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Kapitel 0

 

 

 

Als ich fünfzehn Jahre alt war, veränderte ich mich. Damit meine ich nicht das, was die meisten Mädchen in diesem Alter durchmachen, sondern, dass meine Persönlichkeit sich veränderte. Vielleicht weil sich um mich herum alles veränderte.

Damals gab es eine Firma aus einer anderen Stadt namens Jenkers, die für Immobilien auf dem Festland, also außerhalb unserer Stadt, Werbung machte. Ich lebte wie jetzt in einem Haus mit meinen Großeltern und auch sie machten sich schon Gedanken, wegzuziehen. In Lamkat gäbe es angeblich immer mehr Drogenabhängige, sagte mein Großvater. Aber als schon immer mehr Leute mit dem Gedanken spielten, wegzuziehen, tauchte auf Kanal 28, dem meistgesehenen und seriösesten Sender, ein neuer Nachrichtensprecher auf. Er war jung, höchstens fünf Jahre älter als ich, und sah auch ganz gut aus. Trotzdem verstand ich nicht, warum er von da an in aller Munde war. Meine Freundinnen, die sonst immer am liebsten mir zugehört hatten, weil sie mich angeblich so cool fanden, sprachen nur noch von ihm und auch mit meinen Großeltern konnte man nur mehr schwer über ein anderes Thema reden. Ich selbst wusste nicht, was so faszinierend an ihm war. Nach einigen Tagen beschloss ich, mir das einmal genauer anzusehen. Ich schaltete zur richtigen Zeit auf Kanal 28 und sah ihn mir an. Er hieß Oliver Tomas, hatte rötliche Haare und olivgrüne Augen. So viel konnte ich in den ersten zehn Sekunden über ihn herausfinden, doch dann begann er, zu reden. Er hatte eine beruhigende, weiche Stimme und las so in einem monotonen Fluss die Nachrichten vor. Doch immer, als ich kurz davor war, einzuschlafen, baute er wieder eine Erhebung in der Stimme ein, einen kleinen Ruck, der zu verstehen gab, dass es noch nicht vorbei war. Die Nachrichten waren dieselben wie immer, alles hier in Lamkat war wunderbar, der Bürgermeister hatte bald wieder Geburtstag und so weiter und so fort. Von den Drogenabhängigen und/oder Obdachlosen, die ich sogar auf dem Weg zur Schule sah, wie immer kein Wort. Oder davon, dass die Preise für alles stiegen. Dass es nicht ausreichend Polizisten un deshalb immer mehr Gewaltverbrechen gab. Das hatte ich alles schon beobachtet, genau wie meine Großeltern. Gegen einen Umzug hätte ich also nichts gehabt. Aber als ich nach der Sendung wieder meine Großmutter darauf ansprach, meinte sie nur, dass es hier in Lamkat doch eh recht schön sei. Auch mein Großvater wollte nicht mehr weg und stritt ab, dass es so etwas wie Obdachlose überhaupt gab. Er meinte, das wären alles nur Faulenzer.

Ich dachte, dass müsse irgendetwas mit diesem Nachrichtensprecher am Hut haben. Ich fragte meine Freundinnen, aber die sagten, sie hätten sich das schon vorher gedacht, dass es wahrscheinlich niemand übers Herz bringen wird, von diesem Fleckchen Erde wegzuziehen. Innerlich verfluchte ich sie für ihre Dummheit und Leichtgläubigkeit, aber ich ließ mir natürlich nichts anmerken. Weitere Begebenheiten dieser Art folgten, alle wahrscheinlich durch diesen Oliver Tomas hervorgerufen. Als er einmal eine Seife mit dem Namen Kekes in seiner Sendung verwendet hatte, kauften alle nur noch diese Seife, als er von einem Kandidat bei der Bürgermeisterwahl sprach, gewann der Kandidat mit 100% der Stimmen. Aber das kurioseste an diesem Oliver Tomas war: Eines Tages verschwand er einfach. Kanal 28 bekam wieder die alte Nachrichtensprecherin, Verena Feuerwerk, und niemand sprach mehr von Oliver. Mehr noch, es konnte sich niemand mehr daran erinnern, dass es ihn jemals gegeben hatte. Doch noch immer kauften alle Kekes.

 

Ich frage mich manchmal, ob es ihn überhaupt gegeben hat, oder ob ich mir das nur eingebildet habe. Seit dieser Zeit, in der Oliver Tomas Nachrichtensprecher war, die nicht einmal einen Monat gedauert hat, bin ich misstrauisch geworden. Innen zumindest. Ich begann, mich innerlich immer mehr von anderen zu distanzieren, hörte bewusst andere Musik, um nicht immer nur die recht einseitigen Glücklichmacher mit dem gleichen Text zu Ohren zu bekommen, ich achtete darauf, was in den Nachrichten gesagt wurde. Nach außen hin blieb ich unverändert: Für meine Großeltern blieb ich das fröhliche Kind, für meine Freundinnen der Clown und das Vorbild. Ich blieb gut in der Schule und im Sport und bemühte mich, die anderen nicht merken zu lassen, dass ich nicht so dachte wie sie. Und das schaffte ich auch irgendwie, weil ich gut einschätzen konnte, was man von mir erwartete.

Ich wollte natürlich wieder versuchen, das fröhliche Kind zu sein. Aber ich schaffte es nicht mehr, mich so zu freuen wie früher. Ich konnte niemandem mehr trauen.

 

 

 

 

Kapitel 1

 

 

 

Ich sitze mit meiner Freundin Angela im Kino und seh mir irgendeine Liebeskomödie an. Zum Schreien komisch ist sie zwar nicht, aber einige Witze sind ganz gut. Ich frage mich nur, wie Angela sich dabei nur so vor Lachen krümmen kann. Ich seufze. Aber es ist doch ein nettes Geschenk von ihr gewesen, weil sie ja morgen nicht dabei sein kann, wenn die richtige Feier losgeht. Morgen werde ich 18. Erwachsen. Das ist schon etwas Großes. Mit der Schule bin ich fertig. Danach kann ich dann studieren, auch wenn ich noch nicht weiß, was, vielleicht mach ich auch einfach so wie Sophia ein Jahr lang gemeinnützige Arbeit. So könnte ich noch ein bisschen länger mit ihr zusammen sein. Oder ich könnte mir einen Mann suchen und ihn heiraten, so wie meine Großmutter es in meinem Alter getan hat. Bei dem Gedanken muss ich lächeln. Nein, bis jetzt habe ich keinen jungen Mann getroffen, den ich hätte näher kennenlernen wollen. Ob ich wohl irgendwann jemanden finde? In diesem Moment küsst der männliche Protagonist des Filmes sein weibliches Gegenstück. Ich nehme an, der Film ist bald zu Ende. Wie heißt er noch gleich? „Stürmische Zeiten“ oder so, glaube ich. Den Rest des Filmes verbringe ich damit, mir mein übriges Popcorn in den Mund zu stopfen und möglichst theatralisch stumm zu weinen. Als Angela es bemerkt, lacht sie laut los. So laut, dass wir einen missbilligenden Blick vom Saalaufseher ernten. Angela reißt sich zusammen. Ich habe gewusst, dass ihr so etwas gefallen würde. Ich weiß meistens, was in den Leuten um mich herum so vorgeht. Deshalb möchte ich auch mit vielen von ihnen gar nicht erst reden.

Nachdem auch die verpatzten Szenen im Abspann, in denen die Schauspieler öfters stolpern, als es die statistische Wahrscheinlichkeit zulässt, vorüber sind, machen wir uns auf den Weg zur Bushaltestelle. Als wir nach draußen kommen, zieht sich Angela ihre Regenjacke über und meint:

„Es ist kalt geworden.“

„Kein Wunder“, sag ich darauf, während mir Tropfen auf den Kopf fallen. „Es regnet ja. Stürmische Zeiten also, ja?“

Angela lacht. „Ach, Wanda, wenn ich dich nicht hätte. Ich bin froh, dass wir noch Zeit miteinander verbringen können, bevor ich umziehe. Also sag mir dann, wie die Party war, okay? Und grüß alle schön von mir.“

„Das hört sich ja an wie ein Abschied. Dabei fahren wir doch mit demselben Bus nach Hause.“

„Ja, schon klar.“

Schweigend stellen wir uns unter das kleine Dach des Bushaltestellenhäuschens. Ich muss an meinen morgigen Geburtstag denken. Und daran, dass es ja nicht nur mein Geburtstag ist. Es ist auch der Todestag meines Vaters un der Tag, an dem meine Mutter verschwand. Jedes Jahr muss ich wieder daran denken, aber immer nur für einen Augenblick. Meine Großeltern wissen so gut wie nichts darüber, was an meinem dritten Geburtstag passiert ist, nur, dass mein Vater von einem Auto überfahren wurde und ich dann einfach so vor ihrer Haustür stand. Aber da ich mich sowieso nicht an meine Eltern erinnern kann, macht es mir nichts aus, die Eltern meines Vaters als meine eigenen zu betrachten.

Der Bus kommt und wir steigen ein. Er ist fast leer, also ist es nicht schwer, zwei Plätze nebeneinander zu bekommen.

„Ist etwas, Wanda?“, fragt Angela. „Du bist so still.“

Ich ziehe eine Grimasse. „Ja, weil du bald weggehst, mein süßer Schnuffelbär. Komm, lass dich umarmen!“

Ich hänge mich an sie, während sie versucht, sich zu befreien.

„Hey, lass das... Heb dir das doch für später auf. Wanda!“

Ich lasse los und tue so, als wär ich beleidigt.

„Später darfst du mich umarmen“, sagt Angela in halblachendem Ton. „Jetzt können wir uns noch ein bisschen unterhalten, oder? Sieh mal, was ich gefunden habe. Das Ding ist ungefähr drei Jahre alt und verstaubt, aber gerade die Sachen, die da drin sind, sind dort, wo ich hinziehe, wieder in Mode. Ich brauche deinen Rat! Welche Tasche soll ich mir kaufen?“

Angela hat einen zerknitterten Katalog aus ihrer Tasche hervorgekramt und zeigt mir eine Tasche in drei Farbvariationen. Eine blau-weiß gestreift, eine weiß mit schwarzen Punkten, eine rot.

„Das ist schwer“, sage ich. „Du weißt, ich liebe Punkte. Andererseits ist Rot meine Lieblingsfarbe. Da würde ich an deiner Stelle einen Kompromiss eingehen und die blau-weiße nehmen.“

„Aber meine Mutter meint, Blau steht mir überhaupt nicht und ehrlich gesagt gefällt sie mir auch nicht besonders. Ich kann dir auch noch ein anderesModell zeigen, warte...“

„Halt!“, sage ich und nehme ihr den Katalog aus der Hand.

Etwas auf die Seite Gekritzeltes hat mir ins Auge gestochen. Etwas, das wahrscheinlich vor drei Jahren, als der Katalog noch neu war, dahin geschrieben worden ist. Da steht „Oliver Tomas“ mit einem Herzen eingerahmt in der linken oberen Ecke. Ich kann es nicht fassen. Das ist der Beweis dafür, dass es ihn gegeben hat. Dass ich nicht verrückt bin. Und vielleicht dass meine Freundin ganz schön in ihn verknallt war. Die Frage ist nur, warum sich dann niemand an ihn erinnern kann. Was ich herausfinden konnte, indem ich mir in den letzten drei Jahren die Nachrichten ansah, war nicht viel. Ich weiß jetzt nur, dass, wenn die Leute sich über eine Sache zu stark aufregen, sie am nächsten Tag nichts mehr davon zu wissen scheinen. Ich weiß, dass ich die einzige in meinem Umfeld bin, die etwas davon merkt. Und dass ich deshalb niemandem trauen kann. Deshalb sage ich nie, was ich denke. Deshalb...

„Wanda, was ist denn? Gib das wieder her, ich will dir noch etwas zeigen.“

Ich reiche ihr den Katalog, während ich sage:

„Dachte ich es mir doch. Die schwarzen Punkte, eindeutig. Das Rot ist zu schrill für dich, aber die Punkte - einfach perfekt.“

„Meinst du? Ja, dann kauf ich mir eben die.“

„Angela?“

„Ja?“

„Weißt du noch irgendetwas über Oliver Tomas?“

„Noch nie gehört. Aber irgendjemand hat seinen Namen in den Katalog gekritzelt, falls du das meinst. Ich weiß nichts davon.“

Ich nicke.

Als Angela aussteigen muss, verabschiede ich mich von ihr mit einer Umarmung und guten Wünschen für die Zukunft. Dann steige ich zwei Stationen weiter aus dem Bus und gehe langsam im Regen nach Hause. Vor unserem Haus steht ein gelbes Auto, das mir nicht im geringsten bekannt vorkommt. Ich muss an meiner eigenen Tür anläuten, weil ich den Schlüssel vergessen habe. Hoffentlich wecke ich niemanden. Doch entgegen meinen Erwartungen macht mir sofort jemand auf – jemand Kleines in einer gelben Latzhose, der beinahe das gleiche Gesicht hat wie ich. Die Frau, die höchstens 1m55cm groß sein kann, umarmt mich ohne Vorwarnung und sagt:

„Endlich.“

Sie fährt mir mit den Händen über den Rücken bis hin zum Nacken und streicht dann über die Narbe vom Anti-Sullotinose-Eingriff. Ich bin zu verwirrt, um an irgendetwas anderes zu denken als an „Stürmische Zeiten“.

Kapitel 2

 

 

 

Die Frau zieht mich mit sich ins Wohnzimmer und setzt sich auf den Sessel, meine Großeltern sitzen auf der Couch. Ich setze mich zwischen die beiden und sehe sie mit fragenden Blicken an. Oma sagt:

„Das ist deine Mutter, Wanda.“

Ich betrachte die kleine Frau mir gegenüber, wie sie da ziemlich nervös auf dem Sessel hin und her rutscht. Und ich kann nicht anders, als sie mit mir zu vergleichen. Ihre kurzen Haare haben einen etwas dünkleren Braunton als meine, sind aber genauso zerzaust und ihre Augen sind nicht wie meine türkis, sondern dunkelbraun. Ihre Haut ist gebräunter und sie ist mindestens 20 Zentimeter kleiner als ich. Aber wenn ich in ihr Gesicht sehe, merke ich deutlich, dass wir verwandt sein müssen. Es sieht genauso aus wie meines.

Das ist meine Mutter. Was sie wohl für ein Mensch ist? Auf jeden Fall scheint sie Gelb zu mögen, wenn ich mir ihr Auto und ihre Latzhose so ansehe. Ich bemerke, dass sie mich ansieht. Sie lächelt, wahrscheinlich findet auch sie, dass wir uns irgendwie gar nicht aber dann doch wieder ähnlich sehen. Obwohl ich mir nicht sicher bin, was in ihr vorgeht. Aus irgendeinem Grund fällt es mir bei ihr schwer, herauszufinden, woran sie denkt.

„Was denkst du, Wanda?“, fragt mich meine Mutter.

Was soll ich darauf antworten? Ich denke eigentlich gar nicht an die Sachen, an die ich denken sollte. Wie zum Beispiel, dass ich gerne eine Erklärung hätte, warum sie so lange weg war. Eigentlich habe ich das Recht, ziemlich verärgert zu sein.

„Warum fragst du mich das?“, frage ich sie.

„Ich war nur neugierig.“

Da meldet sich mein Großvater: „Also wirklich, Sarah. Wenn hier jemand das Recht hat, neugierig zu sein, dann ist das ja wohl Wanda. Erzählst du uns jetzt vielleicht endlich, wo du gesteckt hast?“

„Ich weiß, was ihr denkt“, sagt meine Mutter und scheint es dabei ernst zu meinen.

„Und ich verstehe das. Es war einfach nur egoistisch von mir, euch so lange alleine zu lassen, aber ich hatte meine Gründe. Es tut mir leid. Anfangs wollte ich Wanda nur beschützen. Dann wurde aber irgendwie... mehr daraus. Leider kann ich euch nichts davon erzählen. Aber hoffentlich wird bald alles ans Licht kommen, nur... jetzt noch nicht.“

Sie nimmt mich bei der Hand.

„Wanda, kommst du kurz mit? Ich würde gerne mit dir alleine sein.“

Mit einem Blick auf ihre Schwiegereltern sagt sie: „Danke, dass ihr euch um sie gekümmert habt. Ich hoffe, ihr könnt mir verzeihen.“

„Wohin gehst du mit ihr?“, fragt meine Großmutter.

„Nur eine Runde um den Block. Ich möchte nur ein bisschen mit ihr reden.“

Ich stehe auf und lasse mich an der Hand mitziehen, rufe meinen Großeltern noch ein „Bis später!“ zu und gehe dann hinter meiner Mutter aus dem Haus. Sie sieht aus, als ob sie nah am Weinen wäre.

„Ach, sie sind so nett“, sagt sie, als wäre das etwas Schlechtes. „Es fühlt sich falsch an, das zu tun. Aber was habe ich für eine Wahl? Es ist auf jeden Fall besser so. Ja, wir brauchen Wanda.“

Sie bleibt im Türstock stehen und wirkt für zwei Sekunden hochkonzentriert. Dann führt sie mich zum gelben Auto. Ich bin von ihrem Selbstgespräch ein wenig verwirrt.

„Steig ein“, sagt sie.

„Wohin fahren wir?“

„In die Innenstadt.“

„Aber ich will da jetzt nicht hin. Es ist spät und es wimmelt dort nur so vor Verbrechern.“

„Keine Angst, ich beschütze dich.“

Und so etwas von jemandem, der zwanzig Zentimeter kleiner ist als ich.

„Wanda“, sagt Sarah, „Du kannst jetzt unmöglich wieder zu deinen Großeltern hineingehen. Sie wissen nicht mehr, dass du bei ihnen wohnst. Es ist spät und sie werden sich fragen, was los ist.“

„Was heißt das, sie wissen es nicht mehr? Sie haben doch kein Alzheimer.“

„Na gut, du musst es wohl selbst sehen. Geh wieder hinein. Es tut mir leid.“

Irritiert gehe ich wieder ins Haus zurück, während Sarah in ihrem Auto wartet. Das kann ja nur ein Scherz sein. Warum sollten sie alles über diese fünfzehn Jahre, die ich bei ihnen gewohnt habe, vergessen haben? Schnellen Schrittes gehe ich ins Wohnzimmer.

„Wanda!“, sagt da meine Großmutter, „Was für eine Überraschung. Lass dich mal drücken.“

Sie steht vom Sofa auf und umarmt mich.

„Ist es nicht schon recht spät?“, fragt mein Großvater. „Was ist denn los, Wanda?“

„Gar nichts, meine Mutter hat gesagt, ich soll wieder hierher kommen.“

„Das ist ja nett, aber warum ist sie denn nicht mitgekommen? Ich kann mich gar nicht erinnern, wann ich sie das letzte Mal gesehen habe.“

Aber das war doch gerade eben! Bin ich bescheuert oder sind sie es? Wie schnell kann denn Alzheimer... Ich versuche, mich an Sarahs genaue Worte zu erinnern. Wissen meine Großeltern wirklich nicht mehr, dass ich bei ihnen wohne? Haben sie wirklich vergessen, dass meine Mutter gerade hier war?

„Möchtest du vielleicht heute hier schlafen?“, fragt mich meine Großmutter. „Ich bin mir sicher, dass du so spät nicht wieder nach Hause magst.“

Aber ich bin doch zu Hause! Ist das meine Mutter gewesen? Hat sie das gemacht? Ich lächele, umarme meinen Großvater und sage:

„Nicht nötig, ich bin mit dem Auto da. Ich wollte mir nur etwas Mehl leihen.“

„Hätte das nicht bis morgen warten können?“

„Nein, leider nicht. Morgen werde ich doch achtzehn und ich muss noch einen Kuchen für die Party backen, den hatte ich ganz vergessen...“

„Na, dann hole ich dir eine Packung Mehl.“

Oma holt eine Kilopackung aus der Küche und gibt sie mir.

„Ich hoffe, der Kuchen gelingt“, sagt Opa. „Und hier.“

Er gibt mir einen Hunderterschein.

„Das ist dein Geburtstagsgeschenk. Kauf dir was Schönes. Alles Gute.“

„Alles Gute“, sagt Oma.

Ich verabschiede mich und gehe. Sarah steigt aus dem Auto aus und kommt auf mich zu. Sie sieht mir mit besorgtem Blick zu, wie ich da mit einem Kilo Mehl und einem Hunderterschein aufs Auto zugehe.

„Weinst du?“, fragt sie und breitet ihre Arme aus, als ob sie mich umarmen wolle.

Erst da merke ich, dass meine Augen ganz nass sind. Eine Träne rinnt meine Wange entlang.

„Nein“, sage ich und setze mich ins Auto.

Denn wo soll ich sonst schon hin? Wütend werfe ich das Mehl und das Geld auf die Rückbank. Sarah steigt ins Auto, startet den Wagen und fährt los.

„Hast du das gemacht?“, frage ich sie.

„Ja, aber ich hatte meine Gründe.“

„Und die wären?“

„Anders hätten sie dich nicht einfach so gehen lassen, es sei denn, ich hätte sie angelogen.“

„Vielleicht sollten sie das auch gar nicht. Vielleicht hätte ich bei ihnen bleiben sollen.“

„Ja, vielleicht“, sagt Sarah leise. „Es tut mir leid. Ich will dir nur etwas zurückgeben. Und außerdem brauche ich dich jetzt mehr als sie.“

Das ist einfach zu viel. Zu viel auf einmal.

„Wozu brauchst du mich denn?“

„Das möchte ich dir später erklären.“

„Erklärst du mir dann auch, wie zum Teufel du das gemacht hast?“

„Ja, das gehört dazu.“

„Und wie man das wieder rückgängig macht?“

„Das geht leider nicht.“

„Das war's. Ich steig' aus.“

Ich mache Anstalten, die Tür zu öffnen.

„Wanda! Es tut mir leid. Hör bitte auf, du verletzt dich noch!“

Meine Mutter hat Tränen in den Augen, als sie das sagt. Widerwillig gehorche ich ihr. Ich habe ja auch keine Ahnung, was ich machen soll. Wenn ich nicht in Tränen ausbrechen will, darf ich auf keinen Fall zurück nach Hause. Ich könnte zu Sophia und bei ihr übernachten. Aber es ist schon sehr spät und das bedürfte einer Erklärung, die auch ich noch nicht bekommen habe.

Meine Mutter atmet tief durch und wischt sich die Tränen ab.

„Ich werde dir alles erklären, okay, Wanda? Du darfst deine Großeltern auch wiedersehen, wann du willst. Und sie erinnern sich ja an dich und mich. Nur nicht an die Zeit, in der du bei ihnen gewohnt hast. Auf diese Art ist alles einfacher und sie können unbeschwerter leben. Glaub mir, das war keine spontane Entscheidung. Ich habe lange darüber nachgedacht, wann und wie ich dich holen soll.“

Ich starre stur geradeaus. Das Auto hat einen lauten Motor und das Geräusch nervt mich. So habe ich mir das nicht vorgestellt. Ich habe nie wirklich erwartet, dass ich meine Mutter eines Tages wiedersehen würde, aber wenn ich es mir einmal vorgestellt habe, dann bestimmt nicht so, dass sie mich entführt und die Erinnerungen meiner Großeltern löscht. Was mir wohl bevorsteht? Jetzt, da ich mit meiner fremden Mutter leben muss.

„Sag bitte etwas, Wanda. Bist du wütend?“

„Nein, überhaupt nicht“, sage ich sarkastisch.

„Weißt du, ich glaube, du wirst mich verstehen, wenn ich dir erzähle, warum das sein musste. Bitte sei mir nur nicht zu lange böse, ja? Bitte, Wanda. Du bist meine ganze Familie. Wir haben jetzt nur noch einander.“

„Und wessen Schuld ist das?“

Diese Worte scheinen, sie zu treffen, denn ihr Gesicht verzerrt sich vor Schmerz. Ich atme einmal tief durch. Muss ich wirklich mit ihr leben? Ich hätte eigentlich auch bei meinen Großeltern übernachten können. Und wahrscheinlich würde ich auch länger bei ihnen bleiben dürfen. Bin ich doch nur mit meiner Mutter mitgegangen, weil ich neugierig bin? Weil sie mich interessiert?

„Okay. Tut mir leid. Ich weiß ja noch nicht alles. Fahr mich dorthin, wo du hinwillst und dann erklär es mir. Dann entscheide ich mich, ob ich dir helfen will.“

Sarah lächelt.

„Danke, Wanda. Du bist ein echt nettes Mädchen geworden. Ach ja, übrigens. Was soll eigentlich das Mehl auf der Rückbank?“

„Ich habe Oma und Opa erzählt, dass ich so spät zu ihnen gekommen bin, weil ich für morgen noch einen Kuchen backen will und nicht genug Mehl habe.“

Sarah muss lachen.

„Lügen kannst du also wie gedruckt, oder? Sag mal, hast du morgen eigentlich etwas vor, wie eine Party oder so?“

„Ja, schon. Ups, doch nicht. Das geht nicht. Die Party hätte bei Oma und Opa zuhause stattfinden sollen. Aber ihnen jetzt etwas davon zu erzählen, ist vielleicht etwas kurzfristig.“

„Das tut mir leid. Du könntest... Nein, das geht leider auch nicht. Aber ich lade deine Partygäste und dich morgen einfach alle zum Essen ein, ja?“

Ich muss kichern.

„Nein, lieber nicht, das könnte teuer werden.“

„Wieviele hast du denn eingeladen?“

„So um die zwanzig.“

„Du bist ja ganz schön beliebt...“

„Ja, schon. Aber weißt du, Sarah, ich könnte ja einfach nur meine drei besten Freundinnen zum Essen mitnehmen, ja? Den anderen sage ich einfach ab.“

„Wie wahrscheinlich ist es, dass deine drei besten Freundinnen dich suchen würden, wenn du auf einmal nicht mehr zuhause anzutreffen bist und deine Großeltern nichts mehr von dir wissen?“

„Sehr wahrscheinlich.“

„Und bei den anderen siebzehn?“

„Eher nicht. Die wissen erst seit kurzem, wo ich wohne.“

„Dann musst du deine drei besten Freundinnen unbedingt zu mir bringen, wenn sie sich nicht riesige Sorgen um dich machen sollen. Am Ende des Essens werde ich... Du weißt schon.“

„Gut. Dann rufe ich sie später an. Und ich sag ihnen, sie sollen den anderen Gästen sagen, dass die Party leider entfällt.“

„Danke, Wanda. Es tut mir leid, dass ich dir deine Feier ruiniert habe. Ich kauf dir auch ein Geschenk, okay? Was hättest du gerne?“

„Keine Ahnung. Weißt du was, das Essen mit meinen Freundinnen genügt mir. Werden sie danach alles über mich vergessen?“

„Nein, natürlich nicht. Ich lasse sie nur vergessen, wo du wohnst.“

„Okay.“

„Du steckst das ja ziemlich gut weg.“

„Mir bleibt nichts anderes übrig. Und du siehst nicht so aus, als hättest du irgendwas Schlimmes vor.“

„Jaja, die gelbe Latzhose. Aber was soll ich machen, sie gefällt mir eben so gut.“

Kapitel 3

 

 

 

 Wir fahren etwa eine Viertelstunde im Auto durch die Innenstadt, während Sarah die ganze Zeit versucht, Smalltalk zu machen, um sich und mich abzulenken. Vielleicht will sie mich aber einfach nur kennenlernen. Ich jedenfalls gehe einfach darauf ein und versuche, mich von der besten Seite zu zeigen. Ich erzähle ihr von meinen Schulfreunden, von meinen Gesangs- und Schwimmstunden und meinen überdurchschnittlich guten Noten. Und sie hört mir wirklich interessiert zu und scheint glücklich zu sein, mit mir zusammensein zu können. Dann erzähle ich ihr von meinem Kinobesuch vor ungefähr einer Stunde und wie mittelmäßig der Film war. Das Gespräch kommt langsam ins Stocken. Sarah weiß scheinbar keine Fragen mehr. Nach einer langen Pause, in der sie mir immer wieder ins Gesicht sieht, als könnte sie etwas nicht verstehen, sagt sie schließlich:

„Wanda?“

„Ja?“

Ich bin gespannt, was jetzt wohl kommt.

„Ist dir schon einmal etwas Besonderes aufgefallen, so etwas wie... Dass um dich herum alle Leute ein bestimmtes Ereignis vergessen zu haben scheinen?“

Ich erschrecke. Die Zahnräder in meinem Kopf beginnen, sich zu drehen, meine Gedanken kreisen rund um einen Vorfall vor drei Jahren, an dem ich etwas bemerkt habe, das außer mir niemandem aufgefallen ist. Und die Zahnräder drehen sich weiter und neue Verbindungen entstehen, wenn ich an meine Mutter denke und daran, was sie mit meinen Großeltern gemacht hat. Ohne nachzudenken sage ich:

„Hast du etwas mit Oliver Tomas' Verschwinden zu tun?“

Meine Mutter sieht mich zuerst erstaunt, dann nickend an und sagt:

„Also ja. Dachte ich's mir doch. Sonst könnte ich wissen, was du denkst. Du bist trotz dem Eingriff immun. Ich frage mich, wie stark du bist.“

„Was?“

„Die Narbe auf deinem Nacken meine ich. Die hat etwas mit der Geschichte zu tun.“

„Aber das ist nur die Narbe vom Anti-Sullotinose-Eingriff. Die hat doch jeder.“

„Ich hab sie nicht.“

„Heißt das, du bist infiziert?“

Sarah lacht.

„Das könnte man so sagen.“

Was hat das zu bedeuten? Sullotinose-Patienten haben doch im fortgeschrittenen Stadium nur sehr geringe Überlebenschancen. Warum macht das meiner Mutter denn nichts aus? Oder hat der Eingriff eine ganz andere Funktion gehabt, von der ich nichts weiß? Vielleicht hat er etwas mit den unheimlichen Fähigkeiten meiner Mutter zu tun. Sie kann anscheinend Gedankenlesen und Gedächtnisse löschen. Hat sie das denn zuvor schon mit der ganzen Stadt gemacht?

„Also zurück zu meiner Frage, Sarah: Hast du etwas mit dem Verschwinden von Oliver Tomas zu tun?“

„Ich war daran beteiligt, ihn zu befreien, ja. Aber die Hypnose hat er selbst gemacht und das Löschen danach war auch nicht ich, sondern wahrscheinlich eher dein anderer Großvater.“

„Ich verstehe nichts.“

„Ich erklär's dir gleich, wenn du nicht schon zu müde bist. Soll ich?“

Wir halten vor einem heruntergekommenen Haus an und steigen aus. Ich bin zwar müde, bin mir aber sicher, dass ich nicht so einfach würde einschlafen können.

„Ja, bitte erklär es mir.“

„Okay, komm mit.“

Wir gehen ins Haus, einige Treppen hinauf, dann noch mehr hinunter und gelangen in eine Art Vorzimmer. Auf einem Stuhl neben einer Reihe Topfpflanzen sitzt ein Mann mit dunkler Haut und weißem Haar. Er sieht trotz seiner weißen Haare jung aus, ungefähr fünf Jahre jünger als meine Mutter.

„Ah, Sarah, du hast sie hierhergebracht. Sie sieht dir wirklich erstaunlich ähnlich. Und jetzt, denke ich, will sie erst einmal wissen, was hier los ist, bevor wir den Eingriff rückgängig machen. Versuch, es kurz zu halten, ja?“

„Ja, natürlich. Ich weiß schon, was ich ihr sagen muss, um die meisten Fragen zu beantworten. Ich fange einfach vor fünfzehn Jahren an.“

„Aber die Geschichte reicht doch weiter zurück...“

„Für heute Nacht sind fünfzehn Jahre völlig ausreichend.“

Der Mann nickt. Dann wendet er sich mir zu.

„Also, Wanda, schön, deine Bekanntschaft zu machen. Ich bin Jan Kott. Sarah wollte dich wirklich unbedingt wiedersehen, sei also bitte einfach... unvoreingenommen. Ja?“

„Das hatte ich vor“, antworte ich.

„Umso besser“, sagt er.

„Ich gehe mit ihr in mein Zimmer“, sagt Sarah und bewegt sich auf eine Tür auf der linken Seite des Raumes zu.

Ich folge ihr in einen kleinen Raum mit einer Matratze und einer Kommode.

„Hier wohnst du?“, frage ich.

„Zur Zeit schon“, sagt meine Mutter.

Mir fällt auf, dass sie keinerlei Schmuckgegenstände im Raum hat, bis auf zwei Fotos mit Silberrahmen. Auf dem einen bin ich mit drei Jahren, auf dem anderen ist mein Vater zu sehen. Ich lächle.

„Hast du mich vermisst?“, frage ich, ohne nachzudenken.

Sarahs Stimme nimmt einen liebevollen Ton an, als sie sagt:

„Natürlich, Wanda. Du bist meine Tochter und ich hab dich lieb. Ich wollte dich auch schon früher holen, aber ich habe zuerst etwas erledigen müssen... Und ich habe mich ehrlich gesagt auch nicht wirklich getraut. Nur durch Jans gutes Zurreden habe ich es dann gewagt, wieder in dein Leben zu kommen. Er meint, dass es dir nicht schaden kann, über alles Bescheid zu wissen. Und wenn du danach denkst, dass du lieber wieder normal, ohne dieses Wissen, leben würdest, kann ich dir leider nicht helfen. Du wirst dein Leben lang eingeweiht bleiben, weil ich dein Gedächtnis nicht löschen kann.“

Das klingt, als würde ich es unbedingt wissen wollen. Vielleicht kennt sie die Antwort auf die Frage, was wirklich in Lamkat vorgeht. Vielleicht weiß sie mehr als die Medien. Laut meinen Großeltern war sie einmal Journalistin. Ich will es wissen.

„Wissen hat mir noch nie geschadet. Und falls doch, ich kann ja versuchen, es zu vergessen.“

Ich setze mich auf die Matratze und bedeute meiner Mutter, sich neben mich zu setzen. Sie tut es.

„Ich fange mit meiner ersten Frage an, gut? Warum hast du mich gerade heute holen müssen? In der Nacht?“

„Ich wollte dich nicht in der Nacht holen. Ich konnte nur nicht wissen, dass du gerade im Kino sein würdest, wenn ich komme. Das hat zu einem peinlichen Beisammensein mit deinen Großeltern geführt, weil ich ihnen nicht so recht erklären konnte, warum ich da war. Sie hätten mich für verrückt gehalten, selbst, wenn ich ihnen meine Kräfte demonstriert hätte.“

Da könnte etwas dran sein. Meine Großeltern sind noch nie besonders offen für Neues gewesen.

„Gut, aber warum dieser Tag?“

„Ich wollte deinen achtzehnten Geburtstag miterleben. Und ich habe mich lange darauf vorbereitet, dich abzuholen. Wie gesagt, ich hatte ein bisschen Schiss davor, was du von mir denkst.“

Ich denke, dass ich noch nie die Mutter einer meiner Freundinnen das Wort „Schiss“ habe sagen hören.

„Okay. Das ist wohl einleuchtend.“

So eine schlechte Mutter kann sie gar nicht sein. Sie sagt, sie hat mich lieb, sie hat meinen Geburtstag nicht vergessen und sie hat mich schon lange sehen wollen.

„Apropos Geburtstag. Was ist heute vor fünfzehn Jahren passiert und warum musstest du weg?“

„Du weißt ja, ich war früher Journalistin, ja?“

„Ja. Auf der Arbeit hast du meinen Vater kennengelernt, weil er für die Computer zuständig war.“

„Genau. Naja, ich heiratete ihn mit 20, wir bekamen dich, und dann... Die Sache ist die, ich habe schon mein ganzes Leben lang Gedanken lesen können, ja? Bei allen, außer bei Babys und Kleinkindern. Das hat mir schon zu so manch guter Story verholfen. Nimm das einfach mal so als Fakt hin.“

„Hab ich bereits.“

„Wann?“

„Im Auto.“

„Du hörst einem wirklich aufmerksam zu, was? Also, meine Mutter hat mir nie gesagt, warum, obwohl sie es wusste. Sie war generell keine gute Mutter. In der Hinsicht komme ich wohl leider nach ihr.“

Sarah wirkt in Gedanken versunken. Ich habe das Gefühl, etwas sagen zu müssen.

„So schlecht bist du nicht. Ob du eine gute Mutter bist oder nicht, wird sich noch herausstellen. Erzähl weiter.“

Sie hat mich irrsinnig neugierig gemacht. Ich will endlich wissen, was vor sich geht. Sarah seufzt.

„Wie kannst du das einfach so sagen? Ich hatte mit einer heftigeren Reaktion gerechnet. Aber du willst ja wissen, wie es weitergeht... Eine Woche vor deinem dritten Geburtstag habe ich bemerkt, dass dein Vater immer öfter an eine hübsche junge Frau dachte. Sie heißt, glaube ich, Brigitte und arbeitete damals in einem Restaurant als Kellnerin. Keine Ahnung, was sie heute so macht. Zuerst vermutete ich eine leichte Verschossenheit dahinter, etwas, das vergeht. Aber als er immer wieder an sie dachte, wurde ich eifersüchtig.“

„Hat er mit ihr geschlafen?“

„Wenn du mich schon so direkt fragst, ja. Das hat er. Aber er hat es versucht, geheim zu halten. Er hat nicht gewusst, dass ich Gedanken lesen kann.“

„Warum hast du es ihm denn nicht gesagt?“

„Das hatte ich vor, aber ich hatte Angst, er... Ich weiß nicht. Meine Mutter hat immer gesagt, wenn ich es irgendjemandem erzähle, könnte ich diese Fähigkeit verlieren. Und ich weiß jetzt auch, was sie damit meint.“

„Was denn?“

„Dazu komme ich später. Ich konnte nicht verstehen, wie dein Vater uns beiden das antun konnte. An deinem Geburtstag habe ich dich dann kurz bei deinen Großeltern gelassen, weil ich wusste, wann und wo er sich mit Brigitte treffen würde. Ich konnte ihn dann kurz vorm Treffpunkt abfangen. Ich stand auf der einen Straßenseite, er auf der anderen. Er dachte an sie, die ganze Zeit, und überhaupt nicht an uns. Nur hin und wieder zeigte er leichte Schuldgefühle. Und da stand er, starrte mich an, ich starrte zurück... Das ist der am schwierigsten zu erzählende Teil. Ich weiß, dass ich das nicht hätte tun dürfen. Jedenfalls sagte er etwas wie „Sarah, was für eine Überraschung! Wo ist Wanda?“ Und ich sagte: „Du Dreckskerl.““

Sie scheint, sich dafür zu schämen.

„Hätte ich auch gesagt“, versuche ich, sie zu beschwichtigen.

„Ja, aber das war das Vorletzte, was ich zu ihm sagte.“

Sie weint nicht, aber sie ist wohl nahe dran. Es geht ja auch um den Tod ihres Mannes.

„Ich konnte es nicht mehr aushalten, seine Gedanken zu hören. Seine Gedanken an Brigitte, alles in seinem Kopf drehte sich darum. Er war richtig verliebt. Und ich wollte nur, dass er alles über sie vergisst. Er sagte: „Was ist denn los, Schatz? Ist etwas passiert?“ und wollte über die Straße gehen. Und da verwandelte sich mein Wunsch, dass er sie vergisst, einfach so in Realität. Er vergaß alles. Wirklich alles. Ich hab sein Gehirn komplett ausgeschalten. Er blieb einfach so mitten auf der Straße stehen. Andere Leute, die gerade die Straße überquerten, versuchten, ihn anzusprechen, doch er rührte sich nicht. Ich rief ihm zu, er solle da weggehen, aber er blieb einfach dort. Dann kam ein Auto um die Kurve und er... sah nicht einmal auf. Es war, als würde er nichts mehr wahrnehmen. Das Auto konnte nicht mehr rechtzeitig stehenbleiben. Es hätte wahrscheinlich auch nichts mehr ausgemacht, wenn es das gekonnt hätte. Sein Gehirn war sowieso schon tot gewesen. Und das meinetwegen. Und ich hatte nicht einmal gewusst, dass ich zu so etwas imstande bin. Also, Wanda, ich habe ihn getötet. Aber es war ein Unfall, denn natürlich wollte ich das nicht und... Ich hoffe, du verzeihst mir.“

Ich streiche ihr über den Handrücken. Jetzt weint sie doch ein bisschen.

„Was denn verzeihen? Wenn es so ist, wie du sagst, gibt es nichts zu verzeihen. Ich habe meinen Vater doch eh nie kennengelernt.“

„Das ist ja das Schlimme“, sagt Sarah, während sie sich mit einem Taschentuch das Gesicht abwischt.

„Himmel, heute bin ich emotional. Aber damit war ja zu rechnen.“

Sie lächelt mich an. Ich lächle zurück. Ich habe Mitleid mit meiner Mutter. Es muss schlimm für Sarah gewesen sein, die ganze Zeit über mit dem Gedanken leben zu müssen, für den Tod des eigenen Mannes verantwortlich zu sein. Es klingt für mich wie eine tragische Hintergrundgeschichte aus einem Comic. Ich finde es sehr traurig, aber ich bin ja nicht direkt darin verwickelt, also geht es mir nicht so zu Herzen. Obwohl, wenn ich mir ansehe, was für ein Gesicht meine Mutter gerade macht, zieht sich mir der Magen zusammen.

Schnell sage ich:

„Also hast du wohl gelernt, das Ganze zu kontrollieren, sonst wären meine Großeltern jetzt ja auch schon tot.“

„Ja. Nach diesem Unfall hatte ich Angst, dass mir dasselbe bei anderen Menschen, die ich mag, passieren könnte. Also beschloss ich, mich fürs Erste von dir und von deinen Großeltern fernzuhalten. Es tat weh, aber... Ich musste es tun.“

Sie legt eine Pause ein, als erwartete sie, dass ich ihr widerspreche.

„Ja, du musstest es tun. Und weiter?“

Sarah runzelt kurz die Stirn und erzählt dann weiter:

„Ich wollte zuerst herausfinden, woher diese Kräfte kamen und ob es einen Weg gibt, sie im Zaum zu halten. Deshalb suchte ich meine Mutter. Es war schwierig, sie zu finden, denn seit sie die Einladung zu meiner Hochzeit abgelehnt hatte, war jeder Kontakt zwischen uns gebrochen. Sie wohnte nicht mehr in dem kleinen Appartement, in dem ich aufgewachsen war, sondern hier in diesem verfallenen Haus, weil sie sich ihre Miete nicht mehr leisten konnte. Sie... hatte ein Alkoholproblem, aber nachdem sie in der Entzugsklinik gewesen ist, ist sie jetzt wieder davon los. Ich glaube, sie wohnt im Norden der Stadt, falls du sie besuchen willst, sie wird bald 65, nur, dass du's weißt.“

Meine andere Großmutter interessiert mich jetzt auch. Ich habe bis jetzt keine Möglichkeit gehabt, mit ihr in Kontakt zu treten. Aber wenn sie schon keine gute Mutter gewesen ist, kann man dann erwarten, dass sie eine gute Großmutter ist?

„Vielleicht besuchen wir sie mal gemeinsam“, sage ich.

„Ja, Jan hat eh gesagt, er würde ihr gern eine Frage stellen. Eine Privatangelegenheit von ihm. Aber egal, äh, ich hab sie hier gefunden und sie hat mir eine Adresse gegeben, zu der ich gehen sollte, wenn ich meinen Vater, Rainer Neck, kennenlernen wollte. Meine Mutter meinte, er könne mir alles ausführlich erklären. Ich ging also zu den Necks, einer wohlhabenden Familie außerhalb der Stadt. Um es kurz zu machen, es war gar nicht so einfach, meinen Vater zu treffen, weil mich niemand zu ihm gelassen hat. Aber dann war da dieser Butler und bei ihm fand ich es eigenartig, dass... ich seine Gedanken nicht lesen konnte. Dieser Butler war Jan, den du vorhin gesehen hast. Er arbeitete wirklich schon lange für die Necks, um die hundert Jahre.“

Das erschreckt mich ein wenig. Er sieht doch jünger aus als meine Mutter. Aber naja, ich sollte laut ihm unvoreingenommen sein, oder?

