick auf mich, verlässt er das Zimmer endgültig.

 

Ich schließe die Augen. Mein Atem geht flach und schnell. Mir ist schwindelig. Dann besinne ich mich aber und ziehe mir schnell die Hose wieder hoch. Auch in das Shirt schlüpfe ich so schnell es mir mein Zustand erlaubt zurück. Jetzt bin ich ruhiger.

 

Aber auch furchtbar unglücklich.

 

Mir ist zum Heulen. Was habe ich denn erwartet? Etwa ein Kompliment? Lachhaft. Immerhin habe ich ihm wohl damit geholfen, über das nicht existierende Mädchen hinwegzukommen, in das er sich verguckt hat. Ich finde, meine Schuld, dass ich ihn nicht aufgeklärt habe, ist damit vollständig gesühnt. Und wer tröstet jetzt mich?

 

Ich taumle aus dem Zimmer und suche nach dem mitgebrachten Geschenk. Dafür muss ich zunächst die Tasche unter dem Haufen Jacken hervorkramen. Alles nicht so einfach, wenn man die Welt doppelt sieht. Dann gehe ich zu Julie und gratuliere ihr.

 

„Geht’s dir besser?“, erkundigt sie sich mitfühlend. Meine Chance. Ich schüttle den Kopf. „Nein, mir fehlt da ein Enzym zum Alkoholabbau. Es ist besser, wenn ich heimgehe.“

 

„Oh, schade!”, meint sie aufrichtig.

 

Ich nicke. „Ja, finde ich auch. Aber es ist wohl besser, bevor ich noch etwas voll kotze.“

 

„Kommst du allein nach Hause? Ich könnte meinen Bruder bitten, dass er dich bringt.“

 

„Nein, danke. Geht schon“, murmle ich. „Feiere noch schön.“

 

Ich flüchte. Das war es. Aus der Traum. Dann habe ich Sonntag wohl kein Date. Dabei habe ich mich schon so darauf gefreut. Ich lache ein wenig zynisch, um nicht heulen zu müssen. Verdammt. Ich habe mich wirklich in ihn verliebt! In diesen Schwachkopf, der noch nicht mal Junge und Mädchen auseinander halten kann! Warum muss er auch so furchtbar lieb und nett sein?

Aus Versehen

 
So etwas kann auch nur mir passieren. Fassungslos liege ich im Bett meiner Mutter. Die letzten Gäste habe ich vor einer halben Stunde rausgeschmissen. Er ist schon kurz nach Mitternacht gegangen. Kurz nachdem ER mir seinen Penis gezeigt hat. Er! Er! Er! Nicht sie. Keine kleine Hiromi. Sondern ein Paul. Stöhnend rolle ich mich auf dem Bauch und versuche die Gedanken aus meinem Kopf zu verscheuchen. Darunter die Bilder seines zierlichen Körpers: die rosafarbenen zarten Brustwarzen, die makellose weiße Haut, der niedliche kleine Bauchnabel und der trotz allem, verdammte Scheiße, tatsächlich vorhandene Penis!

 

Ich reiße die Augen auf, aber im Zimmer ist es dunkel und daher gleichgültig, ob ich sie geöffnet oder geschlossen habe, ich sehe ihn immer noch vor mir. Wie er mich verletzt ansieht, als er sich so völlig entblößt hat. Es tut weh. Wieso? Warum zu Teufel muss sie ein Junge sein?

 

An Schlafen ist nicht zu denken. Letztlich halte ich es nicht mehr aus und stehe auf. Ungeschickt, wegen des Restsalkohols in meinem Blut, tapse ich in die Küche. Zu meiner Überraschung sitzt dort meine kleine Schwester mit recht grünem Gesicht und zählt die Tropfen eines Medizinfläschchens auf einen großen Esslöffel.

 

„Ist dir schlecht?“, frage ich unnötigerweise.

 

Sie nickt. „Dir etwa auch?“

 

„Nein“, brumme ich und lüge: „Ich hatte nur Durst …“

 

„Ah.“ Sie steckt sich den Löffel in den Mund und verzieht das Gesicht. Es ist bereits vier Uhr morgens. Die Nacht wird kurz, wenn wir heute noch aufräumen müssen und das müssen wir, bevor unsere Verwandtschaft eintrudelt.

 

Ich seufze bei dem Gedanken. „Das wird noch ein toller Geburtstag.“

 

„Ja“, murmelt sie resigniert. „Mir wird noch übler, wenn ich an Omas Torte denke.“

 

„Oh, hör auf!“ Ich lächle verhalten, ehe ich zum Waschbecken gehe und mir ein Glas mit Leitungswasser fülle. Meine Gedanken kehren unwillkürlich zu Hiromi zurück. Ich kann an nichts anderes denken. Am liebsten würde ich meine Schwester zu ihm ausfragen … Aber das ist zu auffällig. Sie war ohnehin schon misstrauisch, weil wir so merkwürdig aufeinander reagiert haben. Alle haben es mitbekommen. Keine Ahnung, wie ich mich da rausgeredet habe. Sicherlich nicht geschickt. Markus und Thomas waren ziemlich misstrauisch. Dennoch … Wie soll man cool bleiben, wenn sich seine neue Flamme als Rotzbengel entpuppt? Ich versuche nun doch das Gespräch unauffällig auf ihn zu lenken. „Hilft die Medizin schon?“

 

„Nein“, stöhnt sie und hält sich den Bauch. „Lenk mich bitte mal ab. Sonst muss ich wirklich kotzen.“

 

„Dass kommt davon, wenn man Alkohol trinkt und nicht weiß, wo seine Grenzen liegen.“ Muss ich gerade sagen. Heute hatte ich definitiv auch ein paar Bier zu viel. Dennoch … „Typisch Kindergeburtstag. Die erste Schnapsleiche schon vor zwölf.“

 

„Ach, Paul …“ Sie versteht die Anspielung sofort. „Er meinte, ihm fehlt ein Enzym, um den Alkohol abzubauen. Eigentlich ist er ziemlich vernünftig.“

 

„Ist er das?“

 

„Ja, wenn man von den anderen Jungen in meiner Klasse ausgeht“, bestätigt sie.

 

Ich setze mich zu ihr. „Wie äußert sich das denn?“

 

„Wieso fragst du?“

 

„Ich dachte, du willst abgelenkt werden“, rede ich mich heraus. Manchmal bin ich doch gar nicht so doof.

 

Sie nickt. „Okay, also Paul … Keine Ahnung. Meistens ist er ziemlich still. Obwohl er auch anders kann. Er ist total niedlich. Allein die süßen Sachen, die er immer trägt. Allerdings glaube ich, dass er voll eitel ist, auch wenn er noch so kindlich aussieht. Kerstin hat total den Narren an ihm gefressen.“

 

„Steht sie auf ihn?“

 

„Das wohl nicht.“ Julia gluckst. „Er hat es noch nicht zugegeben, aber sie hat mit mir gewettet, dass er schwul ist. Anscheinend gewinnt sie die Wette. Sie hat mir vorhin erzählt, dass er ihr sogar einen Schminktipp gegeben hat. Wie komisch ist das denn für einen Jungen?“

 

„Sehr?“, schlage ich vor, muss aber sofort wieder an Montag denken. Da hat er sich wirklich gut geschminkt. Besser als Julie das heute Abend bei sich hinbekommen hat auf jeden Fall. Es ist wirklich merkwürdig. Ist er transsexuell?

 

Sie nickt, ist aber noch nicht fertig: „Paul ist eben total lieb. Ich glaube nicht, dass irgendwer aus unserer Klasse ein Problem damit hätte, wenn herauskommt, dass er wirklich schwul ist.“

 

„Ja“, stimme ich zu.

 

Sie blinzelt mich misstrauisch an. „Mhm … Sag mal, was war das vorhin wirklich zwischen euch?“

 

Mist. „Was meinst du?“

 

„Du bist raus gerannt“, fällt ihr wieder ein. „Mal abgesehen davon, dass es merkwürdig und unhöflich war, so Furcht einflößend wirkt er nicht.“

 

„Woher willst du wissen, dass es etwas mit ihm zutun hatte?“

 

„Weil Kerstin gesagt hat, dass er dich auch total entsetzt angesehen hätte“, erwidert sie. „Und normalerweise wäre er viel zu höflich, um derartiges zu tun.“

 

Ich schweige. Mir fällt keine Ausrede ein. Vorhin habe ich es noch geschafft, ihr aus dem Weg zu gehen, aber jetzt … selbst Schuld. Warum musste ich sie auch noch einmal auf ihn ansprechen? Ich seufze und stütze meinen Kopf auf meine Hand. Nein, ich kann meiner sechzehnjährigen Schwester doch nicht das Herz ausschütten. Allerdings kann ich diese Geschichte auch niemand anderem erzählen. Es ist total peinlich. „Das ist eine dumme Sache.“

 

„Aha?“

 

„Versprich mir, dass du es niemandem erzählst!“

 

„Okay“, gibt sie schnell nach, weil sie schon fast vor Neugierde platzt. Ich versuche es mal mit der halben Wahrheit. „Ich habe ihn am Rosenmontag beim Umzug gesehen … Und ich dachte, er wäre eine Sie.“

 

„Was!?“ Sie lacht mich vergnügt aus. „Na ja, kann schon mal vorkommen. Er hat ja wirklich ein sehr hübsches Gesicht. Was hast du gemacht? Hast du ihn angemacht?“

 

„Ja“, gebe ich zerknirscht zu.