„In dieser Zeit hat er viel über sie herausgefunden. Als er erfuhr, dass ich die uneheliche Tochter seines Herren war, die ihn fragen wollte, warum sie Gedanken lesen konnte, war ihm das gar nicht recht. Denn hätte mein Vater das herausgefunden, er hätte mir meine Kräfte genommen. Und zwar mit dem Anti-Sullotinose-Eingriff. Die Krankheit Sullotinose existiert nicht. Jeder außer den Necks wird kurz nach der Geburt im Krankenhaus am Nacken operiert. Dabei durchtrennt man ein Band, dass zum Gehirn führt. In diesem einen Band könnten sich nämlich die Informationen für bestimmte „übernatürliche“ Kräfte aufhalten. Obwohl die Kräfte vererbt werden können und deshalb auch irgendwie natürlich sind. Deshalb sind die Necks die einzigen, die ihre Kräfte benutzen können.“

„Und diese sind Gedächtnisse löschen und Gedankenlesen. So wie deine.“

„Und deine, wenn du nicht diese Narbe am Nacken hättest. Klingt das nicht zu eigenartig für dich? Dass es so etwas wie Superkräfte gibt?“

„Ja, aber das erklärt eigentlich viele Phänomene, deren Zeuge ich in meinem Leben bereits wurde.“

„Ich hab Jan gefragt, weil er einer der ersten mit Kräften war und er meinte, dass es für die Menschen zuerst schon eine große Umstellung war. Aber die Zeit, in der es normal war, Kräfte zu haben, dauerte nicht lange. Dadurch nämlich, dass Nicholas Neck, dein Ururgroßvater, zwei Kräfte besaß, war er anderen überlegen und konnte... abgekürzt: schnell die Macht an sich reißen. Dann erfand er die Anti-Sullotinose-Eingriffe und die gewissermaßen verborgene Herrschaft der Necks nahm ihren Lauf. Sie haben die Leute manipuliert, so gut es ging, sie haben immer den Weg gewählt, der ihnen am meisten Geld brachte und dabei... wenig Rücksicht auf das Allgemeinwohl genommen.“

„Also sind die Obdachlosen ihre Schuld?“

„Die meisten Wohnhäuser gehören ihnen und sie haben die Mieten ein bisschen erhöht.“

„Die Drogenabhängigen und vielen Verbrechen?“

„Sie haben den Bürgermeister dazu gebracht, ein wenig von den Ausgaben für die Polizei zu sparen und stattdessen in ihr Seifenunternehmen Kekes zu investieren. Von dem Geld aus diesen Investitionen hat der Bürgermeister aber nicht viel gesehen. Man hat danach einfach seine Erinnerungen an das Geschäft gelöscht.“

„Und sie haben einfach immer mehr Gehirnwäsche betrieben.“

„Genau. Und wir beide sind auch noch mit ihnen verwandt. Ich bin zwar nur die uneheliche Tochter meines Vaters mit seinem ehemaligen Dienstmädchen, aber trotzdem bin ich irgendwie eine Neck.“

„Warum hast du eigentlich deine Kräfte noch? Wenn du, nun ja, wahrscheinlich nicht im Haus der Necks zur Welt gekommen bist.“

„Ja, meine Mutter hat gekündigt, als sie schwanger wurde und hat mich in einem Krankenhaus zur Welt gebracht. Aber der Zufall wollte wohl, dass ich meine Kräfte behalte. Es gab eine Verwechslung. Ganz einfach. Ein anderes Baby wurde zweimal aufgeschnitten.“

„Wie man so etwas nicht merken kann...“

„Ist mir auch ein Rätsel. Okay, bist du bis jetzt mitgekommen?“

„Ja, ich denke schon. Aber warum haben die Menschen denn vor einigen Generationen Superkräfte entwickelt?“

Es fühlt sich komisch an, von Superkräften als einem normalen Bestandteil des Lebens zu sprechen.

„Das weiß niemand so genau. Fest steht, dass ein Kometensplitter, der vor 140 Jahren auf der Insel einschlug, der Auslöser war. Die Necks nennen ihn Kortuma.“

Ich nicke und sage: „Verstehe.“

Obwohl von Verständnis eigentlich keine Rede sein kann.

„Aber Wanda, weißt du was? Ich komme jetzt zu einem Thema, dass dich sehr interessieren könnte.“

„Oliver Tomas?“

„Bist du etwa in ihn verknallt? Er ist gerade nicht da, er sucht seine Mutter, aber morgen kann ich ihn dir gerne vorstellen.“

Sarah kichert. Dabei sieht sie aus wie sechzehn.

„Nein, er war nur eine Art Auslöser, weißt du? Nachdem er weg war und jeder ihn nach diesem Hype vergessen hatte, habe ich mir Gedanken gemacht.“

Ich kann ihr doch nicht einfach so sagen, dass ich vor drei Jahren mein Vertrauen in alles verloren habe.

„Schon klar. Er hat nur gemeint, dass die Gefahr besteht. Angeblich verlieben sich immer haufenweise Frauen in ihn.“

„In den alten Knacker?“

„Er ist 22.“

„Ich glaube trotzdem nicht, dass ich mich in ihn verlieben werde. Außerdem, in mich verlieben sich auch immer haufenweise Typen.“

Sarah stöhnt:

„Na toll, das ist meine Tochter? Zuletzt habe ich sie als Kleinkind gesehen und jetzt gesteht sie mir, sie wäre Objekt der Begierde vieler junger Männerherzen?“

„So hätte ich es nicht ausgedrückt. Aber egal, zurück zum Vorfall mit Oliver Tomas.“

„Nenn ihn Oliver.“

„Okay. Ich nehme an, Oliver hat auch eine Kraft und die ist Hypnose. Die Necks haben ihn eine Zeit lang verwendet und dann, als er nicht mehr verfügbar war, alle Erinnerungen an ihn gelöscht.“

„Ja, aber du kennst die Hintergrundgeschichte nicht. Ich habe zwölf Jahre als Dienstmädchen bei den Necks verbracht und habe von Jan gelernt, meine Kräfte gezielt einzusetzen, und alles Mögliche erfahren.“

„Du kannst ja auch Gedankenlesen.“

„Ja, aber nicht bei Leuten mit gleich starken Kräften. Wenn zwei Menschen ebenbürtige Kräfte haben, können sie sie nicht aufeinander anwenden. Normalerweise ist es so, dass derjenige überlegen ist, der mehr Kräfte hat. Die Necks haben zwei. Jan hat nur eine, aber die ist stärker als meine beiden. Du hast vermutlich drei, weil deine Erinnerungen auch ohne aktive Kräfte nicht gelöscht werden konnten.“

„Also eine von meinem Vater?“

Sarah nickt.

„Jedenfalls kam Oliver nicht im Krankenhaus zur Welt, weshalb er seine Kräfte noch hat. Als er neun war, wurde er von seiner Mutter geholt und ihre Erinnerungen an ihn wurden gelöscht. Mein Vater hatte seine Kräfte zufällig entdeckt und wollte sie extrahieren. Oliver hat daraufhin zehn Jahre im Keller der Neck-Villa gelebt, damit mein Vater Experimente an ihm durchführen konnte. Er begehrte die Kraft der Hypnose, weil sie ihm als vollendende Ergänzung zu unseren Kräften vorkam. Dann starb er und mein ehelicher Halbbruder wurde Familienoberhaupt. Vor drei Jahren gab er die Experimente auf und setzte Oliver einfach so ein. Oliver gehorchte, bis er auf mich und Jan traf. Wir sagten, wir könnten ihn hinausbringen und er wollte so dringend seine Mutter wiedersehen... Wir haben ihm dann die Flucht ermöglicht. Aber dabei hat er einen kleinen... Schaden bekommen. Er hat jetzt zwei Persönlichkeiten. Wie er das gemacht hat, fragst du ihn am besten selbst.“

„Ihr seid alle vor drei Jahren aus dem Haus der Necks weggelaufen? Und dann? Warum bist du dann nicht gleich zu mir gekommen?“

„Kannst du dich erinnern, dass ich dir gesagt habe, ich möchte dir etwas zurückgeben?“

Ich nicke vorsichtig.

„Wir haben drei Jahre lang nach einem Weg gesucht, den Anti-Sullotinose-Eingriff rückgängig zu machen. Ich meine Jan und ich. Oliver hat hauptsächlich seine Mutter gesucht.“

„Heißt das, ich werde bald Gedankenlesen können?“

„Wenn du willst, noch heute Nacht.“

Ich denke nach, während ich in Sarahs Gesicht schaue. In das Gesicht meiner Mutter. Sie hat mich hierher geholt, um mir meine Kräfte wiederzugeben. Und so neu und ausgefallen ihre Geschichte auf mich auch wirken mag – sie gibt mir das, was ich mir am meisten wünsche: Die Gewissheit, dass ich nicht verrückt bin. Dass ich keine Verschwörungstheoretikerin bin und dass mein Misstrauen zurecht gewesen ist. Und dass ich mit meiner Ansicht nicht alleine bin. In Anbetracht dieser Umstände ist es mir im Moment ziemlich egal, dass ich meine Mutter kaum kenne, weil sie für fünfzehn Jahre komplett aus meinem Leben verschwunden gewesen ist. Ich vertraue ihr doch mehr als allen anderen. Und deshalb willige ich ein und lasse den Anti-Anti-Sullotinose-Eingriff-Eingriff über mich ergehen.

„Ich will!“

 

Kapitel 4

 

 

 

Um die Kräfte wiederzuholen, muss man nur ein bestimmtes Gel spritzen, das den Heilprozess um ein Vielfaches beschleunigt, sodass das Band mit den Kräften innerhalb eines Tages wieder zusammenwächst. Meine Mutter nennt das Gel „Salbe“.

Ich muss nach der Spritze erst lernen, wie man mit den Kräften umgeht. Aber da sie ja eigentlich ein Teil von mir und meiner Persönlichkeit sind, habe ich Vertrauen darin, dass ich keine Probleme haben werde.

Meine Mutter ist aufgeregt, weil ich eigentlich die erste bin, die die Spritze bekommt. Aber auch sie macht sich keine Sorgen, was mich irgendwie beruhigt.

Es ist nur ein kurzer Piks. Es tut kaum weh und sorgt für ein leichtes Kribbeln im Nacken. Jan zieht die Nadel heraus.

„Hat es wehgetan?“, fragt er.

Ich schüttele gleichgültig den Kopf.

„Nebenwirkungen könnten zusätzliche Stimmen in deinem Kopf und die Fähigkeit, anderen ihr Gedächtnis auszulöschen sein“, sagt meine Mutter scherzhaft.

„Ich will mit meinem Arzt sprechen“, sage ich.

„Ich bin dein Arzt“, sagt Jan. „Auch, wenn ich nicht wirklich studiert habe...“

„Du bist ja auch noch jung“, sage ich.

Jan und Sarah lachen.

„Ich frag mich, wie das so ist, Generationen beim Sterben zuzusehen“, sagt Sarah.

„Sicher nicht lustig“, antworte ich.

Woraufhin meine Mutter aufgeregt grinst und Jan wissend nickt.

„Es beginnt“, sagt meine Mutter laut. Ich sehe eindeutig, wie ihre Lippen sich bewegen, während sie spricht. Haben sie das vorher auch schon gemacht?

„Du antwortest auf meine Gedanken!“

Tatsächlich. Bei Sarahs Bemerkung zu Jans hundert Jahren Lebenserfahrung war nicht bloß ihre Stimme zu hören gewesen. Es war gewissermaßen auch ein Gefühl mitgeschwungen, etwas, dass der Bemerkung Farbe verliehen hatte. In diesem Fall Blau für Traurigkeit. Ich versuche, weiter hinzuhören, verstehe aber immer weniger:

>>Meine Wanda... ganz schön groß... ihr Vater... was für Kräfte... Ich bin so neugierig!<<

Vielleicht liegt es daran, dass meine Kräfte 24 Stunden Zeit brauchen, um sich vollends wiederherzustellen, vielleicht liegt es auch daran, dass diese Gedanken nicht so stark und deshalb für meinen ungeschulten Geist nicht zu erkennen sind. Aber gibt es überhaupt so etwas wie starke Gedanken? Ich konzentriere mich jetzt auf Jan. Ich lausche genau. Aber nichts. Nicht ein Furz von einem Gedanken. Bin ich noch nicht so weit?

„Sarah?“

„Ja, Wanda?“

Jan geht aus dem Zimmer, während er sagt, er hätte Hunger. Ich erinnere mich, dass meine Mutter ja auch nicht die Gedanken von Jan hören kann.

„Ich weiß nicht, was Jan denkt.“

„Was, du auch nicht? Ich dachte... Obwohl du stärker bist als ich! Dabei hat Jan nur eine Kraft, eine einzige!“

„Und die wäre?“

„Er kann Biomassen umwandeln. Aber nicht in dem Sinne, in dem es jeder normale Mensch kann, er kann zum Beispiel Pflanzen zu sich nehmen, oder an eine Stelle seines Körpers halten und... einfach diese Biomasse in körpereigene Zellen verwandeln. Deshalb kann sich seine Statur so enorm verändern und deshalb lebt er schon so lange. Das einzige, was er nicht reparieren kann, sind seine Haare.“

„Deshalb sind sie weiß.“

Sarah nickt.

„Ein Nachteil des Ganzen ist es, dass er immer einen Riesenhunger hat.“

>>Zusätzlich dazu, dass all seine Familienmitglieder schon lange tot sind.<<

Das scheint sie ja echt zu beschäftigen. Ich denke, sie mag Jan sehr gern. Vielleicht liebt sie ihn sogar. Ich beschließe, in die Küche zu gehen, um ihn mir einmal genauer anzusehen. Als ich zur Tür hinausgehe, meint meine Mutter:

„Vergiss nicht, das mit deinen Freundinnen zu regeln.“

Ach richtig. Heute um neun Uhr fünfzehn werde ich achtzehn. Also in sieben Stunden. Ich habe noch gar nicht geschlafen. Ich greife in meine Tasche, um zu testen, ob das Geld meines Großvaters noch da ist. In der Küche macht sich Jan gerade Muffins. Er verwendet das Mehl, dass ich mir gestern geborgt haben. Ich muss lächeln. Jan bemerkt mich und fragt:

„Ah, hallo, Wanda. Möchtest du auch einen Muffin?“

Er sieht nervös aus. Er ist schon die ganze Zeit so nervös, seit er weiß, dass mein Gedächtnis noch nie gelöscht worden ist. Ich frage mich, ob er etwas zu verbergen hat.

„Ich kann deine Gedanken nicht lesen. Komisch, oder?“, sage ich und warte die Reaktion ab.

Jan dreht sich zu mir um, nachdem er ein Blech voller Muffins in den Ofen geschoben hat. Er sieht überrascht und auch erleichtert aus.

„Naja“, meint er, „Vielleicht liegt es ja daran, dass ich nicht denke.“

„Das könnte natürlich auch sein“, sage ich lächelnd. Warum hat er so erleichtert ausgesehen? Hat er wirklich ein Geheimnis? Weiß meine Mutter davon?

>>Hier riecht es gut<<, höre ich Sarah denken.

Weit kann sie also nicht sein. Da kommt sie auch schon in die Küche und setzt sich an den Tisch.

>>Wanda, hörst du mich?<<, denkt sie so laut wie nur möglich.

Es tut beinahe in den Ohren weh.

Ich nicke.

>>Coole Sache, oder? Gedankenlesen, meine ich.<<

Ich nicke wieder – es fühlt sich wirklich gut an. Fast als wären endlich all meine Sinne geschärft, als wäre ich vorher nur... unvollkommen gewesen. Als wäre das mein echtes Ich.

>>Kannst du auch einfach weghören? Oder Stimmen ausblenden?“

Ich zucke mit den Schultern. Da beginnt Sarah, über vollkommen Belangloses nachzudenken, ohne Pause, ein langweiliges Ding nach dem anderen. Und ich kann es nicht ausblenden. Also schneide ich eine Grimasse und schüttele den Kopf, damit sie endlich Ruhe gibt.

>>Gott sei Dank ist dein Radius noch nicht besonders groß, sonst könntest du heute Nacht nicht schlafen.<<

„Apropos, ich sollte mich langsam eimal hinlegen.“

Jan, der ja von unserer geistigen Unterhaltung nichts mitbekommen hat, schaut verdutzt drein.

Trotzdem sagt er:

„Träum süß.“

Er drückt mir einen heißen Muffin in die Hand.

„Dein Abendessen“, sagt er lächelnd. Das Lächeln wirkt aufrichtig, als hätte er beschlossen, mich zu mögen. Vielleicht ist es noch immer die Erleichterung von vorhin.

Sarah zieht mich zu sich und gibt mir einen Kuss auf die Stirn.

„Gute Nacht, Schatz. Morgen wirst du jemanden kennenlernen, der dich vermutlich interessieren wird.“

„Gute Nacht, Sarah“, sage ich, um ein bisschen Abstand zu wahren. Sie nennt mich Schatz, aber ich kenne sie kaum.

>>Auf ein „Gute Nacht, Mama“ kann ich wohl nicht hoffen<<, denkt sie. Dann schaut sie mich erschrocken an. Also hat sie nicht vorgehabt, dass ich das höre.

„Gute Nacht, Jan“, sage ich und gehe schnell, um nicht noch mehr geheime Gedanken meiner Mutter mitzubekommen.

Mein Zimmer ist das, in dem ich vorhin die Spritze bekommen habe. Darin ist auch nicht mehr Komfort zu finden als im Zimmer meiner Mutter, aber immerhin habe ich eine Zimmerpflanze. Ich werfe mich mit Schwung auf meine Matratze und decke mich zu.

Ich kann mir natürlich denken, wen ich morgen kennenlernen werde. Oliver Tomas. Ich weiß noch immer nicht genau, was meine Mutter jetzt mit mir vorhat, aber ich werde mir diese Gelegenheit, ihn zu treffen, nicht entgehen lassen.

Ich krame mein Handy hervor und schreibe die notwendigen SMS an meine Freunde. Es ist zwar eine kurzfristige Absage, aber dann werden sich die Gäste eben einen anderen Zeitvertreib suchen müssen. Alle Gäste, bis auf Sophia, Anna und Terri. Ich habe das Gefühl, dass ich sie morgen zum letzten Mal sehen werde. Nachdem ich mich fünfmal hin und her gewälzt habe, lege ich mich auf meine rechte Seite. Mit Gesicht zur Zimmerpflanze schlafe ich ein.

Kapitel 5

 

 

 

 Mit Gesicht zur Matratze wache ich auf. Aus irgendeinem Grund wache ich immer so auf, selbst wenn man mich vor dem Einschlafen an einen Stuhl bindet, wie ich nach einer Pyjamaparty mit meinen Freundinnen habe feststellen müssen.

Langsam richte ich mich auf und schaue auf die Uhr meines Handys. Es ist zehn nach acht. Da höre ich eine mir unbekannte Stimme.

>>Nein, wie lieb von ihm! Dass er weiß, dass ich rote Rosen am liebsten mag...<<

Gleichzeitig denkt jemand:

>>Ich hoffe es gefällt ihr. Ob wir danach noch...<<

Gleichzeitig:

>>Mann, Luxi ist schon ein braver Hund.<<

Gelichzeitig:

>>Bald sollte ich Wanda wecken.<<

Diese Stimme kenne ich. Sie gehört meiner Mutter.

Die Stimmen hören nicht auf. Es ist ein riesiges Stimmengewirr, als würde ich in einem Kaffeehaus sitzen. Fünfzig Leute machen sich Sorgen, machen Pläne, sind traurig, sind fröhlich, sind einsam, erinnern sich an wichtige Dinge. Die lautesten Gedanken sind alles plötzliche, scheinbar aus dem Nichts kommende Erkenntnisse. Aber bald höre ich nicht nur Gedanken und sehe ich deren Farben, ich sehe richtige Bilder. Das verschwommene Bild der Erinnerung an einen toten Großvater, das Bild einer leckeren Pizza, die jemandem scheinbar nicht aus dem Kopf geht, Bilder einer Naturfilmdokumentation. Kurzum: Ich bin in den Köpfen von fünfzig Menschen gleichzeitig.

Und ich frage mich, wie weit mein Radius jetzt ist und ob er sich noch ausbreiten wird.

Die Stimmen fangen an, mich zu nerven. Blende sie aus!, sage ich mir. Blende sie verdammt noch einmal aus!!!

Aber so funktioniert es natürlich nicht. Ich muss versuchen, mich abzulenken, ich nehme mein Handy, wähle Spiele, wähle Gedächtnisspiele und versuche, meinen Geist auf Trab zu bringen, während ich die Stimmen von fünfzig Menschen im Kopf habe. Es wirkt! Die Stimmen werden leiser, obwohl sie nicht ganz verschwinden. Hin und wieder höre ich eine laute Erkenntnis, aber die Gedanken stören mich immer weniger. Ich lege das Handy weg und versuche, mich nur auf die Gedanken meiner Mutter zu konzentrieren. Im Stimmengewirr suche ich mir ihre heraus und höre genau zu. Ich sehe kurz das Zimmer meiner Mutter, dann höre ich, wie sie denkt:

>>Was soll ich bloß zum Frühstück machen? Ich habe keine Ahnung, was Wanda mag.<<

Dann sehe ich die beiden Bilder mit Silberrahmen. Meine Mutter vergleicht mein Bild mit mir, wie ich jetzt aussehe und das Bild meines Vaters mit Jan. Also liebt sie ihn, wie ich es mir gedacht habe. Ob diese Liebe wohl erwidert wird? Ich sehe Jan, wie er meiner Mutter einen Kuss gibt. Ob Erinnerung oder Wunschgedanke, weiß ich nicht. Aber die Farbe des Bildes ist rosa. Ich wende mich schnell anderen Stimmen zu. Das unangenehme an meinen Kräften ist, dass ich anderen jetzt keine Privatsphäre mehr lassen kann.

Ehrlich gesagt bin ich gar nicht erstaunt, dass ich Superkräfte habe. Es kommt mir ganz normal vor, nach der Geschichte, die mir meine Mutter erzählt hat. Außerdem habe ich auch schon früher ein Gefühl dafür gehabt, woran andere gerade denken. Es ist ziemlich verrückt, aber eigentlich logisch.

Ich komme mir auch nicht als zu unbedeutend vor, um auserwählt worden zu sein, wie es in vielen Superheldenfilmen der Hauptfigur geht. Ich habe schon immer insgeheim gedacht, dass ich beinahe alles besser kann als irgendjemand sonst. Gut, auserwählt ist vielleicht nicht das richtige Wort. Ich weiß ja noch nicht einmal, warum meine Mutter mir meine Kräfte zurückgegeben hat. Aber für irgendetwas braucht sie mich ja angeblich.

Als ich nach einem Aufenthalt im Bad die Küche betrete, sehe ich wieder das Bild, in dem meine Mutter Jan küsst. In High Definition. Und ohne Zweifel in der Realität, denn die beiden drehen sich verschämt weg, als sie mich bemerken. Sarah denkt laut:

>>Oh mein Gott, Wanda!<<

Die Farbe des Gedankens ist Gelb. Also irgendwie hektisch und aufgeregt. Oder aber fröhlich. Beides passt gut zu meiner Mutter.

Sie lieben sich. Jan und Sarah. Na schön. Soll sein. Ist auch schön zu wissen, dass Sarah über meinen Vater hinweg ist.

Nach einer kurzen reichlich unangenehmen Stille sage ich:

„Ich habe mit meinen Freundinnen ausgemacht, mich um 16 Uhr im Café Furraum mit ihnen zu treffen.“

„Ist gut“, sagt Sarah. „Wir müssen heute auch deine Sachen von deinen Großeltern holen. Wenn du jetzt längere Zeit mit uns zusammen sein wirst, brauchst du mehr als eine Jeans und einen pinken Pullover.“

„Wie lange denn?“

„Solange du möchtest. Als deine Mutter habe ich die Pflicht, dich zu versorgen. Du kannst auch ausziehen, wenn du einen Job hast.“

Da meldet sich Jan:

„Für unseren Plan wäre es aber praktischer, wenn du erst einmal bei uns bleibst.“

Sarah sieht ihn vorwurfsvoll an.

>>Lass ihr doch Freiraum<<, denkt sie.

„Ja“, willige ich ein. „Das wäre praktischer. Aber was genau ist der Plan?“

Jan und meine Mutter sehen sich an.

Sarah denkt:

>>Sie ist wichtig, weil sie meine Tochter ist... Jemand weiteres mit Kräften... Wir brauchen mehr... Damit die Sache ans Licht kommt...<<

„Apropos ans Licht kommen“, sage ich. „Ich will langsam mal hier raus. Es ist echt schlimm, dass es keine Fenster gibt.“

„Ich begleite dich nach draußen“, sagt Sarah schnell. „Jan muss sowieso bald zur Arbeit.“

„Was arbeitet er denn?“

„Ich bin Bauarbeiter“, antwortet Jan, während er sich den Mund mit Moos und Bananen vollstopft.

Ich kann beobachten, wie er langsam Oberarmmuskeln aufbaut.

„Das ist ja praktisch“, bemerke ich.

„Ja, aber wenn die Dinger halten sollen, brauche ich mindestens jede halbe Stunde ein Kilo Biomasse.“

„Ganz egal, was?“

„Ganz egal, was.“

Meine Mutter und ich ziehen uns an und gehen dann aus dem Haus. Heute aber steigen wir nicht ins gelbe Auto, sondern wir gehen zu Fuß die Straße entlang. Ein miefiger Geruch sagt mir, dass wir nicht allzu weit vom Fluss entfernt sein können. Ich betrachte die Straße, die ich heute zum ersten Mal bei Tageslicht sehe. Eher alte, heruntergekommene Häuser säumen eine eher alte, heruntergekommene Straße mit vielen Schlaglöchern. Also ist das Haus, in dem meine Mutter wohnt, keine Ausnahme, sondern fügt sich perfekt ins Gesamtbild. Die Fenster der Häuser sind am schlimmsten dran. Fensterscheiben sind zerschmettert, Gardinen hinuntergerissen, der Putz rundherum blättert ab. Das einzig Schöne an diesem Ort sind die vielen Wiesenblumen, die aus Asphaltspalten emporwachsen. An einer Stelle steht sogar ein ganzer Baum auf dem Gehsteig. Diese Straße ist ein typisches Bild der Innenstadt. Lamkat hat wenig Geld, ein Bürger, der es sich nicht selbst finanzieren kann, in einer schönen Wohngegend zu leben, muss hierherziehen. Und hier kann man froh sein, wenn die Wasserleitungen funktionieren.

Besonders schön ist die Straße also nicht und auch nicht sehr belebt. Und doch kann ich die Gedanken vieler Menschen hören. Sie sind vermutlich in ihren Häusern. Langsam gewöhne ich mich an den konstanten Lärmpegel in meinem Kopf. Ich glaube nicht, dass mein Radius noch größer werden wird. Ich schätze ihn auf 100 Meter.

Wir kommen zum Fluss und stellen uns auf die Brücke, über die wir gestern mit dem Auto gefahren sind. Aus diesem Grund kann ich auch meine Angst, dass sie einstürzt, überwinden.

Meine Mutter sagt nichts. Sie weiß, dass ich ihre Gedanken hören kann, also denkt sie einfach.

>>Wanda. Ich bin eine Journalistin. Ich habe gemerkt, dass es nichts nützt, einzelne Geschichten aufzudecken. Nicht, solange danach gleich alle ihre Erinnerungen daran verlieren. Also muss ich es anders machen. Ich will, dass Lamkat es erfährt. Ich will, dass jeder Bescheid weiß darüber, was die Necks die ganze Zeit über treiben, über die Kräfte und über Kortuma. Dafür brauche ich dich. Und andere. So viele verschiedene Kräfte wie nur möglich, um einen eindeutigen Beweis zu haben. Und zuerst müssen wir dafür sorgen, dass niemand es nachher wieder vergessen kann. Wir müssen den Necks die Kräfte nehmen. Das wird die Story meines Lebens, eine riesige Enthüllung. Mein Lebenswerk.<<

Also will sie nur, dass die Menschen es erfahren. Die Frage ist, was danach passieren wird. Ob sie sich dann vielleicht an den Necks rächen wollen? Ob sie uns anzweifeln werden, weil wir doch auch von dieser Familie abstammen?

„Moment einmal, wie willst du den Necks die Kräfte rauben?“

>>Dazu brauch ich dich. Zuerst dachte ich, du wärest genau wie ich mit deinen Kräften einfach nur immun gegen die der Necks. Das hätte auch schon große Vorteile gebracht. Aber du bist sogar stärker als sie. Mit anderen Worten, du könntest ihre Gedächtnisse löschen. Ihre Gedanken lesen. Und was auch immer deine dritte Kraft ist. Ich bin so gespannt, was das sein mag...<<

„Hätte ich sie nicht, hätte ich nie an meiner Welt gezweifelt und hätte dir wohl auch nicht so schnell geglaubt.“

Sarah nickt.

>>Möchtest du heute als Übung die Erinnerungen deiner Freundinnen löschen?<<

Ich schlucke. Gedächtnisse löschen? Dabei kann laut Sarah eine Menge schiefgehen. Ich stelle mir meine Freundinnen vor, wie sie mit ausdruckslosen Augen auf der Straße stehen und ein Auto naht.

„Aber das wäre das erste Mal! Ich habe keine Ahnung, wie man das macht!“

>>So schwierig ist das nicht. Du musst nur präzise sein. Und konzentriert. Wenn es sich um nur eine Person handelt, ist es noch einfacher. Aber du darfst nie Gedächtnisse löschen, wenn du deine Gefühle gerade nicht im Griff hast. Also: Du forschst im Kopf der Person nach einer bestimmten Erinnerung, an die du ganz gezielt denkst. Und dann brauchst du ein bisschen Fantasie. Ich stelle mir immer einen Hebel vor, den ich einfach umlege und damit die Erinnerung lösche. Danach solltest du so schnell wie möglich aus den Gedanken der Person verschwinden, damit du kein Unheil anrichtest.<<

„Das klingt simpel, aber gefährlich.“

>>Ist es auch.<<

„Möchtest du nicht normal mit mir reden?“

>>Wozu? Das verbraucht nur unnötig Energie.<<

Ich lache.

„Ich habe aber inzwischen gelernt, wie ich die Gedanken ausblenden kann. Du wirst auch hin und wieder mit mir reden müssen.“

>>Ooch, schade.<<

Nach einem kurzen Überlegen sage ich:

„Also, um es zusammenzufassen: Du hast 12 Jahre bei den Necks gelebt, erfahren, dass mehrere Menschen Superkräfte haben, herausgefunden, dass die Necks sich schon lange an der Stadt bereichern, dich in einen uralten Mann verliebt, der dir beigebracht hat, deine Kräfte richtig einzusetzen, bist dann geflohen, hast drei Jahre lang nach dem Mittel gesucht, das Kräfte wiederherstellt und bist mich schließlich an meinem achtzehnten Geburtstag holen gekommen, damit du dein Lebenswerk vollenden und mit mir eine Party feiern kannst. Das ist die Erklärung, warum du mein Leben lang nicht da warst.“

>>Ja, auf den Punkt gebracht, schon.<<

„Okay. Ich helfe dir.“

 

Meine Sachen zu holen hat keinerlei Schwierigkeiten bereitet. Meine Großmutter hat mich einfach in mein Zimmer gelassen, als ich gesagt habe, ich würde gern die ganzen Sachen zurückholen, die ich einmal dort vergessen hatte. Beim Verabschieden habe ich sie noch einmal umarmt, genau wie meinen Großvater. Wenn ich so darüber nachdenke, ist es gar nicht so schlimm, dass sie nicht mehr wissen, dass ich bei ihnen gewohnt habe. Wer weiß, vielleicht würden die Necks jede ihrer Erinnerungen an mich löschen, wenn die beiden die ganze Wahrheit wüssten.

Ich stehe neben meiner Mutter vorm Café. Es ist zehn vor vier. Sie kramt in ihrer Handtasche und holt eine Brieftasche hervor. Sie öffnet sie. Einige wenige Münzen klirren ihr entgegen, als verkündeten sie die Abwesenheit von großen Scheinen.

„Kein Problem“, sage ich. „Ich hab doch das Geld von Opa.“

„Doch, das ist ein Problem. Ich muss dir doch etwas zum Geburtstag schenken. Ich hab's!“

>>Ich ruf einfach Oliver an, ob er mir die Karte bringt. Er wollte sowieso heute kommen.<<

Sie nimmt ein gelbes Handy aus ihrer Tasche und wählt eine Nummer. Scheinbar meldet sich gleich jemand am anderen Ende der Leitung, denn meine Mutter antwortet schnell:

„Zieh dir das rein, Tomolli!“

Dann wartet sie kurz. Was war das eben für eine Wortwahl? Redet Sarah normalerweise so? Und was meint sie mit „Tomolli“?

„Also, ich stehe hier mit Wanda vor einem Café und... Es ist ihre Party, es kommen auch drei Freundinnen...“

Es folgt eine längere Pause, in der wohl Oliver etwas zu erzählen hat.

„Also auch im Süden nichts? Das ist aber schade.“

Sarahs Gedanken werden leicht bläulich: >>Armer Oliver. Das mit seiner Mutter...<<

„Ist es denn so offensichtlich? Hey, so oft kommt das auch wieder nicht vor, dass ich mein Geld vergesse. Komm einfach her, gut? Café Furraum, das kennst du, glaube ich. Gut. Bis dann.“

Sie legt auf und lässt das Handy wieder in ihrer Tasche verschwinden.

Kurz darauf kommen Sophia, Anna und Terri. Sie begrüßen mich mit Umarmungen und wünschen mir alles Gute zum Geburtstag. Wir setzen uns alle an einen Tisch im Freien. Auf der Insel herrscht für gewöhnlich eher heißes Wetter und auch der heutige Tag ist keine Ausnahme.

Die Kellnerin nimmt unsere Bestellungen auf. Sarah trinkt eigentartigerweise nur einen Kakao, ich nehme einen Orangensaft, Sophia vorhersehbarerweise einen schwarzen Kaffe und Terri und Anna beide Cocktails. Dann überreichen sie mir ihre Geschenke.

„Weißt du, Wanda“, sagt Terri, während sie mir ein Feuerzeug mit einer Schleife drumherum in die Hand drückt, „Ich weiß natürlich, dass du nicht rauchst. Aber ich hab dir ja von Toni erzählt, oder? Wenn du verstehst, was ich meine...“

Natürlich verstehe ich. Ich müsste nicht einmal Gedankenlesen können, damit ich es verstehe. Terri meint, ich könnte mir von Toni einige Pflanzen besorgen, die beim Rauchen laut ihren Gedanken >>die Post abgehen lassen<<. Da kommt Terri ein Gedanke:

>>Ich hoffe, Wandas Mutter merkt nicht, was abgeht.<<

Sarah und ich sehen einander wissend an und müssen uns das Lachen verkneifen.

Sophia scheint dringend etwas wissen zu wollen:

>>Wäre es unhöflich, zu fragen, warum die Party nicht stattfindet? Sie hat sich doch so darauf gefreut. Ich gebe ihr vielleicht zuerst einmal ihr Geschenk.<<

Sophia reicht mir einen rot verpackten kleinen Würfel. Ich löse das Geschenkspapier sorgfältig ab und öffne die Schachtel. Es ist ein goldenes Armband.

„Danke, das ist wirklich schön. Und Anna, kannst du das noch übertreffen?“, frage ich sie scherzhalber. Sie lacht ein bisschen.

>>Ich fürchte nicht<<, denkt sie, „Aber klar doch!“, sagt sie.

Sarah muss kichern.

Annas Geschenk ist ein Foto von Anna, Sophia, Terri, Angela und mir auf einer Party. Im Hintergrund ist sogar Toni zu sehen. Anna denkt:

>>Ich hatte eben nicht so viel Geld.<<

Anna sagt:

„Damit du dich immer an uns erinnerst.“

„Danke. Das ist echt nett. Aber ich hätte euch doch nie vergessen!“

In diesem Moment kommen unsere Getränke. Wir bestellen gleich unser Essen, während Sarah hofft, dass Oliver rechtzeitig kommt.

„Jetzt sag doch einmal, Wanda: Wo hat deine Mutter eigentlich gesteckt? Und warum hast du die Party abgesagt? Haben deine Großeltern etwa Sullotinose?“, fragt Anna.

Meine beiden anderen Freundinnen hören jetzt gespannt zu. Aus ihren Gedanken schließe ich, dass das Gerücht umgeht, meine Großeltern seien plötzlich krank geworden.

>>Vielleicht sollten wir ihnen schon jetzt die Erinnerungen löschen<<, denkt Sarah. >>Nicke, wenn du einverstanden bist: Ich übernehme Terri und Anna und du Sophia. Die Erinnerungen an deinen Wohnort, daran, dass ich verschwunden war und an das Gerücht der Krankheit meiner Schwiegereltern.<<

Ich nicke. Ich habe keine Antworten auf die Fragen meiner Freundinnen. Und das letzte, das ich will, ist, dass meine Großeltern für krank gehalten und deshalb gemieden werden. Es ist doch nicht so schwer, oder? Hat Sarah gesagt.

Sie nickt mir motivierend zu.

Schnell versuche ich, mich zu konzentrieren. Ich blende alle Stimmen um mich herum aus, auch die in meinem Kopf, außer Sophias. Ich durchsuche ihre Erinnerungen, wie Sarah es mir gesagt hat, nach den notwendigen drei. Ich lege mir einen Knopf zurecht. Wohnort auf Knopfdruck weg. Meine Mutter auf Knopfdruck weg. Sullotinose auf Knopfdruck weg. Danach versuche ich, mich wieder auf meine Mutter zu konzentrieren. Es ist, glaube ich, nichts schiefgelaufen.

„Sullotinose? Meine Schwiegereltern? Ach, redet doch keinen Unsinn. Auch sie haben den Eingriff machen lassen. Es besteht wirklich keine Gefahr, sich anzustecken“, gibt Sarah meinen Freundinnen zu verstehen.

Diese verstehen das zuerst nicht ganz, weil sie ja von dem Gerücht nichts mehr wissen, tun dann aber so, als wären sie beruhigt und speichern die Information, dass meine Großeltern nicht krank sind, ab.

Als die Kellnerin das Essen bringt, verlangt meine Mutter gleich die Rechnung.

„Einen Augenblick, bitte“, sagt die Kellnerin, bevor sie verschwindet.

>>Da kommt Oliver<<, denkt meine Mutter, während sie ihren Blick auf die Straße vor dem Café richtet.

Und tatsächlich überquert gerade ein Mann mit roten Haaren die Straße und kommt auf uns zu. Meine Mutter winkt ihm und er sieht uns. Schnellen Schrittes geht er jetzt in unsere Richtung. Vor unserem voll besetzten Tisch bleibt er stehen. Oliver Tomas, wie er leibt und lebt. Meine Freundinnen starren ihn an. Ich versuche, nicht zu starren.

Warum kann ich seine Gedanken nicht lesen?

Kapitel 6

 

 

 

Aus dieser Nähe habe ich ihn natürlich noch nie gesehen. Er ist ungefähr so groß wie ich, vielleicht ein bisschen größer, und hat ziemlich blasse Haut. Seine Nase ist so schmal, wie ich sie in Erinnerung habe und seine Augen sind auch olivgrün. Auch wenn seine Kräfte theoretisch nicht auf mich wirken können, hat er doch zumindest das Aussehen eines Hypnotiseurs. Sein Gilet und seine Fliege verstärken den Eindruck. Er trägt einen violetten Rollkragenpullover. Warum trägt er in dieser Hitze einen Rollkragenpullover? Um zu verstecken, dass er keine Narbe hat?

Um meine Freundinnen ist es geschehen. Ich lese es in ihren Gedanken: Bei ihnen wirkt die Hypnose. Sie widmen Oliver ihre ganze Aufmerksamkeit. Und nicht mir. Das ist meine Party, verdammt noch mal!

Aber hypnotisiert er sie überhaupt? Es sieht nicht danach aus. Er redet mit meiner Mutter:

„Also, Sarah, ich muss schon sagen.“

Oh, diese vertraute Stimme.

„Wirklich schändlich, dass du am Geburtstag deiner Tochter kein Geld bei dir hast. Aber du verzeihst ihr doch, oder, Wanda?“

Er hat mich noch nie gesehen und weiß trotzdem, dass ich Wanda sein muss. Kein Wunder, meine Mutter und ich teilen uns ein Gesicht.

„Nein“, sage ich, „Ich werde mein Leben lang nach Rache gieren, bis sich eines Tages eine Gelegenheit ergibt, an Sarahs vierzigsten Geburtstag zum Beispiel, es ihr auf die gleiche Weise, nur um vieles schlimmer, heimzuzahlen und einfach meine ganze Tasche zu vergessen, in der sich mein Geschenk für sie befindet. Dann wird sie für alle Ewigkeit gedemütigt sein.“

„Also bist du nicht nachtragend, Wanda? Schön. Ist kein guter Charakterzug.“

Oliver setzt sich zwischen Anna und Sophia. Keine meiner Freundinnen hat seit seiner Ankunft einen Laut von sich gegeben. Sie haben noch nicht einmal ihr Essen angerührt.

Jetzt macht meine Mutter den ersten Schritt in Richtung Unterhaltung:

„Das ist Oliver, ein Freund der Familie, der mir freundlicherweise meine Kreditkarte vorbeigebracht hat.“

Langsam beginnen Sophia und Terri, zu essen, während sie von Zeit zu Zeit verstohlene Blicke auf Oliver werfen. Und auch ich, obwohl ich eigentlich nicht schüchtern veranlagt bin, esse meinen Maiskolben. Dabei sehe ich kein einziges Mal auf, weil ich angestrengt versuche, Olivers Gedanken zu lesen. Aber es ist zwecklos. Ich komm nicht in sein Gehirn hinein.

Anna hat als Einzige den Mumm, zu sprechen:

„Ich bin Anna, das ist Sophia und das Terri. Und Wanda kennst du ja anscheinend.“

„Eigentlich nicht. Sie hat nur genauso verwuschelte Haare wie ihre Mutter.“

Ist das wirklich meine einzige hervorstechende Eigenschaft?

„Ich hab als Kind in die Steckdose gegriffen“, sage ich.

Sarah lacht. Oliver lächelt. Anna grinst ein wenig dümmlich.

„Und was ist mit deinen Haaren passiert, Oliver?“, fragt sie jetzt, „Warum drehen sie sich so schön ein?“

„Sie jagen ihrem Schwanz nach.“

Ich muss lächeln. Anna lacht. In ihren Gedanken lese ich, dass sie den Witz nicht ganz verstanden hat. Aber so einen absurden Humor hat sie nie gehabt.

Jetzt beginnt auch Terri, mit Oliver zu flirten und ich drehe mich unauffällig zu meiner Mutter, um ihr etwas ins Ohr zu flüstern:

„Warum kann ich Olivers Gedanken nicht lesen?“

Sarah kaut weiter an ihrer Pizza, während sie denkt:

>>Ich kann das auch nicht. Jetzt nicht. Bei seinem anderen Ich klappt es. Frag mich aber nicht, wieso.<<

Ach ja. Er hat ja zwei Persönlichkeiten. Ich frage mich, ob ich ihn heute noch länger sehen kann, um ihm ein paar Fragen zu stellen.

Als Oliver gerade dabei ist, zu erklären, warum die Fliege Fliege heißt, kommt die Kellnerin mit der Rechnung. Auch sie ist wie verzaubert, als sie Oliver sieht.

Sarah nimmt Oliver die Karte aus der Hand, die er ihr entgegengestreckt hat, und sagt:

„Ich zahle per Bankomat.“

Die Kellnerin zieht die Karte durch einen Schlitz und sagt dann:

„Es tut mir leid, die Karte scheint defekt zu sein. Sie müssen leider in bar bezahlen. Haben Sie das Geld, oder können Sie es schnell abheben gehen?“

„Ähm, also...“

Ich knalle den Hunderter meines Großvaters auf den Tisch.

„Ha! Ich wusste, der würde heute noch zum Einsatz kommen!“

„Zahlen Sie?“, fragt die Kellnerin.

Ich nicke.

„Wieviel macht das denn?“

„Einhundertzwölf Katlams.“

„Ups, tja... Mehr hab ich nicht...“

Oliver zieht aus seiner Hosentasche zwanzig Katlams und knallt sie auf den Tisch.

„Ha!“, äfft er mich nach.

„Das stimmt so“, sagt er, während er das Geld vom Tisch einsammelt und es der etwas verdutzten Kellnerin überreicht. Sie bedankt sich und geht.

„Kann es sein, dass auch der gute alte Furraum teurer geworden ist?“, fragt Terri.

Ich werfe einen Blick auf die Speisekarte.

„Sieht ganz so aus.“

„Das ist ja noch einmal gutgegangen“, sagt Sarah erleichtert.

>>Verdammt. Wandas Geschenk...<<

„Wollen wir noch sitzenbleiben und reden?“, frage ich meine Freundinnen.

„Ehrlich gesagt habe ich heute noch ziemlich viel zu tun“, sagt Sophia. „Ich fange heute mit der gemeinnützigen Arbeit an, also habe ich erst um neun wieder Zeit.“

Stimmt ja. Zur Party wäre sie auch erst um neun gekommen.

„Ich treffe mich gleich mit Toni“, entschuldigt sich Terri.

Nur Anna sagt mit einem Blick auf Oliver:

„Ich habe Zeit. Wir können ruhig noch reden.“

Aber Oliver steht auf und macht sich bereit zum Gehen.

„Ich muss heute auch noch etwas Wichtiges tun. Dafür brauche ich leider Sarahs und Wandas Hilfe.“

„Oh, okay. Dann gehe ich auch.“

Wir alle räumen unseren Tisch und machen uns auf den Weg. Beim Verabschieden umarme ich meine Freundinnen noch einmal, ehe sie gemeinsam zur Bushaltestelle gehen. Ihre letzten Gedanken sind alle Oliver gewidmet.

„Also“, sage ich, als sie weg sind, „Brauchst du uns wirklich, Oliver, oder wolltest du nur Anna loswerden?“

„Ich wollte nur Anna loswerden. Hat Sarah dir nicht erzählt, dass die Frauen auf mich fliegen? Ich brauche rein gar nichts zu machen, ich muss sie nicht einmal hypnotisieren.“

„Das hat sie mir erzählt, aber ich wusste das schon vorher. Du hattest eine ähnliche Wirkung, als du noch in der TV-Branche gearbeitet hast. Meine Freundinnen waren schon damals alle in dich verschossen.“

„Moment einmal, daran kannst du dich erinnern?“

„Jepp.“

Sarah sagt schnell:

„Ich vermute, sie hat auch Kräfte von ihrem Vater geerbt. Das Band war deshalb womöglich zu stark, um es vollständig zu durchtrennen.“

„Was für Kräfte?“, fragt Oliver.

„Wenn ich das wüsste...“, antworte ich.

Im Auto sitzen Oliver und ich auf der Rückbank und Sarah fährt. Langsam macht es mich wahnsinnig, dass ich Olivers Gedanken nicht lesen kann, obwohl er doch eigentlich schwächere Kräfte hat als ich.

„Woran denkst du?“, frage ich ihn schließlich.

So wie mich meine Mutter bei unserem gestrigen Wiedersehen danach gefragt hat.

Oliver dreht sich zu mir. Ganz geradheraus sagt er:

„An Hoggi und meine Mutter.“

„Wer ist Hoggi?“

„Eine alte Freundin. Sie hat bei uns gewohnt, weil ihre Eltern tot sind. Ich frage mich, was sie heute so macht.“

„Und du weißt nicht, wo deine Mutter jetzt wohnt?“

„Nein.“

„Und sie weiß auch nichts mehr über dich.“

„Ach, bitte streu mehr Salz in meine Wunden, ja?“

Oliver lächelt traurig. Ich rechtfertige mich:

„Ich mein ja nur, dass es schwierig sein könnte, sie zu finden, wenn man nur den Namen kennt. Was ist sie denn von Beruf?“

„Als ich sie zuletzt sah, war sie Prostituierte. Aber keine Angst, keine Drogenabhängige. Sie war für mich und Hoggi eine gute Mutter. Ich hoffe, sie lebt noch.“

Also kommt er aus einer wirklich sehr armen Familie.

„Und wie ist deine zweite Persönlichkeit so?“, wechsle ich das Thema.

„Genau wie die erste, nur wurden ihre Erinnerungen entnommen.“

„Wie hast du denn das geschafft?“

„Man wollte mein Gedächtnis löschen, ich hab mich selbst hypnotisiert, damit sich ein Teil meiner Persönlichkeit quasi schlafen legt und sich so schützt, dem anderen Teil wurden die Erinnerungen an meine Kräfte und an die Necks genommen und dabei ist der alte Teil irgendwie immun gegen Neckkräfte geworden.“

„Ach, deshalb kann ich deine Gedanken nicht lesen. Und wie wechselst du deine Persönlichkeit?“

„Das ist der Haken“, sagt Sarah, „Er kann das nicht selbst kontrollieren.“

„Immerhin konnte ich mir einen Schlüssel zu meinem alten Ich überlegen. Ich habe etwas genommen, dass tief in meinem Gehirn verwurzelt ist.“

„Um an den Teil seiner Persönlichkeit zu kommen, der die Erinnerungen besitzt, muss man „Zieh dir das rein, Tomolli“ sagen“, meldet sich Sarah wieder.

„Wieso das denn?“, frage ich.

„Das hat Hoggi immer zu mir gesagt“, gibt Oliver zu.

„Ach so. Und wenn man den anderen Teil will?“

„Das kann niemand kontrollieren. Er kommt einfach zum Vorschein, wann er will und bleibt so lange, bis jemand den alten Teil holt.“

„Das heißt, du musst immer Menschen, die dich kennen, um dich herumhaben, wenn du nicht das Risiko eingehen willst, alles zu vergessen.“

„Das ist mein Handicap.“

Kapitel 7

 

 

 

Oliver macht auch bei der Enthüllungssache mit. Aus diesem Grund müssen wir alle vier, ich, Oliver, Sarah und Jan in ein und demselben Haus wohnen. Das macht mir nichts aus, immerhin hat jeder ein eigenes Zimmer. Aber es ist schon irgendwie komisch, mit meiner verschollenen Mutter, ihrem neuen Freund und einem Hypnotiseur, der aber zum Glück niemanden von uns hypnotisieren kann, zusammenzuleben.

Am Tag nach meiner kleinen „Feier“ setzen wir uns alle am Morgen zusammen und reden, halten gewissermaßen einen Rat ab. Es fühlt sich aufregend an, in eine so große Sache hineingezogen worden zu sein. Aufregend, aber auch unheimlich.

Jan leitet unsere kleine Versammlung sozusagen.

„Also, Sarah, Wanda“, beginnt er, dann wirft er einen Blick auf Oliver und sagt langsam: „Zieh dir das rein, To-mol-li.“

„Keine Angst, ich bin zurzeit ich.“

Sonst könnten Sarah und ich ja auch seine Gedanken hören.

„Okay. Fangen wir mit einem Problem an. Unsere Kreditkarte wurde gesperrt. Daraus ergeben sich eigentlich zwei Probleme. Erstens, wir brauchen das Geld ziemlich dringend. Und zweitens müssen die Necks bemerkt haben, dass ihre Karte gestohlen worden ist.“

Also haben Jan und meine Mutter bei ihrer Flucht nicht nur Oliver mitgenommen.

„Vielleicht wissen sie ja nicht, wer der Dieb ist“, sagt Sarah. „Immerhin haben sie drei Jahre gebraucht, um den Diebstahl zu bemerken.“

„Aber sie wissen, dass die Karte das erste Mal von jemand anders verwendet wurde, als Oliver verschwunden ist. Dafür brauchen sie sich nur ihre Kontodaten ansehen. Und Oliver ist für sie von höchstem Interesse, da er über Wissen und Kräfte verfügt. Und die Kräfte können sich teils ja mit denen der Necks messen“, erklärt Jan.

„Danke für dein Kompliment“, sagt Oliver.

„Das war kein Kompliment, das ist einfach so. Es ist weder deine Leistung noch deine Schuld.“

„Das bedeutet“, kommt meine Mutter auf's Thema zurück, „dass sie entweder die ganze Zeit über wussten, wer im Besitz ihrer Karte ist, und nur nichts getan haben, da Oliver ihrer Meinung nach keine große Gefahr darstellt, oder dass sie das Fehlen der Karte erst gestern bemerkt haben.“

„Was bei einem unüberschaubaren Vermögen eine nicht auszuschließende Möglichkeit wäre“, sagt Oliver.

„Oder aber“, spekuliere ich, „sie haben euch drei Jahre lang einfach ein wenig ausspioniert, mithilfe der Kontodaten konnten sie verfolgen, wo ihr euch gerade aufgehalten und was ihr gemacht habt. Aber dass ihr dann nach dem... ihr wisst schon, dem Anti-Anti-Sullotinose-Eingriff-Eingriff gesucht habt, hätte sie das doch eigentlich stören müssen.“

„Naja, weit gehen mussten wir dafür nicht wirklich“, sagt meine Mutter.

Oliver kichert und Jan schaut beschämt weg.

>>Ich wollte es dir nicht sagen, aber die Salbe ist, nun ja... Ich hab sie mir auch schon bei kleineren Verletzungen gespritzt, sie wirkt echt Wunder. Ich finde die Herstellung nur ein bisschen ekelhaft und das wollte ich dir nicht zumuten. Blut von Jan. Das ist Salbe<<, erklären die Gedanken meiner Mutter.

„Oh.“

Ich greife mir an den Nacken, in den vorgestern das Gel gespritzt worden ist. Ein wenig ekele ich mich schon, aber das mit dem Blut ist natürlich die naheliegendste Lösung gewesen. Und es hat wirklich Wunder gewirkt.

Sarah sagt gleich darauf:

„Vielleicht hätte Jan es auch einfach mit seinen Kräften hinbekommen. Aber da diese Kräftebänder so langsam heilen, erschien es mir besser, gleich etwas ihm Körpereigenes an die betroffende Stelle zu transportieren. So hat es nur einen Tag gedauert.“

„Woher wusstest du denn, dass es einen Tag dauern würde, wenn ich wirklich die erste war, die eine Spritze bekommen hat?“

Gleichzeitig denkt und sagt Sarah: „Du warst die erste, die eine Spritze bekommen hat, ja. Aber du warst nicht die erste, in die Blut aus Jans Körper gelangt ist.“

„Der erste war Tiano Volfatch“, erzählt Jan.

„Ich hab letztes Jahr eine Weile in der Kantine der Firma Kekes gearbeitet, dabei habe ich mir einmal in den Finger geschnitten und aus Versehen ist etwas Blut auf ein Kuchenstück gekommen, das dann einfach trotzdem serviert wurde. Seltsam, wie niedrig die Hygienevorschriften in einer Firma sind, die Seife herstellt. Am nächsten Tag kam der Mann, der dieses Stück gegessen hatte, ganz verändert in die Arbeit. Er erzählte seinen Kollegen, er könne jetzt fühlen, was Pflanzen und Tiere fühlen. Sie hielten ihn natürlich für verrückt, aber ich habe seine Geschichten mitbekommen und sie geglaubt. Er steht heute auch auf unserer Seite, aber nur unter der Bedingung, dass seine Frau und seine zwei kleinen Söhne durch unseren Plan nicht zu Schaden kommen.“

„Würde das mit jedem passieren, der Blut von dir aufnimmt? Dass er seine Kräfte wiederbekommt?“, frage ich.

„Nein. Nicht jeder hat von seinen Eltern Kräfte vererbt bekommen. Im Grunde genommen können es eigentlich nicht mehr mehr als ein Zehntel aller Menschen sein, was wiederum etwas mit Nicholas Neck zu tun hat.“

Das bedeutet, es würden am Ende nur zehn Prozent der Bevölkerung von Lamkat über übernatürliche Kräfte verfügen. So ein Kräfteungleichgewicht kann eigentlich zu nichts Gutem führen. Aber das Bestehen der Alleinmacht der Necks natürlich auch nicht.

Die Möglichkeit, dass wir beziehungsweise meine drei Verbündeten schon länger unter Beobachtung stehen, zwingt uns dazu, schnell zu handeln, bevor es den Necks gelingt, uns auszuschalten. Und sowohl Sarah als auch Jan sind überzeugt, dass sie uns aus dem Weg räumen würden, wenn wir zu einer zu großen Gefahr für sie werden. Die Tatsache, dass sie die Kreditkarte an meinem Geburtstag gesperrt haben, bedeutet vielleicht, dass das Hinzuziehen meiner Wenigkeit für sie bereits einen Schritt zu weit gegangen ist. Womöglich wissen sie sogar, dass wir Verwandte sind.

Der Tag vergeht schleichend, da es in diesem Haus weder Lesestoff noch einen Fernseher gibt. Ich vertreibe mir die Zeit damit, mit meinen Kräften zu spielen und auszuprobieren, wie weit ich ins Gehirn anderer eindringen kann. Jan und Sarah fahren am Nachmittag weg, zur Familie Volfatch nach Hause, um auch Tianos Söhnen ihre Kräfte zurückzugeben und, wenn sie welche hat, auch deren Mutter. In ihrer Abwesenheit müssen Oliver und ich zu Hause bleiben, damit die Necks uns nicht auf der Straße finden können. Denn vor allem auf Oliver hat man es vermutlich abgesehen.

Es ist fünf Uhr. Ich sitze in der Küche am Tisch und überlege, was man aus drei Eiern, ein wenig Topfen und Sellerie Leckeres zaubern könnte. Da taucht Oliver in der Tür auf, heute trägt er weder Fliege noch Gilet. Er hat ein einfaches Sweatshirt an.

„Hallo“, sagt er, während er zum Kühlschrank geht, ihn öffnet und in die gähnende Leere blicken muss.

„Etwas anderes als das wirst du in der Küche nicht finden“, sage ich hungrig.

„Also hast du heute keine Maiskolben essen können?“, fragt er anteilnehmend.

„Nicht einmal Popcorn haben wir“, klage ich.

„Wir könnten doch einkaufen gehen“, schlägt Oliver vor.

„Ist das denn eine gute Idee? Wenn man dich doch vielleicht verfolgt?“

„Aber doch nur vielleicht. Lieber gehe ich das Risiko ein, als hier elend zu verhungern. Außerdem“, fügt er hinzu, „Glaubst du nicht, dass sie, wenn sie mich wirklich verfolgen, bereits wissen, wo wir wohnen?“

„Doch, klar. Aber ein Einbruch ist immer noch schwieriger als eine einfache Entführung. Wir haben den Heimvorteil.“

„Aber wenn ich dich zum Einkaufen mitnehme, bin ich wahrscheinlich ausreichend geschützt. Wenn man bedenkt, dass du stärker bist als gewöhnliche Necks...“

„Hey, ich war nie eine Neck und werde nie eine sein.“

„Trotzdem stammst du von ihnen ab.“

„Aber... Diese Familie behagt mir nicht. Wie sie sich schon seit hundert Jahren an anderen bereichert...“

„Das würde ich nicht sagen. Das derzeitige Familienoberhaupt, dein Halbonkel, ist der Urenkel von Nicholas, er hat ihn wahrscheinlich gar nicht mehr gekannt. Den jungen Necks bleibt eigentlich gar nichts anderes übrig, als in die Fußstapfen ihrer Vorgänger zu treten, wenn sie nicht von allen gehasst werden wollen. Sie müssen Gedächtnisse löschen, um sich selbst zu schützen, weil man sie anders natürlich für alles, was ihre Eltern getan haben, verantwortlich machen würde. Nun ja, mein Peiniger Rainer Neck, dein Großvater, war vielleicht auch selbst ein Ekel.“

„Eben! Sie begehen ja auch selbst Verbrechen, das lernen sie von ihren Eltern.“

„Ja. Aber sie tragen nicht die Schuld ihrer Vorfahren, ebensowenig wie du.“

„Ja, okay“, stöhne ich, „Danke, dass du mir moralische Werte vermittelst.“

„Gern geschehen, du hast es dringend notwendig. Aber ich kümmere mich doch gern um die armen unerfahrenen Menschen, die verloren umherirren und nach Richtig und Falsch suchen.“

„Vier Jahre mehr machen dich weiser als mich?“

„Ja, schon irgendwie. Deshalb kannst du mir glauben, wenn ich sage, dass wir hier drinnen genauso sicher sind wie draußen.“

Wir gehen also zusammen einkaufen in einen Mini-Supermarkt am Ende der heruntergekommenen Straße. Demnach entfernen wir uns nicht allzuweit vom Haus, um frische Pfirsiche für Oliver und Nudeln und Gemüse für uns beide zu kaufen.

„Wer von uns hilft aus, wenn wir zu wenig Geld haben? Löschen wir oder hypnotisieren wir?“, fragt Oliver kurz vorm Supermarkt.

„Du gehst schon im Vorhinein davon aus, dass du Menschen manipulieren musst?“

„Natürlich nur, wenn es notwendig ist. Ich will doch nur nicht verhungern.“

Ist das verwerflich? Wenn wir auf andere Weise kein Essen bekommen können? Und das könnte jetzt meine Chance sein, ihm beim Hypnotisieren zuzusehen.

„Ich würde gern sehen, wie du hypnotisierst. Deine Kräfte sind ja leider zu schwach, als dass ich sie selbst erleben könnte.“

Meine Gedanken kannst du aber auch nicht lesen.“

Irgendwie verletzt das meinen Stolz. Ich muss schnell dagegen argumentieren:

„Nein, weil sich dein Gehirn die ganze Zeit über dagegen wehrt. Meine Theorie ist nämlich, dass dein altes Selbst keineswegs immun ist gegen Neck-Kräfte. Sonst würde nicht dein unwissendes Ich unkontrollierbar durchkommen. Ich glaube, die zwei Kräfte, also deine zwei Persönlichkeiten, kämpfen gegeneinander um einen Platz in deinem Gehirn. Und die unwissende gewinnt immer wieder die Oberhand und hätte schon längst ganz gewonnen, wenn man nicht immer wieder die andere holen würde.“

Oliver bleibt stehen. Wir sind jetzt direkt vorm Eingang des Supermarktes. Eine Sekunde lang starrt er ins Leere. Dann zuckt er mit den Schultern.

„Möglich wär's.“

Wir kaufen das Notwendige ein und müssen dabei aufgrund von etwas Geld, das Oliver aus Jans Zimmer geklaut hat (seine Begründung ist gewesen, dass es sowieso hauptsächlich Jans Schuld ist, dass wir so wenig Essbares zu Hause haben), unsere Kräfte zum Glück nicht einsetzen. Das heißt, das Gedankenlesen natürlich schon. Das kann ich ja nicht einfach abstellen.

Als wir etwa 100 Meter vom Haus entfernt sind, höre ich jemanden, der sehr laut und kräftig an Oliver denkt. Es ist eine Frau. Sie erinnert sich an einen etwa zehn Jahre alten Oliver. Ihre Gedanken sind ängstlich, aber sie ist überzeugt, dass sie das Richtige tut. Dann taucht auch der Name Neck auf.

>>Morgen schon... Ich hoffe, ich nütze ihnen etwas... Mein Gott, was habe ich nur getan... Die Necks werden mich auch umbringen wollen... Sie werden mir meine Kräfte nehmen...<<

Sie ist ziemlich durcheinander, aber sie hat sich anscheinend fest vorgenommen, uns vor etwas zu warnen. Vor allem Oliver ist ihr wichtig. In ihren Gedanken sehe ich unser Haus.

„Oliver“, sage ich, „Ich höre die Gedanken einer Frau, die ängstlich vor unserem Haus steht. Sie scheint, um dich besorgt zu sein. Hast du eine Idee, wer das sein könnte?“

„Äh, nö... Ich glaube nicht, dass...“

Ihm scheint etwas eingefallen zu sein, das er nicht aussprechen möchte.

„Wir sollten uns beeilen. Sie will uns etwas sagen, das ich nicht aus ihren Gedanken filtern kann, weil sie so aufgeregt ist.“

„Gut.“

Wir beschleunigen beide unseren Gang und bald sehen wir eine Frau auf der Straße, die aufgebracht auf und ab geht. Das muss sie sein. Als sie Oliver sieht, kommt sie auf ihn zugelaufen und umarmt ihn.

„Ich bin so froh, dass dir nichts passiert ist!“

Sie sagt die Wahrheit. Sie mag Oliver wirklich gerne, fast schon auf mütterliche Art. Ihre Erinnerungen an ihn sind aber keine schönen. Sie erinnert sich daran, dass sie ihn zehn Jahre lang psychisch und physisch als Ärztin betreuen hat müssen, während er eingesperrt gewesen ist und man Experimente mit seinen Kräften durchgeführt hat. Jetzt sehe ich, wo Oliver zehn Jahre seines Lebens verbracht hat. Es ist ein dunkler Ort ohne Fenster, in dem ihm immer wieder Blut, Speichel und Gehirngewebe entnommen worden sind. Nur seinen Nacken hat man in Ruhe lassen müssen, damit man ihm nicht aus Versehen die Kräfte nimmt. Die Frau namens Laetitia Konner ist seine einzige Gesprächspartnerin gewesen. Sie hat so viel Mitleid mit dem Kind gehabt, aber sie hat ihm nicht helfen können. Zumindest ihre Kräfte hat sie an ihm einsetzen dürfen, sie hat ihm durch ihre übernatürlich beruhigenden Worte psychisch geholfen. Aber das ist ihr eigentlich nie genug gewesen, sie war froh, als er endlich geflohen ist. Und jetzt hat sie Angst um ihn.

Weil die Necks ihn morgen töten wollen. Genauer gesagt, mein Halbonkel.

Also sind sie jetzt wirklich hinter ihm her. Aber warum jetzt? Was war der Auslöser?

>>Wer zum Teufel ist das?<<, höre ich Olivers Gedanken.

Oh nein. Sein anderes Ich. Wie reagiert es auf die fremde Frau? Oliver schiebt seine ehemalige Ärztin weg.

„Ich kenne Sie nicht! Was ist los?“

Laetitia ist verwirrt:

>>Ich dachte, sie konnten ihm sein Gedächtnis nicht löschen... Sonst wären sie ja auch nicht hinter ihm her...<<

„Zieh dir das rein, Tomolli“, sage ich schnell.

Olivers Gedanken verschwinden und er sagt:

„Laetitia? Was machst du denn hier? Bist du auch geflohen? Warte - hast du dein Gedächtnis noch?“

Laetitia lächelt.

>>Ah, jetzt erinnert er sich.<<

 

 

Kapitel 8

 

 

 

Laetitias Familie lebt wie viele andere Angestellte der Necks, die nützliche Kräfte haben, seit Generationen bei ihnen. Deshalb ist es ein großer Schritt gewesen, von dort wegzugehen. Und ein noch größerer, zu fliehen, also mit einem vollständigen Gedächtnis zu gehen. Und es ist außerdem verdammt schwierig gewesen. Es war überhaupt nur dadurch möglich, dass sie zwei Kräfte, psychisches Heilen und menschliche Bindungen festigen, hat und die Necks dadurch ihre Gedanken nicht lesen können.

Aber Laetitia hat durch Zufall herausgefunden, dass Oliver zu einer Gefahrenquelle geworden ist. Und darum morgen vernichtet werden muss.

Der Grund dafür bin ich.

Nachdem Laetitia das erzählt hat, nimmt sie sich einen der Pfirsiche, die wir gerade gekauft haben und macht es sich auf der Matratze in Olivers Zimmer bequem.

„Darf ich?“, fragt sie.

„Klar“, sagt Oliver.

Sie nimmt einen großen Bissen. Ihr Kopf ist voller nervöser Gedanken, aber sie denkt nicht darüber nach, was ich, Wanda Meier, mit der Sache zu tun habe. Ich wurde doch erst vorgestern eingweiht!

Oliver und ich setzen uns neben sie auf die Matratze. Ich muss es wissen:

„Warum bin ich der Grund?“, platzt es aus meinem Mund.

Laetitia sieht mich etwas erschrocken an.

>>Wanda Meier<<, denkt sie.

Aber woher kennt sie meinen Namen?

Sie sagt:

„Lange Zeit über wussten die Necks nichts von deinen überlegenen Kräften, weil du ja einen Eingriff hinter dir hast. Aber es ist einem von Olivers Beschattern aufgefallen, als du gesagt hast, du könntest dich noch an seine Fernsehauftritte erinnern. Sie haben dich als Wanda Meier identifiziert, deine Großeltern befragt, die zum Glück nichts von deinen Kräften gewusst haben und herausgefunden, dass dir deine Kräfte theoretisch genommen worden sind. Da wussten sie, dass du ihnen überlegen sein musst. Und dass eine Verbindung zwischen dir und Oliver für sie höchst gefährlich sein könnte.“

„Das heißt, eigentlich sind sie auch hinter Wanda her“, schließt Oliver daraus.

„Ja. Und auch hinter mir.“

„Aber vor mir haben sie wahrscheinlich Angst“, sage ich.

„Ich meine, wenn sie doch wissen, dass ich größere Kräfte habe als sie...“

„Die du aber nicht verwenden kannst“, beendet Laetitia meinen Gedanken.

„Aber ich kann sie verwenden. Ich weiß, woran du denkst.“

„Woran?“

„Im Moment suchst du nach einem Gedanken, auf den ich nicht durch Raten kommen würde. Oh, du magst weiße Blumen am liebsten?“

Laetitia sieht mich verblüfft an.

„Wie hast du deine Kräfte zurückbekommen? Und warum sind das Neck-Kräfte?“

„Es sind Neck-Kräfte, weil ich von ihnen abstamme.“

„Das werden wir dir alles einmal erzählen, wenn du bei unserem Plan mitmachst, die Necks auffliegen zu lassen“, bietet Oliver ihr an.

>>Die Ängste der Necks waren begründet<<, denkt Laetitia.

>>Ich habe meinen Job verloren und werde mein Leben lang verfolgt werden, wenn die Necks an der Macht bleiben. Sollten sie nicht besser zum Aufhören gezwungen werden?<<

„Ich mache mit“, entscheidet sich Laetitia.

Gut. Eine mehr. Sie meint sogar, sie hat Kräfte.

Plötzlich höre ich etwas Bedrohliches. Jemand in hundert Meter Entfernung hat es auf Laetitia abgesehen. Er überquert gerade mit dem Auto die Brücke, die hier ganz in der Nähe steht. Wir haben wenig Zeit, bis er hier ist.

„Wir müssen weg!“, schreie ich panisch.

„Es kommt jemand, der Laetitia töten will!“

„Scheiße“, sagt Oliver, „Kommt mit!“

Wir ziehen uns in Windeseile Jacken über und gehen zur Vordertür hinaus. Dabei fällt mir auf dem Boden vor der Tür ein Brief auf, der an Jan gerichtet ist. Ich hebe ihn auf und stecke ihn in meine Tasche.

Wir treten auf die Straße und sehen das Auto kommen. Es rast richtig auf uns zu. Wie sollen wir bitte jetzt noch fliehen? In den Gedanken des Insassens sehe ich, dass er eine Pistole trägt.

Wir sind am Arsch!

„Lösch sein Gedächtnis!“, fordert Oliver mich auf, „Ich kann nichts machen, ich kenne ihn, er hat gleich starke Kräfte wie ich!“

Ich versuche, mich zu konzentrieren. Ich versuche es wirklich. Aber ich finde in seinem Kopf den Auftrag, Laetitia umzubringen, nicht.

„Ich kann mich nicht konzentrieren, wenn ein Auto mit einem Killer auf mich zurast!“, sage ich nervös.

Das Auto bleibt dreißig Meter vor uns stehen.

„Besser“, sage ich und beruhige mich ein bisschen.

Doch dann steigt der Typ aus, sagt „Scheißkarre!“ und rennt mit gezückter Pistole auf uns zu. Laetitia, auf die er es ja abgesehen hat, bekommt Todesangst und rennt davon. Oliver und ich folgen ihr, so schnell wir können. Wir haben sie bald überholt, da sie nicht mehr die jüngste ist, und ziehen sie an ihren Händen mit uns. Auf keinen Fall darf der Typ nahe genug an uns herankommen, um zu schießen.

„Lösch endlich sein Gedächtnis!“, sagt Oliver außer Atem.

„Es geht gerade nicht!“

„Und wann geht es?“

„Wenn ich nicht gerade vor jemandem mit einer Pistole flüchten muss!“

„Pech gehabt, er kommt nämlich näher!“

Er hat Recht, der Killer kommt näher. Seine Kondition ist wohl um vieles besser als unsere, wobei Oliver und ich alleine wahrscheinlich keine Probleme hätten, zu entkommen. Aber natürlich können wir Laetitia nicht zurücklassen.

Ich versuche wieder, in seinem Gehirn nach der richtigen Information zum Löschen zu suchen. Ich will nicht mein Leben lang Schuldgefühle haben, weil ich sein ganzes Gedächtnis gelöscht habe, als es auch anders ging. Doch da schießt der Mann auf Laetitia und trifft. Sie stößt einen Schmerzensschrei aus und bricht zusammen. Mein Mitleid mit dem Mann ist zu Ende. Er ist bewiesenerweise ein Mörder.

Jetzt zielt er mit seiner Waffe auf Oliver, der stehengeblieben ist. Ich habe keine Zeit, sein Gedächtnis zu löschen, bevor er abdrückt. Die Kugel ist schon in der Luft und bahnt sich ihren Weg bis zu Oliver.

Nein! Nein, das kann ich nicht zulassen! Die Kugel soll stoppen! Einfach stehenbleiben in der Luft und dann klirrend zu Boden fallen!

Ich bin ziemlich erstaunt, als sie dann genau das tut.

Oliver, der anscheinend gerade mit seinem Tod gerechnet hat, entfährt ein lautes:

„Was zur Hölle?“

Auch Laetitia, die mit einer Wunde an der Schulter am Boden liegt, sieht erleichtert auf und fragt:

„Was ist passiert?“

Egal, was passiert ist, es kann auf jeden Fall wieder passieren. Also versuche ich es. Ich lasse unserem Verfolger, der genauso erstaunt wie ich stehengeblieben ist, die Pistole aus der Hand fallen, mehr noch, ich lasse sie zu mir herüberschweben. Es ist mir unbegreiflich, wie das funktioniert, aber die Pistole folgt meinem Willen und schmiegt sich in meine Hand. Es fühlt sich fast an, als hätte ein unsichtbarer Arm sie zu mir gezogen. Ich richte sie auf den Mann, der gerade versucht hat, uns damit zu erschießen und sage:

„Du kommst mit uns mit und stehst von nun an auf unserer Seite, ist das klar? Hat man dich nicht darüber informiert, dass ich mächtigere Kräfte habe als die Necks?“

Seine Gedanken sagen mir, dass er furchtbare Angst vor mir hat. Gut so. Er wird es nicht wagen, zu versuchen, mir etwas zu tun. Oder zu fliehen. Wie bei den Necks, nur, dass ich stärker bin.

Er nickt und zieht sich seine schwarze Kopfbedeckung aus. Ohne den Schatten, der vorher sein Gesicht verdeckt hat, kann ich erkennen, dass der Mann nicht viel älter als ich sein kann. Er hat dunkle Haare und ein nur wenig furchteinflößendes Gesicht mit großen, schwarzen Augen.

„Komm her!“, ruf ich ihm zu, „Und hilf uns, Laetitia ins Haus zu bringen!“

Er geht langsam auf uns zu. Ich lasse die Waffe sinken, denn er hat nicht vor, wegzulaufen. Oliver, der höchstwahrscheinlich noch immer perplex ist, hat genug Geistesgegenwart, Laetitia am Oberkörper hochzuheben. Ich helfe ihm dabei und der Dunkelhaarige nimmt Laetitias Beine. So versuchen wir, sie so schnell und vorsichtig wie möglich nach Hause zu tragen. Hinter uns bildet sich eine dicke Blutspur. Zuhause angekommen legen wir die Verwundete auf den Küchentisch, der sowieso leer geblieben ist, und Oliver sieht nach, ob wir Salbe haben, während ich meine Mutter anrufe. Der Dunkelhaarige hat sich auf einen Stuhl gesetzt und beobachtet uns dabei. Meine Mutter meint, sie und Jan sind schon auf dem Heimweg, aber wir müssten noch etwas von Jans Blut im Gefrierfach haben. Schnell zerkleinert es Oliver, für ein Auftauen ist keine Zeit, da Laetitia schon das Bewusstsein verloren hat und immer noch stark blutet.

„Jetzt wären deine Kräfte mal nützlich, Tim“, bemerkt Oliver, indem er die zerkleinerte Salbe in die Wunde streut.

Tim zuckt mit den Schultern.

„Aber sie hat nun einmal zwei Kräfte.“

„Was kannst du denn Besonderes?“, frage ich Tim.

Ein bisschen erschrocken darüber, dass ich mit ihm spreche, antwortet er:

„Ich kann im Gehirn für den Befehl einer Blutüberproduktion sorgen, bei der alle Reserven des Körpers aufgebraucht werden, sodass ohne irgendein Druckablassen zuerst Bluthochdruck ensteht und dann die Adern platzen.“

„Das klingt ja nett“, sage ich sarkastisch, „Hast du das auch schon einmal gesehen? Wie bei jemandem die Adern platzen, weil du es wolltest?“

„Nicht, weil ich es wollte. Weil Kurt Neck und sein Vater es wollten, zur Abschreckung.“

„Zur Abschreckung!?“

„Bevor und nachdem Oliver eingesetzt wurde, haben die beiden ein anderes Mittel zur Überzeugung gebraucht.“

„Nenne mir ein Beispiel.“

„Gleich am nächsten Tag, nachdem Oliver abgehauen ist, habe ich den übrigen Angestellten zeigen müssen, was passiert, wenn sie versuchen, wegzulaufen. Verena Feuerwerk hat daraufhin weiter die Nachrichten für uns moderiert.“

„Aber... Du kannst doch den Menschen mit Kräften nichts anhaben.“

„Es war ja auch nur eine Demonstration der Grausamkeit, die jedem droht. Denn sie können unsere Gedanken lesen und wissen, was wir vorhaben. Sie könnten sogar unser Gehirn ausschalten.“

„Laetitia war die einzige mit Kräften, die denen der Necks ebenbürtig waren. Naja, sie und deine Mutter“, mischt Oliver sich ins Gespräch, der noch immer Laetitias Wunde behandelt.

„Wieviele sind sie eigentlich zur Zeit?“, frage ich.

Tim muss kurz überlegen.

„Es gibt Kurt Neck, das Familienoberhaupt, seine ziemlich alte Tante Sophia, seine Mutter Inora und seine Frau Pastilla, die allerdings keine Kräfte haben, seinen fünfzehnjährigen Sohn Michal und seine Tochter Lila.“

Also mein Halbonkel, meine Großtante, mein Halbcousin und meine Halbcousine haben Neck-Kräfte.

„So, fertig. Es heilt schon“, sagt Oliver erleichtert.

„Bleibt jetzt die Kugel für immer in ihrem Körper?“, frage ich ihn.

„Ja, ich hatte nicht genug Mut, sie rauszunehmen.“

„Hauptsache, sie wird wieder gesund.“

„Da hast du ja einmal Recht.“

Oliver lächelt mich an. Ich lächele kurz zurück und ziehe mir die Jacke aus, weil es mir im Haus langsam zu heiß wird. Tims Gedanken verraten mir, dass ich auf ihn durchaus hübsch wirke. Ich fühle mich geschmeichelt und zwinkere ihm zu. Dann frage ich ihn und Oliver, ob ich ihnen auch die Jacken abnehmen soll. Sie geben sie mir und ich trage sie in den Flur, um sie an einen Kleiderständer zu hängen. In diesem Moment kommen Jan und Sarah nach Hause, zumindest merke ich an Sarahs Gedanken, dass sie im Auto angefahren kommen. Der Brief! Ich hole in aus meiner Jackentasche und begutachte ihn. Er hat ein dunkelblaues Siegel, das einen Stern zeigt. Das einzige, was auf dem Umschlag steht, ist „an Jan Kott“. Wer würde Jan Briefe schreiben? Er hat keine lebenden Verwandten, seine Freunde können nur Angestellte der Necks sein. Oder hat der Brief etwa etwas mit seinem Geheimnis zu tun? Ich hänge die Jacken an den Haken und gehe geradewegs in mein Zimmer. Ich kann nicht anders. Ich muss den Brief öffnen.

In meinem Zimmer löse ich sorgfältig das Siegel des Briefes. Einerseits ist es eigenartig, dass der Brief ein Siegel hat, andererseits ist es eigenartig, dass heute überhaupt noch Briefe geschrieben werden. Sind dem Absender die Telefonleitungen nicht sicher genug?

Ich schaffe es, ohne das Siegel zu brechen. Vorsichtig nehme ich den Brief hinaus und lese ihn mir durch:

Mein lieber Jan,

Ich bedaure es sehr, dass du das Haus der Necks verlassen hast. Andererseits hoffe ich, dass du mir mehr über die Familie Meier erzählen kannst. Ich glaube, dass eine gewisse Sarah dir sehr wichtig ist. Habe ich Recht?

Beste Grüße und iss diesen Brief, R. L.

Einerseits ist nicht wirklich etwas im Brieftext enthalten, das eindeutig verdächtig ist, andererseits erinnert mich der Ton an den eines Superschurken. Und die Anweisung, den Brief zu essen, macht auf mich auch nicht den Eindruck einer normalen Nachricht.

Wer ist R. L.?

Kapitel 9

 

 

 

Ich klebe das Siegel wieder zu und lege den Brief in Jans Zimmer. Ich habe mir vorgenommen, ihn vorerst im Hinterkopf zu behalten.

In der Küche ist Oliver gerade dabei, das Blut aufzuwischen. Tim sitzt noch immer am selben Platz.

„Also, Tim“, beginne ich ein Gespräch, „Weißt du, was wir vorhaben?“

„Oliver hat es mir erzählt.“

„Bist du dafür?“

Er nickt. Auch seine Gedanken sagen mir, dass er die Necks nicht besonders mag. Andererseits hat er auch Angst, dass ich noch viel schlimmer werden könnte.

„Hey, nein, ich werde dir nie drohen“, beteuere ich.

>>Das hast du bereits.<<

„Aber da hast du uns gerade umbringen wollen. Das war Selbstverteidigung.“

>>Also nur aus Selbstverteidigung<<, denkt er.

Er mag es nicht, dass er seine Gedanken nicht verstecken kann. Er hat Angst, mich zornig zu machen.

„Versuch nicht, sie zu verstecken. Deine Gedanken machen mir nichts aus.“

„Wanda, du klingst, als würdest du Selbstgespräche führen“, sagt Oliver.

„Ach, halt deine Klappe und wisch weiter Blut.“

„Nicht nötig, ich bin fertig. Wo sollen wir Laetitia jetzt hinlegen?“

Insgesamt haben wir fünf Matratzen zur Verfügung. Eine in meinem, eine in Olivers, eine in Sarahs und zwei in Jans Zimmer. Also beschließen wir, die Patientin in letzteres zu tragen. Nachdem wir sie gut zugedeckt haben, gehen wir leise aus dem Zimmer.

„Ich höre es, sobald sie aufwacht“, sage ich.

„Dann entschuldige ich mich bei ihr“, sagt Tim zu Oliver, der ihm das anscheinend zuvor aufgetragen hat.

„Ist wohl besser so, für die Gruppendynamik.“

>>Dabei war es nicht meine Idee, sie zu töten. Ich hab ja nichts gegen sie.<<

„Hast du schon viele Menschen getötet?“, frage ich Tim.

In seinem Kopf tauchen Bilder von blauhäutigen Menschen auf, denen Blut aus den Augen und anderen Körperöffnungen rinnt.

„So um die zehn.“

„Wie alt bist du denn?“

„Neunzehn.“

„Um da mitzuhalten müsste ich in diesem Lebensjahr noch zehn Menschen den Garaus machen.“

„Sehr witzig“, meint Oliver sarkastisch.

Er und Tim beginnen, zu kochen, während ich die blutverschmierte Jacke von Laetitia zu säubern versuche. Mit sauberen Oberteilen kann ich ihr natürlich dienen, aber Jacke habe ich nur eine.

Jan und Sarah kommen nach Hause. Das Essen steht schon auf dem Tisch, die Blutflecken auf der Jacke und dem Fußboden sind beseitigt und ich erlebe das eigenartigste Abendessen meines Lebens. Da sind die Menschen, mit denen ich erst seit kurzem zusammenlebe und die Superkräfte haben, da ist der schweigsame Ex-Killer, der Angst vor mir hat und da ist das Bewusstsein, dass wir eine angeschossene ältere Frau zu Hause haben, die schon einmal die Psychiaterin eines Versuchskaninchens gewesen ist, das mit am Tisch sitzt. Nicht gerade als Familienidyll zu bezeichnen.

Sarah überreicht mir nach dem Essen, als wir noch alle am Tisch sitzen, ein Geschenk.

>>Dein Geburtstagsgeschenk.<<

In der gelb eingepackten Schachtel liegt ein violettes Haarband. Ich setze es auf.

„Danke, Sarah“, sage ich in meinem liebenswürdigsten Tonfall.

>>Gern geschehen.<<

„Es hilft zwar nicht wirklich gegen die Wuschelhaare, aber immerhin ist es violett“, meint Oliver zum Geschenk.

Tim scheint es überhaupt nicht zu interessieren. Aber wieso sollte es das auch? Er hat Wichtigeres im Kopf.

Jan räumt gerade das Geschirr weg, als ich ihm sage, dass ein Brief für ihn gekommen sei. Er wird blass und fragt:

„Wo ist er?“

„In deinem Zimmer. Dort ist auch Laetitia, wenn du kurz nach ihr sehen könntest...“

„Kein Problem.“

Schon ist er verschwunden.

„Wie ist es bei euch heute so gelaufen?“, frage ich meine Mutter.

„Och“, sie antwortet laut, damit es auch Oliver hören kann, „Ganz gut. Tianos Söhne haben jetzt vermutlich ihre Kräfte wieder, und von seiner Frau wissen wir noch nichts. Es dauert halt einen Tag... Aber euer Tag muss viel spannender gewesen sein. Immerhin haben wir jetzt zwei weitere Verbündete, ohne überhaupt zu suchen begonnen zu haben.“

Tim denkt an das, was heute passiert ist. Aus seiner Perspektive ist es ein ganz normaler Tag gewesen, bis er losgeschickt worden ist, um Laetitia zu töten. Er hatte überhaupt nicht damit gerechnet, heute von den Necks loszukommen und stattdessen beim Plan einer telekinesefähigen Achtzehnjährigen mitzumachen.

„Du kannst Telekinese?!“, fragt mich Sarah aufgeregt.

Statt zu nicken, ziehe ich mir ohne meine Hände zu benutzen das Haarband vom Kopf und lege es dann wieder an. Okay, nicht ohne meine Hände zu benutzen. Ohne meine sichtbaren Hände zu benutzen.

Sarah ist hin und weg. So eine außergewöhnliche Kraft, so etwas Praktisches, so etwas Nützliches! Was man, auch das schämt sie sich nicht, zu denken, noch dazu hervorragend als Beweis für das Existieren von Superkräften vorführen kann.

 

Laetitia hat sich bereits nach einer Nacht erholt. Sarah, Oliver, Jan, ich und sogar Tim haben uns beraten, was wir jetzt am besten machen. Wir sind zu dem Schluss gekommen, dass die Necks zwar unsere Adresse haben, wir aber unser Haus trotzdem nicht aufgeben wollen, aus folgenden Gründen:

Erstens: Solange ich da bin, können sie uns so gut wie nichts anhaben, da ich es merke, wenn sie kommen und ich meine Kräfte gegen sie und ihre Arbeiter alle einsetzen kann.

Zweitens: Jetzt überlegen sie wahrscheinlich auch gerade, was sie am besten tun sollten, da Tim nicht zurückgekommen ist. Sie fragen sich, was passiert ist und wenn wir nicht fliehen, werden sie die Lage vermutlich erst unter die Lupe nehmen wollen.

Drittens: Wir haben keine andere Bleibe.

Langsam vermisse ich meine Großeltern. Es sind drei Tage vergangen, seitdem mich meine Mutter geholt hat. Ich fange an, mich zu fragen, was passiert, wenn wir die Enthüllung hinter uns gebracht haben. Momentan sieht es nämlich ganz danach aus, als wären wir den Necks zwar nicht zahlenmäßig, aber kräftemäßig überlegen. Also kann es nicht mehr allzu lange dauern, bis alles vorbei ist, oder? Und dann? Wenn dann alle von den Kräften wissen, was wird dann passieren? Was werde ich danach machen? Kann ich zu meinen Großeltern zurück und mein Leben normal weiterleben? Wird meine Mutter danach in meinem Leben bleiben? Das alles frage ich mich.

Aber noch ist es nicht so weit. Diese Entscheidungen liegen noch vor mir. Jetzt muss ich mich auf andere Sachen konzentrieren.

Durch das momentane Zögern der Necks haben wir etwas Zeit gewonnen. Unser nächste Schritt wird es sein, ihnen ihre Kräfte zu nehmen, oder sie zumindest dazu zu bringen, sie nicht einzusetzen. Es ist mir eingefallen, dass ich einfach ihre Erinnerungen an die Macht ihrer Familie und ihre Kräfte löschen könnte. Aber diesen Vorschlag habe ich den anderen noch nicht gemacht.

Ich möchte meine andere Großmutter besuchen. Ich weiß nicht wieso, aber ich denke einfach, dass jetzt, in dieser Art Waffenstillstand, ein guter Zeitpunkt dafür ist. Das Problem ist nur, dass nicht alle von uns auf einmal in Sarahs Auto passen. Und wir wollen uns nicht trennen. Jan wäre der einzige, der sich selbst beschützen könnte, aber gerade er will unbedingt mitkommen.

Also nehmen wir den Bus.

Kapitel 10

 

 

 

Es ist wie eine Art Auszeit für uns vom ganzen Planen und Überlegen. Ein Tag Ferien, sozusagen. Wir fahren meine Oma besuchen.

Auf dem Hinweg im Bus bemerke ich, wie Laetitia, vollends genesen, ihre Kräfte ein wenig auf Tim wirken lässt, um sein Zugehörigkeitsgefühl zu uns zu stärken. Sie zwinkert mir zu und ich bemerke eine leichte Veränderung in Tims Gedanken, wenn er über dieses Team nachdenkt. Er macht nicht mehr nur aus Angst mit, sondern er teilt jetzt unseren Verbesserungswillen.

Ist das schlecht von Laetitia? Sie meint es nur gut und es würde ihr auch nie einfallen, das Band zwischen uns zu stark zu machen. Oder Tim sogar dazu zu bringen, sich in mich zu verlieben. Aber trotzdem... Naja, es ist eben ihre Persönlichkeit. So wie ich das Gedankenlesen nicht abstellen kann, kann sie nicht auhören, sich ein bisschen einzumischen.

Nachdem wir ausgestiegen sind, haben wir noch ein paar Minuten zu gehen. Der Stadtteil, in dem meine Großmutter jetzt wohnt, ist ein wenig ansehnlicher als ihr vorheriger Wohnsitz. Sie hat wohl wieder ein bisschen Geld verdienen können.

Im Gehen bemerke ich die Gedanken eines Spions der Necks, der uns unauffällig folgen will. Aber da er nichts anderes vorhat, ist er mir einigermaßen egal.

„Wir haben einen Beobachter“, teile ich den anderen mit.

„Lass ihn beobachten“, sagt Jan.

„Nichts Neues“, sagt Oliver.

„Wir besuchen nur meine Mutter“, sagt Sarah.

Laetitia und Tim haben schon ein bisschen mehr Angst.

„Ach, was kann er schon groß machen, gegen uns alle?“, ermutige ich die beiden.

„Was mir mehr Sorgen bereitet, ist, wie meine Großmutter auf diesen Besuch von ihrer Tochter und fünf Fremden reagieren wird.“

>>Warum besuchen wir sie überhaupt?<<, denkt Tim.