 

Sie lacht noch lauter. „Und das war dir jetzt so peinlich, dass du raus gerannt bist.“

 

Ich nicke ergeben. Wenn sie das schluckt, ist ja gut.

 

„Aber du bist doch nicht schwul, oder?“

 

„Nein“, knurre ich nur, trinke mein Glas leer und stehe auf. „Ich gehe pennen. Du solltest es auch versuchen. Das wird noch ein langer Tag.“

 

„Ja, gute Nacht!“ Sie steht ebenfalls auf. „Träum schön von Pauline.“

 

‚Hiromi’, verbessere ich sie in meinen Gedanken. Das wird sich wohl nicht vermeiden lassen, wenn ich überhaupt schlafen kann. Kaum liege ich im Bett, kommen die Bilder wieder. Und die Erinnerung an die peinliche Erregung, die ich gespürt habe, als er sich plötzlich ausgezogen hat. Ich hatte eigentlich nur nach ihm sehen wollen, weil ich mitbekommen habe, dass es ihm nicht gut ging. War schließlich meine Aufgabe. Aber dann sah er so niedlich aus. Ich konnte plötzlich nicht mehr klar denken. Vielleicht lag das auch am Bier. Jedenfalls war ich mir nicht mehr sicher, ob er nicht doch eine sie ist. Die schlafende Schönheit hat mich einfach verwirrt. Das asiatische Gesicht so zart und fein geschnitten.

 

Und dann: Kein Busen. Dafür einen Penis. Trotzdem ist mir heiß geworden. Verstörend. Aber ich bin mir sicher, dass ich nicht schwul bin. Mich hat der Gedanke an Männer noch nie angemacht. Igitt. Nein, wirklich nicht. Hiromi ist allerdings so ganz anders. So hübsch. Irgendwie überhaupt kein Mann. Und seine Art. Frech und gleichzeitig doch so schüchtern.

 

Unruhig wälze ich mir wieder auf die andere Seite und starre vor mich in die Dunkelheit. Verdammt! Er ist ein Kerl! Hör auf so etwas zu denken! Idiot! Scheiße. Er hat mir einen runtergeholt. Vielleicht liegt es daran. Da hat er eindeutig eine Grenze überschritten. Wie konnte er das nur tun!? Gemeiner kleiner Kerl! Mich so reinzulegen.

 

Plötzlich kommt mir ein ganz anderer Gedanke. Ich versuche mich in ihn hineinzuversetzen. Wenn ich so klein wäre wie er und ein über eins neunzig großer Typ würde mich anlabern … Vielleicht hat er sich einfach nicht getraut, mir reinen Wein einzuschenken. Das würde mit der falschen Nummer zusammenpassen. Anderseits ist er dafür einfach zu frech. Schüchtern ja, aber nicht ängstlich. Trotzdem … Ich sollte ihn nicht so vorschnell verurteilen.

 

Oh … Was, wenn er sich in mich verliebt hat? Der Gedanke kommt mir ebenso plötzlich wie der vorherige. Dann herrscht erst einmal ziemliche Leere in meinem Schädel. Doch schließlich reiße ich mich zusammen. Das wäre nur gerecht. Dann muss ich immerhin nicht alleine leiden …

 

Irgendwie schlafe ich dann doch ein.

 

Vier Stunden später werde ich von meiner Mutter geweckt: Sie hat bei einer Freundin übernachtet, um uns aus dem Weg zu sein. Aber damit hört ihre Rücksichtsnahme auch schon auf. Laut poltert sie durch die Wohnung und beginnt sofort mit den Saubermachaktionen. Das Geräusch des Staubsaugers dröhnt durch meinen Brummschädel. Missmutig richte ich mich auf. Dann fällt es mir wieder ein: Hiromi ist ein Junge. Toll … So wache ich gerne auf.

 

Aber es bleibt nicht bei dem einen Gedanken. Das Thema verfolgt mich den ganzen Tag. Ich kann mich kaum auf die standardisierten Fragen meiner Tanten konzentrieren. Das Übliche halt, wie das Studium läuft, wann ich fertig bin und ob ich eine Freundin habe. Nein, habe ich nicht. Dafür Liebeskummer wegen eines Kerls. Sag das mal deiner Oma. Mache ich natürlich nicht. Stattdessen entschuldige ich mich nach dem Kaffee damit, dass ich noch lernen muss und verschwinde. Dafür wird mich meine Mutter demnächst einen Kopf kürzer machen, aber ich halte es nicht mehr aus.

 

In meiner kleinen Bude wird es natürlich nicht besser. Da muss ich erst recht grübeln. Ist das noch normal? Müsste ich die Sache nicht einfach abhaken können, nun da ich es weiß? Warum muss ich immer noch an ihn denken? Ständig läuft eine Dauerschleife durch meinen Schädel: Ich spüre die kleine Hand immer noch an meinem Schwanz. Verdammt! Von einem Kerl! Wild schlage ich auf mein Kopfkissen ein, bis ich es realisiere und mir selbst blöd vorkomme.

 

Irgendwann am Abend ertappe ich mich bei dem Gedanken, dass ich Hiromi wieder sehen möchte. Es ist so dämlich. Aber irgendwie vermisse ich sie … ihn. Verdammt. Ihn! Nein, eigentlich vermisse ich sie. Das Mädchen, das ich kennengelernt habe. Das mich so frech aufzieht und gleichzeitig so schüchtern lächeln kann. Das hüpfend neben mir herläuft und vor lauter Übermut an meine Hose geht. Aber … Wenn ich ehrlich bin, muss ich einsehen, dass er sich nicht verstellt hat. Er war er selbst. Er hat nicht so getan, als ob er ein Mädchen wäre. Vielleicht ganz am Anfang. Aber da habe ich ja auch so getan, als wäre ich ein Vampir. Nein, Hiromi hat mir nichts vorgemacht. Er war er. Nur ich hatte ein Brett vorm Kopf und wollte es nicht wahrhaben.

 

Ich stehe im Badezimmer und putze mir gerade die Zähne, als es mir bewusst wird: Ich habe mich aus Versehen in einen Jungen verliebt. Und es hört nicht auf.

 

Mit großen Augen starre ich in den Spiegel. Dieser Idiot vor mir hat sich in einen Jungen verliebt. Das Gefühl geht nicht weg. Selbst jetzt, wo ich doch weiß, dass er Paul heißt und einen Penis hat. Ich halte eine Weile an den verstörenden Gedanken fest, dass er die Geschlechtsmerkmale mit mir gemeinsam hat. Was soll ich damit anfangen? Ich stehe auf Mädchen. Okay, das ist gut. Guter Ansatz: Was mache ich, wenn ich weiter in ihn verliebt bleibe … Wir kommen zusammen und früher oder später müsste ich wohl das gleiche bei ihm machen, wie er bei mir. Scheiße. Ich spuke angeekelt die Zahnpasta ins Waschbecken, als mir der Gedanke an Analsex in den Sinn kommt.

 

Nun, logisch betrachtet, würde es wohl darauf hinauslaufen. Abstoßend nicht wahr? Richtig. Und jetzt geh endlich vorbei! Du blödes Gefühl in mir. Es ist ein Junge! Kein Mädchen. Ich will ihn nicht wieder sehen.

 

Und küssen Mädchen anders? Sind ihre Hände sanfter? Seine Worte hallen wieder durch meinen Schädel. Nein. Die Antwort lautet ‚nein‘. Ich habe keinen Unterschied beim Küssen bemerkt. Er hatte ganz zarte Lippen und seine niedliche Zunge … Oh Verdammt … Und mich hat auch noch nie ein Mädchen so geschickt angefasst wie er. Natürlich nicht. Woher sollen sie auch wissen, was sich gut anfühlt. Nein, nicht daran denken. Jetzt ist er vielleicht noch niedlich, aber wie sieht es in einem Jahr aus, wenn er anfängt sich zu rasieren … Wie sieht es eigentlich mit dem Bartwuchs bei Asiaten aus? Verwirrt beende ich meinen Badezimmeraufenthalt und lege mich ins Bett. Immerhin fällt mir das Einschlafen diesmal leichter, nach dem bisschen Schlaf heute Morgen.

 

Dafür schlafe ich beschissen. Immer wieder träume ich von Hiromi. Letzten Endes wache ich mit einer Morgenlatte auf und auch wenn ich weiß, dass es nichts mit den vorangegangenen Träumen zu tun haben muss, schäme ich mich vor mir selbst zu Tode. Außerdem habe ich Kopfschmerzen.

 

Um halb drei stehe ich wieder vor Hiromis Haus. Letztlich bin ich zu dem Schluss gekommen, dass ich noch verrückt werde, wenn ich weiter grüble. Ich muss handeln. Es geht nicht anders. Sonst finde ich nie heraus, was das Richtige ist. Es ist ein bisschen unfair Hiromi gegenüber, sollte er tatsächlich in mich verliebt sein. Er ist quasi ein Versuchskaninchen. Aber letztlich … Nun, in gewisser Weise gebe ich ihm noch eine Chance.

 

Noch einmal tief Luft holend, drücke ich auf die Klingel mit dem Namen Brandt. Es dauert nicht lange und ich höre eine tiefe Männerstimme durch die Sprechanlage. „Ja?“

 

„Hallo, ich möchte zu Hi … Paul“, stottere ich verlegen. Besser wäre es noch, wenn er zu mir runterkommt, denn ich glaube nicht, dass dieser Mann, der sicherlich der Erzeuger ist, es wünscht, dass ich mit seinem Sohn Sachen ausprobiere. Der Summer ertönt. Schluckend drücke ich die Tür auf. Wie erwartet ist das Treppenhaus makellos sauber und neu renoviert. Eine schicke Steintreppe führt nach oben. Ich nehme sie mit einem mulmigen Gefühl in Angriff.

 

„Du?“, empfängt mich tatsächlich Hiromi an der Wohnungstür und bekommt große Augen.

 

„Wir wollten ins Kino gehen, oder?“ Als hätte ich das noch vorgehabt. Ich will nur nicht mit ihm in einer Wohnung zusammen mit seinem Vater sein. Mich überkommt ein sehr schlechtes Gewissen, als Hiromis Augen noch größer werden und dann zu strahlen anfangen. „Wirklich!?“

 

„Nun … Es gibt da noch etwas, worüber ich mit dir reden wollte“, brumme ich abschwächend. Hiromi ist sichtlich aufgeregt. Er hat sich außerdem die Haare nicht gestylt und sieht wieder sehr androgyn aus. Schon wie ein Junge, jetzt da ich es weiß. Trotzdem: Mein Herz schlägt etwas schneller.

 

„Warte mal kurz“, bittet er mich hastig und verschwindet in der Wohnung. Keine Minute später kommt er wieder herausgestürmt. Nun trägt er Schuhe, Jacke, Schal und eine Tasche. Er ruft noch schnell etwas über die Schulter, das ich nicht verstehe. Japanisch vielleicht. Dann schlägt er die Tür zu und sieht erwartungsvoll zu mir auf. Seine Wangen glühen. Sie sind jedenfalls vor Aufregung ganz rot. Er sieht fürchterlich niedlich aus. Verdammt.

 

Ich schlucke und versuche mir meine Faszination nicht anmerken zu lassen. „Okay … Dann können wir wohl.“

 

„In welchen Film gehen wir?“, will er aufgekratzt wissen.

 

„Weiß noch nicht“, murmle ich und trabe neben ihm die Treppen runter. Was tue ich hier eigentlich? Ich habe ein Date mit einem Jungen. Nein, das kann ich nicht. Ich kann ihm zumindest nichts vormachen. Seufzend packe ich den Stier bei den Hörnern: „Weißt du, eigentlich wollte ich nicht kommen.“

 

„Warum hast du es dann getan?“, wundert er sich beunruhigt. Sein strahlendes Lächeln verringert sich merklich.

 

„Weiß ich ehrlich gesagt auch nicht so genau“, gestehe ich aufrichtig. „Ich war die ganze Zeit am überlegen und bin zu keinem richtigen Ergebnis gekommen, da dachte ich, das Beste ist, wenn ich es einfach ausprobiere. Aber versprich dir nicht zu viel, okay? Ich bin nicht schwul.“

 

„Oh, okay“, murmelt er leicht verstört. „Was heißt, du willst es ausprobieren?“

 

„Weiß ich auch noch nicht. Erst einmal gehen wir ins Kino … Danach noch was trinken und reden?“

 

„Gern“, willigt er schnell ein. Ich starre ihn von der Seite an. Er sieht heute genauso aus wie Mittwoch. Genauso niedlich. Nun ja, jetzt weiß ich woher das Burschikose kommt. Haha … Ich bin so blind gewesen. Ansonsten verhält er sich aber kaum anders. Der gleiche anmutige Gang, ein wenig schwebend und dann wieder sprunghaft energisch. Das lebhafte Gesicht.

 

„Sag’ mal“, beginne ich ein Gespräch. „Ziehst du dir öfter Frauenkleider an und schminkst dich?“

 

„Wieso?“, fragt er unsicher zurück.

 

„Julie hat mir erzählt, du hättest ihrer Freundin Schminktipps gegeben.“

 

„Du hast dich mit deiner Schwester darüber unterhalten!?“, fragt er entsetzt. Seine Augen weiten sich erschrocken. Dann ist es ihm wohl unangenehm. Beruhigt mich irgendwie.

 

„Nein, nicht speziell über das was vorgefallen ist“, beruhige ich ihn. „Eher nur allgemein über dich. Also?“

 

„Ich bin nicht transsexuell“, behauptet er und klingt etwas genervt. „Ich verkleide mich nur gerne. Cosplay. Aber nur Kimonos und Qipaos*.“

 

Cosplay heißt dann wohl Verkleiden. Aber was zum Teufel sind Qipaos? Okay, er ist definitiv merkwürdig, aber wohl nicht hoffnungslos. Trotzdem schüttle ich den Kopf: „Warum? Ich meine: warum überhaupt?“

 

„Weil …“ Er stockt und grinst dann vor sich hin. Nach einer Weile zuckt er mit den Schultern. „Hast du bei dir zuhause Internet?“

 

„Ähm, ja klar.“

 

„Ich kann’s dir nicht erklären, aber ich könnte es dir zeigen“, bietet er dann an.

 

Ich runzle die Stirn. Natürlich bin ich neugierig. „Gut, dann gehen wir nachher zu mir.“

 

„Läuft überhaupt was im Kino?“, fragt er mit funkelnden Augen. „Ich meine, wir könnten doch gleich zu dir gehen. Immerhin willst du ja eigentlich gar nicht mit mir ausgehen, sondern nur reden und ausprobieren, oder?“

 

„Ähm“, hauche ich nicht gerade eloquent. Ich bekomme ein leicht mulmiges Gefühl. Anscheinend hat er das Ausprobieren dann doch etwas falsch verstanden … Oder habe ich … Verlegen starre ich vor mir hin, bevor der Wahnwitz und die Neugier siegen. „Na gut. Gehen wir zu mir.“

 

Gesagt getan. Auf dem Weg reden wir kaum noch. Auch Hiromis Lächeln und die Überschwänglichkeit mit der er vorhin aus der Wohnung geprescht ist, haben sich verflüchtigt. Es tut mir leid. Schon klar, dass wir beide gerade nicht sonderlich glücklich über die Situation sind. Trotzdem fühle ich mich wie der letzte Arsch, dass ich Hiromi so unmissverständlich mitgeteilt habe, worauf es hinausläuft. Ich habe seine ganze Hoffnung vernichtet. Noch dazu ist irgendwie offensichtlich, dass ich ihn nur benutze, um über meine Verwirrtheit hinwegzukommen. Ich habe ja nicht einmal vor, schwul zu werden. Selbsthass steigt in mir auf.

 

Dann kommen wir aber auch schon an. Ich habe natürlich nicht aufgeräumt. Hatte auch nicht damit gerechnet, dass wir hier enden. Nun ja, wäre Hiromi ein Mädchen, wäre es etwas anderes. Aber so stehe ich einfach zu meiner eigenen Schlampigkeit.

 

„Die Schuhe kannst du anlassen“, murmle ich noch, doch da ist es schon zu spät. Er hat sie sich einfach von den Füßen getreten. Jacke und Schal hängt er selbstständig an die Garderobe und dann purzelt er auch schon auf meinen Computer zu. Wirklich: Purzeln. Das ist das beste Wort, um seine plötzlich wiederaufkommende Ausgelassenheit zu beschreiben. Neugierig scheint er die neue Umgebung in sich aufzusaugen. Mir geht es automatisch besser, als ich ihn so sehe. Langsamer entledige ich mich meiner Sachen und komme dann dazu.

 

Hiromi hat den Computer bereits hochgefahren und den Internetbrowser geöffnet. Leicht fasziniert folge ich seinem Mauszeiger durch ein Labyrinth mir völlig fremder Schriftzeichen.

 

„Es dauert etwas, weil ich hier nichts eintippen kann“, erklärt Hiromi entschuldigend. „Und ich kenne die genaue Adresse nicht auswendig.“

 

„Was willst du mir denn überhaupt zeigen?“

 

„Moment“, bittet er und grinst mich breit an. Irgendwie auch stolz. Jetzt werde ich wirklich neugierig. Interessiert beuge ich mich über seine Schulter. Kurz blitzen seine Augen daraufhin zu mir auf, ehe sein Lächeln etwas weicher wird und sich seine Wangen rot färben. Na toll: Jetzt habe ich wieder so ein mulmiges Gefühl. Es wird nicht besser, als sich eine neue Seite vor meinen Augen auftut. Bilder von hübschen Asiatinnen. Oder auch nicht.

 

„Sind das etwa alles Kerle?“, erkundige ich mich schwach. Hiromi nickt und lacht leise. „Warte. Hier: Das sind meine Bilder.“

 

Ich habe ihn ja schon in dem Kimono attraktiv gefunden. Aber das ist jetzt wirklich verwirrend. So richtig in Szene gesetzt, sieht er einfach nur unglaublich aus. Einige der Bilder spielen zusätzlich mit seiner Androgynie. Man erhält durch verrutschte Kimonos Einblicke auf seine nichtvorhandenen Brüste. Oder das Gesicht ist härter geschminkt, sodass man einfach nur eine makellose Schönheit anstarrt – völlig geschlechtslos. Es wirkt irgendwie sexy. Ich schlucke.

 

„Und?“, fragt er unruhig.

 

„Hm.“ Er sieht toll aus. Muss ich ihm das sagen? Anscheinend wartet er darauf. Stattdessen frage ich. „Wer hat die Bilder gemacht?“

 

„Lei. Er ist richtig gut.“

 

„Ja“, stimme ich zu. Der Schwule. Moment, er steht aufs andere Geschlecht? Dann meinte er in Wirklichkeit … Oh dieser verflixte Bengel! So kann man es natürlich auch ausdrücken. Also mag Lei Mädchen. Und ich bin wieder der Idiot.