Eine gute Frage. Eigentlich nur, weil ich es so will. Ich habe gewissermaßen auf natürliche Art und Weise das Kommando über unser kleines Grüppchen von Aufdeckern gewonnen, als Tim hinzugekommen ist. Er hat noch immer ein wenig Angst vor meinen Kräften, Sarah respektiert mich und steht zu mir, weil ich ihre Tochter bin, Laetitia hat kein Problem mit mir und sie findet mich ganz nett. Jan und Oliver aber... Ich kann ihre Gedanken eben nicht lesen. Ich glaube, Jan macht mit, weil Sarah mitmacht und Oliver... vielleicht aus Rache? Aus Gerechtigkeitssinn? Aus dem Gefühl, Jan und Sarah etwas schuldig zu sein? Jedenfalls habe ich von ihm nicht den Eindruck, dass er mich als inoffiziellen Anführer akzeptiert. Und ich kann ihn verstehen, ich würde mich auch nicht unbedingt als Anführer sehen, nur weil ich die stärksten Kräfte habe. Ich bin zwar überzeugt davon, dass ich sehr schlau bin, aber ich habe noch immer die wenigste Lebenserfahrung von uns.

Meine Großmutter will ich besuchen, weil ich wissen möchte, was Jan mit ihr zu tun hat. Sarah hat mir, wenn ich mich recht erinnere, erzählt, dass er sie gerne treffen und ihr eine Frage stellen würde. Und ich möchte endlich wissen, was Jan zu verbergen hat. Sonst kann ich ihm nie ganz vertrauen.

Meine wohl überlegte Antwort auf Tims Gedanken lautet:

„Weil ich sie noch nie getroffen habe. Und ich möchte sie auf unserer Seite wissen, weil auch sie einen wichtigen Beitrag zur Geschichte der Necks erzählen kann. Immerhin war sie mal Dienstmädchen dort.“

Wir kommen zum Wohnhaus. Es hat eine braun-grüne Färbung, doch ob das so vorgesehen ist oder ob die Mauer mit der Zeit einfach aus freien Stücken diese Farbe angenommen hat, kann ich nicht beurteilen. Ich höre viele Stimmen im Gebäude, kann aber nicht sagen, welche die meiner Großmutter ist. Ich drücke auf den Knopf neben dem Namen „Maria Meier“. Die Tür öffnet sich sofort und wir treten ein.

>>Appartement Nummer zwei<<, denkt Sarah.

 

Also wohnt sie im Erdgeschoß. Aber kein Wunder, sie ist jetzt 65 und dieses Haus hat keinen Aufzug. Ich klopfe an Appartement Nummer zwei. Hundegebell ertönt, gefolgt von einer alten Frau, die laut sagt

„Aus, Rufus!“ und in einem gräulichen Rot denkt

>>Hab ich das Essen nicht erst für drei Uhr bestellt?<<

Auf meiner Uhr ist es Viertel nach Drei und meine Uhr geht bestimmt nicht falsch. Meine Großmutter öffnet die Tür und verzieht ihr Gesicht, als sie Sarah sieht. Wie wohl die Beziehung der beiden sein mag?

„Was machst du denn hier?“, fragt meine Großmutter überrascht.

Auf einen Schlag fallen ihr und meiner Mutter alle Erinnerungen an einander ein. Die Schadenfreude meiner Großmutter, als sie bemerkt hat, dass Sarah ihre Kräfte behalten hatte. Wie sie versucht hat, sie zu beschützen, indem sie in ihrer Gegenwart immer an etwas anderes als die Necks dachte.

Wie Sarah deshalb nie eine Erklärung erhalten hat, immer nur Gedankenfetzen und kurze Bilder.

Wie Maria stolz gewesen ist, als Sarah Journalistin geworden ist.

Wie der Alkohol ihre Beziehung zerstört hat und der Kontakt zwischen ihnen abgebrochen ist.

Wie Sarah sie nach drei Jahren suchen gekommen ist, sie gefunden hat und ihr erzählt hat, dass sie mit ihren Kräften gerade ihren Mann getötet hatte und dass sie ihre Tochter, also mich, daraufhin verlassen hat müssen und Maria ihr die Adresse der Necks gegeben hat.

Wie Maria nach einem von Sarah bezahlten Aufenthalt in der Entzugsklinik in eine neue Wohnung gezogen ist und bereut hat, nicht zur Hochzeit ihrer Tochter gekommen zu sein und ihre Enkelin nie gesehen zu haben.

Wie Sarah nach 12 Jahren von den Necks zurückgekommen ist und erneut ihre Mutter suchen hat müssen, um ihr zu erzählen, was sie vorhat.

Wie sie dann bei Maria aufgetaucht ist und Maria meinte, Sarahs Vorhaben sei zu gefährlich.

Wie sie seitdem nicht mehr miteinander geredet haben.

„Kommt doch herein“, sagt meine Großmutter mit einem Blick auf mich.

Sie erkennt sofort, wer ich bin. Nicht nur mir fällt also die Ähnlichkeit zwischen Sarah und mir auf. Wir alle quetschen uns durch die Tür in die für sieben Menschen und einen Hund eigentlich fast zu kleine Wohnung und werden dann aufgefordert, uns zu setzen. Oliver und mir gelingt es, sich auf dem engen Sofa zu platzieren, Sarah meint, sie könne stehen und bietet Laetitia einen Sitzplatz auf dem Couchsessel an, meine Großmutter holt sich einen Stuhl aus der Küche. Jan, Sarah und Tim stehen. Ich merke, wie Jan das Gesicht meiner Großmutter äußerst gründlich betrachtet. Auch sie hat eine riesengroße Ähnlichkeit mit mir und Sarah, aber ihr Gesicht ist unübersehbar breiter und es wirkt freundlicher. Sie lässt ihren Blick über uns schweifen und in ihrem Kopf bilden sich so einige Fragen.

„Bist du Wanda?“, fragt sie mich.

Sie will nur eine Bestätigung. Ich nicke.

Sie sagt:

„Also wenn ich mir so ansehe, was ihr für ein Haufen Leute seid, denke ich, Sarah hat wirklich die Absicht, ihren Plan durchzuziehen. Ihr seid also die Beispiele für Kräfte.“

>>Das kommt also dabei heraus, wenn mein ehemaliger Arbeitgeber mit mir schläft und sich danach nicht die Mühe macht, mein Gedächtnis zu löschen: Meine kleine Sarah forscht nach ihrer Herkunft und will seine Familie ruinieren.<<

Der Gedanke hat ein bitteres, fast braunes Dunkelrot. Mir gefällt diese Art, zu denken, ein wenig, auch wenn sie verbittert ist. Dämlich ist sie nicht und es existieren auch noch leidenschaftliche Gefühle wie Zorn unter der Oberfläche.

„Aber warum seid ihr hier? Ich habe keine Kräfte, um euch zu helfen.“

Meine Mutter antwortet:

„Du hast keine Kräfte und wahrscheinlich hat man dir auch zwischendurch immer wieder Erinnerungen genommen, aber du bist doch eingeweiht. Du kannst uns helfen, die Menschen zu überzeugen, indem du ihnen von deiner Zeit in der Villa erzählst.“

Maria denkt:

>>So viel weiß ich auch nicht über die Necks. Nur das, was Rainer mir erzählt hat. Aber sollte ich ihnen nicht vielleicht doch helfen? Ich habe Sarah lange nicht mehr gesehen...<<

Woraufhin Sarah hoffnungsvoll gelb denkt:

>>Will sie sich etwa mit mir versöhnen?<<

„Ja, bitte“, ergreife ich die Initiative und beantworte die Frage in Marias Gedanken. Ich möchte nicht nur, dass das Verhältnis zwischen meiner Mutter und ihr wieder besser wird, sondern ich möchte sie selbst kennenlernen. Und ich möchte, dass sie mich kennenlernt.

Alle Augen richten sich auf mich. Gut so.

Ich fahre fort:

„Hilf uns. Ich weiß, dass du es als zu gefährlich empfunden hast, aber wir haben jetzt einen entscheidenden Vorteil gegenüber den Necks. Die Gefahr, dass etwas schiefgeht, ist ziemlich gering. Natürlich ist es riskant, aber...“

„Was für ein Vorteil?“, fragt Maria ehrlich interessiert.

Sarah sagt langsam, als würde sie die Spannung auskosten (was sie tut):

„Mama, Wanda ist stärker als die Necks. Sie hat auch von ihrem Vater eine Kraft vererbt bekommen.“

>>Also stimmt es wirklich<<, denkt sich unser Spion vor der Tür, >>Ich muss das sofort melden, um ihnen eine Flucht möglich zu machen.<<

Schnell geht er aus dem Haus, um nicht von uns abgefangen zu werden. An ihn habe ich überhaupt nicht mehr gedacht. Sind wir zu unvorsichtig gewesen? Andererseits hat der Spion an Flucht gedacht. Ich glaube also nicht, dass wir unseren Vorteil überschätzen.

„Die Necks wollen fliehen!“, sagt Sarah schnell, „Unser Spion hat das gerade gedacht!“

„Keine Angst“, sagt Jan, „Sie wissen, dass sie nicht von dieser Insel hinunter können.“

Was soll das jetzt wieder bedeuten? Zerfallen sie etwa zu Staub, wenn sie sich mehr als einen Kilometer von Lamkat entfernen?

„Wieso nicht?“, fragt Oliver.

„Weil das Festland ziemlich verwüstet ist.“

Jan meint anscheinend, das bedürfe keiner weiteren Erklärung, denn er redet einfach weiter:

„ Aber was ich fragen wollte, Maria, wurden Sie vielleicht nach ihrer Großmutter benannt?“

Das ist es, was er fragen wollte? Wenn es ihm so wichtig ist, muss es etwas mit seiner Vergangenheit zu tun haben, vielleicht hat er meine Ururgroßmutter ja gekannt.

„Ja, wieso?“ ist die etwas verwirrte Antwort meiner Großmutter. Mit so einer Frage hat sie nicht gerechnet.

„Ich hatte da eine Vermutung. Sarah, kommst du einmal kurz mit?“

Er nimmt Sarahs Hand und zieht sie mit sich aus der Wohnung. Eigentlich müsste er sich darüber im Klaren sein, dass auch ich dem Gespräch, das jetzt folgt, zuhören werde. Er müsste wissen, dass ich lausche, oder?

In Sarahs Gedanken verfolge ich das Geschehen weiter. Die beiden bleiben im Flur stehen. Jan küsst Sarah, was ich wohl oder übel aushalten muss, wenn ich wissen will, wie es weitergeht. Trotzdem verziehe ich mein Gesicht.

„Wanda? Was machen die beiden denn?“, fragt Oliver leicht belustigt.

Aber ich gebe keine Antwort, sondern konzentriere mich auf das, was Jan sagt: Sarah habe ihn schon am ersten Tag an Maria erinnert. Kein Wunder, dass er sich in sie verliebt habe, er wäre schließlich schon einmal mit ihrer Urgroßmutter verlobt gewesen.

Also hat er meine Ururgroßmutter wirklich gekannt. Kann man sich denn in die Urenkelin einer ehemaligen Verlobten verlieben, nur, weil sie ihre Urenkelin ist? Was weiß ich schon. Gerade ich habe in diesem Bereich wenig Erfahrung.

Jan sagt, dass damals jemand dazwischen gekommen wäre, nämlich Nicholas Neck. Dass er jetzt ausgerechnet die Tochter von Maria Meier und Rainer Neck getroffen hätte, das sei ein ziemlich großer Zufall. Als die Küsse wieder beginnen, verschwinde ich schnell aus Sarahs Kopf. Ich habe genug mitbekommen. Sarahs Gedanken waren überrascht, aber durchaus positiv. Sie glaubt wohl ans Schicksal.

Im Raum, in dem ich mich befinde, hat sich in der Zwischenzeit eisernes Schweigen ausgebreitet. Keiner weiß, was er sagen soll, da ja niemand die Gastgeberin auch nur irgendwie kennt. Ich bin die einzige, die eine Verbindung zu ihr hat, wenn auch nur eine blutsverwandtschaftliche. Laetitia sieht sich schon die ganze Zeit im Raum um, Tim starrt auf seine Füße und Oliver hat seine Augen auf mich gerichtet, als würde er erwarten, gleich einen Lagebericht über das Gespräch von draußen von mir zu bekommen.

Da hat er sich aber geschnitten, dieses Thema geht ihn nichts an.

Ich bemerke, dass auch meine Großmutter mich beobachtet. In ihren Gedanken ruft sie mir förmlich zu:

>>Sag bloß, du hast auch Neck-Kräfte! Schön zu sehen, wie für sie alles den Bach runtergeht, nur weil ein Neck sich nicht so wirklich an das Partnerschaftsmodell Ehe gehalten hat. Was ist denn deine andere Kraft?<<

Ihre Gedanken sind orange geworden. Ich muss schon sagen, eine interessante Frau. Ich verstehe meinen Neck-Großvater ein bisschen...

„Ich würde dir die Frage beantworten, wenn du sie mir normal stellen würdest“, sage ich ihr mit einem Lächeln.

„Kein Problem: Was kannst du außer Gedankenlesen und Gedächtnisse löschen?“, fragt sie, sodass es jeder hören kann.

So kann Oliver sich seine Bemerkungen zum Thema Selbstgespräch sparen.

Wie schon bei Sarah beschließe ich, ihr meine dritte Kraft einfach zu zeigen, anstatt sie lange zu beschreiben. Und zwar anhand eines Opfers. Meine Wahl fällt auf Oliver. Mit meinen unsichtbaren Greiforganen, die ich niemals irgendjemand anderem realgetreu beschreiben könnte, fasse ich die Fliege, die mein Sitznachbar heute trägt und ziehe sie mit einem Ruck hinunter. Es ist nur eine ansteckbare, wie Oliver mir einmal verraten hat. Oliver ist ein wenig verwundert, als sie zu meiner Großmutter hinüberschwebt, die sie sich aus der Luft fängt.

>>Telekinese?!<<

Ich nicke. Meine Großmutter staunt.

>>Das könnte in der Tat ein Vorteil sein.<<

„Bekomm ich meine Fliege wieder, Frau Meier?“, fragt Oliver, der sich wieder gefasst hat, in charmantem Ton.

Maria wirft sie in die Luft und sagt:

„Fang, Wanda!“

Meine Hände reagieren reflexartig und schaffen es, die Fliege aufzufangen, bevor sie überhaupt in die Nähe des Bodens kommt.

Da höre ich Olivers Gedanken:

>>Wo bin ich hier?<<

Ich müsste lachen, wenn es nicht so traurig wäre, dass mal wieder das Ich ohne Erinnerungen die Oberhand gewonnen hat. Das Ich, das überhaupt keine Ahnung hat, was das andere Ich so denkt oder dass es überhaupt existiert. Auch wenn es interessant wäre, ihn so zu lassen, sage ich sicherheitshalber schnell:

„Zieh dir das rein, Tomolli!“

Dann stecke ich ihm mit meiner Telekinese die Fliege wieder an.

Kapitel 11

 

 

 

Das ist mir noch nie passiert. Es ist mir in letzter Zeit echt wichtig geworden, was ein gewisser junger Mann von mir denkt. Und dieser Mann ist nicht Tim.

Ich weiß nicht, ob man es meine erste Liebe nennen kann. Meine Gefühle für ihn sind bestimmt nicht besonders stark. Aber es gibt sie. Womöglich entwickeln sie sich noch, wer weiß?

Was mich wurmt ist das Wieso. Wieso fühle ich für ihn mehr als für andere? Mittlerweile mag ich ihn schon ungefähr gleich gern wie meine Mutter. Schon klar, ich habe von Anfang an viel von ihm gehalten, aber das... Das verstehe ich nicht.

Ich werde Oliver nie ganz verstehen, wenn ich seine Gedanken nicht lesen kann.

Zum ersten Mal habe ich es an dem Abend bemerkt, als wir gerade meine Großmutter besucht hatten. Wir hatten sie auf unsere Seite bringen können und ihr versprochen, den Kontakt auch nach der Enthüllung zu halten. Auf dem Nachhauseweg sind wir alle ein bisschen müde gewesen, Sarah hat sich im Bus neben Jan gesetzt und ihren Kopf auf seine Schulter gelegt, ich hab mich meiner Mutter gegenüber niedergelassen und Tim hat sich einfach, ohne sich etwas dabei zu denken, neben mich gesetzt. Und erst als er das gemacht hat, habe ich bemerkt, dass ich darauf gehofft hatte, Oliver würde sich wieder an meine Seite setzen. Der aber ging völlig unbekümmert an uns vorbei zum nächsten Sitzplatz. Das ist fast das Schlimmste gewesen: Zu wissen, dass er sich nicht so sehr für mich interessiert, wie ich es von anderen jungen Männern gewohnt bin. Sogar Tim findet mich anziehend. Aber natürlich gerade Oliver nicht.

Oder bin ich überhaupt nur an ihm interessiert, weil er nicht an mir interessiert ist? Spätestens bei diesem Gedanken muss ich beschließen, meine Überlegungen in diese Richtung fürs erste auf Eis zu legen. Ich will nicht enden wie die Hauptfigur in einer Teeniekomödie.

Ich will jetzt über andere Dinge nachdenken. Dinge von größerer Bedeutung.

Mein Wissen über Jan ist noch immer denkbar eingeschränkt. Er hat ein Geheimnis, korrespondiert mit einem gewissen R.L., er ist mit meiner Ururgroßmutter verlobt gewesen und kennt die Necks wie seine Westentasche, weil er von Anfang an bei ihnen gewesen ist. Könnte es eigentlich zu Problemen führen, wenn ich nicht mehr über ihn weiß, bis wir unser kleines Abenteuer beendet haben? Danach kann ich ihn doch theoretisch immer noch fragen. Ich kann es einfach verschieben. Und das sollte ich wohl auch.

Gestern haben Jan, Sarah und Laetitia, also die ältere Generation, die alle gleich stark oder in Jans Fall stärker als die Necks sind, versucht, unsere Verfolger abzuschütteln, um sich unbeobachtet im Medienzentrum umzusehen. Von dort aus, wo Sarah Jahre lang gearbeitet hat, wollen wir das Unternehmen Aufklärung starten. Währenddessen sind die jungen Menschen, die Risikofaktoren, die leicht gekidnappt werden können, zu Hause geblieben. Und das unter meinem Schutz. Doch etwas ist passiert, wir wissen alle nicht, was – bis heute sind weder Jan noch Sarah noch Laetitia wiedergekommen.

Was für eine Kacke.

Weder eine Nachricht noch irgendein Lebenszeichen. Man wollte uns noch nicht einmal erpressen. Ich habe eine Scheißangst um meine Mutter und auch Jan und Laetitia sind mir nicht egal. Was sollen wir nur tun?

Es ist jetzt schon Mittag. Oliver duscht gerade, Tim isst eine von mir zubereitete Pfanne nach „Was eben noch so im Kühlschrank ist“ - Art. Und ich gehe aufgeregt in meinem Zimmer auf und ab. Mein Gehirn durchdenkt schon seit gestern Abend alle möglichen Szenarien.

Sie könnten bei meiner Großmutter vorbeigeschaut haben und aus irgendwelchen Gründen sind sie aufgehalten worden.

Sie könnten überrascht und gefangen genommen worden sein.

Sie könnten längst tot sein.

Ich tendiere zur zweiten Möglichkeit. Doch um meine Gedanken lesende Mutter zu überraschen, braucht man wohl zumindest gleich starke Kräfte. Sofort denke ich an Jan oder Laetitia. Aber Laetitia kann keinen Verrat begangen haben. Ich habe ihre Gedanken die ganze Zeit über lesen können, sie mag uns und steht auf unserer Seite. Zum Teil auch deshalb, weil wir ihr Leben gerettet haben.

Jan jedoch könnte ich alles zutrauen. Obwohl, nur weil ich seine Gedanken nicht lesen kann? So weit ist es schon mit mir gekommen, dass ich Personen mit dieser Eigenschaft automatisch verdächtige? Jan liebt doch meine Mutter, soviel ich weiß. Ich muss zumindest versuchen, ihm zu vertrauen.

Wenn es kein Verrat gewesen ist, muss es ein Neck gewesen sein. Mit einer Waffe, die er vermutlich auf meine Mutter gehalten hat; so wäre Jan dann automatisch mitgekommen und Laetitia aus Angst ebenso.

Soviel zum Thema „entscheidender Vorteil auf unserer Seite“. Wenn Sarah irgendetwas passiert, wie soll ich es dann ihrer Mutter erklären?

Wir müssen irgendetwas tun.

Da kommt Oliver in mein Zimmer und sagt:

„Wanda, wir müssen irgendetwas tun.“

Viel Kleidung trägt er nicht. Kann er sich nicht etwas überziehen? Dass er gerade duschen war, gibt ihm nicht das Recht, nur mit Unterhose und T-Shirt bekleidet mein Zimmer zu betreten.

Wieder verletzt es meinen Stolz, dass es ihm überhaupt nichts ausmacht, was ich von ihm denke. Aber so etwas würde ich mir nie anmerken lassen.

„Ich überlege seit gestern“, sage ich, „Aber ich komme immer wieder zum Ergebnis, dass ich keine Ahnung habe.“

„Dass du so etwas zugeben würdest...“

„Wenn es doch stimmt. Schließlich wissen wir nicht einmal, ob sie nicht vielleicht schon tot sind. Oder hast du einen Plan, was wir jetzt am besten machen?“

„Ich bin mir ziemlich sicher, dass sie noch am Leben sind. Was würde es den Necks bringen, sie zu töten, wenn du doch die eigentliche Gefahr für sie darstellst? Sie wollen niemand anderen töten als dich.“

Oh oh. Es behagt mir nicht, aber da könnte er Recht haben. Wenn ich die Gefahrenquelle bin...

„Klingt logisch. Das bedeutet dann aber, Sarah, Jan und Laetitia sind Köder für mich. Wenn ich nicht will, dass sie sterben, soll ich das wohl an ihrer Stelle tun. Soll ich?“

Nicht, dass ich das in Erwägung ziehe. Mein Lebenswillen ist stark wie eh und je. Ich will nur wissen, ob zumindest das Oliver etwas ausmachen würde.

„Wozu das denn? Klar, das wäre der gewünschte Ausgang für die Necks, wenn du dich opfern würdest. Aber wie sollen wir denn ohne dich den Plan vollenden? Oder überhaupt erst einen entwerfen?“

Er hält mich also nicht für nutzlos. Eine eigenartige Art der Freude steigt in mir hoch, ich könnte beinahe sagen, ich bin glücklich. Dabei ist es nur normal, dass man niemandem rät, zu sterben.

So etwas ist mir wirklich noch nie passiert.

„Wir brauchen auch für eine Rettungsaktion einen Plan. Wenn wir es schaffen, uns einen auszudenken, der wirklich Chancen hat, gut auszugehen, dann muss ich wohl nicht draufgehen. Und wenn wir den Necks dabei gleich die Kräfte nehmen könnten...“

„Umso besser“, sagt Oliver schnell, während er sich seine Hose anzieht,

„Aber auch sehr unwahrscheinlich. Keiner von uns weiß, wie man das macht.“

„Doch“, sage ich. Tim hört uns vor meiner Zimmertür zu. Er weiß, was man beim Eingriff beachten muss.

„Tim denkt gerade, dass er es weiß.“

>>Erwischt<<, denkt Tim. >>Wie weit weg muss man sein, damit sie es nicht hört?<<

„Ein Meter Abstand mit einer Tür dazwischen reicht nicht. Ich habe einen Radius von 100 Metern. Komm rein.“

Tim betritt den Raum. Es ist ihm ein bisschen unangenehm, in das Zimmer einer Frau zu gehen. Ach, was ist nur mit Oliver? Warum kann er nicht so sein wie Tim?

„Du weißt, wie man den Eingriff macht?“, fragt Oliver.

„Hast du denn schon einmal operiert, oder weißt du nur die Theorie?“, frage ich.

Seine Gedanken sagen, zweiteres sei der Fall.

„Er weiß nur die Theorie“, beantworte ich mir und Oliver meine Frage selbst.

„Darf ich auch normal für mich sprechen?“, fragt Tim ein bisschen genervt.

„Natürlich, tut mir leid. Ich wollte es nur etwas beschleunigen.“

Ich werde versuchen, seine Gedanken in Zukunft nicht mehr für ihn auszusprechen. Da sehe ich, wie Oliver sich mal wieder ins Fäustchen lacht. Er lacht für meinen Geschmack viel zu oft über mich.

„Okay, also: Gehen wir davon aus, dass die älteren von den Necks verschleppt wurden. Wohin wird man sie gebracht haben?“

„In die Villa“, sagen Tim und Oliver gleichzeitig.

Oliver fügt hinzu:

„Aber es wäre Wahnsinn, zu versuchen, sie von dort zu holen. Ich bin nur bedingt gegen die Kräfte der Necks immun, Tim gar nicht. Und Wanda, allein schaffst du das auch nicht. Selbst mit Telekinese. Um dich zu töten, reicht ein Moment deiner Unachtsamkeit.“

„Wir waren zu unvorsichtig. Die Necks wissen jetzt genau, wie du aussiehst und wieviele wir sind“, meint Tim.

>>Das dachte ich von Anfang an.<<

„Wir wollten damit bewirken, dass sie denken, dass wir so mächtig sind, dass es uns nichts ausmacht, wenn sie uns ausspionieren. Ich gebe zu, es ist ein bisschen nach hinten losgegangen. Jetzt haben sie Angst, alles zu verlieren und setzen alles daran, sich zu schützen“, erkläre ich.

„Aber das ist jetzt gerade vollkommen egal“, sagt Oliver, „Viel wichtiger sind Laetitia, Sarah und Jan.“

In Olivers Augen wohl in dieser Reihenfolge. Laetitia muss für ihn lange eine Art Familienersatz gewesen sein.

Da kommt mir ein Gedanke. Auch wenn die Necks keine ziemlich nette Familie sind, gehören sie doch irgendwie zusammen, oder? Sie haben bestimmt sogar sehr starke Familienbande.

„Es wäre Wahnsinn, in die Villa zu gehen, denn bei einem Einbruch hätten die Necks den Heimvorteil. Einfacher ist...“

„Eine Entführung“, erinnert sich Oliver.

An dem Abend, als Laetitia und Tim zu uns gekommen sind, hatten wir vorher ein ähnliches Gespräch geführt.

„Das wäre umsetzbar. Sie entführen jemanden aus unseren Reihen, wir einen aus ihren und dann tauschen wir einfach“, sagt Oliver.

„Mit der Bedingung, dass sie sich stillschweigend die Kräfte nehmen lassen. Dafür lassen wir ihnen das Gedächtnis und die Freiheit“, sagt Tim.

„Glaubst du, sie würden sich auf so einen Deal einlassen?“, frage ich ihn.

„Wenn ein Familienmitglied bei jemand gefährlicherem als ihnen ist, dann ja.“

 

 

Kapitel 12

 

 

 

Das sehe ich als ein Kompliment von Tim. Ich bin gefährlich. Mächtig, irgendwie. Ein gutes Gefühl. Doch ich bin innerlich ein wenig zerrissen, was meine Macht angeht. Ich bin erst achtzehn und mein Verstand sagt mir, dass ich noch nicht wissen kann, wie ich mit ihr umgehen soll. Aber meinen Willen habe ich schon immer gerne durchgesetzt.

„Was für ein Familienmitglied schwebt euch vor?“, frage ich die beiden jungen Männer.

„Lila“, sagen beide gleichzeitig.

„Sie ist zehn Jahre alt, also die Jüngste“, begründet Oliver.

„Ich weiß, wie wir sie aus dem sicheren Haus hinausbekommen“, sagt Tim.

Ich lese es in seinen Gedanken: Lila ist ein riesiger Fan eines Popsängers namens Adalbert Meming. Er musste sogar schon einmal ein Livekonzert für sie in der Villa geben.

„Das ist gut, das ist sehr gut. Ihre Eltern würden sie momentan wahrscheinlich nicht ohne Grund aus dem Haus lassen. Wir brauchen also zuerst diesen Sänger. Der... wie soll er sie aus der Villa bringen?“

Fragend sehe ich Oliver an.

„Was für ein Sänger? Du kannst dich nicht einfach in Gedanken mit jemandem absprechen und erwarten, dass ich mich auskenne, Wanda.“

„Tut mir leid, Oliver.“

Ich frage mich manchmal, warum er immer meinen Namen sagt, wenn er mit mir redet.

„Ich meine Adalbert Meming, von dem Lila ein Fan ist. Sind jetzt alle Fragen geklärt?“

„Ja, danke. Und du willst, dass er sie aus der Villa holt?“

„Ja, irgendwie sollte das doch gehen.“

„Nur sie?“

„Wenn möglich.“

„Ich glaube, das wird nicht funktionieren. Dazu müsste sie von zu Hause abhauen und bestimmt würde ihr das nicht gelingen, selbst wenn sie es versuchte.“

„Dann sagen wir, es dürfen auch ihre Eltern oder Bodyguards oder was auch immer dabei sein. Die können wir schon von ihr trennen.“

„Vielleicht ein Konzert?“, sagt Tim.

„Ein Konzert von Adalbert Meming, ja. Aber es muss ein großes sein. Wenn es nicht so wichtig wäre, würde die kleine Lila wohl nicht genug quengeln“, sagt Oliver.

„Aber wir dürfen den Sänger unter keinen Umständen dazu überreden, zumindest nicht so, dass er weiß, dass wir es sind. Sonst denkt er womöglich beim Konzert daran und die Necks würden sich sofort aus dem Staub machen“, gebe ich zu bedenken.

„Wir dürfen ihn jetzt auch nicht offensichtlich suchen, wenn ich an unsere Verfolger denke“, fügt Oliver hinzu.

„Und ihr solltet vor allem mich zu Hause lassen“, sagt Tim.

„Und am besten jetzt aufhören, mit mir darüber zu reden. Wanda sollte mir das Gedächtnis löschen.“

Oliver wirft mir einen Blick zu und ich weiß, dass er dasselbe denkt wie ich. Tim ist der einzige, dessen Gedanken den Necks alles verraten könnten.

Doch bei dem Gedanken, einen Teil seines Gedächtnisses zu verlieren, wird ihm ein wenig bang.

„Hab bitte keine Angst, ich kann das. Ich kann dir sogar die Erinnerung daran lassen, dass ich dir aus wichtigen Gründen das Gedächtnis gelöscht habe und du damit einverstanden warst.“

So kann ich ihn ein bisschen beruhigen.

Dabei frage ich mich, ob ich mir auch selbst das Gedächtnis löschen könnte. Einerseits kann es nicht gehen, weil ich ja gleich starke Kräfte habe wie ich selbst. Andererseits hat es auch Oliver geschafft, sich selbst zu hypnotisieren. Aber eigentlich ist es egal, bis jetzt gibt es nichts, an das ich mich nicht erinnern will.

„Los geht’s, bringen wir es hinter uns“, seufzt Tim.

„Okay, ich fange jetzt an.“

Ich bin in Tims Gedächtnis und suche nach dem Namen Adalbert Meming und dem Plan von einer Entführung. Knopfdruck, weg.

Schnell verschwinde ich aus seinem Denkapparat.

„Wie fühlst du dich?“, frage ich ihn.

„Du hast gerade mein Gedächtnis gelöscht, oder?“

Ich nicke.

„Kannst du mir irgendwann sagen, wieso?“

„Ja, klar. Ich sage es dir sobald wie möglich. Bis dahin belausche Oliver und mich nicht und versuche nicht, uns irgendwie auf die Schliche zu kommen.“

„Ich verstehe. Soll ich gleich gehen?“

„Ja, bitte. Geh in dein Zimmer.“

Ich lächle ihn entschuldigend an.

„Du nimmst das ja ziemlich gefasst“, bemerkt Oliver, als Tim gerade in der Tür steht.

Er zuckt nur mit den Schultern und geht. In seinen Gedanken sagt er: >>Es war ja meine Entscheidung. Wahrscheinlich lebe ich so sogar sicherer.<<

Ich bin schon wieder allein mit Oliver. Das wird in nächster Zeit wohl noch öfter so sein.

„Also gut. Wie sollen wir das Konzert gestalten?“, fragt Oliver.

Ich entgegne:

„Wichtiger ist, dass wir unser Ziel nicht aus den Augen verlieren. Eigentlich haben wir es ja nicht auf Lila abgesehen.“

Meine Gedanken scheinen sich im Kreis zu drehen. Ich versuche sie zu ordnen, indem ich sie ausspreche:

„So dumm sind die Necks nicht, dass sie hinter einem plötzlichen Konzert nicht uns vermuten würden. Sicher sollen sie sich nicht sein, aber sie sollten ein bisschen Angst haben. Dann bringen sie vermutlich die ganze Familie, damit niemand schutzlos zuhause gelassen wird.“

„Aber dann doch bestimmt auch die Gefangenen. Sie könnten doch glauben, dass wir mit dem Konzert nur ein Ablenkungsmanöver für unseren Einbruch in ihre Villa geplant haben.“

„Ja, also wenn, dann kommen alle. Stark bewaffnet, mit allen möglichen Fluchtwegen im Kopf. Dann müssen wir es nur noch irgendwie schaffen, Lila von ihnen wegzuholen, am besten... holt der Sänger sie auf die Bühne!“

„Eine Entführung mit hunderten von Zeugen? Klingt gut.“

Ich verdrehe die Augen.

„Im Notfall könnte ich ein oder zwei Gedächtnisse löschen.“

„Nein, ich meine, dass das wirklich gut klingt. Wir haben die Necks, bewaffnet, mit einigen ihrer Bediensteten, wir haben Jan, Sarah, Laetitia, dich, mich und Tim, den wir dort ja irgendwie hinschaffen können, an einem Ort. An einem öffentlichen Ort mit Bühne, bei einem Konzert, das im Fernsehen übertragen wird. Wenn wir auch noch Tiano Volfatch plus Anhang dazuholen, ist alles bereit für eine Sensation.“

„Naja“, sage ich, „nicht ganz. Wenn wir uns nicht genau überlegen, was wir sagen sollen, wird uns niemand glauben. Ja, vielleicht werden sie uns das mit den Superkräften gerade noch so abkaufen. Aber für das, was die Necks getan haben, brauchen wir Beweise.“

„Die hat Sarah sicher schon alle in ihrem Kopf.“

„Genug, um die Zuschauer zu überzeugen?“

„Ich hoffe es. Im Notfall könntest du ein oder zwei Gedächtnisse löchen.“

„Aber...“

„Jetzt fällt dir aber nichts mehr ein. Komm, es ist doch einen Versuch wert...“

Er lächelt mich an. Mir ist Oliver Tomas nach wie vor ein Rätsel. Doch wie könnte ich nein sagen? Er hat schon Recht. Wenn schon mal so eine Gelegenheit da ist...

„Wir versuchen es, wenn wir das zumindest mit meiner Mutter noch vorher bereden können.“

„Wann willst du das denn machen?“

„Wenn sie beim Konzert nahe genug an mir dran ist, dass ich mit ihr reden kann, muss sie ein einfaches Ja oder Nein denken.“

„Na gut.“

In diesem Moment knurrt sein Magen ziemlich laut. Meiner macht es ihm gleich nach. Ich muss lachen. Oliver lächelt nur und meint:

„Ich frag mich, was die beiden miteinander zu bereden haben.“

Dann beschließen wir, in die Küche zu gehen, um erst einmal etwas in den Bauch zu bekommen.

 

 

Kapitel 13

 

 

 

Wenn ich es mir so überlege, hat Oliver in seinem Leben ziemlich viel durchgemacht. Er wurde als Kind entführt und entwurzelt, indem man die Erinnerungen an ihn gelöscht hat, wurde danach ein ganzes Jahrzehnt in einem kleinen Raum ohne Fenster mit wenig Ablenkung gefangen gehalten und hat während dieser Zeit auch von Laetitia psychisch betreut werden müssen. Erst vor drei Jahren kam er aus dem Keller, musste für die Necks arbeiten und konnte dann mithilfe meiner Mutter fliehen. Drei Jahre lang sucht er jetzt schon seine alte Familie, wobei er auch nicht weiß, wer sein Vater ist, und er wird immer wieder von aufdringlichen Frauen belästigt.

Dieser Hypnotiseur sitzt nun vor mir am Tisch und imitiert Tierstimmen, während er Pfirsiche, angeblich sein Lieblingsessen, in sich hineinstopft. An seinem Benehmen habe ich bis jetzt keine Spur von irgendeiner psychischen Zerrissenheit feststellen können. Bis auf die gespaltene Persönlichkeit und den eigenartigen Humor vielleicht.

Und ich bin in ihn verliebt? Das ist der erste Mann, zu dem ich mich hingezogen fühle? Ich komme mir gerade wie die Pointe eines Witzes vor. Vor allem, weil meine Liebe nicht auf Gegenseitigkeit beruht.

„Wie schmeckt's?“, frage ich.

Er brüllt wie ein Löwe und es hört sich wirklich danach an. Wieso kann er das so verdammt gut?

„Sehr gut, danke. Und dir, Wanda?“

Da ist schon wieder mein Name.

„Auch gut, danke der Nachfrage. Aber als du die Essgeräusche von Schweinen nachgemacht hast, hat mir das doch den Appetit ein wenig... Naja, das kommt jedenfalls eigenartig rüber.“

„Ich hab jedes Recht, eigenartig zu sein. Ich habe zwei Persönlichkeiten.“

„Wenn du so ganz normal redest, bist du aber nicht eigenartig.“

„Mist. Viel...leicht...wennn...ick.....sooo...re...deee?“

Ich verziehe keine Miene.

„Das...kannn...ick...a...uch“, sage ich bloß und nehme einen großen Bissen von meinem Brot.

Er nickt.

„Ja, in der Tat, du bist ein Naturtalent, Wanda.“

Einen Moment lang sind wir beide still. Tim geht gerade ins Badezimmer. Schnell verschwinde ich aus seinen Gedanken, er muss auf die Toilette.

„Kann ich dich was Persönliches fragen?“, frage ich Oliver.

„Normalerweise fragst du mich das vorher nicht.“

„Äh, ja...“

Es gibt viele Dinge, die ich an ihm nicht verstehe. Das größte Rätsel sind mir aber seine Beweggründe dafür, so eifrig bei der geplanten Bloßstellung der Necks dabei zu sein.

„Warum machst du bei dieser Sache hier mit? Und frag mich jetzt nicht, welche Sache, du weißt bestimmt, was ich meine.“

„Tu ich das?“

„Ja, das tust du.“

Er beißt von seinem Pfirsisch ab.

Schmatzend sagt er: „Für eine ehrliche Antwort muss ich ein bisschen nachdenken. Warte kurz, kannst du mal den Pfirsisch halten?“

Ich halte ihn mit meiner Telekinese neben seinem Mund in der Luft und Oliver legt sich die Hände auf den Kopf.

„Ja, also... Erstens, ich mag Jan und Sarah. Und ich schulde ihnen was. Zweitens, die Necks sind eigentlich diejenigen, die mein Leben ruiniert haben und ich will nicht, dass das auch jemand anderem passiert. Und drittens, womit sollte ich sonst meine Zeit verbringen? Ich werde gesucht und beobachtet und hier habe ich immerhin ein bisschen Schutz. Außer zu Laetitia, Jan, Sarah, dir und vielleicht noch Tim habe ich zu keinem eine Bindung, weil sie alle Gehirnwäschen hinter sich haben. Es ist, als wären wir eine seltsame Art von Familie. Gut, du, deine Mutter und Jan, ihr seid ja fast eine, aber es kommt mir vor, als wäre Laetitia so etwas wie meine zweite Mutter, Jan mein Ziehvater, alt genug ist er ja, Sarah meine gutmütige Tante, Tim mein nerviger kleiner Mörder-Bruder und du meine eingebildete kleine Schwester. Nicht persönlich nehmen.“

Wie könnte ich das nicht persönlich nehmen? Es fühlt sich an, als hätte er mir gerade mit dem Wort „Schwester“ die Eingeweide samt Nerven hinausgerissen, damit ich es noch schön spüre, wenn er mit „eingebildet“ darauf herumtrampelt. Wohin hat mich meine Fragerei gebracht? Ich weiß mehr, aber meine Stimmung ist im Keller. Schweigend esse ich mein Brot weiter.

„Kein Kommentar? Warum bist du still, Wanda? Und warum so blass?“

Er entreißt meiner unsichtbaren Hand den Pfirsich. Ich kann nichts sagen, sonst kommen mir noch die Tränen.

„Wanda? Hey, so eingebildet bist du nicht, nur sehr selbstsicher...“

Es sind vier verdammte Jahre und deshalb bin ich seine kleine Schwester?

Ich schlucke das letzte Stück Brot hinunter und muss mich zwingen, zu sagen: „Ich geh duschen.“

Dann verschwinde ich ins Badezimmer, wo ich die Tränen nicht mehr zurückhalten kann. Tim ist glücklicherweise schon fertig.

Wieso tut mir dieses eine Wort so weh? Seit wann bin ich so sehr in ihn verliebt? Bis jetzt konnte ich Kritik und Worte anderer immer verkraften oder ihnen schlagfertig begegnen. Aber dass er in mir eine kleine Schwester sieht...

Warum kann er nicht mehr wie Tim sein?

Aufs Stichwort höre ich Tims erschrockene Gedanken, als er am Bad vorbeigeht und ein komisches Geräusch hört. Warum weine ich überhaupt? Das mache ich doch sonst nur, um andere zum Lachen zu bringen. Wie bei Angela im Kino. Vielleicht war das mit Oliver gerade einfach zu plötzlich.

Um mein leises Winseln zu übertönen, beschließe ich, wirklich zu duschen. Das heiße Wasser tut gut und wäscht das Salz der Tränen ab. Ich borg mir Sarahs Shampoo, das nach Apfelblüten riecht. Da fällt mir Sarah ein. Meine Mutter ist entführt worden. Jetzt ist keine Zeit für Liebeskummer und Seifenoperngehabe. Ich muss sie zurückholen und dazu brauche ich Olivers Hilfe. Ich kann mich also nicht von ihm fernhalten. Ich kann sicher lernen, mit meinen unerwiderten Gefühlen umzugehen, oder aber... Naja, eine kleine Chance besteht, dass Oliver seine Meinung über mich ändert.

Voll neuem Elan steige ich aus der Dusche, wickle mich in das kürzeste Handtuch, das ich finde und gehe dann in die Küche, in der Tim und Oliver sitzen. Tim sieht weg, Oliver zeigt keine Reaktion. Ich habe einen langen Weg vor mir.

 

Kapitel 14

 

 

 

Zurück in meinem Zimmer ziehe ich mir ein bequemes blaues Oberteil und einen knielangen Rock an. Ich suche gerade überall nach einer Bürste, beschließe auch schon, Sarahs zu verwenden, als ich eine Tube Kleber finde. Ich weiß, dass ich sie vor nicht allzu langer Zeit verwendet habe. Da erinnere ich mich an den Brief, dessen Siegel ich mithilfe des Klebstoffes wieder einigermaßen authentisch habe befestigen können. Der Brief an Jan. Das wäre natürlich auch eine Möglichkeit, schießt es mir durch den Kopf. Vielleicht hat R.L etwas mit der Entführung meiner Mutter zu tun. Aber über ihn oder sie weiß ich rein gar nichts. Ich habe keinerlei Anhaltspunkte, nicht einmal den Brief, den Jan vermutlich bereits aufgegessen hat. Ich habe nur diese schon ziemlich bestätigte Ahnung, dass Jan die Existenz von R.L verbirgt.

Trotzdem will ich, dass Oliver davon erfährt. Auch wenn es uns wahrscheinlich nicht weiterhilft, zumindest wären wir dann beim Auftauchen eines R.L nicht mehr so überrumpelt. In Tims Gedanken sehe ich, wie Oliver aus der Küche geht. Wahrscheinlich will er in sein und Tim's Zimmer. Also mache ich mich auch auf den Weg dorthin und komme zeitgleich mit meinem Love-Interest vor seiner Zimmertür zum Stehen.

„Du riechst gut“, bemerkt Oliver.

„Ich hab das Shampoo von Sarah verwendet. Kann ich reinkommen?“

„Mi casa es tu casa.“

„Gracias.“

Das erste, was ich in Olivers Zimmer mache, ist, einen Blick auf die Uhr zu werfen. Schon vier Uhr nachmittags.

Obwohl ich schon einmal zusammen mit Laetitia hier in Olivers Zimmer war, kommt es mir so vor, als wäre es das erste Mal. Natürlich hat sich verändert, dass zwei Polster und zwei Decken auf der breiten Matratze liegen, weil Tim dazugekommen ist. Aber auch andere Dinge, die wahrscheinlich schon vorher da waren, fallen mir erst jetzt auf: Oliver hat eine ziemlich betagte Wanduhr, ein Xylophon und seine Kommode hat er mit gar nicht schlechten Bleistiftskizzen verziert. Das Xylophon ist ein so riesiges Instrument, dass es mir eigentlich schon beim letzten Mal hätte auffallen müssen.

„Gehört das Xylophon dir?“, frage ich, während ich mir denke „Dumme Frage, Wanda. Wem sonst?“

„Es ist gestohlen, aber ja. Ich hab es erst heute aus dem Abstellraum geholt. Tim hat sich ziemlich aufgeregt darüber.“

„Du spielst Xylophon?“

„Sonst hätte ich es nicht gestohlen. Ich bin sogar ziemlich gut, ich hab zehn Jahre lang fast nichts anderes gemacht als Xylophon gespielt.“

Ein netter Zeitvertreib eines Versuchskaninchens. Ich muss innerlich kichern. Mein Casanova. Frauen lieben Schlagzeuger, Leadsänger, Gitarristen und PIanisten. Und ich begehre einen Xylophonspieler.