 

Ich schiebe die Gedanken beiseite. „Trotzdem … Warum machst du das?“

 

„Findest du sie so schlimm?“ Enttäuscht blicken seine Augen zu mir auf. Oh Scheiße.

 

Ich zucke hilflos mit den Schultern. „Nein, du siehst schon sehr gut aus und so … Aber warum? Ich meine, du bist schließlich ein Junge und kein Mädchen.“

 

„Wieso dürfen sich nur Mädchen hübsch machen?“, fragt er stirnrunzelnd zurück. „Bei ihnen ist es ja auch kein Problem, wenn sie in Männerkleidung durch die Gegend laufen. Wenn ich in den Sachen gut aussehe, warum sollte ich sie nicht tragen?“

 

Gute Frage. Ausmanövriert. Die Thematik ist zu neu für mich, als dass mir darauf etwas einfallen würde. Ich seufze. „Vielleicht bin ich einfach vorbelastet und finde es deshalb nicht so toll … Ich meine, es ist definitiv verwirrend, diese Bilder zu sehen. Und wen sprichst du damit überhaupt an? Die, die du haben könntest, Schwule und heterosexuelle Frauen, stehen nicht auf Mädchen, so siehst du hier aber aus. Und die, die auf Frauen stehen und durch diese Bilder angezogen werden … Nun, die werden hereingelegt.“

 

„Leute, die auf diese Seite kommen, wissen was sie erwartet“, widerlegt er schon einmal das Letztere. „Und eigentlich sprechen wir die Ästheten an. Denen ist egal, was ich bin. Das Geschlecht spielt letztlich keine Rolle.“

 

„Aber das tut es“, widerspreche ich empört.

 

Er dreht sich in dem Drehstuhl zu mir herum, neigt den Kopf leicht zur Seite und lächelt matt: „Tut es das?“

 

Ähm, ja. In diesem Moment gerade nicht. Zugegeben. Ich fühle mich von ihm angezogen. Aber das will ich mir nicht einmal selbst eingestehen. Also schüttle ich den Kopf und nicke dann. „Natürlich. Woher hast du diese Weisheiten überhaupt?“

 

„Das ist eine romantische Vorstellung der japanischen Popkultur … Du weißt, Manga, Anime, Playstation, die Musik, die ich dir vorgespielt habe und so weiter?“

 

„Dragon Ball …“ Ich nicke.

 

Er lacht vergnügt. „Ja, aber in dem eher nicht. Das Grundkonzept ist, dass Liebe keine Grenzen kennt. Und am häufigsten wird eben die Grenze des Geschlechts übertreten. Es ist egal, welches Geschlecht die Person hat. Wenn du sie liebst, liebst du sie. Egal, ob sie sich in einen Frosch oder in einen Dinosaurier verwandelt.“

 

„Sehr romantisch“, spotte ich, bin innerlich aber doch etwas berührt. Immerhin ahne ich ja, dass es stimmt. Ich habe mich auch in ihn verliebt. Und das Gefühl ist immer noch da, auch wenn ich mir inzwischen voll bewusst bin, dass er ein Junge ist. Ein sehr hübscher Junge. Ich verliere noch den Verstand, wenn es weiter so geht. Aber erst einmal besinne ich mich auf die Situation zurück. Wir sind in meiner Wohnung. Also: „Willst du eigentlich was trinken?“

 

„Was hast du denn?“

 

„Wasser, Cola oder ich könnte Kaffee machen … Tee eventuell auch, muss ich gucken.“

 

„Kaffee ist toll“, meint er und strahlt.

 

Nickend wende ich mich ab. Kann er nicht mal aufhören mich so zu verwirren? Muss er so süß sein? Aus dem Augenwinkel nehme ich wahr, dass er meinen Schreibtischstuhl verlässt und sich nach kurzer Orientierung auf meinem Bett niederlässt. Er grinst dabei äußerst zufrieden. Meine Augenbrauen hüpfen nach oben, doch erst einmal setze ich Wasser auf und ignoriere ihn.

 

„Worüber wolltest du denn noch mit mir reden?“, fragt er schließlich, „Nur über das Schminken und Kimonoanziehen? Das ist eine Leidenschaft von mir. Das hat aber nichts mit meiner sexuellen Identität zu tun. Eigentlich bin ich ganz froh darüber männlich zu sein.“

 

Na wunderbar. Dann hat zumindest er kein Problem damit. Ich lehne mich an die Wand am Eingang meines Zimmers und verschränke die Arme vor der Brust, während ich drauf warte, dass das Wasser zu kochen beginnt. „Hm, wann hast du gemerkt, dass du schwul bist?“

 

„Ich fand Jungs schon immer cooler als Mädchen, das hat sich auch nicht geändert, als ich in die Pubertät kam“, erklärt er grinsend und neigt erneut den Kopf zur Seite. „Aber wie gesagt: Im Idealfall sollte das Geschlecht keine Rolle spielen.“

 

„Hattest du schon einen Freund?“, übergehe ich seine Anspielung entschieden.

 

„Nein“, gibt er zu und errötet flüchtig. Wieder diese Mischung aus Unschuld und Frechheit. Er ist exakt das Mädchen, in das ich mich verliebt habe. Und doch: Er ist ein Junge. Eindeutig. Das Wasser beginnt zu kochen. Zum Glück.

 

„Warum hast du eigentlich keine Freundin?“, will er wissen.

 

„Das hat keinen Grund“, brumme ich. Vielleicht, weil ich mich aus Versehen in einen Jungen verliebt habe, der nun auf meinem Bett sitzt und mir dumme Fragen stellt?! Warum sind wir noch einmal hier?

 

„Tja …“ Er grinst immer noch. „Bist du dir sicher, dass du auf Mädchen stehst?“

 

Ich grummle etwas Undeutliches und belasse es dabei. Wäre ich mir da so sicher, wäre er nicht hier. Schließlich komme ich mit dem Kaffee zurück und reiche ihm eine Tasse. Aus Mangel an Sitzgelegenheiten setze ich mich zu ihm aufs Bett.

 

„Lecker“, lobt Hiromi, als er an dem heißen Zeug nippt.

 

„Wirst du eigentlich lieber Paul oder Hiromi genannt?“

 

„Ich mag Hiromi lieber.“ Er muss anscheinend nicht überlegen.

 

„Klingt wie ein Mädchenname in meinen Ohren“, gestehe ich.

 

Er grinst und nickt. „Ja, mein Vater hat ihn aus pragmatischen Gründen ausgesucht, da brauchte er sich nur einen zu überlegen. Er ist geschlechtsneutral.“

 

„Praktisch“, kommentiere ich stirnrunzelnd. „Apropos, was sagt denn dein Vater dazu, dass du dir Kimonos anziehst?“

 

„Davon weiß er nichts“, gesteht Hiromi zerknirscht lächelnd. „Ihm sind meine Haare jetzt schon zu lang. Er weiß auch nicht, dass ich schwul bin. Meine Mutter ahnt es vielleicht, aber sicher ist sie sich nicht.“

 

„Hm“, mache ich wieder. Auch nicht gerade unkompliziert für ihn. „Also weiß quasi nur dieser Lei davon?“

 

Er nickt und lächelt. „Und jetzt du.“

 

Vorsichtig stellt er dann seine Tasse neben das Bett und mustert mich keck. Mich beschleicht ein ungutes Gefühl. Tatsächlich begründet. „Also? Wolltest du nicht was ausprobieren?“

 

„Ähm“, hauche ich überrumpelt, doch da nimmt er mir schon die Tasse aus der Hand und setzt sich auf meinen Schoß. Mit großen Augen verfolge ich sein Handeln. Wie hypnotisiert. Bevor er mich küsst, erwache ich aber gerade noch aus meiner Starre und drücke ihn zurück. „Halt! Ich meinte … Eigentlich meinte ich keine praktischen Übungen!“

 

„Wie willst du es dann herausfinden?“ Anscheinend ist nicht nur sein Vater pragmatisch. Er grinst spitzbübisch und überwindet meine Blockade, indem er meine Hände einfach wegzieht und mich auf den Rücken nach hinten schubst. Schon sitzt er auf meinem Bauch und grinst mich wagemutig an. Er ist echt ein Federgewicht. Hatte er mich nicht etwas gefragt? Ach ja …

 

„Äh, ich … keine Ahnung. Nicht so … Ich dachte, wir reden noch etwas?“, stottere ich immer noch überrumpelt. Hiromi schnauft unmädchenhaft und piekt mich dann spöttisch in die Seite. „Ich habe aber keine Lust mehr, dass du mich die ganze Zeit mit diesem «Warum kann er kein Mädchen sein»-Blick ansiehst! Also ich schlage vor, ich küsse dich jetzt und wenn du es eklig findest oder es anders schmeckt, höre ich auf und die Sache hat sich erledigt.“

 

Damit will er sich zu mir runter beugen. Doch ich halte ihn abermals gerade noch rechtzeitig zurück. Eigentlich ist das Angebot nur fair. Allerdings habe ich fürchterliche Angst, dass es eben nicht eklig ist. Ich meine, klar ist er immer noch der Gleiche, den ich zuvor geküsst habe. So groß wird der Unterschied also kaum sein. Ich befürchte, dass es mir sogar zu sehr gefallen könnte und was dann? Deshalb: „Warte!“

 

„Ich habe keine Lust mehr zu warten“, erklärt er plötzlich ernst, doch seine Stimme bebt vor unterdrückten Emotionen. „Wieso hast du mich heute abgeholt? Um mich auszufragen? Bist du schon mal auf die Idee gekommen, dass es mich verletzen könnte, was du hier machst? Ich soll mich völlig bloßstellen mit all meinen Einstellungen und Macken, aber du bist hier der Normale und musst dich nicht rechtfertigen, oder was? Ohne mich!“

 

Waren das gerade Tränen, die in seinen Augen geschimmert haben? Ich bin ja so ein Arschloch. Ehe ich mich davon überzeugen kann oder gar mich entschuldigen, ist er von meinem Bauch runter gestiegen und schon in den Flur entwischt. Scheiße, ich bin so ein Esel! Jetzt blutet mir das Herz. Es tut mir so leid. „Hiromi! Warte!“

 

 

 

 

 

* Qipao: Das traditionelle chinesische Damenkleid

Ich muss spinnen!

 
Warum bin ich enttäuscht? Habe ich mir etwa Hoffnungen gemacht? Wie dämlich! Aber als er so unverhofft bei mir aufgetaucht ist und mich zum Kino mitnehmen wollte … da sind halt einfach die Pferde mit mir durchgegangen. Natürlich hatte es nichts zu bedeuten. Der einzige Zweck dieses Treffens war doch nur, sich selber zu beweisen, dass er normal ist. Er will es gar nicht versuchen.

 

Verdammt. Fahrig versuche ich in meine Converse zu schlüpfen. Aber das ist gar nicht so einfach. Er ist jedenfalls schneller auf den Beinen als ich in meinen Schuhen. Schon steht er hinter mir und legt mir seine große, warme Hand auf den Rücken.

 

„Hiromi“, seufzt er schwerherzig.

 

Ich ignoriere ihn in meiner Rage. Jetzt wütend auf ihn zu sein, ist wohl das Beste. Sonst fange ich wirklich noch an zu heulen. Ich dachte wirklich … Scheiße!

 

„Hiromi“, versucht er es noch einmal. Warum muss sich mein Name so toll aus seinem Mund anhören? Ich schmelze.

 

„Ich wollte dich nicht küssen, weil ich mir nicht sicher war“, erklärt er resigniert. „Es geht mir einfach ein bisschen zu schnell.“

 

„Als du dachtest, ich wäre ein Mädchen, warst du verdammt schnell mit dem Küssen dabei!“

 

„Ja, aber ich mag Mädchen, da gibt es nichts zum Gewöhnen.“

 

„Magst du mich?“, will ich wissen. „Ich mag dich nämlich! Sogar mehr als das! Darum lass mich zufrieden, wenn du mich in Wirklichkeit am liebsten nicht mögen würdest!“

 

Endlich habe ich die Schuhe angezogen und stürme aus der Wohnung. Im Flur holt er mich ein und greift nach meinem Arm. „Hiromi! Hör mal!“

 

„Was?“, fauche ich wütend.

 

Er schrickt ein wenig zurück. Doch dann straffen sich seine Schultern und er blickt entschlossen auf mich herab. „Was erwartest du denn? Natürlich mag ich dich, sonst hätte ich ein Problem weniger. Dann hätte ich überhaupt kein Problem. Ich bin nicht schwul. Männer sind kein bisschen anziehend für mich. Aber bei dir ist es etwas anderes. Keine Ahnung, ob es daran liegt, dass ich anfangs dachte, du wärst ein Mädchen. Sicher liegt es daran. Aber es hört nicht auf. Auch jetzt nicht. Was erwartest du von mir? Dass ich in die Luft springe vor Freude?“

 

„Warum willst du denn unbedingt, dass es aufhört?“

 

„Weil es nicht normal ist?“

 

„Ja klar, alle Schwulen sind pervers!“ Ich verdrehe die Augen. „Wie konnte ich das vergessen?“

 

„Das wollte ich damit nicht sagen“, redet er sich konfus raus. „Es ist für mich nur nicht s… ach … keine Ahnung. Es ist einfach nicht so einfach.“

 

„Es ist sehr einfach: Du magst mich, ich mag dich und wir könnten glücklich zusammen werden. Nur hast du Angst davor, was die anderen dann von dir denken würden.“

 

„Um andere mache ich mir momentan noch gar keine Gedanken“, beschwört er mutlos. „Es geht darum, was ich von mir selbst denke.“

 

„Da kann ich dir auch nicht helfen. Also lass mich los!“ Es gelingt mir mich loszureißen. Louis folgt mir auch kein weiteres Mal. Dummkopf! Blödmann! Idiot!

 

„Das war aber ein kurzer Film“, stellt meine Mutter fest, als ich Zuhause auftauche. Ich schnaufe nur und verschwinde in meinem Zimmer. Jetzt habe ich wirklich keine Lust mir irgendwelche Erklärungen aus den Fingern zu saugen. Ich bin liebeskrank. Warum musste ich mich auch in so einen Dummie verlieben? Blödmann! Und wieso hat er so verletzt geguckt? Soll er doch froh sein, dass er mich endlich los ist. Scheiße …

 

Am nächsten Morgen will ich am liebsten gar nicht aufstehen, doch da mein Vater frei hat, kann ich mir das nicht erlauben. Er will sogar mit mir zusammen frühstücken und mich dann mit dem Auto zur Schule bringen. Anscheinend hat er Sohnemannentzug. Allerdings ist Sohnemann zu depri um sich gegen diese überschäumende Fürsorge zu wehren. Ehrlich gesagt, fühlt es sich sogar ganz gut an. Immerhin war ich schon immer ein Papakind.

 

„Soll ich dich nachher wieder abholen? Wie viele Stunden hast du denn?“, fragt er mich als wir schon im Auto vor dem Schuleingang parken.

 

„Nein, brauchst du nicht. Vielleicht treffe ich mich später noch mit Lei“, murmle ich niedergeschlagen.

 

„Und was ist mit Mittagessen? Ich dachte, wir essen alle zusammen?“, brummt mein Vater enttäuscht. Ich habe ohnehin keinen Appetit, aber das sage ich ihm lieber nicht. Ich will nicht, dass er sich Sorgen macht. Den Grund könnte ich ihm ja ohnehin nicht erzählen. Er guckt eh schon so skeptisch. Ich versuche mir nichts anmerken zu lassen.

 

„Ich kann Lei ja mitbringen“, spotte ich, weil ich genau weiß, dass mein Vater ihn nicht sonderlich mag und steige aus. „Jedenfalls bin ich spätestens beim Abendessen zurück.“

 

„Hiromi!“, will er noch einwenden, doch da habe ich die Tür schon zugeworfen und eile auf das Schulgebäude zu. Bin eh schon spät dran. Es sind schon fast alle da.

 

„Hey, Paul, alles wieder fit?“, kräht Mirko, als er mich erblickt, vergnügt. „Du warst ja früh weg!“

 

„Ich kann eben keinen Alkohol vertragen …“, brumme ich verlegen und missgelaunt zugleich, um mich dann auf meinen Platz zu verkrümeln. Dabei setze ich extra eine so böse Miene auf, dass sich auch ja keiner traut, mich weiter zu belästigen. Ich will mich nicht an diesen fürchterlichen Abend erinnern. Nie mehr. Aber anscheinend kennt niemand ein anderes Thema. Das schlimmste: Die Mädels haben sich offenbar alle in Julies großen Bruder verknallt, auch wenn der die meiste Zeit im Zimmer seiner Mutter gehockt hat, um sich mit seinen ach so coolen Freunden zu besaufen. Warum muss ich mir das anhören? Ja, ich finde auch, dass er sehr toll ausgesehen hat. Und diese Haare sind die absolute Wucht. Kann ihnen nicht irgendwer den Mund zuhalten? Bitte?

 

In der Pause kommen Kerstin und Julie zu mir angelaufen. Offenbar kann ich nicht abschreckend genug gucken. Ich verschränke die Arme vor der Brust, um noch deutlicher zu machen, dass ich bloß meine Ruhe haben will. Nichts da.

 

„Hi, Paul“, grüßen sie fröhlich.

 

„Hi“, brummle ich unfröhlich.

 

„Stimmt es, dass mein Bruder dich erst für ein Mädchen gehalten hat?“, kichert Julie heiter. „Er hat sich deswegen so geschämt!“

 

„Dann stimmt es wohl“, knurre ich. „Warum erzählt er es dann?“

 

„Ach nur so … Wir haben nach der Party noch in der Küche gehockt und da hab ich ihn gefragt, warum ihr zwei euch so merkwürdig aufgeführt habt“, erklärt sie schnell. „Ist dir das auch so peinlich?“

 

„Nicht wirklich.“

 

„Aber warum …?“, will Julie wissen.

 

„Ich hab’ keine Lust darüber zu reden“, blubbere ich unwirsch.

 

„Hui … Schlechte Laune?“, bemerkt Kerstin überrascht.

 

„Hm“, brumme ich zustimmend.