„Ich hab lange kein Xylophon mehr gehört, kannst du mir was vorspielen?“

„Für die Bewunderung meiner Künste sollte ich eigentlich eine Gage fordern. Aber da wir befreundet sind...“

Er setzt sich und beginnt, zu spielen. Eigentlich sogar richtig gut. Ich habe noch nie einen so guten Xylophonspieler gehört. Als sich langsam eine Melodie aus den unzähligen kleinen Verziehrungen bildet, bemerke ich, dass ich das Lied kenne. Ein Text fällt mir ein, den meine Großmutter immer gern vor sich hin gesungen hat. Es ist ein altes Kinderlied. Ich kann mich zwar nicht an den ganzen Text erinnern, aber fange trotzdem an, zu singen:

 

„Es begann mit einem Knall

Den man hörte überall

Und das Blau, es breitete sich aus

Und es traf dann auf die Kinder im Bauch“

 

Oliver stimmt mit einer zweiten Stimme ein. Er kennt den Text auch:

 

„Nun sind die Kinder schon groß

Auf den Straßen ist was los

Denn das Kräftemessen nimmt kein End'

Und Gnade, das Wort ist ihnen fremd“

 

Er spielt ein langes Solo auf seinem Instrument, in dem sich langsam die Melodie verändert. Ich weiß, jetzt kommt der Refrain. Aber ein paar Wörter davon habe ich nie verstanden und sie mir deshalb auch nicht gemerkt. So muss Oliver alleine singen:

 

„Freud' oder Leid

Nun ist die Zeit

Kortuma

Nicht alle Menschen sind gleich

Auch wenn dein Herz nicht mit Hass voll is'

Bleibt Macht doch etwas Reizvolles“

 

Hat er gerade Kortuma gesungen? Ist das nicht der Kometensplitter, der angeblich für die Kräfte verantwortlich war? Mit einem Mal ergibt der Text Sinn. Aber warum existiert dieses Lied noch, warum hat es meine Großmutter gekannt? Hätten nicht alle Hinweise auf Superkräfte aus den Köpfen der Menschen gelöscht werden sollen?

Nach einem kurzen Zwischenspiel geht es in der dritten Strophe weiter:

 

„Jeder hat seinen Rang

Doch den Schwächeren wird bang'

Wenn auch unter jenen der Krieg beginnt

Und der Stärkste den andern das Leben nimmt

 

Ist es Gott, der uns bestraft?

Martert er uns denn mit Kraft?

Die blaue Kraft, die einschlug hier

Kortuma, so sie nennen wir“

 

Während der vierten Strophe beginne ich plötzlich, Olivers Gedanken zu hören. Aber der Persönlichkeitswechsel unterbricht das Lied nicht, also warum sollte ich es tun, indem ich Olivers normales Ich zurückhole? Beim Refrain singe ich wieder mit:

 

„Leid oder Freud'

Es ist nun Zeit

Kortuma

Alle Menschen sind gleich

Auch wenn dein Leben mit Hass voll is'

Macht ist und bleibt was Reizvolles

Auch wenn dich die Unschuld küsst

Macht ist und bleibt was Reizvolles

Auch wenn Gott uns ganz vergisst

Macht ist und bleibt was Reizvolles

 

Freud' oder Leid

Es ist nun Zeit

Kortuma

Bald ist alles vorbei“

 

Es endet auf einem einzigen Ton des Xylophons.

>>Das Lied ist noch immer wunderschön<<, denkt Oliver und sieht mich dann an.

>>Vor allem, wenn es von einer so guten Sängerin vorgetragen wird.<<

Ich freue mich über dieses Kompliment mehr als über jedes andere, das ich bisher erhalten habe. Denn wenn es eigentlich nicht für meine Ohren bestimmt war, muss es ehrlich gemeint sein. Ich würde gern noch mehr davon hören, was er so über mich denkt. Deshalb lasse ich ihm einmal seine andere Persönlichkeit und forsche ein bisschen in seinen Erinnerungen. Nichts über seine Kräfte, nichts über die Necks. Er kann sich an Jan und Sarah erinnern, wie sie ihm sagen, dass er so lange von seiner Mutter getrennt war, weil er auf einem Internat war und dass er sich nicht an die Schulzeit erinnern kann, weil er bei einem Heißluftballonabsturz am letzten Schultag am Kopf verletzt wurde. Das klingt so unglaublich, dass es glaubhaft wirkt. Er kann sich auch an seine Mutter erinnern, an das Lied, das sie gesungen hat und das er auf dem Xylophon spielen kann und an Hoggi. Seine Erinnerungen an Hoggi haben eine ganz andere Gefühlsfarbe als die anderen. Oh nein. Nein. Nein! Das will ich gar nicht wissen. Aber ich muss es wissen. Rosafarbene Bilder von ihrem Lächeln, ihre Stimme wie sie „Zieh dir das rein, Tomolli!“ sagt, Oliver denkt sehr liebevoll an sie. Das kleine Waisenmädchen, das er einmal kannte, hatte blonde Haare, braune Augen und ein fröhliches Gemüt. Oliver fragt sich, wie sie jetzt wohl aussieht. Er möchte sie unbedingt wiedersehen. Sie war seine erste Liebe.

Die Eifersucht bringt mich fast so weit, seine Erinnerungen an Hoggi auszulöschen. Aber ich muss an meine Mutter denken. Und an meinen Vater. Den Fehler darf ich nicht wiederholen, mit derart starken Gefühlen muss ich sofort aus Olivers Gedanken verschwinden. Es kostet mich einiges an Überwindung, Hoggi zu zitieren:

„Zieh dir das rein, Tomolli.“

Augenblicklich sperrt er mich aus seinem Kopf. Ich seufze erleichtert auf.

„Da hast du doch glatt das Stück einfach mit deiner anderen Persönlichkeit zu Ende gespielt. Wie heißt das Lied?“

„Nun ja, einfach Kortuma, nehme ich an.“

„Warum kennen es deine Mutter und meine Großmutter? Hat es nicht etwas mit den Kräften zu tun?“

„Viele Menschen kennen das Lied, ohne zu wissen, was es bedeutet. Man singt es wegen der schönen Melodie oft Kindern vor. Aber das Original kennt wirklich niemand mehr. Es ist ursprünglich eine sehr bekannte Single einer Popband namens „Wer eigentlich“ gewesen, die vor ungefähr hundert Jahren geschrieben wurde, also zu Jans Jugendzeit. Das hat er mir zumindest erzählt. Es wurde in Form eines Kinderliedes mit weniger Instrumenten gecovert und diese Version hat sich gehalten, auch wenn vom Original keine Spuren mehr zu finden sind. Und wenn man nicht weiß, was es bedeutet, denkt man sich auch nichts dabei, es zu spielen, oder? Ich habe das Lied immer nur wegen der Melodie gemocht.“

„Ich fand es auch schon als Kind schön, aber es hat mich gestört, dass ich es nicht verstanden habe. Und das Wort „Kortuma“ habe ich mir nicht merken können.“

Ich setze mich neben Oliver. Er ist mir jetzt so nah, wie es gerade noch schicklich ist und wirkt trotzdem ferner denn je. Jetzt weiß ich, dass es einiges an Anstrengungen kosten würde, sein Herz zu erobern, da es noch immer an Hoggi hängt. Es ist vermutlich sogar unmöglich. Hoffnungslos. Ich senke den Kopf und schreie innerlich.

„Wanda? Was ist?“

„Was denn?“

„Du bist bestimmt nicht in mein Zimmer gekommen, um mir beim Xylophonspielen zuzuhören.“

„Ach ja, genau!“

R.L. Soll ich Oliver jetzt das sagen, was ich weiß? Eigentlich hab ich ja keinen Beweis...

Oliver sieht mich an und wartet. Ich muss doch irgendetwas sagen!

„Wir...sind davon ausgegangen, dass die Necks meine Mutter und die anderen entführt haben, um an mich zu kommen, oder?“

„Ja. Wer sonst?“

„R.L... So war einmal ein Brief an Jan unterzeichnet, dessen Ton sich so anhörte, als hätte ein Superschurke ihn geschrieben. Ich glaube, eine Drohung an meine Mutter war auch drinnen.“

„Also hast du einen von Jans Briefen gelesen?“

Er sieht mich forschend an. Denkt er jetzt schlecht von mir?

Er sagt:

„Das hätte ich vielleicht auch einmal tun sollen, ich habe mich immer gefragt, von wem die sind. Aber die Briefe hatten alle Siegel und waren, nachdem Jan sie gelesen hatte, nicht mehr da. Jan hat immer etwas von einem alten Freund gesagt, wenn ich ihn gefragt hab.“

Zum Glück ist es für ihn kein Tabu, die Briefe anderer zu lesen. Na gut, immerhin klaut er auch Musikinstrumente.

„Ich hätte ihn nicht geöffnet, wenn ich Jan gegenüber nicht ein wenig misstrauisch gewesen wäre. Er war nämlich ziemlich erleichtert, als er erfuhr, dass ich seine Gedanken nicht lesen kann. Er weiß wohl irgendetwas, das niemand anders wissen darf. Und das hat vermutlich mit R.L zu tun.“

„Wenn das wirklich sein alter Freund ist, kennt er ihn vielleicht sogar noch aus Jugendjahren. Von dieser Zeit erzählt er nicht viel.“

„Wie soll denn das möglich sein? Jans Jugendjahre sind hundert Jahre her.“

„Aber Jan lebt ja auch noch. Du kannst Gedankenlesen. Ich kann Hypnotisieren. Möglich wäre alles.“

Da hat er schon irgendwie Recht, aber das ist doch eigentlich eher unwahrscheinlich, oder? Ich beschließe, mir nicht länger über Sachen den Kopf zu zerbrechen, von denen ich viel zu wenig weiß.

Ich sage:

„Hoffen wir einmal, dass die Necks für die Entführung verantwortlich sind. Von ihnen wissen wir zumindest etwas.“

Oliver nickt.

„Klar. Versuchen wir es mit Adalbert Meming, gut?“

 

Kapitel 15

 

 

 

„Und was sollen wir jetzt machen?“, frage ich.

„Weiß ich auch nicht so genau. Vielleicht sollten wir einmal davon ausgehen, immer beobachtet zu werden. Bei allem, was wir tun.“

„Wie sollen wir dann ein großes Konzert organisieren?“

„Wir sind ja nicht hilflos, wir haben beide relativ nütziche Fähigkeiten. Am einfachsten wäre es eigentlich, wenn du etwaigen Verfolgern das Gedächtnis löschst und ich Adalbert zu einem großen Konzert überrede. Damit er dann nicht mehr an uns denken kann, musst du deine Kräfte ein zweites Mal einsetzen.“

„Mhm“, nicke ich. „Telekinese.“

Oliver lächelt belustigt.

„Genau die meine ich.“

 

Oliver und ich gehen zusammen einige Lebensmittel und eine Zeitung im Mini-Supermarkt einkaufen. Der Rückweg erinnert mich stark an den Tag, an dem ich Laetitia und Tim kennengelernt und herausgefunden habe, dass ich mehr als zwei Hände besitze. Das war vor drei Tagen. Und jetzt kommt mir der Einsatz von Telekinese ganz selbstverständlich vor. In meinem Kopf ordne ich die jüngsten, lebensverändernden Geschehnisse in umgekehrter Reihenfolge. Heute habe ich bemerkt, dass meine Mutter, Jan und Laetitia wahrscheinlich entführt worden sind. Gestern war ein ziemlich langweiliger Tag, an dem nur die älteren außer Haus gegangen sind. Vorgestern habe ich meine Großmutter getroffen und gemerkt, dass ich in Oliver verliebt bin. Vorvorgestern sind Laetitia und Tim zu uns gekommen. Vorvorvorgestern bin ich 18 geworden und habe Oliver das erste Mal gesehen. Vorvorvorvorgestern war ich im Kino. Und danach wurden die Erinnerungen meiner Großeltern gelöscht und ich bekam Superkräfte. Mein normales Leben ist nur sechs Tage her. Und ich hab mich nach nur zwei Tagen der Bekanntschaft in Oliver verliebt. Wenn ich es mir recht überlege, ist das ein bisschen bedenklich. Als würde seine Hypnose doch wirken.

„Das mit dem Konzert sieht nicht gut aus“, sagt Oliver, während er den bunten Teil der Zeitung durchblättert.

„Wieso nicht?“

„Adalbert befindet sich angeblich gerade in einer Schaffenskrise. Ihm fällt nichts mehr ein und er fragt sich, ob er sich aus der Musikbranche zurückziehen soll.“

„Das kannst du aber sicher hinbiegen, oder? Wir müssen ihm nur Mut machen, ein wenig hypnotisieren... Hey, wie wär's, wenn wir ihm als Zugabe das Lied Kortuma nahelegen? Das wär ein Effekt, oder? Wenn er es nach der Enthüllung spielt.“

Die Idee scheint Oliver zu gefallen.

„Gar nicht schlecht, Meier. Dein Sinn für Dramatik...“

Ich lächle übertrieben selbstgefällig.

„Ich bin schon toll, was?“

„Nicht so toll wie ich. Was kannst du denn schon? So ein bisschen Telekinese und Gedankenlesen.“

„Das zählt nicht einmal, das ist mir ja angeboren. Deine Hypnose zählt auch nicht.“

„Was dann?“

„Xylophon spielen und zeichnen. Ich denke, das sind deine Fähigkeiten.“

„Weiter nichts? Bin ich nicht dein älterer Bruder, der dir weise Ratschläge gibt?“

Aua. Kann er denn nicht mit dem Brudergefasel aufhören?

„Nein“, antworte ich, „Du kannst gut andere verwirren, das ja. Und es ist beachtlich, dass du nicht schon im Irrenhaus bist, bei deiner gespaltenen Persönlickeit und allem, was du erlebt hast. Ich weiß nicht, wie du das aushalten...“

Sofort höre ich auf, als ich Olivers Blick sehe.

Er zuckt mit den Schultern.

„Ja, war ziemlich schlimm. Aber solange es noch Freunde gibt...“

Die Stimmung ist jetzt ziemlich ernst geworden. Streue ich wieder Salz in seine Wunden? Ich muss ihn ablenken:

„Was hältst du eigentlich von meinen Gesangskünsten? Zählen die als meine Fähigkeit?“

„Mittelmäßig. Wenn das das einzige ist, was du kannst, bist du echt arm dran.“

Ich muss lächeln. Mittelmäßig? Auch er sagt wohl nicht immer die Wahrheit. In seinen Gedanken habe ich heute eine andere Meinung zu meiner Stimme lesen können.

„Das ist natürlich nicht das einzige“, fahre ich mit meiner Pralerei fort, „Ich bin auch eine ziemlich gute Schwimmerin, auch, wenn ich in letzter Zeit kaum dazu gekommen bin. Und in der Schule war ich auch recht gut.“

„Also hast du brav gelernt, ja? Ich war auch einmal in der Schule. Meine Mutter konnte sich das Schulgeld nur für ein Kind leisten und deshalb habe ich am Nachmittag alles in der Schule gelernte Hoggi beigebracht. Nach meiner Entführung ist sie wohl an meiner Stelle in die Schule gegangen. Wie das auf meine Klassenkameraden gewirkt haben muss...“

Hoggi. Was passiert wohl, wenn Oliver sie wiedersieht? Darf ich das verhindern? Ich will es nämlich nicht wirklich einfach so zulassen.

„Wow. Da merkt man den Unterschied zwischen der armen und der Mittelschicht Lamkats. Ich als Einzelkind eher reicher Eltern durfte fast alles haben, was ich wollte, und habe immer nur die besten Schulen besucht. Und deine Mutter konnte sich nicht einmal das Schulgeld für zwei Kinder leisten.“

„Die Welt ist ungerecht.“

Irgendetwas in seiner Stimme löst in mir das Bedürfnis aus, mich um ihn zu kümmern. Ich will ihn in die Arme nehmen. Stattdessen sage ich:

„Jepp.“

Eigentlich kommen wir wirklich aus zwei komplett verschiedenen Welten. Und doch haben uns die Umstände zusammengeführt. Schicksal oder Zufall, egal. Hauptsache, ich muss mich nicht wieder von ihm trennen.

Da kommt mir ein Gedanke. Eigentlich sollten wir doch die ganze Zeit über beobachtet werden. Eigentlich sollte ich doch die Gedanken von demjenigen hören, der das tut. Dass ich sie bis jetzt nicht gehört habe, hat mir eigentlich das Gefühl von Sicherheit gegeben. Aber was, wenn...

„Kameras!“, sagen ich und Oliver gleichzeitig.

Oliver zeigt auf eine Kamera, die jemand in einem Riss in der Mauer eines der alten Gebäude versteckt hat.

„Wo sind die überall?“, sage ich und drehe um, um den Weg zum Mini-Supermarkt nochmal auf Überwachung zu überprüfen. Oliver folgt mir.

Wir haben offen über Adalbert Meming und ein geplantes Konzert gesprochen. Wenn ungefähr zwanzig Meter vor dem Supermarkt eine Kamera montiert ist, ist unser Plan im Arsch.

In der Dämmerung kann ich nur wenig erkennen, aber Oliver findet beinahe überall eine Kamera. Es ist nahezu ausgeschlossen, dass die Necks jetzt nichts davon wissen, dass wir etwas von Adalbert Meming wollen.

Aus Wut zerquetsche ich die Kameras mit meinen unsichtbaren Händen. Ich frage mich, wie lang und wie stark diese zusätzlichen Gliedmaßen eigentlich sind. Bis jetzt haben sie keine Grenzen.

Von dem knirschenden Geräusch zerstörter Kameras begleitet gehen wir nach Hause. Wo wir die nächste Überraschung vorfinden: Tim ist verschwunden. Wir haben ihn schutzlos zurückgelassen und jetzt wurde er gekidnappt. Oliver findet einen Brief in der Küche, der an mich adressiert ist. Ich lese ihn laut vor:

 

Wanda Meier,

 

Wenn dir das Leben deiner Mutter und deiner Großeltern lieb ist, stirb vor Zeugen. Von den drei ersten Opfern sind nur noch zwei am Leben, die Verräterin ist nicht mehr.

Und wenn Tim nichts von eurem Plan weiß, muss auch er sterben.

 

Kurt und Pastilla Neck

 

Mir wird eiskalt. Alle, alle sind in Gefahr. Und das meinetwegen. Meine Großeltern, meine Mutter, Maria, Oliver, Tim. Immerhin nicht Jan, der ist ziemlich robust. Laetitia ist bereits tot.

Ich fange an, loszuheulen. Ich habe Laetitia getötet!

Auch Oliver bekommt glasige Augen, als er begreift. Er bricht schluchzend über dem Tisch zusammen.

Ich weiß, ich bin nur indirekt schuld daran, dass er das durchmachen muss. Aber trotzdem hätte ich viel verhindern können, wenn ich die Sache ernster genommen hätte. Vielleicht wäre Laetitia dann noch am Leben. Laetitia, die Oliver so viel bedeutet. Ich kann es nicht aushalten! Ich kann nicht mehr! Kann nicht alles endlich aufhören? Nur noch Oliver und ich sind übrig. Ich will, dass es aufhört.

Entschlossen nehmen meine unsichtbaren Hände ein Messer und richten es auf mich. Doch das will Oliver anscheinend nicht zulassen. Schnell nimmt er mir das Messer weg.

„Spinnst du?!“, schreit er mich an. „Das ist keine Hilfe! Damit tust du nur das, was sie wollen!“

„Aber ich bin schuld an dem Ganzen und wenn ich nicht sterbe, werden es alle anderen für mich tun, du inklusive!“

„Du bist nicht schuld! Was hast du denn schon getan? Kurt Neck ist schuld, er will dir Schuldgefühle einreden, um dich zum Aufgeben zu zwingen!“

„Aber“, die Tränen wollen nicht stoppen, „Laetitia...“

Oliver verzieht sein Gesicht. Wenn ich diesen Schmerz sehe, bekomme ich wieder Selbstmordgedanken.

„Laetitia ist tot“, sagt Oliver dann nach einer Pause. „Wir können sie nicht mehr retten. Wenn noch jemand stirbt, den ich kenne...Wanda, wir müssen sie alle retten. Und wir müssen Kurt Neck bestrafen.“

„Nur wir beide?“

„Die Necks haben Angst vor dir. Nur deshalb passiert ja gerade so viel Mist. Das muss doch einen Grund haben. Ehrlich gesagt bist du im Moment meine ganze Hoffnung.“

„Das setzt mich leicht unter Druck.“

Oliver lächelt angedeutet. Doch noch rinnen Tränen an seinen Wangen entlang. Wenn ich seine ganze Hoffnung bin, ist er meine. Alleine würde ich wahrscheinlich nichts hinbekommen. Ich weiß doch erst seit sechs Tagen so ungefähr, was abgeht. Anfangs war ich zuversichtlich, aber jetzt, wo alle weg sind, wie kann ich noch optimistisch bleiben?

„Was jetzt?“, fragt er.

Ich muss nicht lange überlegen. Im Brief stand zwar etwas von meinen Großeltern, aber Maria wurde nicht explizit erwähnt. Es gibt eine Chance, dass sie noch nicht entführt und getötet wurde.

„Natürlich müssen wir beide jetzt zu Maria und sie beschützen. Meine anderen Großeltern sind wohl schon... Oh Gott, und sie haben nicht einmal die leiseste Ahnung! Sie müssen solche Angst haben! Und Tim...“

„Ja, gehen wir zu Maria. Auf der Stelle.“

„Klar. Nimm das Essen aus dem Kühlschrank mit, damit es nicht verdirbt.“

 

Es ist schon sechs Uhr, als wir mit unserem Gepäck durch die Dunkelheit zum Bus gehen. Dieses Mal sitzt Oliver neben mir, aber darüber kann ich mich nicht wirklich freuen.

 

Kapitel 16

 

 

 

Die Straße, in der meine Großmutter wohnt, sieht genauso aus, wie sie vorgestern ausgesehen hat. Zumindest ist hier kein Unglück größerer Ausmaße geschehen. Es hätte durchaus sein können, dass ein großer Brand oder etwas derartiges rein zufällig das ganze Viertel verwüstet hätte. Immerhin konnte der Spion, der uns das letzte Mal gefolgt ist, alles über unseren Aufenthalt hier den Necks berichten.

Gerade eben beobachtet uns niemand. Ich glaube nicht, dass die Necks wirklich in der ganzen Stadt Kameras haben. Und selbst wenn, was sollen sie schon tun? Eigentlich können sie nicht wirklich viel gegen mich ausrichten, außer alle Menschen um mich herum zu töten.

Die nette Gegend mit den alten Wohngebäuden, kleinen Gärten und dem Schwimmbad kommt mir bei Nacht und in der Stimmung, in der ich mich befinde, eher trostlos und unheimlich vor. Ich werfe einen Blick auf Oliver. Er trottet relativ langsam mit ausdruckslosem Gesicht neben mir her. Ich habe ihm schon angeboten, sein Gepäck für ihn zu tragen, um ein bisschen schneller vorwärts zu kommen, doch er hat abgelehnt. Aber ich kann gut verstehen, wieso er die Ankunft bei Maria hinauszögert. Was, wenn sie weg ist? Oder tot in ihrer Wohnung liegt?

Andererseits sollten wir uns genau deshalb beeilen. Ich will endlich Gewissheit. Die letzten hundert Meter bis zu Marias Wohnhaus lege ich im Sprint zurück. Vor der Tür bleibe ich stehen und warte auf Oliver, der seinen Gang jetzt auch beschleunigt. Ich drücke auf die Klingel. Es ist nicht so wie beim letzten Mal, als Maria uns einfach so hereingelassen hat, weil sie dachte, wir wären ein Lieferservice. Ich erwarte, dass eine Stimme aus der Gegensprechanlage uns fragt, wer wir sind. Aber nichts. Weder eine Stimme, noch ein Öffnen der Tür. Auch kein Gedanke meiner Großmutter. Ist sie entführt worden? Tot? Ich muss positiv denken. Es kann auch sein, dass sie gerade schläft.

„Was jetzt?“, fragt Oliver. Seine Stimme klingt irgendwie leblos.

„Ich... kann was probieren.“

Ich strecke meine unsichtbaren Hände aus und teste, ob die Tür für sie eine Barriere ist. Zu meinem Erstaunen gleiten sie durch das Glas als wäre es Luft. Haben sie wirklich keine Grenzen? An der Innenseite der Tür steckt der Schlüssel. Ich drehe ihn um und öffne gleichzeitig die Tür.

„Et voilà“, sage ich und Oliver und ich treten ein.

Im Treppenhaus ist es stockfinster.

„Wohnung Nummer zwei“, erinnere ich mich und gehe schnurstraks auf Marias Wohnungstür zu.

Sie ist natürlich abgeschlossen. Wieder ertaste ich mit meiner Telekinese, ob auf der Rückseite ein Schlüssel steckt. Nicht nur das; Maria hat sie außerdem mit drei Ketten und einem Stuhl verbarrikadiert. Die Chancen stehen also gut, dass sie noch am Leben ist. Ich löse eine Kette nach der anderen, drehe den Schlüssel um und ziehe den Stuhl weg. Ein Hund bellt. Rufus, glaube ich. Den habe ich komplett vergessen.

„Wer ist da?“, fragt meine Großmutter alarmiert.

Sie ist gerade aufgewacht. Ich sehe in ihren Gedanken, dass sie mit einer Waffe hinter der Tür steht, deshalb rede ich lieber, bevor ich sie öffne.

„Ich bin's, Maria. Wanda.“

„Wanda! Was machst denn du hier?“

„Ich will dich beschützen, die Necks sind hinter meiner ganzen Verwandtschaft her.“

Ich höre, wie sie eine Schublade öffnet und etwas nach Metall klingendes hineinlegt. Die Pistole. Sie kommt zur Tür und lässt mich und Oliver hinein.

„Jaja, die Necks. Die waren auch schon hier“, sagt sie. „Aber natürlich war ich vorbereitet. Ich wusste schon, als der Spion euch gefolgt ist, dass sie bald hier aufkreuzen werden. Also bin ich eine Weile nicht aus dem Haus gegangen, habe mich hauptsächlich von Dosen ernährt und niemanden wissen lassen, dass ich zuhause bin. Das war ziemlich schwer mit Rufus.“

>>Aber um ehrlich zu sein, bald wäre mir das Essen ausgegangen und ich hätte mit Hundefutter weitermachen müssen.<<

Meine Großmutter zwinkert mir zu.

Also weiß sie ziemlich genau, wie gefährlich die Necks sind. Ich bin heilfroh, dass sie noch lebt, aber auch ziemlich erstaunt. Warum weiß sie so viel, wenn doch wahrscheinlich schon öfters Teile ihres Gedächtnisses ausgelöscht worden sind?

„Können wir hierbleiben?“, frage ich.

Maria denkt an unser Gepäck und schätzt, wie lange wir bleiben wollen. Sie fragt sich, was passiert ist.

„In unserer Straße wurden überall Kameras montiert“, sagt Oliver.

>>Ist etwas passiert?<<, fragt Maria mich.

Ich nicke und reiche ihr das Essen aus unserem Kühlschrank. Während sie es in ihrer Küche verstaut, erkläre ich:

„Sarah, Jan, Laetitia und Tim sind alle von den Necks entführt worden. Mittlerweile haben sie auch schon meine anderen Großeltern. Laetitia ist...“

Ich mache eine Pause, weil ich nicht weiß, wie ich es sagen soll.

Da übernimmt Oliver mit ausdrucksloser Stimme:

„Laetitia ist tot. Die Necks fordern, dass Wanda Selbstmord begeht, sonst werden auch alle anderen sterben.“

>>Ich habe es gewusst. Das konnte ja nicht gut gehen. Das hat Sarah sich jetzt eingebrockt. Und, Wanda, bringst du dich um?<<

„Ich habe kurz daran gedacht, aber um sicherzugehen, dass wirklich niemand stirbt, muss ich wohl am Leben bleiben.“

>>Gutes Mädchen. Den Necks bloß nicht trauen.<<

„Also“, sagt Maria, „Eine Nacht könnt ihr auf jeden Fall hier bleiben. Danach sehen wir weiter. Ich habe eigentlich kein richtiges Gästezimmer, aber in mein Bett passen zwei und der junge Mann kann auf dem Teppich oder der Couch schlafen.“

„Also ist es eine Wahl zwischen Rücken- und Nackenschmerzen?“, fragt Oliver scherzhaft.

Es beruhigt mich, zu hören, dass er wieder einen für ihn normalen Tonfall verwendet. Meine Großmutter lächelt.

„Du kannst dir auch mit Rufus den Hundekorb teilen, wenn dir das lieber ist.“

„Nein, nein. Ich mache es mir schon bequem.“

 

Nachdem wir uns ein wenig eingerichtet und mit Maria zu Abend gegessen haben, sitzen wir noch eine Weile im Wohnzimmer und besprechen uns. Wir sind zu dritt. Zu dritt gegen die Necks, sagt Maria, das könne spannend werden. Wir erzählen ihr von unserem ursprünglichen Plan mit Adalbert Meming und dem Lied Kortuma und wie die Necks gleich Wind davon bekommen haben.

„Ich kenne das Lied“, sagt Maria, „Ich habe sogar die Originalversion von „Wer eigentlich“. Wollt ihr sie anhören?“

„Nichts lieber als das“, sagt Oliver aufrichtig. „Woher haben Sie die?“

„Du kannst mich duzen, Herr Tomas. Meine Großmutter hat sie sehr gerne gehört und sich irgendwann eine Raubkopie davon gemacht. Deshalb hat man dieses Exemplar nicht zerstört. Angeblich hat der Bürgermeister einmal demjenigen einen hohen Geldpreis versprochen, der die meisten Singles dieser Band findet und zu ihm bringt. Komischerweise wusste nach einer Woche niemand mehr etwas von der Aktion.“

Sie redet, während sie den Datenträger ins Laufwerk legt.

„Woher weißt du das?“, frage ich sie.

Maria lächelt.

„Es ist so simpel. Wenn man weiß, dass sein Gedächtnis mitunter löchrig wie Käse sein kann, muss man sich einige Dinge eben aufschreiben. Tagebuch führen. Zu Zeiten meiner Großmutter, Maria, war das Gang und Gebe. Ich habe ihr Tagebuch, ihre Single und einige Fotos. Und als ich anfing, bei den Necks zu arbeiten, kam mir die Idee, auch ein Tagebuch zu führen, um mich an möglichst viel erinnern zu können. Aber es ist ein eigenartiges Gefühl, einen Tagebucheintrag zu lesen, von dem du weißt, dass du ihn geschrieben hast und dich auch daran erinnerst, ihn geschrieben zu haben, und du dich partout nicht an das beschriebene Ereignis erinnerst. Als würde dir dein altes Ich eine Geschichte erzählen.“

Das Lied beginnt zu spielen. Es hat ein langes Intro, bei dem erst langsam einzelne Instrumente hinzukommen, die dann aber so gut miteinander harmonieren und gleichzeitig eine ergreifende Stimmung erzeugen... Auch die Stimmen der Sängerinnen und Sänger sind nicht zu verachten und die Soli, die Oliver auf dem Xylophon gespielt hat, spielt hier ein Cello. Es ist einfach ein wunderschönes mehrstimmiges Lied.

Erst als der letzte Ton vollständig verklungen ist, bringe ich es über mich, zu sprechen:

„Kann ich vielleicht einmal einen Blick in das Tagebuch meiner Ururgroßmutter werfen? Es interessiert mich ziemlich, was sie aufgeschrieben hat.“

„Klar. Wenn du willst, kann ich dir das Buch ausleihen“, sagt Maria die Zweite.

 

Kapitel 17

 

 

 

Liebes Tagebuch,

Ich habe dich heute wieder einmal gelesen und gemerkt, dass ich einmal in jemanden verliebt gewesen sein muss, der sich Jan Kott nennt. Ich habe ihn mit fünfzehn kennengelernt und mich mit achtzehn mit ihm verlobt. Das ist also erst ein Jahr her. Alle meine Gedanken an ihn stehen in dir drinnen und doch erinnere ich mich überhaupt nicht an diesen Mann. Ich kenne auch niemanden, der so aussieht, wie ich ihn damals verliebt beschrieben habe: mit dunkler Haut, dunklen Haaren und dunklen Augen. Und das Eigenartigste, was in meinen Tagebüchern steht, ist, dass er und viele andere übernatürliche Kräfte gehabt haben, die alle von einer Art blauer Explosion gekommen waren. Kurz bevor ich meine Erinnerungen an Jan verloren habe, habe ich aufgeschrieben, dass gerade anscheinend jemand versucht, jeden mit diesen Kräften zu töten. Wurde Jan etwa auch getötet? Oder waren das alles nur Hirngespinste von mir?

 

Liebes Tagebuch,

Es ist lange her, ich weiß. Ich hatte viel zu tun. Hochzeitsvorbereitungen. Ich liebe Barn über alles, kann aber die Sache mit meinen Tagebucheinträgen und Jan nicht vergessen. Erst recht nicht, nachdem ich eine Raubkopie des Liedes „Kortuma“ gefunden habe, die wahrscheinlich auch etwas damit zu tun hat. Es ist ein wunderschönes, mehrstimmiges Lied mit interessantem Text, das Generationen überdauern könnte. Wenn nur irgendjemand es kennen würde. Auch Barn kennt es nicht. Aber ich habe in meinem Tagebuch geblättert und herausgefunden, dass das Lied einmal sehr bekannt war. Dann wurde vom Bürgermeister ein Geldpreis für die meisten dieser Singles versprochen und er hat fast alle eingesammelt. Ich aber hab meine behalten. Ich konnte mich danach nicht mehr daran erinnern. Ebensowenig wie irgendjemand anders. Was geht hier überhaupt vor?

 

Liebes Tagebuch,

Verheiratet und mit dem Studium fertig! Auch Barn hat seine Ausbildung zum Polizisten abgeschlossen. Es mach mich stolz, dass er versucht, die Bankräuber zu schnappen, aber ich habe auch Angst um ihn.

Bald kann ich anfangen, die Küsten Lamkats zu untersuchen. Meeresbiologin, was für ein Job!

 

Liebes Tagebuch,

Ich hab den letzten Eintrag gelesen und muss mich fragen: Was für Bankräuber? Entweder, ich bin vollkommen verrückt, oder ich verliere von Zeit zu Zeit meine Erinnerungen an wichtige Dinge. Nicht nur ich, sondern auch andere. Aber dafür gibt es dich ja, mein lieber Papierfreund.

Ich muss jetzt etwas ziemlich Wichtiges aufschreiben, bevor ich es vergesse. Nämlich meinen ersten wissenschaftlichen Ausflug ans Meer. Unsere Insel Lamkat, mit dem heißen Klima und dem fruchtbaren Boden, ist ein wunderschönes kleines Eiland, kann man wohl behaupten. Ich kenne niemanden, der schon einmal auf dem Festland war, aber dort kann es niemals so schön sein wie hier. Der Himmel ist immer blau, die Wiesen immer grün und selbst der Regen ist warm. Außerhalb der Großstadt Lamkat gibt es nur wenige kleine Bauerndörfer und viele Felder. Durch diese Landschaft fuhr ich mit meinem neuen Auto an einen der wenigen begehbaren Strände. Steilküsten und komplett bewachsene Strände gibt es hier zu Hauf, dieser hier war aber ein abgelegener Sandstrand, an dem kaum jemals jemand schwimmen geht. Zum Glück. Als ich dort war, konnte ich nämlich ein Seeungeheuer beobachten. Das klingt jetzt unwissenschatlich und unrealistisch, aber ungefähr fünfhundert Meter entfernt von mir ist es aufgetaucht, um einen Haifisch zu verspeisen. Es war um die fünfzehn Meter lang und sah wie nichts aus, was ich bisher gesehen hatte. Aber es sah jung aus, als würde es noch wachsen. In Zukunft werde ich mich nicht mehr trauen, mit dem Schiff zu fahren.

 

Das sind einige der spannendsten Einträge aus dem Tagebuch meiner Ururgroßmutter. Sie ist mit Jan verlobt gewesen, kein Zweifel. Ihre Erinnerungen an ihn und einige Vorkommnisse ihrer Zeit sind gelöscht worden. Sie ist die Besitzerin der Kortuma-Single gewesen. Und der Grund, warum alle Strände Lamkats gesperrt sind und ich immer nur in Schwimmbädern meinem Hobby nachgehen habe können, sitzt vermutlich irgendwo lauernd am Meeresgrund.

Ich lese das Tagebuch in einer Nacht. Zum Glück kann meine Großmutter, die neben mir liegt, auch bei Licht schlafen. Als ich fertig bin, ist es ein Uhr. Ich muss aufs Klo. Vorsichtig, ohne Maria aufzuwecken, befreie ich mich aus meiner Decke, stehe auf und gehe aus dem Zimmer. Im Wohnzimmer ist es mucksmäuschenstill. Die Jalousien sind aus Sicherheitsgründen alle zugezogen, weshalb von außen kein Licht eindringt. Die einzige Lichtquelle ist die Nachttischlampe im Zimmer meiner Großmutter. Weil ich aber Oliver nicht damit aufwecken will, dass ich die Deckenlampe einschalte, taste ich mit meinen unsichtbaren Händen den Raum ab. Ich kann kontrollieren, wann sie durch etwas hindurchgehen sollen und wann nicht. Als ich Olivers Kopf auf dem Teppich vor mir ertaste, murmelt er im Schlaf etwas vor sich hin. Es klingt wie „Mama“.

Ich taste weiter, finde die Klotür und verschwinde im Badezimmer.

Es tut so weh, zu sehen, wie weit Olivers Wunden reichen. Sein Leben hat im Grunde nur aus Armut, Gefangenschaft, Verfolgung und Verlust bestanden. Während meine Verwandten die dafür Verantwortlichen sind und ich kaum etwas dagegen unternehmen kann.

Aber könnte das nicht mein Ziel werden? Mein Zukunftswunsch? Das ist er bereits jetzt.

Ich möchte, dass Oliver glücklich wird. Und zwar mit all seinen Erinnerungen, auch den schmerzhaften. Ohne sie ginge ein Teil von ihm verloren. Der Teil, der mit mir verbunden ist.

Als ich aus dem Bad komme, brennt im Wohnzimmer das Licht und Oliver sitzt auf der Couch. Er starrt auf den Boden.

„Hey“, sage ich bemüht gutgelaunt, „Bist du schon oder noch wach?“

Oliver sieht mich mit zusammengepressten Lippen an. Keine Antwort. Was soll ich tun? Ich war noch nie gut im Trösten, höchstens im Ablenken. Ich setze mich neben ihn.

„Ich war mir gerade nicht sicher, ob die Klospülung dich nicht aufwecken würde, deshalb habe ich versucht, sie ganz leise und langsam zu betätigen. Also bist du doch davon aufgewacht?“

Oliver seufzt und sagt so leise, dass ich mir nicht sicher bin, ob ich es hören soll:

„Du bist da.“

Ohne nachzudenken nehme ich seine verkrampfte Hand. Er erschreckt sich dabei kurz, wehrt sich aber nicht.

„Du bist da“, sagt er jetzt mit stärkerer Stimme, „Alle anderen sind weg.“

„Scheiße, stimmt's? Und wenn wir nichts tun...“

Ich spreche den Gedanken nicht zu Ende. Oliver tut es an meiner Stelle:

„Dann töten sie alle. Wie schon Laetitia. Wahrscheinlich sind Mama und Hoggi auch bereits tot.“

„Wieso sollten sie denn deine Mutter und deine Freundin töten?“

„Es müssen ja nicht die Necks gewesen sein, aber wenn die beiden nicht tot sind, warum habe ich sie bis jetzt dann nicht gefunden?“

„Weil... Sie wahrscheinlich umgezogen sind, älter geworden sind...“

„Ich glaube nicht, dass ich sie jemals wiedersehen werde. Kannst du mir nicht die Erinnerungen an sie nehmen?“

Er will ernsthaft, dass ich sein Gedächtnis lösche? Ich weiß, die Erinnerungen sind schmerzhaft, aber ich will ihm trotzdem nichts wegnehmen. Er könnte sie doch eines Tages wiedersehen. Und noch viel wichtiger: Ich könnte wohl kaum klar denken, wenn ich Olivers Erinnerungen sehe. Wenn ich wieder eifersüchtig werde, wer weiß, was passiert?

„Aber meine Kräfte wirken doch bei dir gar nicht“, versuche ich, ihn von dem Gedanken abzubringen.

„Bei mir gerade nicht, aber bei meinem anderen Ich schon.“

„Dein anderes Ich hat gar keine schmerzlichen Erinnerungen! Was nützt es dir, wenn nur deine zweite Persönlichkeit die Erinnerungen verliert?“

„Vielleicht verlier ich sie ja auch!“

„Keine Ahnung! Aber wegen einem „vielleicht“ bringe ich dich nicht in Gefahr!“

„Wieso denn Gefahr? Was für eine Gefahr? Du kannst doch einwandfrei Gedächtnisse löschen.“

„Aber nicht von Freunden!“

„Doch, du hast das schon bei Freunden gemacht.“

„Aber nicht unter Druck.“

„Du wärst ja nicht unter Druck.“

„Für mich ist das ein ziemlicher Druck.“

Ich hoffe, wir haben Maria nicht geweckt. Aber zumindest höre ich keine Gedanken von ihr. Ich ziehe meine Hand, die noch immer Olivers hält, weg und stehe auf.

„Gute Nacht“, sage ich.

„Entschuldige, Wanda“, sagt Oliver schnell. „Schon klar, dass du unter Druck stehst... Als älterer müsste eigentlich ich mich um dich kümmern, nicht umgekehrt.“

Meint er das, wenn er sagt, er fühle sich wie mein großer Bruder?

„Macht nichts, du brauchst dich nicht verantwortlich zu fühlen. Ich hab doch noch Maria. Aber ich muss jetzt schlafen, ich hab bis jetzt kein Auge zugemacht.“

„Wieso nicht?“

„Ich habe ein ziemlich spannendes Buch gelesen. Gute Nacht.“

„Gute Nacht.“

 

Kapitel 18

 

 

 

Am nächsten Tag weiß Maria nichts mehr vom Lied „Kortuma“. Also kennt es mittlerweile wahrscheinlich niemand mehr. Nicht einmal die Kinderliedfassung.

Wie funktioniert das mit dem Gedächtnis-Löschen eigentlich? Bis jetzt habe ich es nur ein einziges Mal tun müssen und da hat es auch ohne Übung ganz gut geklappt. Wahrscheinlich kommt es wirklich nur darauf an, möglichst konzentriert zu sein. Und dann kann man anscheinend eine einzige Erinnerung aus den Gehirnen tausender Menschen gleichzeitig löschen, wie es die Necks machen. Die Frage ist, kann ich sie dann nicht einfach gleich von hier aus unschädlich machen? Ich glaube nicht. Ich habe einen Gedankenleseradius von 100 Metern, wie kann ich da die Gedächtnisse der ganzen Stadt durchsuchen? Und wie soll aus diesem Stimmengewirr die der Necks finden, wenn ich nicht einmal weiß, wie sie klingen? Wie zum Teufel machen das die Necks?

Ich wette, Sarah hätte darauf eine Antwort. Vermutlich kann sie dasselbe wie unsere Verwandten. Aber Sarah ist nicht hier.

Mit der von Maria abonnierten Zeitung ist heute ein kunterbunter Flyer eingetroffen. Meine Großmutter legt ihn auf den Küchentisch und holt ihre Lesebrille, während ich den Flyer anstarre. In quietschpinken Buchstaben steht da:

 

Familienvereinigung!!!

Nach seiner Schaffenskrise ist der Sänger Adalbert Meming jetzt zurück mit einem brandneuen Lied, das er unserer Heimatinsel und vor allem der Stadt Lamkat widmet. Familienvereinigung, so beschreibt der talentierte Künstler das Aufeinandertreffen der Kräfte in Lamkat.

Kein stolzer Einwohner mit einem Gefühl für Familienbande sollte sein baldiges Konzert verpassen. Es wird bestimmt unvergesslich!

 

Diese Wortwahl, vor allem das „unvergesslich“ am Schluss. Mit Sicherheit haben die Necks diesen Flyer verfasst. Familienvereinigung und Aufeinandertreffen der Kräfte bei Adalbert Memings nächstem Konzert. Dort werden die Necks, meine Familie und einige hundert andere aufkreuzen. Sie wollen mich in ihre Reichweite locken, ganz sicher. Nur wozu brauchen sie die ganzen anderen Menschen, die diesen Flyer bekommen haben? Oder sind wir vielleicht die einzigen?

Aus dem Text schließe ich, dass drei Möglichkeiten bestehen, was die Necks von mir wollen:

Erstens, mich töten.

Zweitens, mich auf ihre Seite bringen.

Drittens, so, tun, als wollten sie mich auf ihre Seite bringen, und mich dann töten.

Zugegeben, es könnte schwierig werden, zwischen den letzten beiden zu unterscheiden. Aber ich werde mich sowieso nicht dazu überreden lassen, bei ihnen mitzumachen. Ich weiß nicht einmal, ob ich Gnade vor Recht ergehen lassen würde, wenn diese Familie mich anbettelt, sie zu verschonen. Gut, bei Lila und ihrem Bruder... Es sind immerhin Kinder. Aber die anderen haben keine Ausrede. Es ist sehr wahrscheinlich, dass ein Neck höchstpersönlich Laetitia ermordet hat.

Vermutlich ist es eine Falle. Wir müssen trotzdem auf jeden Fall dorthin. Ansonsten weiß ich nicht, was mit meiner Mutter passieren würde. Das Konzert findet schon in zwei Tagen statt und ich habe keine Ahnung, was mich dort erwartet. Hoffentlich nicht mein Tod.

Ich sehe auf die Uhr. Noch haben wir Vormittag. Oliver ist im Bad und Maria kommt gerade mit ihrer Lesebrille und dem Frühstück.

>>Wanda sieht ziemlich konzentriert aus. Was steht denn da?<<

Sie liest sich die Flugschrift durch.

>>Ein Familientreffen mit Superkräften? Was will Kurt denn damit bewirken?<<

„Keine Ahnung. Aber wir haben keine andere Wahl, als uns dort sehen zu lassen, wenn wir es wissen wollen.“

„Uns wo sehen lassen?“, fragt Oliver, der aus dem Bad kommt.

„Auf dem 'Open-Air-Konzert-Gelände Myosim'“, lese ich vom Flyer ab, „Das ist im Westen, etwas außerhalb der Stadt und grenzt an den Westlichen Wald.“

„In zwei Tagen“, überlegt Maria laut, „Relativ kurzfristig für ein Comeback-Konzert.“

„Wartet, redet ihr über Adalbert Meming?“, fragt Oliver, während er sich einen Pfirsich nimmt und davon abbeißt.

„Ja. Sieh dir den Flyer an.“

Ich reiche ihm das Papier und er liest alles aufmerksam durch.

„Also niemand mit Familiensinn sollte das Konzert verpassen? Ist das eine Drohung der Necks? Wir haben wirklich keine andere Wahl. Wir müssen dorthin. Auch, wenn es wahrscheinlich eine Falle ist.“

Ich nicke.

„Jepp. Man will mich noch immer töten. Ich frage mich, wie sie geplant haben, es zu tun. Wollen sie mich aus 200 Meter Entfernung mit Scharfschützen erschießen? Das ganze Gelände aus der Ferne explodieren lassen, sobald ich dort auftauche? Denn wenn ich aufpasse, ist es ja gar nicht so einfach, mich aus der Nähe umzubringen.“

>>Nahezu unmöglich<<, denkt Maria.

„Haben nur wir diesen Flyer?“, fragt Oliver.

„Keine Ahnung. Sollen wir im Fernsehen nach Hinweisen Ausschau halten?“, schlage ich vor.

„Gute Idee. Wenn die Necks sicher sein wollen, alle Einwohner zu erreichen, werden sie die Informationen zum Konzert wahrscheinlich ausstrahlen lassen“, sagt Oliver.

>>Wo ist die Fernbedienung?<<, fragt sich Maria, findet sie und zappt kurz darauf durch ihre Kanäle.

Beim Wetterbericht auf Kanal 15 bleibt sie hängen.

„Danach suchen wir nicht, Maria“, sage ich ein bisschen aufgebracht.

„Jetzt wird sie frech!“, empört sich meine Großmutter.

>>Es kann doch nicht schaden, zu wissen, ob das Open-Air-Konzert in zwei Tagen überhaupt stattfinden kann.<<

Irgendwie hat sie Recht, aber etwas sagt mir, dass uns gerade etwas Wichtiges entgeht, das sich vermutlich auf einem anderen Sender abspielt. Da fällt mir auch schon ein bestimmter Kanal ein, der mich einmal dazu veranlasst hat, mir viele Fragen zu stellen.

„Schalte auf Kanal 28!“, bitte ich Maria schnell.

>>Gut, wenn's so wichtig ist.<<

Sie schaltet um und prompt sehen wir, dass auf Kanal 28 heute den ganzen Tag lang Dokumentationen, Konzerte, Interviews und Musikvideos von und mit Adalbert Meming gezeigt werden. Gerade eben singt er auf dem Bildschirm seine neue Single „Familienvereinigung“. Oliver und mir bleibt die Spucke weg, als wir bemerken, dass Adalbert die Melodie von Kortuma singt – in Verbindung mit einem grottenschlechten Poptext.

„Das tut weh“, sage ich mit einem Blick auf Oliver.

Der nickt.

„Das war mein Lieblingslied“, sagt er.

Als das Lied zu Ende ist, faselt irgendein Musikexperte davon, wie kunstvoll Adalbert die Instrumente in diesem Song eingesetzt hat. Doch mir wird erst schlecht, als der Sänger in einem Interview gefragt wird, wie er plötzlich die Idee zu einem so guten Stück bekommen hat, und er antwortet, er hätte es wohl wieder einmal geschafft, seine Krisen zu überwinden und seine Gefühle durch ein Lied auszudrücken. Nach diesem Interview kommt zum Glück brauchbare Werbung: Nämlich für sein Konzert in zwei Tagen im Myosim. Scheinbar sollen wirklich mehrere Menschen dorthin kommen. Oder ihnen wird vor dem Konzert nochmals das Gedächntis gelöscht. Aber die Necks wissen ja, dass wir bei Maria sind und es deshalb merken würden, wenn sie alle Erinnerungen an das Myosim verliert.

„Warum fahren wir eigentlich nicht jetzt gleich ins Myosim?“, fragt Oliver.

„Weil das Gelände zur Zeit abgesperrt ist und Vorbereitungen für ein Konzert laufen“, sage ich.

„Weder das eine noch das andere ist ein Hinderungsgrund.“

In diesem Moment klingelt das Telefon. Maria nimmt den Hörer ab:

„Redt Maria. Wer spricht?“

Ich zucke kurz zusammen, weil sie einfach so ihren Namen laut ausspricht. Aber was soll schon passieren? Ich traue ihr zu, zu wissen, was sie tut.

Sie stellt das Gerät auf Lautsprecher, bevor jemand auf der anderen Seite der Leitung zu sprechen anfängt:

„Deine Enkelin Wanda Meier ist nicht zufällig in der Nähe?“

Oliver und Maria sehen mich erschrocken an. Könnte ich, würde ich wohl dasselbe tun. Stattdessen runzele ich die Stirn.

„Ich hätte gern mit dir gesprochen, Wanda.“

Die Stimme habe ich noch nie zuvor gehört. Sie stammt von einem Mann um die dreißig. Sie redet weiter:

„Ich weiß, es gibt keinen Grund für dich, mir zu vertrauen. Dazu müsstest du mich erst einmal kennen. Mein Name ist Ron Linde. Ich bin ein Bekannter von Jan. Er ist in Schwierigkeiten, genau wie du und ich finde, es wird langsam Zeit, einzugreifen. Sag bitte Ja, wenn du meine Hilfe annehmen willst.“

Ich wechsle einige Blicke mit meiner Großmutter, die unentschlossen zu sein scheint und sehe dann, wie mir Oliver zaghaft zunickt. Ich denke, wir könnten Hilfe gebrauchen. Und viel schlimmer kann unsere Situation jetzt ja auch nicht werden, oder?

„Ja“, sage ich entschlossen, „Bitte helfen Sie uns.“

Ron Linde, der, wenn man kombiniert, eigentlich niemand anders als R.L sein kann, sagt:

„Du kannst mich duzen, Kleine. Laut Jan sollst du ja ziemlich hübsch sein, nicht? Ich werde mich überraschen lassen. Wie dem auch sei, du bist den Necks ein Dorn im Auge, habe ich Recht? Obwohl du selbst mit ihnen verwandt bist...“

Er klingt auch wie ein Superschurke.

„Sie wollen, dass ich sterbe“, antworte ich.

„Ja, ja, so wie schon von vielen anderen. Aber du bist anders. Du bist eine richtige Bedrohung. Du bist die Gelegenheit für deine Mutter, ihren Traum zu verwirklichen, nicht wahr?“

„Jan hat dir aber viel erzählt.“

„Ich habe da so meine Tricks. Du kannst froh sein, dass du auf meiner Seite stehst, ich habe nämlich auch etwas gegen die Necks. Was das Konzert angeht...“

Ich halte die Luft an. Jetzt kommt wohl der wichtigste Teil.

„Ich bin mir sicher, du weißt bereits, dass du dorthin musst, um deine Mutter und so weiter zu retten. Es ist natürlich deine von den Necks vorgesehene Beerdigung. Sie wollen laut meinen Informanten deine Großeltern, zu denen du die stärksten Bildungen hast, langsam und qualvoll töten. Allerdings in ihrer Villa. Das Live-Video zeigen sie beim Konzert auf einer Leinwand mit Aufforderungen an dich, ein Gift zu nehmen, das Adalbert dir geben soll.“

„Ich sterbe sicher nicht durch die Hand eines Popsängers“, rutscht es mir heraus. Eine schreckliche Vorstellung für mich.

Oliver und Maria unterdrücken ein Lachen. Ron lässt es heraus.

„Das würde ich auch nicht wollen. Jedenfalls, deine Mutter, Tim und Jan werden am Konzert sein, damit sie sehen, wie du stirbst.“

Das dürfen sie auf keinen Fall. Vor allem meine Mutter nicht.

„Das klingt alles schrecklich, nicht wahr, Kleine? Aber das Konzert ist auch eine riesige Gelegenheit, dich zum Helden zu machen. Ich habe nämlich die Möglichkeit, deine Großeltern aus der Villa zu befreien und das Sendesignal zu unterbrechen, sodass niemand die Folterszenen sehen kann. Und dann stell dir vor, eine junge Frau steht plötzlich auf der Bühne. Sie zeigt auf die Necks, die hinter ihren drei Gefangenen stehen und lässt sie alle in die Höhe schweben – das kannst du doch, oder? - , danach droht sie, die Gedächtnisse der Necks zu löschen, wenn sie auch nur daran denken, das bei der Masse zu tun. Sie holt die verletzten drei Personen auf die Bühne, erklärt, was deine Verwandtschaft die letzten hundert Jahre so getrieben hat und verspricht, allen ihre Kräfte wiederzugeben. Den Necks werden die Kräfte genommen und der Wunsch deiner Mutter hat sich erfüllt.“

Nach einem kurzen Schweigen sage ich:

„Ich soll das machen? Ich habe noch nie eine Rede gehalten.“

„Besonders schüchtern bist du aber nicht. Du bist eine Einheimische, der die Menschen eher vertrauen werden als mir, du hast eine sehr überzeugende Superkraft, du kannst die Gedanken deiner Zuhörer lesen und ein falsches Wort von dir schnell ungeschehen machen. Du wärst sogar die perfekte Anführerin für Lamkat.“

„Anführerin? Heißt das, nachdem die Necks an Bedeutung verloren haben, soll ich quasi... für mein Land stehen?“

„Würdest du lieber sterben?“

„N-nein...“

„Dann tu einfach das, was ich sage.“

 

Kapitel 19

 

 

 

Als Ron aufgelegt hat, setze ich mich erst einmal an den Küchentisch und fange an, zu essen. Maria setzt sich zu mir und Oliver macht es sich mit seinem Obst auf der Couch bequem. Niemand sagt etwas.

Ron Linde hat uns Hilfe versprochen. Er hat uns gesagt, was wir zu tun haben. Ich frage mich, was für einen Vorteil er aus dem Ganzen zieht. Vertrauen können wir ihm nicht. Ich halte das Schweigen nicht mehr aus und sage:

„Ich frage mich, was Ron Linde für einen Vorteil aus dem Ganzen zieht. Vertrauen können wir ihm nicht.“

„Das muss dieser R.L sein, Wanda“, sagt Oliver in Gedanken versunken.

„Ja, ziemlich sicher.“

>>Wer ist R.L?<<, denkt Maria.

„Ich habe einen Brief von ihm an Jan gefunden, in dem mein Familienname vorkommt. Mehr weiß ich auch nicht über ihn“, beantworte ich ihren Gedanken.

Maria nickt, denkt aber noch weiter darüber nach.

Jan hat Sarah und Oliver wahrscheinlich so einiges über seine Vergangenheit verschwiegen. Und ich weiß natürlich fast nichts über ihn oder R.L. Ich habe keine Ahnung, was letzterer planen könnte.

„Wir halten uns an seinen Plan, oder?“, sage ich.

„Warum nicht?“, sagt meine Großmutter.

„Ich weiß nicht, ob wir genau das machen sollten, was er uns nahegelegt hat“, meint Oliver. „Was will dieser Typ überhaupt auf unserer Insel, wenn er kein Einheimischer ist? Er kommt wohl vom Festland, das, wie wir von Jan wissen, kein schöner Ort mehr zum Leben ist. Was ist dort eigentlich passiert?“

Ich kann gut verstehen, wie es Oliver stört, nicht zu wissen, was vor sich geht. Mir geht es genauso.

Maria sagt:

„Das werden wir nie erfahren, wenn wir nicht mit diesem Ron in Kontakt kommen oder zumindest Jan wiederholen, habe ich Recht? Wir sollten den Plan durchziehen.“

>>Er birgt wahrscheinlich am wenigsten Gefahr für Sarah und Wanda.<<

„Ich bin auch dafür. Euch beide nehme ich mit, um euch zu beschützen“, sage ich.

Oliver zieht die Augenbrauen nach oben.

„Es macht nichts, wenn du nicht mitkommen willst, Oliver. Ich kann dich auch dorthin tragen“, schlage ich vor.

„Das wird nicht nötig sein“, lächelt er. „Ich habe mir nur gerade gedacht, dass ich vielleicht doch zu irgendetwas gut bin. Immerhin bin ich Hypnotiseur. Ich kann dir bestimmt bei deiner Rede helfen und auch dabei, beim Publikum anzukommen.“

„Und was kann ich tun?“, fragt Maria.

Oliver legt den Pfirsichkern zur Seite und wendet sich meiner Großmutter zu.

„Hast du vielleicht etwas Schönes, was Wanda anziehen kann?“

„Für den Effekt?“, frage ich.

„Ja, natürlich, oder glaubst du, ich will dich unbedingt in Abendgarderobe sehen?“

Das wäre zu schön um wahr zu sein.

>>Ich will<<, denkt meine Großmutter. Es ist mir irgendwie peinlich, dass sie sehen will, wie ich mich entwickelt habe.

Maria führt uns in ihr Schlafzimmer und öffnet die Truhe, die an ihrem Bettende steht.

„Eigentlich tun die Necks ja genau das, was wir vorhatten“, bemerke ich.

„Ja, sehr kreativ ist das nicht“, entgegnet Oliver, während er in der Truhe voller alter Kleider herumwühlt. „Das mit Lila, der Plan wäre natürlich toll gewesen. Aber sie wird jetzt ja wohl kaum mitkommen dürfen.“

„Gut so. Wenn die Folterszenen aus irgendeinem Grund doch übertragen werden, möchte ich nicht, dass meine kleine Halbcousine dabei ist.“

„Es werden genug andere kleine Mädchen, die du nicht kennst, dabei sein“, sagt meine Großmutter.

„Jepp“, sagt Oliver und zieht ein türkisfarbenes Kleid aus dem Haufen.

Er hält es mir entgegen.

„Probier es an, ich glaube, es könnte passen.“

Ich betrachte es ein wenig, drehe es um und komme zu dem Schluss, dass es mir überhaupt nicht gefällt. Ich rieche daran. Es riecht nach Staub.

„Weißt du, ich mag Türkis nicht besonders“, sage ich. „Ich glaube, ich habe vorher ein rotes Kleid gesehen, wie wär's mit dem?“

„Nein, das hier ist perfekt, wenn es dir passt“, beharrt Oliver. Er sieht mir lange in die Augen und ich werde nervös.

„Das hat auch meiner Großmutter Maria gehört“, erklärt uns meine Großmutter Maria, „Ich glaube, das hat man früher oft in Lamkat getragen, als eine Art Landestracht. Türkis, wie das Meer, wie unsere Fahne. Meine Großmutter hat wie viele andere auch darin geheiratet.“

„Umso besser“, sagt Oliver begeistert.

„Also, Wanda, bitte probier es an. Ich glaube, es steht dir, es ist deine Augenfarbe, ich habe es überprüft. Und du sollst laut Jan ja ziemlich hübsch sein.“

Obwohl das wahrscheinlich ein Scherz gewesen ist, muss ich lächeln. Ich sehe mir das Kleid nochmals an. Ich finde es ein wenig zu lang, aber der Schnitt sieht eigentlich ganz nett aus.

„Ich würde es tragen, wenn wir es kürzen und wenn ich dazu irgendetwas Rotes bei mir haben könnte. Ohne etwas Rotes könnte ich wohl nicht wütend genug werden, um eine bewegende Rede zu halten.“

„Wie wäre es mit meinen Haaren?“, scherzt Oliver.

„Sehr lustig“, lächle ich. „Ich gehe mich umziehen.“

>>Dieser junge Mann flirtet aber gekonnt<<, denkt Maria, als ich den Raum verlasse.

Flirtet Oliver mit mir? Oder ist das einfach seine Art? Ich kenne ihn nicht anders, er geht mit allen so um. 

Also sollte ich mir besser keine Hoffnungen machen. Ich muss lernen, diese Gedanken abzuschalten. Sie lenken mich vom Wesentlichen ab. Ich darf keine Hoffnungen hegen. Als mir das bewusst wird, merke ich, dass ich mir bereits Hoffnungen gemacht habe.

Im Badezimmer betrachte ich mich zunächst im Spiegel. Ich sehe so aus wie immer. Ich könnte nicht sagen, ob ich schön bin oder nicht, aber zumindest sehen meine Haare heute einmal etwas normaler als sonst aus. Ich binde sie in einem Zopf zusammen.

Das Kleid gefällt mir an mir viel besser als vorher. Es macht eine schöne Figur und wirkt schlicht und elegant. Es passt sogar zu meinem Teint.

Das mit dem Kürzen sollte ich mir noch einmal überlegen. Ich muss übermorgen schließlich auf der Bühne stehen und dafür haben sich lange Kleider oder Hosen bewährt.

Mir fällt etwas Rotes ein, das ich verwenden könnte. Schnurstraks gehe ich ins Schlafzimmer, stolpere dabei fast über Maria und suche in meiner Tasche nach einem roten Gürtel.

Während ich herumkrame, ernte ich zufriedene Blicke. Meine Großmutter begutachtet mich und findet, dass ich wirklich gute Gene bekommen habe.

„Habe ich es nicht gesagt?“, kommentiert Oliver, „Vous êtes très chique, mademoiselle.“

„Oui, je le sais, mais merci“, antworte ich.

Da umfasst meine Hand etwas, das sich anfühlt wie ein Armband. Ich ziehe es heraus – es ist nicht wirklich überraschenderweise ein Armband. Ein goldenes. Das mir Sophia geschenkt hat, zu meinem 18.Geburtstag. Ich streife es über. Das werde ich auch tragen. Um mich daran zu erinnern, für wen ich das hier mache, außer für mich und mein Gewissen.

„Was suchst du?“, fragt Maria.

„Meinen roten Gürtel. Ah, da ist er!“

Ich ziehe ihn aus der Tasche und befestige ihn um meine Taille.

„Na, bitte. Jetzt gefalle ich mir.“

„Und das ist das Wichtigste“, meint Oliver mit einem leicht spöttischen Blick.

Die Rede zu verfassen und auswendig zu lernen ist mehr Arbeit als gedacht. Vor allem, weil Oliver immer irgendetwas auszusetzen hat, mal am Text, mal an meiner Gestik. Ich wirke aggressiv genug, aber nicht vertrauenswürdig und menschlich genug. Und als Anführerin muss man eben irgendwie alles sein.

Schon wieder wird die Rolle der Anführerin mir überlassen, obwohl ich mich bis jetzt ja nicht besonders klug angestellt habe. Noch immer nur, weil ich stärkere Kräfte habe als die anderen. Aber wenn ich damit wirklich jemandem helfen kann...

Am Morgen des Konzerts bekomme ich so weiche Knie, dass ich fast nicht aus dem Bett steigen kann. Aber so darf mich niemand sehen. Ich muss heute stark wirken, es geht um Leben und Tod und bestimmt die größte Enthüllung Lamkats seit hundert Jahren.

 

Kapitel 20

 

 

 

Für heute. Nur für heute. Ich muss mir einfach vorstellen, ich wäre nicht ich, sondern jemand anders, der mir zusieht. Dann verschwindet dieses unbehagliche Gefühl vielleicht.

Ich glaube, man könnte es fast Panik nennen. Es setzt sich aus Todesangst gekoppelt mit Lampenfieber und Angst um alles, das mir wichtig ist, zusammen.

Es ist höchstens eine Woche her, da lebte ich ein normales Leben. Ich hatte normale Freundinnen, eine halbwegs normale Familie und ich hätte eine normale Zukunft gehabt. Ich weiß nicht, ob ich die Wahrheit wirklich der Ungewissheit vorziehen würde, hätte ich noch einmal die Wahl. Meine Mutter ist einfach gekommen, hat mir eine unglaubliche Geschichte erzählt und ich habe ihr geglaubt und gleich mitgemacht. Weil ich mich geschmeichelt gefühlt habe. Das muss ich mir jetzt eingestehen, ich habe nicht aus Heldenmut oder Verbesserungswillen mitgemacht. Zumindest nicht hauptsächlich. Ich habe mich wie etwas Besonderes gefühlt, als eine der wenigen, die eingeweiht sind. Und weil ich so starke Kräfte habe. Ich habe es genossen, im Mittelpunkt zu stehen und mir wenig Gedanken über die Konsequenzen gemacht. Und ich habe gedacht, für mich würde es ein Kinderspiel werden. Ich will es nicht und doch muss ich einsehen, dass Oliver Recht hat, wenn er mich eingebildet nennt oder meint, ich wäre unerfahren. Meinetwegen geht es jetzt um alles oder nichts.

Am liebsten würde ich wieder in der Zeit vor drei Jahren leben, im vertrauten Haus meiner Großeltern, nichts über meine Eltern oder Oliver wissen und weiter einfach in Sicherheit verzogen werden. Ohne Gefahr, ohne irgendeinen Reiz, aus der Idylle auszubrechen. Aber das mit Oliver und meinen Kräften, mit Kortuma... das alles ist Realität. Und ich weiß davon, weil ich es wissen wollte. Ich bin selbst schuld. Ich spiele mit dem Gedanken, mein Gedächtnis nach dem Konzert zu löschen. Wenn ich dann nicht bereits tot bin.

Meine Hände zittern, als ich mir meinen Gürtel umschnalle und das Armband überstreife. Natürlich hätte die alte Wanda nicht so viel Angst vor einem Auftritt gehabt. Im Gegenteil, sie hätte wahrscheinlich das Rampenlicht genossen. Aber die Umstände haben sich geändert. Und Wanda mit ihnen.

Als ich mich ein wenig, nur ganz zart, schminke, gehe ich im Kopf meine Rede Wort für Wort durch. Ich muss nach Rons Plan heute zur Heldin Lamkats werden. In mir wächst langsam aber sicher die nächste Angst, wenn ich an Ron denke. Die Angst vor der Ungewissheit.

Wo bin ich da nur hineingeraten, als meine Mutter mich mit ihrer gelben Latzhose von meinen Großeltern weggeholt hat? Nein, das ist falsch. Heute ist Wanda verwirrt. Sie kann nicht klar denken. Ich bin doch schon viel früher darin involviert gewesen. Seit ich geboren worden bin.

Ganz Lamkat ist involviert, aber die wenigsten wissen es.

Heute werden sie davon erfahren.

Aber wovon erfahren?

Von Dingen, die Jan meiner Mutter erzählt hat und die sie teilweise selbst herausgefunden hat. Meiner Mutter traue ich, aber Jan? Jan, Jan, Jan...

Er hat uns Ron verheimlicht. Vielleicht plant er ja etwas mit ihm zusammen?

Es bringt nichts. Es bringt Wanda bestimmt nichts, darüber nachzudenken. Sie kann sowieso nichts an der Lage ändern. Sie sollte rausgehen und so tun, als ginge es ihr wie immer. Sie sollte stark wirken.

Angeblich ist sie ja stark. Und hübsch. Und sportlich. Und intelligent. Und witzig. Nicht süß, das nicht. Das hat sie nie sein wollen.

Ja, das bin ich, kichere ich in mich hinein. So und nicht anders. Ich bin schon ein Teufelskerl. Und deshalb ziehe ich das heute durch.

Ich gehe aus dem Bad ins Wohnzimmer. Als ich Oliver und Maria sehe, zerbricht mein mühsam aufgebautes Selbstvertrauen wieder. Ich weiß, dass sie große Erwartungen an mich haben. Das Zittern beginnt von neuem.

>>Wanda, du zitterst. Ich weiß, es ist schwierig, aber du musst dich zusammenreißen.<<

Laut sagt Maria:

„Wir bleiben die ganze Zeit über bei dir.“

Sie kommt auf mich zu und nimmt meine Hand. Das gibt mir wieder ein wenig Sicherheit. Ich kenne sie zwar noch nicht lange, aber diese Frau ist immerhin mit mir verwandt und löst in mir das Gefühl von Geborgenheit aus.

„Keine Angst, Wanda“, sagt Oliver, indem er mir in die Augen sieht. Ich könnte schwören, er wendet Hypnose an. Schon ist mein Panik-Level viel kleiner geworden.

Natürlich ist das absurd. Eigentlich muss ja ich die beiden beschützen und nicht umgekehrt. Aber ich fühle mich in ihrer Gegenwart sicherer als alleine.

Auch sie haben sich für heute schick gemacht. Sie wollen ja nicht von meiner Seite weichen, darum müssen sie wohl oder übel auch auf die Bühne. Oliver trägt etwas Ähnliches wie am Tag, an dem ich ihn kennengelernt habe. Rollkragenpullover, Gilet, Fliege. Irgendwie passt das zu ihm. Meine Großmutter hat auf einer Hose bestanden mit der Begründung, dass meine Mutter nicht entstanden wäre, hätte sie das schon früher getan.

So fahren wir mit dem Bus Richtung Westen. Bei jeder Station steigen überdurchschnittlich viele Menschen zu, die wohl alle denselben Zielort wie wir haben und ich sehe sie schon jetzt vor mir im Publikum sitzen, die Augen weit aufgerissen, die Ohren gespitzt, um ja nichts Interessantes zu verpassen.

„Weißt du deine Rede noch?“, fragt Oliver.

Ich nicke nur.

„Wann gehst du auf die Bühne?“

Ich muss nicht lange nachdenken.

„Wenn das Video für mich angekündigt wird.“

„Vorher musst du?“

„Das Gift finden, damit ich es der Masse zeigen kann.“

„Wie wirkst du menschenfreundlicher?“

„Mich selbst als Opfer bezeichnen.“

„Du bist auch eines. Denk daran, du bist nicht an dem Ganzen hier schuld, Wanda, du...“

Er unterbricht seinen Redefluss und starrt konzentriert auf die Tür. Gerade eben sind wieder einige Fahrgäste dazugekommen. Maria folgt seinem Blick, kann aber nichts Außergewöhnliches erkennen. Genausowenig wie ich. Aber Oliver wendet weder seine Augen ab, noch beginnt er wieder, zu reden. Er denkt scheinbar angestrengt nach. Da höre ich plötzlich seine Gedanken:

>>Ist sie das? Nein, das kann nicht sein... Oder doch? Hat dieses Mädchen mit der schönen Stimme etwas dagegen, wenn ich zu ihr gehe?!“

Er vergleicht die schöne Blondine mit den braunen Augen, die gerade in den Bus eingestiegen ist, mit seiner Erinnerung an die kleine Hoggi. Eine gewisse Ähnlichkeit besteht. Und hat Wanda etwas dagegen, wenn er zu ihr geht? Und ob!

„Zieh dir das rein, Tomolli!“, sage ich fast wütend.

Er kann seine Aufmerksamkeit nicht ihr widmen. Nicht jetzt. Jetzt brauche ich ihn gerade.

Er wird wieder er selbst, starrt aber noch immer die Blondine an.

„Ist das Hoggi?“, frage ich ihn möglichst leise, damit sie es nicht hört.

„Was? Äh, ja, hm... Bin mir nicht sicher... Wanda... Tut mir leid, wo waren wir?“

„Hey, du kannst sie ja nach ihrer Nummer fragen. So kannst du vielleicht später, aber bitte erst nach dem Konzert, mehr über deine Mutter erfahren.“

„Was, wenn sie mir ihre Nummer nicht geben will?“

„Du bist Hypnotiseur, Schätzchen“, sagt Maria.

„Das stimmt natürlich... Das sollte ich tun.“

Dass er so aus der Fassung gebracht werden kann. Er sieht so ungeschickt aus, als er zu Hoggi geht und dort beginnt, herumzustottern. So benimmt er sich also jemandem gegenüber, an dem er interessiert ist. Kein Flirten, kein Necken. Er ist unsicher. Zur Zeit kann ich nur zusehen, wie er von seiner ersten Liebe aus der Bahn geworfen wird. Mir bleibt aber die Hoffnung, dass er sich nur deshalb so benimmt, weil er sie schon so lange nicht gesehen hat.

In Hoggis Gedanken kann ich lesen, dass sie Oliver nicht kennt, aber dass er durchaus nett auf sie wirkt und dass sie ein wohliges Gefühl hat, wenn sie ihm in die Augen sieht. Sie weiß nicht, woher das Gefühl kommt, aber es passt ihr nicht und sie fühlt sich schuldig, weil sie einen Freund hat. Ich forsche in ihrem Gedächtnis nach einer Frau, die wie eine Ziehmutter für sie war und finde ein Bild von Olivers Mutter. Es muss Olivers Mutter sein, denn sie hat dieselbe Haarfarbe und die gleiche Nase wie er. Sie ist nicht tot, aber sie wohnt nicht mehr mit Hoggi zusammen.

Jetzt fragt Oliver Hoggi nach seiner Mutter. Und ich erfahre, wie es sich anfühlt, von ihm hypnotisiert zu werden. Hoggi denkt an nichts anderes als an seine Stimme, sie hängt an seinen Lippen, er ist der überzeugendste Mensch, den sie je getroffen hat. >>Natürlich<<, denkt sie. >>Ich werde das tun, was er sagt.<< Sie schreibt ihm die Addresse seiner Mutter auf einen Zettel, reicht ihm das Blatt. Als er geht, ist der Zauber vorbei und Hoggi ist fasziniert von Oliver. Na, toll. Hat das denn sein müssen? Jetzt denkt sie die ganze Zeit an ihn, ihre Gedanken ähneln denen von Sophia, Terri und Anna nach dem Besuch im Café. Nur sind Hoggis Gefühle stärker, ein Mischmasch aus den alten und jenen, die er scheinbar bei allen Frauen auslöst. Zugegeben, auch bei mir.

Es wäre zu verlockend, ihre Erinnerungen an Oliver nochmals zu löschen. Aber auch sehr falsch von mir. Aber Oliver hat sich sowieso keine Hoffnungen gemacht, weil sie einen Freund hat. Und eigentlich wäre es schlecht für sie, sich in ihn zu verlieben, wenn sie schon einen Freund hat. Außerdem kann ich ihr ja nur die Erinnerungen, nicht aber das Gefühl der Verbundenheit mit Oliver nehmen, sonst wäre das ja schon längst weg gewesen. Trotzdem ist es falsch. Ich würde meine Kräfte nur zu meinem Wohl nutzen und in das Leben anderer eingreifen. Aber niemand würde es bemerken, und es würde keinem schaden...

Mit einem Zettel in der Hand und einem Gesicht, das relativ nichtssagend aussieht, kommt Oliver zurück und setzt sich. Es würde keinem schaden, davon bin ich überzeugt. Ich sehe mich noch einmal in Hoggis Gedanken um, suche in ihrem Kopf nach den Bildern von Oliver, die sie gerade eben abgespeichert hat. Mit dem Wissen zusammen, dass sie sich zu ihm hingezogen fühlt. Knopfdruck, weg.

Ich habe es getan.

Ich habe es wirklich getan.

Und es ist gut gegangen.

Verdammt, wenn Oliver das erfährt...

Jetzt erst fällt mir ein, wie gefährlich für Hoggi das gerade gewesen ist. Ich sehe zu ihr, vergewissere mich, dass ihr Gehirn nicht nur aus Mus besteht. Doch zum Glück war ich konzentriert genug, zum Glück sind meine Gefühle nicht mit mir durchgegangen. Jetzt ist mein schlechtes Gewissen aber noch größer.

Ich sehe Oliver ins Gesicht. Jetzt sieht es irgendwie gleichzeitig traurig und froh aus. Er scheint, einen bösen Gedanken vertreiben zu wollen und in kurzen Sätzen berichtet er uns darüber, was er hat erfahren können:

„Es ist Hoggi. Sie kennt mich überhaupt nicht mehr. Sie hat einen Freund, mit dem sie aufs Konzert geht. Meine Mutter lebt noch. Auf dem Zettel steht ihre Adresse. Ich weiß nicht, ob ich sie jemals besuchen werde.“

Auch ich weiß jetzt nicht, ob ich fröhlich oder traurig sein soll. Ich habe gerade meine Rivalin gewissermaßen ausgeschaltet, bevor etwas passieren konnte. Aber das war wirklich nichts anderes als selbstsüchtig, unvorsichtig und dumm von mir. Mein schlechtes Gewissen drückt mir auf die Kehle, zusätzlich dazu, dass Olivers Wunden gerade erstklassig aufgerissen worden sind.

Da ja mein Ziel ist, Oliver glücklich zu sehen, wenn möglich mit mir, fühle ich, wie sich seine Wunden auf mich übertragen, wie eine ansteckende Krankheit. Solange ich sie noch spüre, muss ich mich mehr anstrengen. Ich fange am besten damit an, dass heute beim Konzert alles glatt geht, niemand verletzt oder getötet wird und ich danach mehr über Jan herausfinde. Ich muss jetzt versuchen, alles perfekt hinzubekommen, damit ich mein schlechtes Gewissen vergessen kann.

Oliver seufzt und wendet sich mir zu.

„Also, darüber kann ich mir später noch Gedanken machen. Jetzt kommt vorerst die Rettung meiner neuen Familie.“

Er lächelt. Für Maria sieht es natürlich aus, auf mich wirkt es gezwungen.

 

Das Myosim. Ein riesiges Gelände mit einer Bühne im Osten und einem Urwald im Westen. Der Wald steht unter Naturschutz, niemand darf ihn betreten. Dieses riesige Gelände ist komplett bedeckt mit einer Masse an Fans, am nahen Parkplatz kann man höchstens noch ein paar Motorräder abstellen und fast alle tragen T-Shirts, auf denen aufbauende Sprüche wie „Adalbert, lass dich nicht unterkriegen!“ und „Wir werden dich immer lieben!“ stehen. Warum lieben diesen blöden Popsänger nur so viele?

Dicht aneinandergepresst, um uns in der Menge nicht zu verlieren, schieben wir uns bis zur Kartenkontrolle. „Für so einen Dreck gebe ich kein Geld aus“, hat meine Großmutter gestern gesagt. Also redet Oliver dem Kontrolleur einfach ein, wir hätten ihm die Karten bereits gezeigt.

Erster Schritt: Nach den Necks Ausschau halten. Wenn sie schlau sind, sind sie in mehr als 100m Entfernung. Wobei es wahrscheinlich auch nichts ausmachen würde, wenn sie näher wären. Bei diesem riesigen Stimmengewirr könnte ich ihre Gedanken auf keinen Fall finden. Am besten, ich achte darauf, ob ich Tims oder die Stimme meiner Mutter hören kann.

Zweiter Schritt: Herausfinden, wo das Gift ist. Noch hat das Konzert nicht begonnen, auf der Bühne werden einige Sachen eingestellt und zu meiner Überraschung wird gerade ein Xylophon auf die Bühne getragen.

„Oliver?“, sage ich.

„Was?“

Ich deute auf das Xylophon.

„Nach der Rede müssen wir das echte Kortuma singen.“

„Kannst du denn den Text?“

Ich habe ihn zwar nur zweimal ganz gehört, aber in den letzten zwei Tagen immer wieder vor mich hin gesungen. Ich nicke.

„Dann ist das sicher keine schlechte Idee. Es kommt jetzt ja doch alles so, wie wir geplant haben, oder?“

Er lächelt kurz.

Maria, die ja Kortuma ganz vergessen hat, kennt sich nicht aus.

 

Wenn ich nervös bin, ist der heutige Performer ein Nervenwrack. Aufgeregt geht er hinter der

Bühne auf und ab, ein Fläschchen mit durchsichtiger Flüssigkeit in der Hand und einen angsterfüllten Blick im Gesicht.

>>Ich kann das doch nicht machen... Das arme Mädchen... Aber ich muss... Diese gruseligen Typen... Nein, ich will nicht daran denken! Wie soll ich mit dem Wissen leben, eine 18-jährige getötet zu haben?<<

Das muss er wahrscheinlich nicht, wenn die Necks vorhaben, sein Gedächtnis und das aller anderen nach dem Konzert zu löschen.

Ich räuspere mich.

„Dann bring mich nicht um“, sage ich, indem ich mich um eine feste Stimme bemühe.

Da fällt mir ein, dass die Necks vermutlich hier ganz in der Nähe sind, um die Gedanken des Künstlers im Auge zu behalten. Mir läuft es kalt den Rücken hinunter. Wir werden immer beobachtet.

Doch Maria auch. Und sie weiß den Plan. Wenn irgendwo in der Menschenmenge ein Neck ist, dann...

„Maria, darf ich dein Gedächtnis löschen?“

Sie zieht ihre Augenbrauen nach oben. >>Ja, hast ja Recht. Mein Gehirn ist ungeschützt, was? Ich habe sowieso schon alles aufgeschrieben, also nur zu.<<

„Gut.“

Oliver sieht interessiert zu, wie ich unseren Plan, oder vielmehr den von Ron Linde, zu schützen versuche. Als nächstes nehme ich mir Adalbert vor, der mich geschockt ansieht.

>>Das ist sie ja. Hoffentlich ist sie nicht so wie die, die sie tot sehen wollen.<<

Das hoffe ich auch.

Ich muss auch seine Erinnerungen an mich löschen und dann dafür sorgen, dass er mich nicht erwartet. Damit auch die Necks mich nicht erwarten können. Ich nehme ihm das Gift aus der Hand und konzentriere mich auf seinen Kopf.

Man hat ihm zuerst angeboten, Kortuma als sein neues Lied auszugeben. Dann hat man ihm Geld dafür gegeben, ein Konzert zu veranstalten. Und gestern hat er davon erfahren, dass er mir Gift geben soll. Wenn er sich weigere, werden sie seine Adern platzen lassen...

Also lebt Tim noch. Oder jemand anders aus seiner Familie.

Maria, Oliver und ich gehen, damit er uns nicht mehr sehen kann. Ich lösche seine Erinnerungen an die Necks, das Gift und mich. Seine Nervosität verflüchtigt sich und er freut sich aufs Konzert. Maria weiß nicht genau, wieso sie hier ist, aber sie weiß, dass sie mich unterstützen will. Wir stellen uns in die erste Reihe, was einiges an Drängeln erfordert und warten ab. Dann, ein wenig nach drei, steigt Adalbert Meming auf die Bühne. Er schwitzt, wie alle anderen, in der heißen Sonne der Insel Lamkat.

Und das Konzert beginnt.

 

Kapitel 21

 

 

 

Während Adalbert ein älteres Lied von ihm zum Besten gibt, wische ich mir mit meinen unsichtbaren Händen immer wieder den Schweiß von der Stirn. Ich zähle meine Hände. Zwei normale. Eine unsichtbare hinter mir, damit die Menschenmasse mich nicht ganz berühren kann. Eine kitzelt Adalberts Nase und er muss niesen. Aber ich habe mehr als vier Hände. Würde ich jetzt wollen, dass ein Baum, der etwa 200 Meter hinter mir im Westlichen Wald steht, umfällt, ich könnte ihn dazu bringen. Aber das ist ein geschützter Wald.

Meine Greifwerkzeuge sind stark und stehen mir in unbegrenzter Zahl zur Verfügung. Auf sie müsste ich mich verlassen können. Es ist nur relativ schwer, sich auf alle ihre Bewegungen zu konzentrieren, sobald es mehr als fünf sind.

Das nächste Lied ertönt. Beim Video muss ich auf die Bühne. Aber jetzt noch nicht. Ich versuche, tief durchzuatmen. Mir fallen wieder alle Menschen ein, deren Leben heute von mir abhängt.

Meine Mutter. Ich kenne sie erst viel zu kurz und ihr Tod würde mich zur Vollwaise machen.

Jan. Er ist alt, aber trotzdem ein Freund von Sarah und Oliver. Und ich bin schon für den Tod von Olivers vertrautesten Person in dieser Welt verantwortlich.

Tim. Er muss gerade furchtbare Angst haben.

Oliver... Daran will ich gar nicht denken.

Meine Großeltern. Ich könnte es nicht verkraften, wenn sie sterben würden.

Und ich. Ich will heute nicht sterben, egal was.

Unbewusst formen sechs meiner unsichtbaren Hände einen Schutzschild um mich. Der Popsänger auf der Bühne spielt mittlerweile sein drittes Lied, das von einem mittelmäßigen Xylophonspieler begleitet wird.

Oliver lächelt ein wenig befriedigt.

„Besonders gut kann der das ja nicht...“, sagt er.

Ich nicke zustimmend. Auf meine Stimme ist derzeit kein Verlass.

„Wanda?“

„Was?“, sage ich, konzentriert darauf, den Schutzschild nicht fallen zu lassen.

„Ich weiß, das ist weder der richtige Ort, noch die richtige Zeit, um zu fragen...“

„Was denn?“

Oliver legt mir die Hand auf die Schulter. Mein Schutzschild ist wie weggeblasen.

„Du bist nervös. Ich verstehe das wirklich, du hast jedes Recht dazu. Ich nehme an, die Ereignisse der letzten Tage waren für dich sogar viel schlimmer als für mich, da du eigentlich erst vor kurzem von uns hineingezogen worden bist. Aber du machst das wirklich gut. Du musst dir vielleicht einfach wieder in Erinnerung rufen, warum du überhaupt erst mitgemacht hast.“

Das war eine sehr indirekte Frage. Es interessiert ihn also, warum ich hier bin.

Oliver lächelt mich an. Ich kann ihm nicht sagen, dass das anfangs viel mehr aus purem Leichtsinn, Neugierde und Selbstgefälligkeit als aus einem inneren Gefühl der Pflicht heraus war. Dafür bin ich zu stolz. Aber einen Teil kann ich zugeben:

„Aber da wusste ich nicht, wie gefährlich die Sache wirklich ist.“

Es ist schwierig, zu lächeln.

Auch Oliver tut sich schwer damit, lässt es schließlich ganz bleiben und zieht seine Augenbrauen zusammen. Dieser Gesichtsausdruck steht ihm.

„Weißt du, du bist wirklich ein Rätsel. Manchmal zu stolz, um irgendeine Gefühlsregung zu zeigen, manchmal bist du so vernünftig, alles zuzugeben. Und zuerst warst du mir nicht besonders sympathisch. Denn einerseits ist es lächerlich, dass du glaubst, alles zu können und alles zu schaffen. Andererseits... Manchmal glaube ich auch, manchmal bin ich überzeugt davon, dass du alles kannst.“

Also so denkt er gerade über mich. Ich muss lächeln. Auch wenn das absichtlich aufbauende Worte waren, wegen der Kritik hat es sich nicht wie eine Lüge angefühlt. Und er hat Recht, so etwas von Recht. Ja, eigentlich bin ich selbstbewusst. Eigentlich ist mir bis jetzt nichts passiert. Also wieso sollte ich jetzt alle gefährden, indem ich mich einschüchtern lasse? Ich doch nicht!

Als Oliver seine Hand wieder von meiner Schulter zieht, umarme ich ihn. Es ist viel zu heiß und wir beide stinken sicher bis zum Himmel, aber das ist mir egal. Er fühlt sich gut an. Kurz bevor ich die normale Dauer einer Freundschaftsumarmung überschreite, höre ich auf und lächle ihm ins verdutzte Gesicht.

„Danke“, sage ich.

„Gern geschehen“, lächelt er zurück.

>>Warum umarmt meine Enkelin irgendwelche Typen und nicht ihre Großmutter?<<

Ich umarme Maria, die ziemlich überrumpelt ist, mir dann aber beruhigend über den Rücken streicht. Sie muss an Sarah denken und daran, dass ich viel größer bin.

„Und nach diesem Lied wachse ich wohl noch um weitere 1m50“, scherze ich.

Das dritte Lied ist zu Ende und als sich der Jubel gelegt hat, wird ein Musikvideo von „Familienvereinigung“ angekündigt, zu dem Adalbert live singen wird. Auf dem riesigen Bildschirm hinter der 1m50 hohen Bühne erscheint ein Bild. Es sieht aus wie das Zimmer, in dem Oliver einmal gewohnt hat. Im Keller der Necks. Oh, nein. Nein. Hat Ron Linde nicht gesagt, er unterbricht das Signal? Rettet meine Großeltern? Warum sehe ich dann, wie die beiden von einer für Lamkat ungewöhnlich hellhäutigen Frau mit gezupften Augenbrauen in den Raum geführt werden? Wie sie die Tür hinter sich abschließt? Wie verängstigt meine Großeltern dreinschauen?

Macht Ron Linde gemeinsame Sache mit den Necks? Ist er vielleicht einer?

Es ist mucksmäuschenstill. Alle warten gespannt auf das Musikvideo. Aber Adalbert Meming weiß nicht mehr, was vor sich geht.

„So“, sagt die Frau auf dem Bildschirm zu meinen Großeltern. Zu Oma und Opa.

„Was wollen Sie jetzt eigentlich? Ich verstehe das nicht. Was hat Wanda denn getan?“

Die Stimme meines Großvaters zittert vor Angst. Das habe ich wohl von ihm.

„Wir wollen, dass Wanda uns nicht mehr länger belästigt. Deshalb wird sie hier auf der Bühne, sodass wir es sehen können, das Gift trinken, das Adalbert ihr geben wird. Es sei denn, sie möchte, dass ich euch weh tue. Und zwar richtig.“

Dabei lächelt die Frau zuerst meine Großeltern an und dann in die Kamera.

>>Hör auf!<<, will ich schreien, aber ich weiß natürlich, dass das nichts nützen wird. Sie wird erst aufhören, wenn ich tot bin. Und vielleicht auch danach noch nicht.