 

„Warum denn?“, wundert sich Julie. Keine Ahnung, was sie nun erwartet. Wir kennen uns wohl kaum so gut, dass ich ihr mein Herz ausschütten würde. Gerade ihr nicht. Das muss warten bis ich bei Lei bin. Dem kann ich alles erzählen. Er weiß das meiste ja ohnehin schon und vor dem Rest hat er versucht mich zu warnen. Daher ist er auch nicht sonderlich überrascht, als ich ihm später alles über das vergangene Wochenende berichte. Doch ich bin überrascht, als ich seinen Kommentar höre. „Warum hast du ihn dann nicht geküsst?“

 

„Bitte?“

 

„Na, offensichtlich ist er in dich verknallt, Mädchen oder Junge hin oder her … Ich glaube nicht, dass er etwas dagegen gehabt hätte, wenn du es einfach getan hättest. Aber darauf, dass er es von sich aus tut, kannst du lange warten“, hält er mir vor.

 

„Er hätte mir eine geklebt.“

 

„Quatsch, wäre er der Typ dafür, hätte er es längst getan.“

 

„Hm …“ Jetzt hat er mich zum Nachdenken gebracht. Stimmt eigentlich: Warum habe ich ihn nicht von mir aus geküsst? Ich war ja kurz davor, aber er hat mich abgewehrt. Und ehe ich mich versehen habe, hab’ ich all diese peinlichen Dinge gesagt.

 

„Ich hab’s ja versucht“, gestehe ich Lei. „Aber er hat mich davon abgehalten … Er war ziemlich panisch.“

 

„Natürlich. Er hatte Angst, dass es ihm gefallen könnte“, behauptet Lei grinsend. „Im Prinzip ist das Küssen zwischen Jungen und Mädchen und Jungen und Jungen ja ein und dasselbe.“

 

Weshalb er und ich auch schon geübt haben, obwohl Lei nicht schwul ist. Er hat zumindest kein Problem damit, wobei er es vorzieht mich nur zu küssen, wenn ich einen Kimono anhabe. Aber er ist ja auch nicht in mich verliebt und ich nicht in ihn.

 

„Und was soll ich jetzt tun? Zu ihm hingehen und ihn noch einmal küssen?“

 

„Warum nicht?“, erkundigt sich Lei gutmütig. „Mehr als das kannst du nicht tun. Aber dann wüsste er zumindest, dass du ihn erstens immer noch willst und zweitens dass es keinen Unterschied macht, ob er denkt, du wärst ein Mädchen oder ein Junge.“

 

„Falls es bei ihm keinen Unterschied macht.“

 

„Er wäre nicht zu dir gekommen, wenn es den großen Unterschied für ihn machen würde. Allein dass er trotz allem gestern vor deiner Tür stand, ist doch ein Zeichen dafür, dass du ihn nicht mehr loslässt, auch wenn du ein Junge bist.“

 

„Aber letztlich muss er, um sich das einzugestehen, all seine Überzeugungen über Bord werfen. Und ich glaube nicht, dass er das für eine kurze Verliebtheit tut“, jammere ich pessimistisch. Ich will keine neuen Hoffnungen. Es tut so weh, wenn sie dann zerstört werden.

 

„Ja. Nicht, wenn du es ihm so leicht machst, dich zu vergessen, indem du ihm aus dem Weg gehst“, stimmt Lei mehr oder weniger zu.

 

Ich mustere ihn stirnrunzelnd. „Aber ich mag nicht noch einmal so enttäuscht werden. Es tut weh, von ihm zurückgewiesen zu werden.“

 

„Dann gib ihm einfach nicht die Gelegenheit dazu.“

 

„Was soll ich machen? Bei ihm klingeln, warten dass er aufmacht, ihm einen Kuss aufdrücken und wieder verschwinden?“

 

„Zum Beispiel … Wenn du das eine Woche lang durchhältst und er so dumm ist und immer wieder darauf reinfällt …“ Lei nickt spöttisch. „Oder du rennst nicht weg und lässt ihm einfach keine Zeit zum Nachdenken. Wenn er wieder anfängt zu grübeln und ins Zweifeln kommt, hast du verloren.“

 

„Das ist dein Rat?“, frage ich skeptisch. „Und das kommt ausgerechnet von dir?“

 

„Nun, ich will auf keinen Fall an der Stelle dieses Typen sein, der sich in dich verliebt hat. Aber das hat er nun einmal. Jetzt muss er es auch ausbaden”, meint Lei. „Und wenn er sich nicht traut, muss man ihn halt ein bisschen zwingen.“

 

„Kommst du mit?“, frage ich und sehe ihn mit großen Augen an.

 

„Um zuzusehen, wie sich zwei Kerle knutschen? Nein!“, spottet Lei kopfschüttelnd. „Wenn er dir bis jetzt noch keine auf die Nase gehauen hat, wird er das jetzt auch nicht mehr tun.“

 

„Aber vielleicht schrecke ich ihn so ja noch mehr ab.“

 

„Das einzige, was du damit erreichst, wenn du ihm aus dem Weg gehst, ist, dass er dich vergisst und sich einredet, es wäre nie etwas gewesen. Du musst präsent sein und in seinem Kopf rumspuken und das geht am besten, indem du ihn verführst.“

 

„Aber er steht doch gar nicht auf meinen Körper.“

 

„Deine Hände haben ihn einmal zum kommen gebracht, oder? Das solltest du doch noch einmal schaffen. Notfalls zieh halt einen Kimono an.“

 

„Aber ich will mich nicht immer verkleiden müssen …“ Irgendwie habe ich das Gefühl, dass Lei mich kein bisschen versteht. Niemand versteht mich.

 

„Dann lass es halt.“ Langsam wirkt er leicht genervt. „Trotzdem, wenn du wirklich in ihn verliebt bist, musst du schon das Risiko eingehen. Außerdem bist du ein Kerl. Sollte nicht so schwer sein, den Mut aufzubringen.“

 

Oh doch, das ist sehr schwer. Es dauert noch eine Stunde, ehe er auch meine letzten Einwände zerstreut hat. Und so stehe ich schließlich tatsächlich wieder vor Louis’ Tür und muss mich nur noch überwinden, die Klingel zu betätigen. Vielleicht ist er ja gar nicht da. Oder er hat Besuch. Eigentlich ist es eine blöde Idee, hier herzukommen. Lei muss spinnen. Ich muss spinnen.

 

Noch einmal tief Luft holend, drücke ich auf den Knopf, ehe ich es mir tatsächlich noch einmal anders überlege. Ich hätte mich kämmen sollen. Wie sehe ich bloß aus? Und so soll ich Eindruck machen? Hektisch fahre ich mir durch die Zotteln, doch da höre ich schon Schritte und reiße meine Hände nach unten. Keine Ahnung, wo ich sie jetzt lassen soll. Kurzerhand verstecke ich sie auf meinem Rücken. Dann sieht er wenigstens nicht, wie sie vor Nervosität zittern.

 

„Hiromi“, entweicht es ihm verblüfft, nachdem er mich für ein paar Schocksekunden sprachlos angestarrt hat.

 

„Hi, bist du allein?“, frage ich knapp.

 

„Ähm, ja … Hm … Willst du reinkommen?“, stottert er überrumpelt. Natürlich will ich. Ich schleiche an ihm vorbei und gleich nachdem er die Tür schließt, schnappe ich ihn beim Kragen und zerre ihn daran zu mir herunter. Er ist wirklich fürchterlich groß oder ich zu klein. Jedenfalls ist er immer noch zu verdattert, um sich anständig zu wehren. Ich schlinge meine Arme um seinen Hals, damit er nicht zurückschrecken kann und presse dann meinen Mund auf seinen.

 

Louis entweicht ein erschrockenes Keuchen. Dann will er mich von sich drücken, sanft zunächst, aber das lasse ich nicht zu. So leicht wird er mich nicht los. Jetzt, da ich seine herrlichen Lippen geschmeckt habe, erst recht nicht. Noch gieriger klammere ich mich an ihn und suche weiter seinen leicht verspannten Mund heim. Seine Bemühungen mich abzuschütteln sind bestimmter geworden. Doofer Plan, Lei. Wie soll man jemanden küssen, der sich so dagegen sträubt? Wenn ich doch nur ein bisschen größer wäre. Verzweifelt schmiege ich mich an ihn. Ich will ihn nicht loslassen.

 

„Hiromi!“, ächzt Louis mühsam und versucht noch einmal, diesmal mit sanfter Gewalt, mich von sich zu stemmen. Doch ich habe den günstigeren Standpunkt. Schließlich beiße ich sogar in seine Lippen, weil sie einfach nicht auf meine reagieren wollen. Das ist der Auslöser dafür, dass Louis die Taktik ändert und nun zunächst meine Arme von sich löst, so bestimmt, dass ich nichts dagegen ausrichten kann und er sich so aus der Reichweite meiner Lippen entfernen kann.

 

Er scheint etwas außer Atem zu sein. Ich aber auch. Erregt starren wir uns in die Augen. Louis wirkt immer noch ganz fassungslos. Na, der Plan ist ja prima aufgegangen. Vielen Dank, Lei. Jetzt wird er mich niemals mehr freiwillig küssen. Immerhin hält er immer noch meine Handgelenke umklammert. Hat er Angst, dass ich sonst noch einmal auf ihn losgehen würde? Nun, berechtigt. Wild entschlossen sehe ich ihm in die Augen. Er soll gar nicht auf die Idee kommen, dass man mit mir vernünftig reden könnte. Ich bin hergekommen, um ihn um den Verstand zu bringen. Ich lasse mich garantiert auf keine weitere Diskussion ein.