Die Gedanken der Menschen um mich herum sind entweder eingeschüchtert, ängstlich, wie Marias, oder gespannt, weil sie glauben, das gehöre alles zur Show. Tja, wenn die Folter anfängt, glaubt das hoffentlich niemand mehr.

Ich überlege fieberhaft, was ich machen soll. Dabei umklammere ich fest das Fläschchen Gift in meiner Hand.

„Wanda... Komm nicht auf dumme Gedanken“, sagt Oliver, „Ich wette, gleich kommt Ron und rettet sie.“

Ja, vielleicht. Wahrscheinlich nicht.

„Nein, bitte nicht!“, schreit meine Großmutter, als die Frau ein Messer aus einer Schublade holt.

„Das müssen Sie Ihrer Enkelin sagen, nur sie kann dafür sorgen, dass es aufhört...“

Die Frau macht einen Schritt auf Oma zu, da versucht Opa, sie aufzuhalten.

„Halten Sie sich von ihr fern!“, schreit er sie an und erntet prompt einen Stich ins Bein. Ihm entfährt ein Schmerzensschrei und er bricht zusammen. Blut sprudelt aus seinem linken Oberschenkel. Er hat immer gesagt, er möchte einen friedlichen Tod, irgendwo am Meer vielleicht, wo er die schönen Wellen beobachten kann.

„So, Wanda, jetzt wäre es langsam einmal Zeit“, lächelt die Frau in die Kamera. Ihr Blick brennt sich mir ins Gedächtnis, löst eine riesige Wut aus. Ich hieve mich auf die Bühne.

„Nein, Wanda!“, sagt Maria und folgt mir.

„Verdammt“, flucht Oliver und auch er steigt auf die Bühne.

Ich richte mich auf und sehe die gigantische Menschenmasse, alle Augen sind auf mich gerichtet. Ich kann schwer einschätzen, wie viele Zuschauer ich habe, aber das ist mir im Moment vollkommen egal. Ich suche die hintersten Reihen nach meiner Mutter ab.

„Sarah!“, schreie ich, so laut ich kann.

Adalbert Meming nimmt sich das Mikrofon und beteuert:

„Liebes Publikum, ich hatte keine Ahnung, das müsst ihr mir glauben... Und Gift habe ich auch keines, sehen Sie...“

Er hält seine Hände in die Höhe, wobei ihm das Mikrofon hinunterfällt. Eine meiner unsichtbaren Hände fängt es auf.

„Hilfe!“, höre ich Oma hinter mir schreien. Blitzartig drehe ich mich um. Das Messer zieht gerade einen langen roten Strich auf ihrem Arm.

„Wanda, trink das Gift“, sagt die Peinigerin meiner Großeltern in einem neckischen Ton.

Mein Publikum ist geschockt. Beinahe niemand glaubt mehr, es hier mit einer Show zu tun zu haben. Das Weinen meiner Oma lässt mich das Giftfläschchen in die Höhe halten, damit die Necks sehen, was ich gedenke, zu tun. Langsam schraube ich es auf, während ich höre, wie Opa wimmert. Ich will mich nicht umdrehen. Sonst werde ich bestimmt in Tränen ausbrechen.

„Wanda, nein!“, ruft Oliver und Maria denkt >>Das ist dumm von dir, die Necks werden nicht aufhören, Wanda, nur weil du tot bist! Wanda, denk an deine Mutter!<<

Oliver will mir das Fläschchen aus der Hand nehmen, aber als ich ein Stöhnen meiner Oma höre, halten mir zwei meiner unsichtbaren Hände Oliver und Maria vom Leib. Ich ziehe das jetzt durch. Es muss wirklich echt aussehen, die Tränen, die ich jetzt in den Augen habe sind es jedenfalls. Ich tue so, als würde ich das Gift aus der Flasche in meinen Mund schütten, während die vierte unsichtbare Hand sich wie ein Schild zwischen meine Lippen und die Flüssigkeit schiebt. Die Flasche ist leer, kein Tropfen davon ist in meinen Körper gekommen. Ob die Necks mir das abkaufen? Wahrscheinlich stehen sie zu ihrem Schutz sehr weit weg, in der letzten Reihe. Und sie können keine Nahaufnahme von mir sehen, oder? Zum Glück ist das Gift durchsichtig, sonst könnte man sehen, wie es in der Luft neben meinem Kopf schwebt.

Ich huste ein wenig, obwohl ich keine Ahnung habe, wie das Gift wirken soll. Dann fasse ich mir an den Bauch, schreie gleichzeitig mit meiner Oma und winde mich schließlich am Boden. Doch ich halte Oliver und Maria noch immer da fest, wo sie sind, sie sollen wissen, dass ich noch lebe. Mein Gesicht zeigt zum Glück nicht ins Publikum. Ich leere das Gift ganz vorsichtig hinter der Bühne ins Gras. Das Mikrofon schwebt noch knapp über dem Boden. Ich lasse es fallen und bewege mich nicht mehr, damit die Necks sehen, dass ich tot bin. Und jetzt müssen sie ein Signal senden. Irgendetwas, damit die Frau aufhört, meine Großeltern zu foltern. Oder?

Nichts. Die Folter geht weiter. Immer wieder höre ich Sätze wie „Wanda, nimm doch das Gift. Komm schon, noch ist es nicht zu spät...“

Das Publikum wundert sich. Und ich mich mit ihm. Warum weiß die Frau nicht, was hier los ist? Sie müsste entweder erfahren haben, dass ich tot bin, oder zumindest, dass ich meinen Tod vorgetäuscht habe. Dann müsste sie so etwas sagen wie „Wenn du das Gift verschüttet hast, musst du dich eben auf andere Weise umbringen.“

Aber nichts. Warum sagen ihr die Necks nichts? Hat Ron aus Versehen die falsche Verbindung gekappt? Die von den Necks zur Frau mit den gezupften Brauen, anstatt der von der Kamera auf die Bühne?

Oder aber... Es sei denn...

Ich hebe eine meiner unsichtbaren Hände zum Ertasten der Technik hinter die Bühne. Sie findet einen Disc-Player. Ich fühle den Pausenknopf und drücke ihn. Das Video kommt zum Stillstand, meine Großeltern schweigen. Ich schalte wieder auf Play, das Schreien geht weiter. Pause, das Schreien hört auf. Ich wurde reingelegt. Ich drücke auf Eject und lasse den Film zu mir fliegen. Der Bildschirm wird schwarz.

Es gibt weder eine Verbindung von den Necks in die Neck-Villa, noch eine von der Kamera zur Bühne. Kein Wunder, dass Ron sie nicht hat unterbrechen können.

Auf der Disc steht nur „Familienvereinigung-Musikvideo“. Ich frage mich, wann das aufgenommen wurde. Ich möchte aber lieber nicht darüber nachdenken, ich will die Erkenntnis, die ich gerade gehabt habe, nicht in mein Bewusstsein kommen lassen.

Es ist egal. Ich fühle mich absurderweise ein wenig erleichtert, dass ich jetzt wieder aufstehen kann. Ich lasse Oliver und Maria los, nehme das Mikrofon wieder in die Hand. Dieses Mal in die sichtbare. Die Tränen lassen sich nicht stoppen, aber das ist mir egal. Nur nicht nachdenken. Einfach reden. Maria stellt sich hinter mich.

Ein Staunen ist durch die Menge gegangen, als ich mich einfach so wieder aufgerichtet habe. Ich zeige den Menschen die Disc.

„Ein Film!“, rufe ich ins Mikrofon. „Es war ein Film, ihr verfluchten...“ Ein Schluchzer bildet sich in meiner Kehle, doch ich unterdrücke ihn.

„Da haben wir wohl beide geblufft“, sage ich düster. „Wo seid ihr?!“

Ich sehe mein Gesicht in den Köpfen der Menschen, mein Schrei hat ihnen Angst gemacht. Hoffentlich auch den Necks.

„Damit das klar ist: Ich werde niemandem etwas tun. Nicht einmal denen, die hierfür verantwortlich sind. Es sei denn, sie verstecken sich weiterhin, dann werde ich sie nämlich umbringen.“

Als Beweis hebe ich das Schlagwerk von der Bühne, lasse es in der Luft schweben, werfe es dann in die Höhe und fange es wieder auf. Dafür brauche ich nur drei Hände. Ich muss mich selbst jetzt ja wohl nicht mehr als Opfer bezeichnen, oder? Das müsste jeder auch so bemerkt haben.

„Ich werde sie auch umbringen, wenn sie es wieder wagen, der ganzen Insel die Erinnerungen zu nehmen. Das haben sie schon oft getan, wer Tagebuch führt, dem müsste das aufgefallen sein.“

>>Tagebücher! Tagebücher! Mist, wie man an so etwas nicht denken...<<

Der Gedanke, der sicher der eines Necks war, vermutlich sogar Kurt Necks, verschwindet eben so schnell, wie er aufgetaucht ist. Kurz war er also in meinem Radius. Ich suche 100m von mir entfernt die Reihen ab und stelle fest, das zumindest eine von Ron Lindes Informationen richtig ist: Die Necks stehen direkt hinter ihren Gefangenen, zumindest glaube ich, dass sie es sind, denn sie scheinen mehr Angst vor mir zu haben, als die anderen. Ich sehe das blaue Auge meiner Mutter, sehe, dass Jan unversehrt ist und dass Tim scheinbar wieder die Seite gewechselt hat. Er hält meiner Mutter, die die ganze Zeit versucht, zu schreien, den Mund zu. Einzeln hebe ich die Personen zu mir auf die Bühne. Zuerst Jan. Dann meine Mutter und Tim.

>>Es tut mir so leid, Wanda<<, denkt meine Mutter, so laut sie kann. >>Du darfst dir dafür auf keinen Fall die Schuld geben...<<

>>Ich kann nichts dafür, Wanda<<, denkt Tim. >>Beinahe wäre ich selbst draufgegangen...<<

Ich hebe den Mann in die Höhe, den ich für meinen Halbonkel halte. Das derzeitige Familienoberhaupt. Er hat wahrscheinlich die Pläne geschmiedet, dafür gesorgt, dass ich mich umbringen muss, ohne jemanden von seinen Leuten in Gefahr zu bringen.

Als er in meinem Radius ist, merke ich, dass es für ihn das schlimmste Gefühl der Welt ist. Diese Machtlosigkeit mir gegenüber. Nicht einmal seine Gedanken sind vor mir sicher. Tja, jetzt geht es ihm so wie seinen Angestellten, die er heute mit dieser Aktion eigentlich einschüchtern wollte, damit so etwas wie mit Laetitia nicht noch einmal passiert. Er hat sie zwar schon umgebracht, aber lieber zu viel als zu wenig. Er hat sie sogar eigenhändig umgebracht, er hat sie, Sarah und Jan entführt. Und er hat vorgehabt, sie bei sich zu behalten, wegen Jans Kräften.

>>Du bist auch eine Neck<<, versucht er, mit mir zu reden. Und mir fällt tatsächlich auf, dass er genauso zerzauste Haare hat wie ich und meine Mutter.

>>Na, und?<<, will ich sagen.

>>Warum solltest du uns töten? Warum solltest du die Menschen darüber informieren, dass es Superkräfte gibt? Es wird danach nur wieder so sein wie zu Zeiten deines Ururgroßvaters, Nicholas.<<

Ich könnte ihm sehr viele Gründe nennen, ihn zu töten. Doch im Moment muss ich meine Wut hinunterschlucken, wenn ich wie eine Anführerin wirken soll. Ich ziehe das jetzt durch.

„Wie gesagt“, sage ich ins Mikrofon. „Ich werde hier niemanden töten. Ich will euch nur eine Geschichte erzählen. Vielleicht habt ihr gemerkt, dass ich telekinesefähig bin.“

>>Eine schlechte Idee, Wanda. Lösche einfach ihre Gedächtnisse und damit hat sich die Sache.<<

Ich stelle Kurt Neck auf die Bühne, halte ihn aber nicht fest. Ich würde es merken, wenn er davonlaufen wollte. Und das weiß er.

Ich kann ihnen nicht allen das Gedächtnis löschen. Davon abgesehen, dass ich wirklich nicht weiß, wie man das bei so vielen Menschen auf einmal macht, bin ich zur Zeit nicht in der Verfassung dafür. Und ich habe überhaupt keine Lust, das zu tun, was der Mörder von Laetitia, der Mörder meiner Großeltern, sagt.

Ich muss schlucken. Schnell unterdrücke ich die Erkenntnis wieder, bevor sie sich wie ein Schleier über meine Gedanken breiten kann.

Es gibt so vieles, auf das ich mich gleichzeitig konzentrieren muss. Ich muss beim Publikum ankommen, die Gedanken der Necks lesen. Versuchen, nicht zu heulen und auf das hören, was Maria und Sarah mir womöglich mitteilen wollen.

Ich hole einen jungen Mann zu mir, der Michal sein muss, dann die beiden Frauen ohne Kräfte, Pastilla und Inora. Kein kleines Mädchen ist in ihrer Nähe zu sehen, also ist Lila wohl mit ihrer Großtante zusammen zuhause geblieben. Ich frage mich, warum überhaupt so viele Necks hierhergekommen sind. Hätte nicht Kurt gereicht, um zu sehen, ob ich wirklich tot bin? Ich forsche ein bisschen in den Köpfen seiner Begleiter und finde heraus, dass er von seiner Familie einfach zu sehr geliebt wird, um ihn allein in eine solche Gefahr gehen zu lassen. Sofort werde ich eifersüchtig. Warum hat Kurt Neck, der es wohl am wenigsten hier verdient hat, das Glück, eine sich um ihn kümmernde Familie zu haben? Während Olivers Eltern ihn beide nicht kennen, Jans Familie tot ist, Sarahs Vater ihre Mutter nie geliebt hat und ich meinen Vater nie kennengelernt habe?

Beinahe überkommt mich der Gedanke an meine Großeltern, aber ich weiß rechtzeitig zu verhindern, ihn an mich heranzulassen.

„Das hier ist die Familie Neck“, fahre ich mit meiner Rede fort. Ich zeige auf Kurt und seine Frau, seine Mutter und seinen Sohn. Sie fühlen sich gerade alle bloßgestellt, haben Angst umeinander und vor mir.

„Sie waren das mit dem Video. Sie waren das mit dem Gift. Sie waren das mit dem Verfall unseres Landes während der letzten 100 Jahre.“

Stimmt nicht, denke ich. Sie tragen nicht alle die ganze Schuld.

Ich lasse es wirken, lese die Gedanken meiner Zuschauer. Sie wollen mehr Informationen.

„Natürlich waren es teilweise nicht sie selbst, sondern ihre Vorfahren. Vor 140 Jahren...“

Großes Interesse, auch vonseiten Adalberts.

„...kam etwas auf unsere Erde, das Kortuma genannt wurde. Kortuma, weil das ein altes Wort für die Farbe Blau ist. Es war eine Art mächtiger Kometensplitter, von dem ein blaues Licht ausging. Er zerstörte den ganzen Südwesten unserer Insel, weshalb heute keine Straßen mehr in dieses Gebiet führen.“

Soviel hat Jan Oliver über Kortuma erzählt. Bis jetzt bin ich einigermaßen glaubwürdig, jeder weiß, dass man nicht in den Südwesten kann.

>>Den Kometensplitter hat es beim Aufprall zerschmettert und die Teile liegen überall auf der Insel verstreut. Eins liegt auch im westlichen Wald<<, denkt Kurt. >>Aber ich würde die Dinger nicht anfassen, sie sind noch immer brennheiß.<<

Die Necks haben anscheinend Nachforschungen über die Herkunft ihrer Kräfte angestellt.

„Nach dem Einschlag entwickelten einige der Kinder, die noch im Mutterleib waren, übernatürliche Fähigkeiten.“

Diese Information haben Oliver und ich uns eigentlich nur aus dem Text des Liedes Kortuma zusammengereimt. Aber die Necks wissen auch, dass es so war, also wird es stimmen.

„Doch Nicholas Neck bekam zwei Kräfte statt einer.“

Gleich werde ich es aussprechen. Die Enthüllung. Den Traum meiner Mutter.

„Er konnte Gedankenlesen und Erinnerungen auslöschen. Damit war er anderen überlegen.“

Unglauben. Nein, mit so etwas kann sich niemand im Publikum so schnell abfinden. Superkräfte? Obwohl sie meine Telekinese schon gesehen haben, sind sie skeptisch. Ich werde ihnen nachher Jan vorführen müssen.

„Und er hat das ausgenutzt. Er hat dafür gesorgt, dass niemand mehr etwas von den Superkräften weiß und hat die Krankheit Sullotinose erfunden. Alle hatten Angst davor und ließen ihre Kinder immunisieren. Niemand wusste, dass der Anti-Sullotinose-Eingriff den Kindern ihre Kräfte nimmt.“

Viele Menschen greifen sich jetzt an den Nacken. >>Möglich wär's<<, denken einige. Mancher glaubt auch, sein Tagebuchrätsel endlich gelüftet zu haben. Trotzdem ist noch niemand so ganz überzeugt.

„Die Kräfte werden immer weitervererbt, sie lassen keine Generation aus. Deshalb habe ich jetzt drei. Gedankenlesen, Gedächtnisse löschen und Telekinese.“

Verwunderung. Ich sage, ich habe etwas gegen die Necks, bin aber selbst auch eine?

„Meine Mutter ist aus einer unehelichen Beziehung entstanden und ist nicht bei dieser Familie aufgewachsen. Und auch ich würde andere Menschen nie so manipulieren, wie sie es tun.“

Dabei muss ich kurz an Hoggi denken. Schnell vertreibe ich den Gedanken, der mich Lügen straft.

„Der Beweis dafür ist, dass ihr mich jederzeit kritisieren könnt. Ihr könnt euch eine Meinung über mich bilden, ihr tut es auch. Merkt ihr das? Ich lösche eure Erinnerungen nicht. Eure Gedanken lese ich leider die ganze Zeit über, tut mir leid. Das kann ich nicht abstellen.“

Einige denken jetzt, es verstanden zu haben, andere fühlen sich unwohl mit dem Gefühl, dass ich weiß, was sie denken. Kann ich verstehen.

„Die Necks haben sich innerhalb der letzten 100 Jahre an Lamkat bereichert. Dafür braucht ihr euch nur einmal ihre Villa anzusehen. Sie haben dort auch viele andere Angestellte, denen sie die Kräfte gelassen haben, weil sie nützlich sind. Sie wurden nicht bereits als Baby operiert. Ich schon.“

Ich drehe mich um und hebe meine Haare an, damit man die Narbe an meinem Nacken sehen kann. Sie löst einiges an Verwirrung aus.

„Man kann den Eingriff rückgängig machen“, verkünde ich und drehe mich wieder um. Ich nehme Jan bei der Hand und ziehe ihn ein Stück nach vorne, zu mir.

„Mithilfe des Blutes dieses Mannes. Er hat auch Superkräfte, so wie jeder zehnte von euch. Er führt sie am besten vor, anstatt sie lange zu beschreiben.“

Ich hole mir mit meiner unsichtbaren Hand einen Ast aus dem westlichen Wald und reiche ihn Jan. Der überlegt kurz, was er damit machen soll. Er entscheidet sich für das Kunststück mit den Oberarmmuskeln, das auf mich immer noch unglaublich wirkt. Ich lächle ihn dankbar an und er zwinkert mir zu.

Die Menschen sind geschockt. Ich erkläre:

„Jan kann Körper unheimlich schnell heilen oder mithilfe der nötigen Masse auch wachsen lassen. Deshalb hilft sein Blut dabei, Superkräfte wiederherzustellen.“

Bald geht mir die Kraft aus. Ich will schnell wieder nach Hause, entweder zu Sarah oder zu Maria. Auf keinen Fall darf ich an mein altes Zuhause denken...

„Jedenfalls... Es tut mir leid, das Konzert unterbrochen zu haben. Wir werden den Necks jetzt zuerst einmal ihre Kräfte nehmen, wenn es recht ist. Wir werden über alles weitere auch in den Medien berichten, keine Sorge. Und wer wissen will, ob er Superkräfte hat, soll einfach zur Neckvilla kommen. In drei Tagen wird es dort für jeden Blutspritzen geben. Die Villa befindet sich an der Nordstraße, die aus der Stadt hinausführt. Sie ist nicht zu übersehen. Danke für eure Aufmerksamkeit.“

Ich will Adalbert Meming sein Mikrofon zurückgeben, als mir noch etwas einfällt.

„Ach ja, das neue Lied von Adalbert hat er nicht selbst geschrieben. Jemand hat es ihm zur Verfügung gestellt, aber das Original heißt Kortuma und wurde auch vor ungefähr 100 Jahren geschrieben, von einer Band namens „Wer eigentlich“. Es war sehr bekannt, bevor alle Erinnerungen daran gelöscht wurden...“

Ich hoffe, jetzt nicht gehässig oder verurteilend gewirkt zu haben. Ich habe versucht, in einem harmlosen, gefühlsneutralen Ton über Adalbert zu reden, damit seine zahlreichen Fans nicht gegen mich sind.

Der Plan war, es jetzt zu singen. Kortuma. Aber das schaffe ich bestimmt nicht. Es geht jetzt einfach nicht. Das letzte, was ich mir zutraue, ist:

„Vielleicht kann es Adalbert ja mit dem Originaltext singen. Bühne frei für Meming und Band!“

Ich versuche, zu lächeln, scheitere kläglich, suche in der Tasche meines Kleides nach dem Liedtext, den ich bei mir getragen habe, um ihn auswendig zu lernen, und gebe ihn Adalbert samt Mikrofon.

Endlich kann ich von der Bühne hinunter. Gerade eben weine ich nicht und ich versuche, in diesem dumpfen Zustand ohne Gefühle zu verharren. Zumindest bis ich allein bin.

Als Oliver, Maria, Sarah, Jan, die Necks und ich von der Bühne verschwunden sind und schweigend zur Bushaltestelle gehen, höre ich hinter uns die Popversion von Kortuma. Aber zumindest mit dem richtigen Text.

 

Kapitel 22

 

 

 

Die Erkenntnis, an die ich auf der Bühne, auf dem Rückweg und bei den Operationen von Kurt und Michal Neck verzweifelt versucht habe, nicht zu denken, überrollt mich jetzt, kurz nachdem ich die Tür zu meinem Zimmer in Sarahs Haus hinter mir zugeschlagen habe. Ich versuche, es möglichst geräuschlos zu tun. Aber dann kommt alles auf einmal hinaus mit einem lauten Schluchzer. Ich kann mich nicht erinnern, jemals zuvor so stark geweint zu haben. Das, was mir die ganze Zeit über bewusst gewesen ist, ich aber nicht an mich heranlassen habe wollen, zahlt mir meine Verzögerung jetzt mit doppeltem Leid heim.

Wenn es eine Disc davon gibt, wie meine Großeltern langsam getötet werden, muss das natürlich schon längst passiert sein. Ohne, dass ich irgendetwas hätte ausrichten können.

Ich fühle den Schmerz förmlich im ganzen Körper, bekomme nicht genug Luft, mein Kopf pulsiert, meine Wangen sind klitschnass. Am liebsten würde ich jetzt Kurt Neck und dieser Frau den Hals umdrehen. Oder aufwachen, im Krankenhaus, und feststellen, dass ich sehr lange im Koma gelegen bin und meine Mutter nie zurückgekommen ist. Dass das nur ein Traum war, eine Fantasterei. Ich würde Freudensprünge machen, kürzliches Koma hin oder her. Aber jetzt, wo die Erkenntnis da ist, lässt sie sich nicht mehr verscheuchen, ich kann mir nicht einreden, alles würde gut werden. Ich werde die Menschen, die mich großgezogen haben, nie wieder sehen.

Mein Großvater, der so gerne Klatschgeschichten von mir gehört hat. Der mir immerzu Witze erzählt und mit mir geschimpft hat, wenn ich etwas wirklich sehr Blödes angestellt hatte.

Meine Großmutter, die zu jedem meiner Schwimmwettbewerbe gekommen ist, die mir jedes Jahr an ihrem Hochzeitstag die Geschichte erzählt hat, wie sie meinen Opa kennengelent hatte. Die mich getröstet hat, wenn Opa mit mir geschimpft hatte.

Sie hatten nicht einmal annähernd den Tod, den sie verdient hätten.

Mein Magen zieht sich zusammen, ich lege mich auf meine Matratze und weine in meinen Polster.

Ich kann nicht zulassen, dass ich sie so in Erinnerung behalte, wie ich sie das letzte Mal gesehen habe: Bei der Folter. Das würden sie nicht wollen und das will ich auf keinen Fall.

Aber ich kann nicht anders, ich muss an die Schreie denken, an das Blut. In mir steigt wieder die Mordlust auf. Ich will, dass Kurt Neck und seine Angestellte, diese Frau ohne Mitleid, irgendwie dafür bezahlen. Ich will Rache.

Ich kann nur hoffen, meine Mutter beschafft sie mir. Zur Zeit ist sie zusammen mit den Necks, die jetzt keine Kräfte mehr haben, Tim und Jan in der Neck-Villa. Sie hat Geiseln und die Necks sind bei ihren Angestellten sowieso nicht sonderlich beliebt, also bin ich mir ziemlich sicher, dass ihr niemand etwas tun wird. Sie will nur noch den anderen beiden Necks die Kräfte nehmen, damit die Sache erledigt ist. Und sie will ihre Schwiegereltern rächen, wofür sie die Frau mit den gezupften Augenbrauen zur Rechenschaft ziehen wird.

Maria ist mit Oliver wieder zu ihr nach Hause gefahren, um Rufus und unsere Sachen zu holen. Sie wird ab jetzt hier wohnen, mit Sarah in einem Zimmer. Tim wird wieder bei den jetzt machtlosen Necks einziehen, wo seine Familie wohnt.

Ich werde wohl hier bleiben. In mein altes Haus kann ich nicht zurück, zumindest jetzt noch nicht. Vielleicht sollte ich es vermieten, dann hätte ich wenigstens ein kleines Einkommen.

Aber bei dem Gedanken, jemand anderes könne dort einziehen und die letzten Spuren meiner Kindheit und meiner Großeltern verwischen, muss ich wieder laut schluchzen. Das Geräusch nervt mich und macht mir Angst, dass ich mich nie wieder erholen werde. Dass ich am Tod meiner Großeltern zugrunde gehen werde. Dieses Schluchzen darf niemand hören. Ich habe darauf bestanden, zumindest kurz alleine gelassen zu werden.

Seit Rons Anruf bis jetzt habe ich alle meine Gefühle für mich behalten und mich zusammengerissen, damit ich diesen gefährlichen Plan zu Ende bringen konnte. Diesen hirnrissigen, beschissenen, lächerlichen Plan, der wahrscheinlich ihm mehr genützt hat als mir. Ganz sicher sogar. Hat er überhaupt versucht, mir zu helfen oder wollte er von Anfang an, dass das passiert? Und was ist mit Jan? Maria? Sarah? Kann ich überhaupt jemandem vertrauen? Vielleicht bin ich ganz allein auf dieser Welt. Vielleicht wollen mich in Wahrheit alle in den Wahnsinn treiben, damit ich mich freiwillig umbringe. Vielleicht auch Oliver.

Wann hat mich Sarah von zuhause weggeholt? Vor neun Tagen? Meine Mutter kam zu mir, nach fünfzehn Jahren, und verwickelte mich in die gefährlichste Story Lamkats seit Langem. Vermutlich ist sie doch keine so tolle Vertrauensperson. Besonders vertraut habe ich ihr sowieso nie. Aber sie hätte doch wissen sollen, wie schlimm das alles enden konnte. Sarah hätte vorsichtiger sein sollen. Die Story ihres Lebens hätte kein so schreckliches Ende genommen.

Was sollen überhaupt diese Kräfte, von denen jeder wissen sollte? Die jeder haben sollte? Hätte ich sie nie bekommen, wäre ich glücklicher. Und es kann sie nicht einmal jeder haben. Den Necks ist es gelungen, den Rest der Inselbewohner zu unterdrücken, weil die anderen weniger oder gar keine Kräfte hatten. Die wenigen, die ihre Kräfte behalten durften, hatten bis jetzt auch kein schönes Leben. Warum also diese Gefahr enthüllen und in die Welt hinauslassen, ohne über die Konsequenzen nachzudenken?

Wie zum Beispiel, dass die eigene Tochter ihr Leben und alles, was ihr wichtig ist, verlieren könnte?

Ich hasse Sarah, Jan, Ron, Kurt Neck und die ganze Welt. Ich will ihnen allen die Schuld geben für das, was heute auf der Bühne mit mir gemacht worden ist. Aber am meisten hasse ich mich. Ich war dumm, die ganze Zeit über einfach dumm. Und ich hasse dumme Menschen, die nicht überlegen, bevor sie handeln. Ich hasse mich dafür, dass ich mit Sarah mitgegangen bin und dass ich meine Kräfte ausprobieren wollte und sich hasse mich dafür, dass meine Dummheit schuld ist am Tod meiner Großeltern. Ich hasse mich dafür, dass ich nicht mit ihnen gestorben bin.

Fängt es an? Mein Zugrundegehen? Egal. Ich stehe vor dem Nichts. Ich habe keine Vertrauten mehr. Nur Fremde um mich herum. Ich müsste wohl lachen, wenn nach dieser Enthüllung und nach diesen Opfern morgen wieder alle alles vergessen hätten.

Das ist es! Vergessen! Ich könnte mein Gedächtnis löschen! Ist das möglich? Würde mich das glücklicher machen oder nur noch mehr Probleme bringen?

Ich höre ein seltsames Geräusch. Es klingt fern, aber ich weiß, dass es eigentlich ganz nahe sein müsste. Eine Türglocke, eine Stimme. Im ersten Moment denke ich an Oliver und Maria, die ihren Schlüssel vergessen haben. Aber ich höre Marias Gedanken nicht, sondern nur die eines kleinen Jungen, dem ein Mann mit schwarzen Haaren und giftgrünen Augen zehn Katlam dafür versprochen hat, einen Brief abzuliefern. Ich wasche mir kurz die Tränen aus dem Gesicht, nur um zu merken, dass sofort neue nachkommen, fahre mir durch die Haare und gehe mit roboterartigen Bewegungen zur Haustür. Mit Schwung öffne ich sie und ein kleiner Brief mit blauem Siegel flattert mir entgegen. „An Wanda Meier“ steht darauf.

 

 

Teuerste Wanda,

ich bedaure deinen Verlust und es tut mir leid, dass ich nicht die Macht hatte, dir zu helfen. Die Informationen der kleinen Lila waren leider unzureichend.

Herzlichen Glückwunsch zur tollen Vorstellung heute. Die Necks sind ausgeschaltet, die Menschen wissen wieder, dass es Superkräfte gibt. Bald wirst du in aller Munde sein. Man wird dich feiern, Wanda. Womöglich wird dein Einfluss in Lamkat größer als der der Necks.

Ich hoffe, du gedenkst nun nicht, wieder ein ganz normales Leben zu führen. Du interessierst dich bestimmt für die Einzelheiten der Geschichte von Kortuma, für das Seeungeheuer im Meer um Lamkat und für's Festland, habe ich Recht? Ein paar Fragen kann Jan dir sicher beantworten.

In nächster Zeit kannst du mich gerne auch in Lindron besuchen kommen.

Beste Grüße und nochmals mein Beileid, R.L.

 

Es ist noch nicht vorbei.

Das wird mir bewusst, als ich den Brief in meinem Zimmer lese, Ron Lindes Brief. Ein Fremder, den ich noch nicht einmal gesehen habe. Dass Ron Linde aus dem Nichts aufgetaucht ist und mir einen Plan vorgeschlagen hat, stinkt wirklich verdächtig nach einem Ziel, das er verfolgt. Was er genau will, weiß ich nicht. Aber kann es etwas Gutes sein, wenn er sich nicht einmal in meinen Radius traut? Damit ich seine Gedanken nicht lesen kann, vermute ich.

Sein Plan ist, mich zur Heldin zu machen. Und zum Teil hat er schon geschafft, ich war es immerhin, die auf der Bühne gestanden hat und die Wahrheit über die Necks und die Superkräfte ans Licht gebracht hat. Wenn sich Lamkat jetzt von Grund auf ändert, dann hat das auf jeden Fall in den Augen der Öffentlichkeit etwas mit mir zu tun. Wanda Meier. Und jeder wird das wissen. Wahrscheinlich habe ich einen ganz großen Fehler begangen, als ich auf Ron Linde gehört habe.

Mit seinem Brief in der Hand liege ich auf meiner Matratze. Die Tränen haben endlich aufgehört, zu fließen, aber der Schmerz ist noch da. Ich höre, wie Maria 100m von mir entfernt ist. Sie macht sich Sorgen um mich, aber das letzte, was ich jetzt will, ist, mit einer Fremden zu reden. Und auch Oliver will ich erstaunlicherweise nicht sehen.

Ich schiebe meinen Kasten vor die Tür und lege mich wieder neben den Brief. Ich betrachte das Siegel. Ein blauer Stern, das muss ja irgendetwas mit Kortuma zu tun haben. So wenig ich von ihm auch weiß: Ron Linde hat Recht. Ich will wissen, was Kortuma genau ist. Ich will wissen, was auf dem Festland passiert ist und seit wann es Lindron heißt, was eindeutig eine für Bewohner von Lamkat typische Wortverdrehung ist und eigentlich Ron Linde bedeutet. Wie bei unserer Währung, Katlam. Kommt Ron Linde ursprünglich gar nicht vom Festland? Am allermeisten will ich wissen, warum das alles passieren musste. Was für diesen Mist verantwortlich ist.

Sofort fällt mir die Zeile aus dem Lied Kortuma ein: „Ist es Gott, der uns bestraft?“

Ist es Gott, der mich bestraft?

Wenn Jan bis jetzt aus irgendwelchen Gründen nicht über Ron Linde reden hat können, dann kann ich nur hoffen, dass sich die Umstände geändert haben. Ich werde ihn nämlich ausfragen, sobald ich ihn wiedersehe. Besser gesagt, sobald ich so weit bin, irgendjemanden wiederzusehen, falls das jemals der Fall sein wird.

Oliver und Maria kommen nach Hause. Taktvollerweise versuchen sie nicht gleich, in mein Zimmer zu kommen, sondern machen zuerst das Abendessen. Erst nachdem ich den Duft von Maiskolben rieche, klopft Maria an meine Tür.

>>Oliver hat gesagt, du isst so etwas gerne... Aber ich verstehe natürlich, wenn du alleine sein möchtest.<<

„Ich habe keinen Hunger“, sage ich leise und bin froh darüber, dass meine Stimme nicht wegbricht.

>>Ist gut. Wanda, du hast mir heute einen großen Schrecken eingejagt, als du so getan hast, als würdest du das Gift trinken. Das sah verdammt echt aus. Ich bin mir sicher, Sarah geht es auch so.<<

Ich gebe keine Antwort. Maria hat ehrliche Gefühle für mich, aber spricht nicht einmal laut aus, was sie zu sagen hat. Sarah ist meistens ganz nett zu mir, trotzdem hasse ich sie im Moment für ihre nette, verantwortungslose Naivität. Und beide kenne ich eigentlich nicht. So wie ich Oliver nicht kenne, und Jan schon gar nicht, nur bei Maria und Sarah ist es schlimmer. Ich kenne sie nicht, obwohl sie mit mir verwandt sind und obwohl ich ihre Gedanken lesen kann. Weil sie mich nicht kennen. Sie haben keine Ahnung von mir. Da weiß sogar Oliver mehr, dem zumindest aufgefallen ist, dass ich am liebsten Mais esse. Mir wird ein bisschen warm, wenn ich daran denke.

Meine Großeltern wussten, dass ich die Farbe Rot am liebsten mag. Sie wussten, dass ich mich früher vor Motten gefürchtet habe. Sie wussten, dass ich keine Radieschen mag und allergisch auf das Waschmittel „Tolsan“ bin. Sie wussten, dass ich gerne im Mittelpunkt stehe und haben meine Aktionen auch in diesem Licht betrachtet. Sie wussten, dass ich gerne andere zum Lachen bringe und dass ich sie beide lieb hatte. Auch, als sie nicht mehr wussten, dass sie mich aufgezogen haben.

Die alte Wut auf Sarah, vom Tag, an dem sie mich von zuhause weggeholt und meinen Großeltern die Erinnerungen an mich genommen hat, steigt wieder in mir auf. Seit sie in mein Leben gekommen ist, ist nur Schlechtes passiert. Verantwortungslos. Naiv. Eine tolle Mutter.

Und eine tolle Tochter, die einfach mitmacht. Ich wollte ein Abenteuer erleben.

Ich habe mich dabei zu sehr auf Sarah verlassen. In Zukunft darf ich mich auf niemanden mehr verlassen. Ich muss mehr auf meine Meinung und vielleicht noch auf die von Maria hören. Sie kann Gefahren besser einschätzen als Sarah und hat mehr Erfahrung als ich.

Ich muss stärker werden, damit es mir auf keinen Fall wieder passieren kann, dass ich etwas Wichtiges verliere. Ich muss alles, das mir wichtig ist, beschützen können. Etwas Wichtiges, so wie ein Lebensziel.

Habe ich nicht schon eines?

Mein eigenes, einziges und eigentliches Ziel, dass ich vorgestern im Bad von Maria entdeckt habe, könnte mir einen Grund geben, weiter zu leben. Denn das einzige, was mir gerade nicht egal ist, ist Oliver.

 

 

Ich habe gar nicht gemerkt, dass ich eingeschlafen bin. Mein Gesicht liegt nach unten, wie immer, als ich aufwache. Ich rieche Papier, Siegelwachs und Salzwasser und bemerke, dass ich im Schlaf meinen Brief vollgeweint habe. Kann ich überhaupt noch Flüssigkeit im Körper haben? Ich sollte schleunigst etwas trinken. Dafür muss ich allerdings erst meinen Kasten mühsam zur Seite schieben, der noch immer vor der Tür steht und etwaige Besucher abwehrt. Mit einem lauten Ächzen lässt er sich, sehr, sehr, langsam, wegbewegen. Ich frage mich, wie ich das gestern so einfach geschafft habe. Ob mir unbewusst meine unsichtbaren Arme geholfen haben?

Ich öffne die Tür möglichst geräuschlos. Ich habe keine Ahnung, wie spät es ist, aber Sarah und Jan sind gerade in der Küche. In den Gedanken meiner Mutter lese ich, dass sie ihm etwas zu Essen macht, während er die ganze Zeit Zeug in sich hineinstopft und sich dabei Blut abnimmt. Natürlich, das brauchen sie jetzt in Massen, wenn das ganze Land übermorgen bei der Villa aufkreuzt.

Auch wenn ich mit Jan reden will, ist jetzt noch nicht der richtige Zeitpunkt für mich, um irgendeinen menschlichen Kontakt zu suchen. Ich will nur in Sarahs Kopf die Lage ausforschen, während ich meinem Körper Flüssigkeit zuführe.

So leise ich nur kann gehe ich Richtung Badezimmer. Nicht nur, um etwas zu trinken, sondern auch, um zu sehen, was für Spuren eine Nacht Heulen auf meinem Gesicht hinterlassen haben. Bevor ich jemandem begegne, will ich diese nämlich beseitigen.

Doch gerade als ich die Tür zum rettenden Bad öffnen will, bemerke ich, dass jemand auf ihrer anderen Seite das auch gerade versucht. Jetzt ist es zu spät, um kehrtzumachen oder das Gesicht zu verstecken. Oliver reißt die Tür entschlossen auf, als hätte er gerade eine wichtige Entscheidung getroffen, und sieht mir von meiner stillen Anwesenheit ein wenig überrascht ins Gesicht. Welches ich eigentlich hätte verbergen wollen, solange es noch nicht seinen Originalzustand erreicht hat.

Erstaunlicherweise macht es mir nicht viel aus, dass er das jetzt zu sehen bekommt. Immerhin hat er mich schon einmal weinen gesehen und er hat sicher gewusst, dass ich mich nicht in meinem Zimmer verkrochen habe, um ungestört meinen Hobbies nachgehen zu können. Trotzdem will ich nicht, dass er mich länger beobachtet und Einzelheiten wie getrocknete Tränenflüssigkeit ausmachen kann. Ohne ein Wort versuche ich, mich an ihm vorbei ins Badezimmer zu quetschen, aber etwas hält mich fest. Eine Hand. Oliver hält meine Hand, so wie ich seine gehalten habe, als nur wir beide und Maria in Sicherheit waren. Ich glaube sogar, ein leises Flüstern zu hören, dass sich anhört wie:

„Es tut mir leid.“

Ich sehe Oliver in die Augen, die besorgt wirken, und bringe es zustande, ein Lächeln anzudeuten. Wieder verspüre ich ein leicht warmes Gefühl, wie gestern. Dann verschwinde ich endgültig im Bad.

Dass es ihm wirklich Leid tut, will ich natürlich verhindern. Auch, dass er sich weiß Gott warum vielleicht sogar schuldig fühlt. Schuld am Tod meiner Großeltern hat allein...

Ja, wer eigentlich? Ich lächle ein düsteres Lächeln beim Gedanken an die Band „Wer eigentlich“.

Ist es Gott, der uns bestraft?

Martert er uns denn mit Kraft?

In der Tat, die Menschen vor hundert Jahren hatten bereits ähnliche Gedanken wie ich jetzt.

Kurt Neck und seine Familie tragen einen Teil der Schuld. Er hat es getan, weil er es nicht anders kennt und weil er sich von mir, nebenbei bemerkt zurecht, bedroht gefühlt hat. Und ein bisschen erblicher Sadismus war möglicherweise auch dabei.

Ich trage sicher auch selbst einen Teil der Schuld, man könnte mein Tun ohne Weiteres fahrlässiges Handeln nennen. Genauso Sarahs und Jans, wenn letzterer es nicht womöglich sogar so geplant hatte.

Schnell vertreibe ich den Gedanken. Ich sollte ihm keine Vorwürfe machen, für die es überhaupt keine Beweise gibt. Aber mein Misstrauen ihm gegenüber verschwindet natürlich nicht so einfach, immerhin war es von Anfang an da.

Meine Haare sind zwar sehr zerzaust, aber nicht so viel vogelnestartiger als jeden Morgen. Mein Gesicht jedoch sieht wirklich schlimm aus. Zum Glück gibt es keinen Schaden darauf, der nicht mit ein wenig Wasser und Ruhe wieder beseitigt werden könnte. Also trinke ich Wasser, gurgle Wasser und wasche mich mit Wasser, was mich daran erinnert, dass ich gerne wieder einmal schwimmen gehen würde. Das Gefühl, mit dem ganzen Körper in einem vollkommen anderem Lebensraum als dem des Menschen zu stecken, finde ich faszinierend, leicht unheimlich und unbeschreiblich. Ich kann mich gut daran erinnern, wie ich einmal mit Opa zusammen zu den Wasserfällen und Quellen im Süden gefahren bin. Für eine ganze Woche hat er dort Kur gemacht und mich mitgenommen. Das Wasser ist dort so klar und rein, dass man darin baden und es trotzdem trinken kann. Es hat viele positive Auswirkungen auf die Gesundheit und deshalb ist eine Kur dort so teuer. Selbst das Wasser aus dem Süden kostet viel mehr, als das gewöhnliche gefilterte Meerwasser, dass in den meisten Haushalten Lamkats aus der Leitung kommt.

Dieses gefilterte Wasser rinnt mir jetzt die Wangen entlang, meinen Hals hinunter und benässt meinen Haaransatz. Es fühlt sich kühl an, beinahe kalt, aber es ist eine erfrischende Abwechslung zur heißen Trockenheit hier in der Stadt. Und auch mein Gesicht sieht wieder einigermaßen frisch aus. Ich atme mehrmals tief durch.

Ich lebe. Ich habe das Gift nicht getrunken. Das allein finde ich schon unbegreiflich. Auch meine Mutter und Maria leben. Oliver lebt. Seine Mutter und Hoggi leben.

Meine Großeltern leben nicht mehr. Es tut schon weh, diesen Satz zu denken, aber ich muss ihn auch aussprechen, um ihn zu verstehen, um mir seiner Auswirkungen bewusst zu werden. Leise sage ich:

„Meine Großeltern leben nicht mehr.“

Es irritiert mich kurz, dass meine Stimme so heiser klingt, aber dann beginnt mein Gehirn, über die Folgen dieses Satzes nachzudenken. Sie leben nicht mehr, ich werde sie nie wieder sehen. Ich fühle mich einsam und verlassen.

Ich muss die Tränen zurückhalten und nehme einen Schluck Wasser.

Ich habe einige Menschen um mich, denen ich nicht egal bin, die mir aber großteils nicht so viel bedeuten.

Einsam. Verlassen. Verdammt, ich kann nicht aufhören, an diese Wörter zu denken, wie Messer bohren sie sich in mein Herz. Ich trinke sie hinunter, hoffentlich bekomme ich nicht wie Maria später einmal Alkoholprobleme. Zur Zeit genügt noch Wasser.

Sie sind weg, ich bin noch hier. Gut möglich, dass ich noch gebraucht werde, denn natürlich hören die Probleme meines Landes und der Menschen hier und auch meine Probleme nicht auf, nur weil jetzt jeder von den Superkräften weiß. Es wäre dumm, zu denken, dass alles von nun an auf eine heile Welt hinausläuft. Vielleicht werden wir es jetzt sogar mit viel größeren Gegnern zu tun bekommen.

Ich muss an Ron Linde und das Festland denken.