 

„Was ist denn in dich gefahren?“, will Louis leicht entrüstet wissen. Ich schnaufe und versuche noch einmal meine Hände aus seiner Umklammerung zu reißen. Dabei lasse ich ihn keinen Moment aus den Augen. Ich liebe seine Augen und den verwirrten Blick, mit dem er mich begutachtet. Seine Lippen sind ganz rot von dem unfreiwilligen Kuss. Plötzlich wird mir bewusst, dass er meinen Lippen auch einfach hätte ausweichen können, indem er den Kopf zur Seite dreht, aber das hat er nicht getan. Ist das ein Zeichen?

 

„Lass mich los!“, verlange ich entschlossen. Louis tut es tatsächlich nach kurzem Zögern. Kaum hat er es getan, umklammere ich diesmal seinen ganzen Körper und schmiege mich wieder an ihn. Mein Ohr presse ich an seine Brust. Sein Herz rast genauso schnell wie meines. Ist es die Empörung oder sind das seine Gefühle für mich?

 

„Hey!“, wehrt er sich verspätet. „Was hast du denn vor?“

 

Ich antworte nicht, sondern drücke ihn nur noch fester.

 

„Hey …“ Seine Stimme klingt sanfter. „Hey … Wie wäre es, wenn wir in Ruhe darüber reden? Eigentlich wollte ich …“

 

Ich will verdammt noch mal nicht reden! Stattdessen schiebe ich das T-Shirt hoch, das er nur trägt und presse meine Lippen auf seine Brustwarze, für die meine Größe immerhin reicht. Er zuckt erschrocken zusammen. „Hiromi! Hör auf damit!“

 

Stattdessen greife ich nun in seinen Schritt und drücke auch dort leicht zu. Wieder zuckt er zusammen. Diesmal noch stärker und dann fliege ich durch den Flur und schlage hart mit dem Kopf auf die Fliesen auf. Mein Schädel dröhnt und in meine Augen schießen Tränen. Aber das habe ich wohl verdient. Vielleicht habe ich übertrieben.

 

„Oh Shit“, kommt es von Louis, der sich sogleich besorgt über mich beugt. „Sorry, das wollte ich nicht. Alles okay?“

 

„Nein!“, stöhne ich vorwurfsvoll.

 

„Tut mir leid!“, murmelt er zerknirscht. Na ja, mir nicht. Wo er sich gerade so vorteilhaft über mich beugt. In meiner Reichweite …

 

„Oh nein, nicht schon wie…“

 

Weiter kommt er nicht. Ich habe ihn schon über mich gezerrt und küsse ihn erneut. Seine Versuche dagegen anzukommen, kann man nur als ungeschickt bezeichnen. Nicht effektiv auf jeden Fall. Was bei mir den wahnwitzigen Verdacht aufkommen lässt, dass es ihm in Wirklichkeit gar nicht mal so schlecht gefällt. Übermütig wage ich mich mit meiner Zunge vor. Er winselt leise und versucht sich noch einmal loszureißen, doch umsonst. Ich nutze vielmehr den Schwung den er hat, um mich über ihn zu wälzen und ihn so noch mehr unter meiner Kontrolle zu wissen. Resigniert gibt er endlich nach und lässt mir meinen Willen, ohne sich weiter zu sträuben. Seine Lippen zucken sogar leicht, als würde zumindest sein Körper den Kuss erwidern wollen. Mit dieser Gewissheit werde auch ich ruhiger und zärtlicher. Behutsam streichle ich seine Seite und liebkose sanft seine von mir arg in Mitleidenschaft gezogenen Lippen. Noch hält er sich merklich zurück und bleibt passiv. Irgendwann schiebt er mich an meinen Schultern dann plötzlich doch von sich.

 

Er atmet flach und schnell. Seine Wangen sind leicht errötet. So fürchterlich süß hat er noch nie ausgesehen. Bevor er irgendetwas sagen kann, entweicht mir schon das Geständnis. „Verdammt, ich habe mich so sehr in dich verliebt.“

 

Ein leises Schluckgeräusch ist zunächst alles was von ihm kommt. Dann weicht er meinem Blick verlegen aus. „Ich merk’s … Hiromi, geh bitte von mir runter. Du … du bist hart!“

 

„Oh …“, hauche ich nun auch etwas verlegen. Ich verlagere das Gewicht ein wenig, um eben nicht von ihm weichen zu müssen. Dann schürze ich trotzig meine Lippen. „Aber mir gefällt es hier oben.“

 

„Sehr schön“, brummt er leise. „Mir hier unten nicht so …“

 

„Wirklich?“, will ich wissen und sehe ihn durchdringend an.

 

Er räuspert sich und druckst noch ein wenig herum, ehe er schließlich seufzt. „Was sollte dieser Überfall jetzt eigentlich? Glaubst du mich so überzeugen zu können?“

 

„Ich dachte, ein Versuch wäre es wert …“, maule ich stur.

 

Unerwarteter Weise lächelt er darauf matt. „Du bist echt schlimm. Geh schon runter …“

 

„Hmpf“, mache ich und tue es schließlich tatsächlich. Enttäuscht hocke ich mich neben ihn. Erleichtert richtet er sich auf und setzt sich mir gegenüber; ebenfalls auf den Fußboden. Lange schweigen wir. Je länger die Stille anhält, desto bewusster wird mir, dass es das war. Louis ist nicht auf mich angesprungen. Das bedeutet wohl, dass er einfach nicht damit klarkommt, dass ich ein Junge bin. Mist! Verdammter Mist! Stumm starre ich auf meine Füße. Diese Erkenntnis tut so weh. Ich würde alles machen, damit dieser Schmerz in meinem Herzen aufhört. „Und wenn ich ein Kimono tragen würde?“

 

„Idiot“, brummt Louis nur. Tja, was soll das auch schon helfen. Es geht hier ja auch um das Prinzip und nicht um den äußerlichen Schein. Ich kann nichts daran ändern, dass ich nun mal ein Junge bin und er nun einmal nicht schwul. Das ganze Gefasel, dass Liebe keine Grenzen kennt … Das ist eben nichts weiter als Gefasel. Die Realität ist scheiße. Warum sollte ich auch so viel Glück haben?

 

Ein Kloß in meinem Hals hindert mich am Schlucken. Meine Augen brennen und sind heiß, vor zurückgehaltenen Tränen. Dann zittern auch noch meine Mundwinkel. Verdammt … Nicht auch noch vor ihm heulen. Hastig versuche ich auf die Beine zu kommen und aus der Wohnung zu flüchten, ehe es zu spät ist. Doch ich erreiche nicht einmal die Tür, ehe er nach meinem Arm greift und mich zurückhält.

 

„Lass mich!“ verlange ich. Wegen dem Kloß klinkt es gequetscht und verräterisch zitterig.

 

Louis seufzt leise. „Nein. Komm’ in mein Zimmer und beruhig dich erst einmal.“

 

„Warum? Ist doch schon peinlich genug“, quetsche ich hervor.

 

„Ich glaube nicht, dass sich einer von uns beiden noch vor dem anderen schämen muss“, brummelt er und zieht mich einfach mit sich. Er drückt mich auf sein Bett und setzt sich daneben. Wieder dieses Schweigen. Ich kann eh nicht sprechen. Tränen kullern haltlos über meine Wangen. Und ob ich mich schäme. Ich traue mich gar nicht, ihn anzusehen.

 

Plötzlich taucht seine Hand in meinem Blickfeld auf und streicht mir über das feuchte Gesicht. Seine Stimme klingt ganz sanft. „Hör schon auf zu weinen.“

 

Würde ich ja, wenn ich könnte. Aber die ganze Situation ist so hoffnungslos verfahren. Die warme Hand, die mir zärtlich die Tränen fortwischt, macht es keinesfalls besser. Schließlich zwingt sie mich sogar ihn anzusehen. Er wirkt gänzlich zerknirscht. „Hiromi, wein doch nicht … Ich bekomme ein ganz schlechtes Gewissen.“

 

„Gut!“, schluchze ich nur.

 

Er lächelt zynisch. „Vielleicht.“

 

„Ist es abstoßend mich zu küssen?“

 

„Nein, ist es nicht. Wobei ich unsere ersten Küsse denen von eben vorgezogen hätte“, erklärt er rau. „Himmel, du glaubst doch nicht, dass es schön ist, wenn jemand einen so überfällt, wie du gerade mich. Gleichgültig, ob männlich oder weiblich.“

 

„Mir würde es gefallen, wenn du es bei mir tätest. Ich würde mich auch nicht so sträuben“, behaupte ich. Er verdreht die Augen und dann beugt er sich mit einem Mal vor und gibt mir einen ganz sanften Kuss auf den Mund. Mein Herz setzt beinahe aus. Doch dann setzt mein Verstand wieder ein. Ich weiche zurück und funkle ihn an. „Ich brauche kein Mitleid.“

 

„Das war kein Mitleid“, behauptet er und seufzt. „Das war die Art Kuss mit der ich mir gewünscht hätte anzufangen, um mich langsam daran zu gewöhnen.“

 

„Du hast dir gar nicht gewünscht überhaupt anzufangen“, unterstelle ich leise.

 

„Und warum nicht?“

 

Ich blinzle verblüfft. „Na weil …“

 

„Ich habe mich mindestens genauso sehr in dich verliebt, wie du dich in mich“, unterbricht er mich einfach. Ich starre ihn an. Da! Er hat es zugegeben. Einfach so. Er seufzt erneut. „Und ich hätte dich spätestens am Wochenende aufgesucht, um dir das zu sagen und dich eben auf diese Weise zu küssen. Bin schließlich nicht ganz so feige, wie du glaubst. Ich brauche nur ein bisschen Zeit.“

 

Panik steigt in mir auf. „Hab ich es jetzt versaut?“

 

Er mustert mich streng. „Nein, zumindest nicht ganz. Ich meine, du hast mich gerade wirklich eiskalt erwischt und völlig überfahren. Ich meine, spätestens jetzt ist mir klar, dass du absolut kein bisschen mädchenhaft bist. Eher hast du mich an ein kleines Raubtier erinnert. Wirklich nicht sehr niedlich.“

 

Schuldbewusst senke ich meinen Blick. Dieser verfluchte Lei mit seinen dummen Vorschlägen. „Ich weiß auch nicht, was in mich gefahren ist …“

 

„Wie auch immer“, brummt er. „Was mir dadurch nur noch bewusster geworden ist, ist dass selbst diese Erkenntnis nichts ändert. Ich mag deine Wechselhaftigkeit. Dein Temperament. So wird’s wenigstens nicht langweilig. Momentan bist du wieder sehr niedlich.“

 

Unsicher blinzle ich zu ihm auf. Was will er eigentlich damit sagen? Hoffnung steigt in mir auf, die ich aber sofort im Keim ersticke. Noch eine Enttäuschung ertrage ich nicht. Wenn er es ernst meint, soll er mich endlich richtig küssen. Und wenn er nur nett sein will: Zum Teufel mit ihm.

 

„Wie viel Zeit brauchst du denn noch, um dich zu entscheiden?“, will ich schließlich wissen.

 

„Keine“, überrascht er mich wieder. „Sonst hätte ich dich eben nicht geküsst.“

 

„Heißt das …“ Ich breche ab. Wieder rast mein Herz. Meine Gedanken überschlagen sich.

 

Er schmunzelt leicht. „Ja, heißt es. Aber mein Tempo.“

 

„Okay“, murmle ich aufgeregt. Meint er es wirklich Ernst? Sein Tempo? Heißt das, wir werden uns ewig nur aufs Küssen beschränken, weil er Hemmungen gegenüber meinem Penis hat? Das kann ich ihn jetzt unmöglich fragen, aber interessieren würde es mich schon. Allerdings, wenn er wirklich so verliebt in mich ist, sollte ich es irgendwann schaffen, ihm über seine Hemmungen hinweg zu helfen. Er ist schließlich auch nur ein Mann. Jedenfalls spreche ich ihn darauf lieber nicht an.

 

Mit einem Mal rutscht er ganz aufs Bett an die Wand und zieht mich rückwärts in seine Arme. Wow. Vorsichtig lehne ich mich nach hinten an ihn. Das fühlt sich gut an. Seine Arme umschlingen sanft meinen Bauch und er drückt seinen an meine Schulter. Für eine Weile bin ich einfach nur sehr zufrieden mit meinem Schicksal. Ich glaube, ich könnte mich sogar damit abfinden, wenn wir dieses Tempo beibehalten und in drei Jahren immer noch nur so herumsitzen. Es ist schön.

 

„Hast du dich wieder beruhigt?“, will er nach einer kleinen Ewigkeit wissen.

 

Ich nicke.

 

Er drückt mich ein wenig fester an sich. „Gut. Magst du was trinken?“

 

Ich schüttle den Kopf.

 

„Hast du deine Zunge verschluckt?“

 

„Nein, ich bin nur gerade ganz zufrieden“, gestehe ich leise. Er lacht. Endlich. Erst jetzt wird mir bewusst, dass er das während unserer letzten beiden Treffen kaum noch gemacht hat. Dabei hat er mir immer so gut gefallen, wenn er gelacht hat. Jetzt drehe ich mich schnell zu ihm um, um es mir auch ja nicht entgehen zu lassen. Er sieht so toll aus, wenn er lacht. Doch da hat er schon aufgehört. Er grinst nur noch verhalten. „Was denn?“

 

„Ich mag es, wenn du lachst“, nuschle ich und da ich mich gerade zu ihm umgedreht habe, nutze ich auch gleich die Gelegenheit und drücke mein heißes Gesicht an seine Halsbeuge. Seine Hände streicheln sachte über meinen Rücken. „Mir gefällst du auch besser, wenn du lachst, als wenn du weinst. Wobei … Du bist auch bei letzterem niedlich.“

 

„Wann hast du dich entschieden, dass es dir egal ist? Als ich weggelaufen bin, hast du doch noch gesagt, es wäre so ein großes Problem für dich“, nuschle ich verlegen in sein T-Shirt.

 

Er seufzt. „Ich konnte die ganze Nacht nicht schlafen. Immer wieder habe ich dein Gesicht gesehen. Es ging einfach nicht. Und irgendwann bin ich alles noch einmal durchgegangen. Fakt ist nun einmal, dass ich mich in dich verliebt habe. Und zwar in dich: dein Aussehen, dein Verhalten, deine ganze Art … Ist ja nicht so, als hättest du mir, abgesehen vom Geschlecht, etwas vorgemacht. Letztlich ist es wirklich das einzige, was mich stört. Immer noch. Aber ich glaube, dass es mir noch viel mehr ausmachen würde, nicht mit dir zusammen zu sein, als dass du da unten etwas mit mir gemeinsam hast. Als mir das endlich klar geworden ist, habe ich geschlafen wie ein Baby. Ich würde daher annehmen, dass es die richtige Entscheidung war. Und je länger ich mich entschieden hatte, desto besser gefällt sie mir. Darum … Ich wäre wirklich bei dir vorbeigekommen. Nur eben … mein Tempo.“

 

„Kannst du mich küssen?“, frage ich vorsichtig. „Oder ist das zu schnell?“

 

„Kommt auf den Kuss an“, murmelt er, während seine Hände schon nach meinem Gesicht greifen und es aufrichten. Behutsam nähert er sich mir und schließt dabei langsam seine Augen. Er hat herrlich lange Wimpern. Mein Herz klopft wieder ganz laut und auch ich schließe meine Augen, als unsere Lippen sich treffen. Diesmal bin ich ganz passiv. Genieße einfach die Berührung. Schließlich wird er sogar mutiger und sein Kuss forscher. Ich lasse mich darauf ein und erwidere ihn mit der gleichen Intensität. Ehe ich recht begreife was geschieht, sinken wir gemeinsam auf die Matratze und Louis’ Arm umschlingt mich von der Seite. Lange bleiben wir so liegen, doch als er sich von mir trennt, kommt es mir doch vor, als sei es viel zu kurz gewesen.

 

„Kriege ich jetzt eigentlich endlich deine richtige Handynummer?“, will er plötzlich wissen.

 

Ich grinse verlegen und nicke. „Du musst einfach nur die beiden letzen Ziffern vertauschen. Kriege ich deine?“

 

„Klar“, brummt er und gibt mir noch einen Kuss. „Aber nicht jetzt.“

 

„Okay“, seufze ich selig und kuschle mich wieder enger an ihn. Doch dann zucke ich zurück. Ich bin schon wieder hart. Verlegen rutsche ich noch ein Stück mit dem gefährlich jungenhaften Part von ihm weg.

 

„Was denn?“, murmelt er verstört.

 

„Nichts!“, behaupte ich schnell. Zu schnell. Misstrauisch streckt er seine Hand aus und fährt tastend über meinen Schritt. Er schnauft leise. „Himmel …“

 

„Du hast auch einen Steifen gekriegt, als wir uns geküsst haben … Auf dem Spielplatz!“, verteidige ich mich verlegen. „Also weißt du doch, wie das ist.“

 

„Ich sag ja auch gar nichts dagegen“, entgegnet er ein wenig gezwungen. „Langsam sollte ich mich ja ohnehin daran gewöhnen. Also mach kein Drama draus und komm wieder her!“

 

Damit zieht er mich zu sich heran. Ich halte unwillkürlich die Luft an, als meine Lenden gegen seinen Bauch drücken und sehe ihm zweifelnd ins Gesicht. Es scheint ihm aber wirklich nichts mehr auszumachen.

 

„Vorhin hast du mich damit ziemlich kalt erwischt. Aber eigentlich bin ich mir recht sicher, dass ich mit dem da unten leben kann“, gesteht er beruhigend. „Wie gesagt, wenn ich mir nicht sicher wäre, hätte ich dich nicht geküsst. Ist doch … na ja … schmeichelhaft, dass du so auf mich reagierst … Irgendwie …“

 

„Und du?“, muss ich jetzt doch wissen. „Fühlst du dich nur geschmeichelt, oder kannst du dir vorstellen … mehr …“

 

„Mein Tempo!“, erinnert er mich noch einmal streng. „Aber ja … Früher oder später …“

 

„Gut“, seufze ich erleichtert.

 

Er mustert mich ein wenig verdutzt. Doch dann lacht er mit einem Mal leise. „Merde, du bist wirklich ein Junge. Aber irgendwie macht mir das langsam wirklich nichts mehr aus. Am Ende stimmt dieses idealistische Liebeszeug tatsächlich.“

 

„Vielleicht“, stimme ich zu. Wobei ich für nichts garantieren könnte, wenn er sich als Mädchen entpuppt. Ich mag seinen Penis.

 

 

 

Ende

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Bildmaterialien: Lizenzfrei - CC0 Public Domain, pixabay.com, 956113
Tag der Veröffentlichung: 22.05.2016

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