Was soll ich tun? Das ist die Frage, die ich mir schon so oft gestellt habe, ich mir aber nie alleine beantworten konnte. Jetzt wird sie von einer anderen verdrängt, die sich ohne Rücksicht auf Verluste ihren Weg in mein Bewusstsein bahnt.

Was will ich eigentlich tun?

Diese Frage ist nicht ganz so schwer zu beantworten.

Ich will aus irgendeinem Grund mit Oliver zusammen sein.

Ich will meine Großeltern auf die Art, die sie sich gewünscht haben, bestatten.

Ich will etwas über meinen Vater erfahren.

Diese letzte Antwort habe ich nicht einmal selbst von mir erwartet. Ich habe mich noch nie besonders für Endinar Meier, Sohn von Koen und Arendina Meier, interessiert. Mein Vater. Ich habe so gut wie keine Erinnerung an ihn, nur Geschichten und Fotos von meinen Großeltern und die Erinnerungen von Sarah. Alles, was mir über ihn einfällt, ist, dass er seine Frau betrogen hat, dass er dieselbe Augen- und Haarfarbe hatte wie ich und dass sein Name die in Lamkat übliche Wortverdrehung des Namens seiner Mutter war.

Ach ja, seine Kraft, von der er nichts wusste, war Telekinese. Aber ob er sie von meiner Oma oder meinem Opa hatte, weiß ich nicht und werde ich auch nicht mehr herausfinden können.

Ich sehe auf meine Handyuhr. Es ist erst sieben Uhr morgens.

Sarah ist noch immer mit Jan in der Küche. Ich sehe mich ein wenig in ihrem Gedächtnis um. Sie hat die blasse Frau, die mir letzte Nacht Albträume beschert hat, zusammen mit Kurt, Pastilla, Inora und Sophia Neck ins Gefängnis gebracht. Es wird ein Gerichtsverfahren stattfinden, für das man mich hoffentlich nicht als Zeuge brauchen wird. Man wird sicher genug Mitwisser im Haus der Necks finden.

Die minderjährigen Necks, Michal und Lila, sind auch nicht mehr im Besitz ihrer Kräfte und wohnen derzeit bei ihnen zuhause, unter der Aufsicht ihrer Kindermädchen. Beziehungsweise unter ihrem Schutz, denn die ehemaligen Bediensteten ihrer Eltern sehen die beiden als ihre Geiseln an. Sarah hat Mitleid mit den Kindern. Und ich auch, irgendwie, obwohl ich mit jüngeren nicht viel anfangen kann. Michal und Lila werden es in ihrem weiteren Leben nicht gerade leicht haben.

Es sind bereits einige Reporter zur Neckvilla gekommen, um sich diese Story nicht entgehen zu lassen. Sie haben Sarah interviewt, während Jan mit ein paar alten Bekannten gesprochen hat, sie über ihre Kräfte ausgefragt, diese dann getestet und sich einige Kräfte der Bewohner der Villa vorführen lassen. Und auch Jans Fähigkeiten wollte man noch einmal auf Video haben.

Momentan ist die Geschichte nichts als eine Riesensensation was die Kräfte betrifft und ein Skandal was die Necks angeht. Sarah hat die Zeitungen gelesen, die Nachrichten gesehen. Die Zeitungen, die heute morgen gedruckt worden sind, haben fast kein anderes Thema zu bieten als die gestrigen Ereignisse beim Konzert von Adalbert Meming.

Also hat es etwas gebracht. Die Enthüllung hat wirklich etwas verändert. Erste Menschen machen sich auf die Suche nach dem Krater im Südwesten, andere versuchen es mit dem westlichen Wald, den Kurt Neck ihnen als Aufenthaltsort eines Splitters von Kortuma preisgegeben hat. Jeder will es mit eigenen Augen sehen, woher diese Kräfte kommen, nur auf einer Seite der größten Zeitung unseres Landes, der Gnutiez, wurde die Meinung von Skeptikern gedruckt, die noch nicht so richtig an Superkräfte glauben wollen. Auf vier Seiten wird mein Schicksal und das meiner Großeltern betrauert. Mein Mut wird beschrieben und meine Intelligenz.

Was für Schleimer. Wahrscheinlich haben viele Einwohner Lamkats einfach Angst vor mir.

Sarah hat auch herausgefunden, was man mit den Überresten Laetitias und meiner Großeltern gemacht hat. Und die Urnen hat sie auch bereits hierhergebracht.

Sie will mich jetzt auf keinen Fall sehen, weil sie Angst hat, ich könnte sie dafür, was sie getan hat, hassen. Sie meint, sie sei schuld am Tod meiner Großeltern.

Nun, irgendwo hat sie Recht. Ich hasse sie wirklich und ich denke, dass sie Teilschuld hat.

Aber ihr Verhalten bereitet mir ein Déjà-vu. Hoffentlich dauert es dieses Mal nicht wieder 15 Jahre, bis sie sich traut, mit mir darüber zu sprechen.

Ich werde jedenfalls nicht versuchen, sie zur Vernunft zu bringen, denn gerade eben will ich auch nicht mit ihr reden. Eigentlich mit niemandem. Ich will wieder in mein Zimmer und noch ein wenig allein sein.

 

Kapitel 23

 

 

 

Zwei Tage lang gehe ich nur aus meinem Zimmer, wenn ich mir sicher bin, niemanden zu treffen. Ich gehe aufs Klo, gehe duschen, trinke viel, esse wenig und rede gar nichts. Keine Ahnung, ob das meine Art von Trauerbewältigung ist oder ob das von jetzt an so bleibt und ich nicht zu retten bin.

Sarah ist so wenig wie möglich zu Hause, weil sie mich nicht treffen will. Jan ist natürlich immer mit ihr zusammen weg. Oliver und Maria wollen mir wahrscheinlich Zeit geben, zumindest Maria will das.

Ich habe in meinem Zimmer schon zehn Gläser stehen. Wenn eines leer ist, hole ich mir immer ein neues, damit ich sehen kann, wieviel ich trinke. Dass ich trinke. Dass mein Körper noch funktioniert und ich sicher nicht einfach so an Trauer sterben werde. Das ist das letzte, was ich will, denn ich habe mir ja schon versprochen, stärker zu werden.

Heute habe ich die Asche meiner Großeltern aus Sarahs Zimmer gestohlen und sie in meines gebracht. Ich überlege, wo ich sie verstreuen möchte, denn meine Großeltern haben sich gewünscht, nach ihrem Tod wieder ein Teil der Natur zu werden. Ich schwanke zwischen dem Meer, das meinen Opa immer fasziniert hat, und dem westlichen Wald, in dem meine Oma immer gern gewandert ist. Auf keinen Fall will ich die beiden trennen.

Morgen werden viele Bürger die Gelegenheit haben, ihre Kräfte wiederherzustellen. Genau genommen, etwa 10% der Bevölkerung. Sarah hat einmal gesagt, dass es nur so wenig ist, hat auch etwas mit Nicholas Neck, meinem Ururgroßvater, zu tun. Ich muss mein Wissen immer im Hinterkopf behalten, für den Fall, dass ich es einmal benötige.

Noch immer schreiben die Zeitungen, auch Maria liest sie, über mich und auch im Fernsehen (Maria hat ihren Apparat hierher gebracht) ist das Hauptthema Kortuma. Wie soll man die Kräfte kontrollieren? Sind sie eher als Chance oder als Bedrohung zu sehen? Haben die Menschen auf dem Festland auch etwas davon mitbekommen?

Vor allem diese letzte Frage, die die Medien gerade behandeln, interessiert auch mich.

Anna, Terri, Sophia und sogar Angela, die ja in den Westen aufs Land gezogen ist, haben gestern pausenlos versucht, mich zu kontaktieren und schreiben mir SMS mit Trostworten. Klar, Anna, Terri und Sophia wissen nicht, wie sehr es wehtut, weil sie ihre Erinnerungen an meine Zeit mit Oma und Opa verloren haben, trotzdem sind ihre Worte aufbauend. Angela hat es nicht vergessen. Sie ist zwar weit weg, aber ihre SMS ermutigen mich am meisten. Natürlich bin ich nicht ganz allein auf dieser Welt, warum habe ich das überhaupt je gedacht? Meine Freundinnen kennen mich noch, sie wissen genauso viel über mich wie Oma und Opa gewusst haben. Nur eben andere Dinge.

Trotzdem will ich nicht rangehen, wenn sie anrufen und antworte auf die Fragen, die ihre Textnachrichten mir stellen, nur indirekt. Sage, alles wäre halbwegs okay. Es muss sich ganz schön komisch für sie anfühlen, dass ich auf einmal so berühmt bin und dass ich Superkräfte habe. Ich möchte ihnen Zeit geben, sich an den Gedanken zu gewöhnen und mir Zeit, um mich auf ihre Fragen vorzubereiten.

Außer abwechselnd auf mein Handy und die Urnen in meinem Zimmer zu starren, habe ich eigentlich keine Beschäftigung. Maria und Oliver sehen sich gerade die Nachrichten an. Ich denke, es könnte eine winzig kleine Chance bestehen, dass ich später mit ihnen reden werde, solange Sarah noch nicht da ist. Aber erst später. Nur worüber soll ich mit ihnen reden? Ich weiß, mir ist das alles früher viel leichter gefallen, Konversation und so weiter. Und ich habe wohl kaum etwas zu befürchten von zwei Menschen, die wissen, was ich durchmache, zumindest sollte Oliver das aus eigener Erfahrung wissen. Trotzdem habe ich seit zwei Tagen mit niemandem mehr gesprochen und noch immer fällt es mir schwer, mich normal zu verhalten. Vor allem, wenn ich weiß, dass die anderen das nicht von mir erwarten. Sie würden vielleicht erwarten, dass ich mich bei ihnen ausweinen will. Doch das habe ich ja längst allein in meinem Zimmer hinter mich gebracht.

Ich glaube, wenn ich nicht verrückt werden will, muss ich mit jemandem reden. Maria und Oliver, die letzten, die die wagemutige, selbstsichere Wanda zu Gesicht bekommen haben und die mit mir zusammen die Aktion beim Konzert durchgestanden haben, eignen sich wahrscheinlich am besten dafür. Sie wissen, dass das Ron Lindes Plan gewesen ist und fragen sich vermutlich genau wie ich, was er vorhat. Ich könnte ihnen den Brief zeigen.

Aber zuerst will ich selbst nachdenken, vielleicht einfach nur, um im analytischen Denken wieder in Form zu kommen, vielleicht auch, um mich auf ein Gespräch vorzubereiten und meine Gefühle wieder ein wenig in den Griff zu bekommen.

Also nehme ich mir Stift und Papier und schreibe in Stichworten auf, was ich bis jetzt über Kortuma weiß oder was ich mir zusammengereimt habe.

 

Vor 140 J. - Blau – Superkräfte – Jan einer der ersten – Kometensplitter – Krater im Südwesten – (Heiße) Reste überall, vermutlich auch im Meer – Lied – Nicholas Neck Macht – Maria 1 mit Jan zusammen, wusste zuerst davon – Hat Seeungeheuer etwas damit zu tun? - laut Lied Machtkämpfe, als es alle wussten – heute wissen es wieder alle – morgen bekommen sie die Kräfte zurück

 

Die letzten drei Punkte sehen zusammen gar nicht gut aus. Werden wieder Kämpfe ausbrechen? Hätte ich doch auf Kurt Neck hören und alles beim Alten lassen sollen? Denn gerade verläuft für Ron Linde wohl alles nach Plan...

Ich schreibe die Sachen auf, die ich von Jan, den ich möglichst bald ausfragen werde, sicher weiß.

 

Über 100 Jahre alt – einer der ersten mit Kräften – Maria 1 mit Jan zusammen – kennt Ron Linde und tut, was er sagt, spricht mit niemandem darüber und will nicht, dass etwas über ihn ans Licht kommt – Liebt Sarah – mag Oliver – sein Körper kann sich selbst und andere heilen und wachsen lassen – womöglich kennt er Ron Linde schon lange, aber muss nicht sein – hat lange den Necks gedient – redet nicht viel – bäckt tolle Muffins

 

Über den letzten Fakt muss ich schmunzeln.

Den nächsten Absatz widme ich dem Festland.

 

Heute Lindron, früher??? - Lamkat die meisten Beziehungen zum Festland verloren, vermutlich Werk der Necks – laut Jan, der es wahrscheinlich von Ron Linde weiß, „ziemlich verwüstet“...? - im Nordosten Lamkats – Land und Bevölkerung viel größer, obwohl: Irgendwas ist dort passiert – Klima kälter, Bewohner an Sonne vermutlich nicht gewöhnt – wahrscheinlich weiter entwickelt, weil nicht im Einfluss der Necks, die dorthin nicht fliehen konnten (wegen R.L., der sie hasst?) -Vor drei Jahren wollte eine Firma Menschen dorthin locken - wirkt Kortuma dort auch?

 

Ich kritzle noch einige verschieden große Fragezeichen dazu, eine bemitleidenswerte Katze und ein halb Hund halb Huhn-Gebilde. Dann versuche ich mich an einem Maiskolben. Mein Magen knurrt. Ich weiß, dass Maria gerade in der Küche ist, also warte ich noch ein wenig. Hoffentlich muss ich nicht wieder im Minisupermarkt einkaufen gehen, das möchte ich am liebsten nie wieder tun. Bis jetzt ist das nie gut gegangen.

Als Maria sich wieder zum Fernseher setzt, wo Oliver gerade einen Dokumentarfilm eingeschaltet hat, bewege ich mich langsam aus meinem Zimmer, den Zettel mit meinen Notizen und Ron Lindes Brief in der Hand. Ich schleiche mich förmlich durch die Gänge in die Küche, darauf bedacht, kein Geräusch zu machen. Ich komme mir selbst albern vor.

Im Kühlschrank gibt es nichts außer Joghurt und einer Zehe Knoblauch. Ich sehe in den Obstkorb. Zwei Bananen und einige Kirschen haben es scheinbar darauf abgesehen, von mir zusammen mit dem Joghurt verdaut zu werden. Ich schneide also die Bananen, entkerne die Kirschen und rühre alles in eine Schüssel voll Joghurt. Als ich meine Mahlzeit vorfreudig betrachte, wird mir klar, dass das die größte Portion ist, die ich mir seit vorgestern vorgenommen habe. Mein Appetit wächst also wieder. Oder ich habe einfach nur Hunger. So oder so, ich glaube, ich kann mich bald wieder erholen. Ich will mich auf jeden Fall erholen.

Nach dem Essen spüle ich alles ab, was ich verwendet habe und lehne mich dann an die Theke. Ich konzentriere mich. Eine meiner unsichtbaren Hände schießt von mir weg, aus der Küche, den Gang entlang, bis zu meiner Zimmertür. Sie öffnet sie und ertastet eines der zehn Gläser, die dort auf meiner Kommode stehen. Eine zweite Hand, eine dritte, eine vierte und eine fünfte helfen ihr dabei, die Gläser zu mir zu holen, jede muss nur zwei Gläser tragen. Obwohl mehr für diese beliebig großen Dinger auch kein Problem wären, die Grenzen setzt der Türrahmen.

Als alle Gläser neben mir in der Spüle stehen, schaltet eine unsichtbare Hand den Wasserhahn ein, die zweite greift zum Schwamm. Zusammen reinigen insgesamt sieben Hände die Gläser, trocknen sie ab und ordnen sie in den Geschirrschrank ein. Es erfordert sehr viel Konzentration, damit kein Glas zu Bruch geht. Aber es ist machbar, wenn man gerade nichts anderes im Kopf hat. Nicht einmal Gedanken höre ich, wenn ich mich so auf die Hände konzentriere. Als sie fertig sind, verschwinden sie einfach. Ich hole mir mit meinen Händen aus Fleisch und Blut wieder ein Glas aus dem Schrank, fülle Wasser ein und trinke es gleich aus. Meine Telekinese wäscht es ab, während ich ins Wohnzimmer gehe, wo eine freundliche Stimme aus dem Fernseher alles über die südlichen Quellen erzählt.

Ein Klirren aus der Küche verrät mir, dass ich keine meiner Kräfte aktiv einsetzen sollte, wenn ich gerade keinen kühlen Kopf habe. Meine unsichtbare Hand hat das Glas einfach zertrümmert.

Natürlich haben sich Maria und Oliver nach dem Geräusch umgedreht und natürlich beäugen sie jetzt mich, mit meinem Brief und meinem Zettel in der Hand und einem zutiefst aufgewühlten Ausdruck im Gesicht. Warum muss gerade jetzt diese Doku gezeigt werden? Erinnerungen an eine der schönsten Wochen meines Lebens treiben mir wieder Tränenflüssigkeit in die Augen. Noch bevor ich irgendetwas sagen oder mir die Augen abwischen kann, steht Maria von ihrem Sessel auf und umarmt mich. Ganz leicht legt sie mir die Arme auf den Rücken und streichelt ihn. Und ich kann die Tränen nicht mehr zurückhalten. Wieso fühlt es sich so verdammt gut an, von dieser Frau gehalten zu werden? Es ist, als hätte sie Heilkräfte. Ein kleiner Teil von mir sorgt sich noch darum, was Oliver von einer Heulsuse wie mir wohl hält, aber das legt sich, als er sich zu uns gesellt und mir übers Haar streicht. Es muss ganz schön eigenartig aussehen, wie wir gerade zu dritt da stehen, aber ich bin wirklich glücklich darüber, von meiner anderen Großmutter umarmt zu werden. Ich habe sie von Anfang an gemocht, weil sie schlau ist und stark. Vielleicht habe ich sie mir auch als Vorbild genommen. Und nur, weil sie keine gute Mutter war, heißt das nicht, dass sie keine gute Großmutter sein kann. Vielleicht gibt sie sich sogar genau deshalb mehr Mühe mit mir.

Sie spricht aus, was sie gerade denkt:

„Das musstest einmal raus, Kindchen. Du kannst dich doch nicht alleine ausweinen, so geht der Schmerz bestimmt nicht weg. Vielleicht kannst du mir einmal, wenn es dir nicht mehr so weh tut, von deinen anderen Großeltern erzählen, hm? Ich hätte sie sicher gerne gekannt.“

Ich nicke und spüre Olivers Hand an meinem Kopf.

„Wir bestatten sie, Wanda“, sagt Oliver. „Morgen. Zusammen mit Laetitia.“

Wüsste ich nicht, dass sowohl er als auch Maria in ihrem Leben auch schon viel verloren haben, würde ich mich jetzt möglicherweise befreien und wegrennen, um mich wieder in meinem Zimmer einzusperren, mit dem Gefühl, nicht verstanden zu werden. Aber sie wissen, wie ich mich fühle, denke ich. So in etwa zumindest.

„Danke“, sage ich leise.

Ich habe nicht damit gerechnet, dass ich mich bei ihnen jetzt so ausweine. Oder dass niemand sich bewegt, als ich sage, dass Sarah kommt und mit dem Weinen aufhöre. Als Sarah sich fragt, was mit dem Glas passiert ist, dreht Oliver den Fernseher endlich ab. Als Sarah zu uns stößt und sich langsam Marias Gedanken zuwendet, umarme ich sie noch immer.

Und darauf scheint Sarah nicht gefasst gewesen zu sein. Ich spüre die Gefühle in ihren Gedanken fast schon selbst, so stark sind sie. Und sie sind dieses Mal gelb vor Eifersucht.

Maria lässt mich los. Sarah starrt mich an.

>>Wanda, was... Mama? Mama kümmert sich ja richtig um Wanda... Warum nicht um mich... Warum kann ich mich nicht um Wanda kümmern... Ah, bin ich etwa eifersüchtig auf beide?! Aber... Was habe ich für ein Recht dazu? Ich habe Wanda ihre Familie genommen, wie könnte sie mich nicht hassen? Natürlich darf sie getröstet werden, natürlich darf ihre Großmutter sie trösten... Aber... Was ist mit mir??<<

Ich stehe nur da und sehe zu, wie sie zuerst mich, dann Maria, dann wieder mich ansieht. Dann stürmt sie in ihr Zimmer, Maria hinterher.

>>Sarah!<<, ruft sie in Gedanken, >>Das kannst du mir doch nicht übel nehmen, oder? Sie braucht Trost, sie braucht ihre Familie!<<

Blöd nur, dass Sarah der Meinung ist, sie hätte meine Familie getötet.

>>Sarah, lass mich rein! Lass uns reden! Ich weiß, dass dich das mitnimmt und Wanda weiß es auch. Wenn du versuchen willst, eine bessere Mutter als ich zu sein, solltest du vielleicht einmal mit deiner Tochter reden. Sie hat dir schon einmal verziehen.<<

Ich könnte ihr aber nicht verzeihen, wenn Sarah sich einfach wieder aus Angst von mir fern hält.

Als Sarah nach zwei Minuten die Tür noch immer nicht öffnet, kommt Maria wieder ins Wohnzimmer, wo inzwischen auch Jan sitzt. Sarah denkt jetzt über ihre Mutter und ihre Kindheit nach und ob sie einfach nicht weiß, wie sie sich mir gegenüber verhalten soll, weil Maria sich ihr gegenüber immer eigenartig benommen hat.

Meine Mutter ist ein hoffnungsloser Fall.

„Herr Kott“, wendet sich Maria Jan zu. „Ich weiß, Sie würden meine Tochter jetzt nur zu gern trösten, obwohl Sie viel älter sind als ich.“

Natürlich ist sie nicht dafür, dass Sarah einen so alten Mann liebt.

„Aber zuerst müssen Sie mir eine Frage beantworten: Wer ist Ron Linde und wie gefährlich ist er?“

Jan, Oliver und ich sehen sie erstaunt an. Ich hatte vor, ihm heute genau dieselbe Frage zu stellen.

„Woher wissen Sie...?“, fragt Jan leise.

„Er hat vor vier Tagen bei mir zu Hause angerufen und vorgeschlagen, meine Enkelin zur Nationalheldin zu machen. Und er hat versprochen, dass er dafür ihre Großeltern retten wird.“

„Was? Ich dachte nicht, ich wusste nicht... Also hat er sich schon offenbart? Es tut mir leid, ich werde am besten... auf einen Brief warten...“

„Also erhalten Sie Befehle von ihm?“

„Ja.“

„Was passiert, wenn Sie die nicht befolgen?“

„Er würde wohl versuchen, Sarah zu töten.“

„Das beantwortet einen Teil meiner Frage. Und Sie dürfen mir nicht sagen, wer er ist?“

„Ohne Erlaubnis, nein. Sonst...“

„Ja, schon klar. Also ein ziemlich gefährlicher Mann.“

 

Kapitel 24 - Jan

 

 

 

Jan entschuldigt sich, da er nicht zulassen darf, noch mehr zu erzählen und da er versuchen will, mit Sarah zu reden.

Ich möchte ihm sagen, dass er ihr erklären muss, dass ich sie zwar im Moment nicht ausstehen kann, ihr wahrscheinlich aber irgendwann vergeben werde und dass sie jetzt einfach... nicht wegrennen sollte vor mir. Nicht schon wieder.

Aber die Worte kommen nicht über meine Lippen und Jan verschwindet in Sarahs Zimmer. Er nimmt meine Mutter in seine Arme und lenkt sie ein wenig damit ab, dass morgen der große Tag ist. Der Tag, auf den sie so lange gewartet hat, an dem alle ihre Kräfte zurückbekommen.

Sarahs Gedanken werden immer uninteressanter und haben jetzt fast nichts mehr mit mir zu tun. Also wende ich mich meinen beiden Freunden im Wohnzimmer zu. Jetzt kommt der Moment, wo ich wieder die alte Wanda sein will. Wo ich mithelfen will, hinter das Geheimnis von Kortuma zu kommen, wo sich die Worte wieder einfach so, ohne großes Zutun, in meiner Kehle formen und im richtigen Ton an die Oberfläche kommen sollten. Ich räuspere mich. Kein schlechter Anfang. Ich setze mich. Ein Zeichen der Entspanntheit. Auch Maria und Oliver sitzen schon. Warten sie darauf, dass ich ein Gespräch beginne?

„Was hast du da in der Hand, Wanda?“, fragt Oliver so liebenswürdig er nur kann. Die Wärme seiner Worte fühlt sich gut an.

Ich stecke meinen selbst gekritzelten Notizzettel in meine Hosentasche und nehme den Brief aus dem Kuvert. Ich teste die Tragfähigkeit meiner Stimme mit einem leisen „Mhm“.

Schließlich sage ich:

„Das ist ein Brief von Ron Linde. Ich habe ihn am Abend vor zwei Tagen bekommen.“

Das hat ganz gut geklungen. Ich gebe den Brief Maria zu lesen, die ihn dann an Oliver weitergibt. Sie denkt:

>>Er sagt also, er hätte nicht geplant, deine Großeltern sterben zu lassen. Deine Meinung von ihm ist ihm wichtig, Wanda. Und eigentlich ist in diesem Brief doch die Erlaubnis enthalten, Jan nach ihm zu fragen, oder nicht?<<

Oliver sagt, nachdem er den Brief gründlich durchgelesen hat:

„Heißt das nicht, Jan darf uns von Ron Linde erzählen?“

„Ja, stimmt, eigentlich... Daran habe ich vorhin gar nicht gedacht...“, murmele ich.

Im ersten Moment will ich mir einreden, dass es mir egal ist, dass ich bis morgen warten kann. Weil ich jetzt nicht in Sarahs Zimmer gehen will.

Aber sollte ich nicht besser wissen, wer Ron Linde ist, bevor die Kräfte gemäß seines Plans ab morgen wieder in ganz Lamkat verwendet werden? Wollte ich nicht von Anfang an wissen, was Jans Geheimnis ist? Mir läuft die Zeit davon. Was, wenn etwas noch viel Schrecklicheres auf uns zukommt, wenn wir auf Ron Linde hören?

Ich habe beschlossen, Wichtiges zu beschützen. Also meine Freundinnen, Maria und Oliver.

Und jetzt beschließe ich, dass ich noch heute mit Jan reden werde.

Ich stehe auf und gehe mit zackigen Bewegungen zum Zimmer, das sich meine Mutter und meine Großmutter teilen. Oliver und Maria folgen mir.

>>Jetzt will ich aber wirklich wissen, was dieser Jan Kott im Schilde führt<<, denkt Maria.

Ich klopfe ungefähr zehn Mal hintereinander an die Tür und sage:

„Jan, ich muss mit dir reden. Jetzt gleich. Komm heraus.“

Nichts. Niemand bewegt sich drinnen, durch Sarahs Augen kann ich sehen, wie Jan sich langsam sehr unwohl fühlt. Schließlich nickt sie ihm zu und er steht auf und öffnet die Tür.

„Was ist?“, fragt er sichtlich beunruhigt.

Oliver gibt ihm den Brief.

„Da steht, Wanda soll dich nach Ron Linde fragen“, sagt er, in einem Ton, der halb drohend, halb ermutigend klingt.

Jan liest ihn sich durch.

„Also Lila war das. Ja, die wurde natürlich von ihren Eltern nicht ganz informiert...“

Nach diesen Worten beginnt Jan ein wenig, zu lachen. Es ist ein erleichtertes Lachen, das ich noch nie von ihm gehört habe. Und auch Sarah nicht. Sie ist ein wenig geschockt, da sie nie etwas von einem Ron Linde gewusst hat. Und sie ist verletzt, weil Jan etwas anscheinend Wichtiges vor ihr verborgen hat.

„Na gut“, sagt Jan dann nach einer halben Ewigkeit. „Wenn ihr mich danach nicht verabscheuen sollt, muss ich euch wohl heute die ganze Geschichte erzählen. Sie ist wirklich sehr lang, auch wenn sie nicht erklärt, was Kortuma ist. Das weiß ich nämlich selbst nicht. Vielleicht weiß es Ron Linde, aber es tut nichts zur Sache. Ich werde euch heute alles sagen, was ich weiß, jetzt, wo es keine Risiken mehr birgt. Sarah? Bitte glaube mir, wenn ich sage, es tut mir leid und ich liebe dich.“

So langsam dämmert mir, dass meine Mutter wahrscheinlich die ganze Zeit über ohne ihr Wissen von Jan benutzt worden ist. Wahrscheinlich hat er sie nur wegen Ron Lindes Plan dazu überredet, mich zu holen. „Nur durch Jans gutes Zureden“ echot es in meinem Kopf. Das hat Sarah ganz am Anfang zu mir gesagt, als sie mich abgeholt hat. Wahrscheinlich war das kein „gutes Zureden“...

Auch Sarah fragt sich jetzt, ob sie ihm hätte vertrauen dürfen. Sie würde am liebsten wissen, dass er ganz unschuldig an der Sache ist und sie nie hintergangen hat. Ihr kommen die Erinnerungen daran, wie mein Vater sie betrogen hat.

>>Warum muss ich immer den falschen Personen vertrauen?<<

Jan winkt uns jetzt alle in das kleine Zimmer mit den zwei Matratzen und sagt:

„Setzt euch, es wird eine Weile dauern.“

Ich nehme bewusst zwischen Maria und Sarah Platz, um ihre Reaktionen miteinander vergleichen zu können. Jan setzt sich, vermutlich ebenfalls bewusst, etwas weiter weg.

„Also...“ beginnt er. „Ich habe ehrlich gesagt keine Ahnung, wie ich anfangen soll, ich hab noch nie jemandem alles erzählt... Aber ich sage euch jetzt ganz bestimmt, hundertprozentig die Wahrheit, ja, Sarah?“

Er will sie anscheinend nicht verlieren. Sarah nickt ganz langsam, aber nicht wirklich überzeugt. Jan seufzt.

„Gut. Als erstes eine schockierende Neuigkeit für Maria die Zweite: Ich bin 140 Jahre alt. Kortuma ist genau in meinem Geburtsjahr hier auf Lamkat eingeschlagen. Deshalb war ich eines der ersten Kinder, die mit Superkräften auf die Welt gekommen sind. Damals war das genauso wenig normal und eine Sensation, wie es jetzt der Fall ist. Ich bin in einer Umgebung aufgewachsen, die überhaupt nicht damit zurechtkam, dass diese Kräfte existierten. Meine Familie war immer etwas eingebildet, reich und hatte eine hohe soziale Stellung. Als vier Jahre nach meiner Geburt ein vierjähriges Mädchen zu fliegen begann, machte das Schlagzeilen, die meine Eltern natürlich für lächerlich hielten. Aber es kamen noch Kinder mit anderen Kräften dazu, immer mehr Sensationen, die immer öfter mit Kortuma in Verbindung gebracht wurden. Und als ich fünf war und in eine Dornenhecke gefallen bin, habe ich gemerkt, dass auch mit mir etwas nicht stimmte. Ich habe es niemandem gesagt, nicht einmal meinen Eltern, weil sie immer so streng waren. Ich dachte, meine Superkräfte wären für sie das Schlimmste, was passieren könnte. Sie sagten immer, Kotts wären da, um gebildet zu sein und Geld zu machen, und nicht um Titelseiten mit Skandalen zu schmücken. Also haben meine Eltern nie etwas von meinen Kräften erfahren, auch nicht, als sich schon zwei Drittel aller im Kortumajahr geborenen Kinder als Superkinder herausstellten.“

Von zwei Drittel auf zehn Prozent, obwohl die Kräfte immer weitervererbt werden. Da muss Nicholas Neck sich aber ausgetobt haben.

„Und nun ja, aus den Superkindern wurden natürlich Superteenager. Übermütige junge Menschen, die sich für etwas Besseres hielten, weil sie mit Kräften zur Welt gekommen waren. Einige, natürlich nicht alle, verängstigten die Schwächeren, und da wollte ich erst recht nicht, dass jemand von meinen Kräften erfährt. Ich wollte nicht mit ihnen in eine Schublade geworfen werden. Als ich 16 Jahre alt war, kam ich mit Maria, Kassandra und Nicholas in eine Klasse. In unserer Klasse waren Maria und ich die einzigen, die nicht mit ihren Kräften angaben. Denn Maria war die einzige, die keine hatte. Also habe ich immer unauffällig versucht, sie vor den anderen zu beschützen. Obwohl sie sich gar nicht so leicht einschüchtern ließ, sie war ziemlich mutig. Und ich habe mich dann ziemlich in sie verknallt.“

Er wirft einen Blick auf Sarah, als würde er gerne wissen, was sie denkt. Ich könnte ihm sagen, dass sich auf ihrer Miene nichts von dem wiederspiegelt, was wirklich in ihr vorgeht.

Sie weiß seit ein paar Tagen, dass Jan einmal mit ihrer Urgroßmutter verlobt gewesen ist und sonst kennt sie die Geschichte eigentlich bis jetzt. Aber dass sie nichts über Kassandra oder Ron Linde weiß, nagt an ihr.

Jan macht weiter:

„Es gab einige ganz nette Heilkräfte in unserer Klasse und ein Mädchen wusste immer, ob man lügte. Aber Kassandra und Nicholas besaßen die unheimlichsten Kräfte. Nicholas konnte Gedankenlesen und Kassandra konnte Menschen in Schlaf versetzen. Die wachten dann aber nicht einfach so wieder auf, das musste auch Kassandra erledigen, sonst schliefen sie ewig weiter.“

Nach einer kleinen Pause erzählt Jan weiter:

„Also meine Schulzeit verlief sonst ganz normal, ich bekam von Nicholas eigentlich nur mit, dass er mich manchmal irritiert anstarrte - wahrscheinlich weil er meine Gedanken nicht lesen konnte - und dass er immer mit Kassandra und einem um ein Jahr jüngeren Typen mit schwarzen Haaren und giftgrünen Augen herumhing. “

Diese Beschreibung kommt mir bekannt vor. Mir ist, als hätte ich erst kürzlich so jemanden gesehen...

„Währenddessen wurde das Verhältnis zwischen Menschen mit und ohne Kräften immer problematischer, weil sich viele letzterer von ersteren bedroht fühlten. Und das teilweise zurecht, die Kräfte wurden natürlich auch für Überfälle und so weiter benützt.“

Das wird wahrscheinlich wieder passieren, wenn es niemand verhindert.

„Ich verlobte mich mit Maria, denn damals war es üblich, jung zu heiraten, und machte meinen Abschluss. Ich wollte Literatur studieren und Maria irgendwann meine Kräfte zeigen. Und eines Tages saß ich mit ihr gerade bei einer Verabredung in einem Restaurant und sah plötzlich durch's Fenster unsere Klassenkameraden Nicholas und Kassandra wieder, die mit diesem jüngeren Typen unterwegs waren und es scheinbar auf mich abgesehen hatten. Sie trugen alle die gleichen T-Shirts und ich kann mir gut vorstellen, dass sie zu diesem Zeitpunkt schon so einige Straftaten begangen hatten. Sie kamen ins Restaurant und bauten sich vor unserem Tisch auf. >Wenn das nicht unser zukünftiger Literaturstudent ist<, sagte Kassandra. Sie war die einzige, die lächelte, die anderen beiden starrten uns nur an. >Und?<, fragte der Grünäugige Nicholas Neck mit einer beinahe tonlosen Stimme. >Noch immer nichts<, antwortete er, >Genau wie bei dir. Er muss einer von uns sein. Vielleicht ist er stärker als du, Ron.<“

Das, was ich, Maria, Sarah und wahrscheinlich auch Oliver schon die ganze Zeit über vermutet haben, ist also wahr. Jan hat Ron Linde vor ungefähr 120 Jahren kennengelernt. Sarah will Jan gerade sehr viele Fragen stellen, unterdrückt ihre Neugier aber, um die Geschichte nicht zu unterbrechen. Sie denkt, sie wird die Antworten noch bekommen.

Das hoffe ich auch.

Jan fährt fort:

„Dann zeigte Nicholas Neck auf Maria und Ron Linde sah ihr tief in die Augen. Bald begann sie zu zittern, zu schwitzen und sie sah aus als würde sie am liebsten schreien. >Was machst du da mit ihr?<, fragte ich Ron panisch. >Nichts<, sagte er, >Nur das, was ich am besten kann. Ich jage ihr Angst ein.< Das war das erste Mal, dass ich Maria so verängstigt gesehen hatte. Sie sah wirklich so aus, als würde sie gerade ihren schlimmsten Albtraum erleben, als würde sie alles tun, damit es aufhört, damit Ron Linde weggeht. >Hör auf!<, bat ich Ron, aber das tat er erst, als Nicholas Neck es ihm befahl.“

Also ist Ron Linde schon immer eine furchteinflößende Person gewesen.

„Und dann hat Nicholas mich aufgefordert, meine Kräfte vorzuführen und bei ihnen mitzumachen. Er hat erklärt, er würde die Kraftlosen unterwerfen und eines Tages König von Lamkat werden. Aber ich wollte ihm meine Kräfte nicht zeigen, nicht vor Maria. Ich wollte es ihr ganz anders beibringen, nicht unter diesen Umständen. Daraufhin hat Kassandra gemeint: >Wenn du uns deine Kräfte nicht freiwillig vorführst, müssen wir dich eben dazu zwingen.< Dann hat sie einen Blick auf Maria geworfen und ich wusste, wenn ich nichts tat, würde sie sie einschlafen lassen und vermutlich erst wieder aufwecken, wenn ich bei ihnen mitmachte. Oder gar nicht. Also schlang ich so schnell ich konnte alles, was in diesem Restaurant Essbares in Reichweite war, in mich hinein und baute mir blitzschnell Muskelmasse am rechten Arm auf, mit dem ich zuerst Kassandra, dann Nicholas und dann Ron niederschlug. Und ich bin mit Maria geflüchtet. Natürlich habe ich ihr dann erklären müssen, dass ich auch Kräfte habe. Und nach diesem Zwischenfall hat das Morden angefangen.“

Der kleine Raum ist gefüllt mit Spannung. Maria kann sich schon denken, was passiert ist. Ich mir auch. Als mein ein wenig größenwahnsinniger Ururgroßvater herausgefunden hat, dass es Kräfte gibt, die seinen überlegen sind, wollte er sie ausrotten.

Jan erzählt:

„Es wurde von Toten in ganz Lamkat berichtet. Innerhalb von zwei Jahren hat jemand es geschafft, beinahe jeden Menschen mit Superkräften zu töten. Ich war damals so froh, dass ich meine Kräfte immer geheim gehalten hatte. Ich hatte keine Ahnung, dass der Mörder mich am allermeisten umbringen wollte. Trotzdem hatte ich immer ein wenig Erde in meiner Hosentasche versteckt, nur für den Fall. Und der Fall kam. Nicholas hatte sich in meiner Wohnung versteckt und mir aufgelauert, um mich zu erschießen. Und zwar nicht nur einmal, er hat mir fünf Kugeln in die Brust geschossen, die ich später mühsam herausholen musste. Ich wäre vermutlich verblutet, wenn ich nicht die Erde in der Tasche gehabt hätte. Ich hab Nicholas die Waffe abnehmen können bevor er flüchtete. Danach habe ich meinen Kühlschrank leer gegessen und Maria angerufen, um sicherzugehen, dass es ihr gut ging. Sie hat mich nicht erkannt. Auch als ich am nächsten Tag meine Eltern angerufen habe, wussten sie nicht, wer ich bin. Die Morde hörten auf und niemand wusste mehr etwas darüber. Und Nicholas hat mich als Butler eingestellt, vermutlich aus Rache. Er hat mir damit gedroht, Maria zu töten, wenn ich ihm nicht gehorchte. So hat meine Zeit bei den Necks angefangen. Damals dachte ich auch, dass ich wohl nicht viel älter werden würde als Nicholas oder Maria und dass ich Maria bis zu meinem Tod beschützen würde. Aber ich überlebte beide und wusste nicht mehr, was ich mit meiner Zeit anfangen sollte. Und dann traf ich Ron wieder. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich nicht einmal gewusst, dass Nicholas ihn nicht getötet hatte. Aber er lebte und wollte sich mit mir treffen. Wir waren beide überrascht darüber, wie jung der jeweils andere aussah. Wir waren beide froh darüber, dass Nicholas tot war und wollten uns trotzdem an ihm rächen. Weil er uns beiden die Möglichkeit genommen hatte, mit unseren Liebsten zusammen zu sein. Nicholas hatte nämlich Kassandra ermordet. Ron hatte sich aufs Festland retten können, als Nicholas eine Blutspur durch Lamkat gezogen hatte. Kassandra nicht. Das ist der Grund, warum Ron noch immer alle Necks hasst.“

In der Tat, davon hat Ron Linde am Telefon gesprochen. Nur wie hat er es geschafft, so alt zu werden wie Jan?

Sarah kann sich nicht mehr zurückhalten: „Also muss Ron Linde eine zweite Kraft haben, abgesehen vom Angsteinflößen...“

Jan nickt.

„Ja, klar, natürlich, er kann sich verjüngen, indem er andere älter macht.“

Mir läuft es kalt den Rücken hinunter. Auch wenn ich vermutlich von dieser Kraft verschont bleiben werde, ist das so ziemlich das unheimlichste, das ich mir vorstellen kann. Auf einmal und unumkehrbar um, keine Ahnung, 20 Jahre altern? Wie sich das wohl anfühlen mag...

„Also, er hasste die Necks“, macht Jan weiter, „Ich hasste sie auch und er meinte, wenn ich ein wenig warten und für ihn spionieren würde, würde er sich einen Racheplan ausdenken. Also bin ich bei den Necks geblieben und er hat auf dem Festland... naja, eine Art Diktatur aufgebaut. Das Festland, das früher aus der nördlichen Eiswüste, Katina und dem Südland bestanden hat, heißt jetzt Lindron. Ich denke, er hat sich dort den Traum erfüllt, den er mit Nicholas und Kassandra gemeinsam geträumt hat. Es würde mich nicht wundern, wenn er die Menschen ohne Kräfte unterdrückt, weil er denkt, er hätte das Recht dazu. Was ich sicher weiß, ist, dass auch am Festland einige Splitter eingeschlagen sind und dass Ron angeordnet hat, einen davon für Experimente zu verwenden. Aber vor zwanzig Jahren ist ein Experiment schiefgegangen und eine riesige Explosion hat einen Großteil des ehemaligen Südlands komplett in Schutt und Asche gelegt. Und da dort die meisten Menschen gewohnt hatten, ist die Bevölkerung vom ganzen Festland jetzt nur noch dreimal so groß wie Lamkats. Soviel wissen auch die Necks.“

Nur noch dreimal so viele wie wir auf unserer kleinen Insel? Dabei ist das Festland doch flächenmäßig mindestens zwanzig Mal so groß wie Lamkat.

„Was die Necks nicht wissen ist, dass Ron Linde noch lebt. Ja, ähm, dann ist nicht weiter viel passiert, bis du gekommen bist, Sarah. Als ich Ron von deinen Neckkräften erzählt habe und davon, dass du eine Tochter hast, muss er wohl Nachforschungen angestellt haben über Wanda. Er hat, glaube ich, jemanden geschickt, der die Kräfte deiner dreijährigen Tochter ausgekundschaftet hat. Keine Ahnung, wie. Aber ich bin mir sicher, dass Ron von Anfang an wusste, wie stark Wanda ist. Ich wusste es nicht, du wusstest es nicht, aber es war Teil von Rons Plan. Er hätte das kleine Mädchen leicht töten können, Wanda stellt ja auch für ihn eine Bedrohung dar. Aber das hat er nicht getan. Er hat dann vielleicht nur darauf gewartet, dass sie halbwegs erwachsen und glaubwürdig aussieht und mit der Schule fertig ist, er hat mich jedenfalls angewiesen, dich in deinem Enthüllungsplan zu ermutigen, Sarah. Und ich sollte auch dafür sorgen, dass du Wanda in die Sache verwickelst. Und eigentlich war es auch Ron, der mir den Tipp mit meinem Blut gegeben hat, Tiano Volfatch war nur ein Versuchskaninchen. Ich wusste, Rons Plan war gefährlich für dich und Wanda und eigentlich wollte ich ihn auf keinen Fall unterstützen. Aber hätte ich irgendetwas Falsches getan, hätte er dich dafür umgebracht. Und so hat er die Gelegenheit auf Rache, die du ihm gegeben hast, genutzt und Wanda aus irgendeinem Grund zur Nationalheldin gemacht.“

Also sind eigentlich meine Kräfte der Grund dafür, dass ich übehaupt eingeweiht wurde. Also hätte mich meine Mutter womöglich gar nicht wiedersehen wollen, wenn Ron Linde nicht gewesen wäre...

Zuletzt sagt Jan zu mir:

„Tut mir leid Wanda, aber ich weiß wirklich nicht, was er jetzt mit dir vorhat. Aber jetzt weißt du zumindest, mit wem du es zu tun hast, ja? Er ist ein mächtiger Mann, der deine Familie hasst. Du solltest... Nein, wir alle sollten vorsichtig sein.“

Er will Sarah küssen, aber sie dreht sich weg. Sie ist gerade zu verletzt. Jan seufzt traurig und verlässt den Raum.

„Wow. Dieser Ron Linde kontrolliert Jan also schon lange“, sagt Oliver, vermutlich um das Schweigen zu brechen.

>>In der Tat ein mächtiger Mann<<, denkt Maria.

>>Was habe ich nur getan?<<, fragt sich Sarah, >>Sollten morgen wirklich alle ihre Kräfte wiederbekommen? Nur, weil Ron Linde sich an den Necks rächen will?<<

„Aber was will er überhaupt noch von mir?“, frage ich mich laut. „War das nicht schon seine Rache? Die Necks zu entblößen und sie einzusperren? Er hat doch die ganze Zeit darauf hingearbeitet. Warum soll ich eine Heldin sein und keine Neck?“

Maria und Sarah denken darüber nach. Da fällt mir ein, woher ich die Beschreibung „schwarze Haare und giftgrüne Augen“, die Beschreibung des Diktators von Lindron, kenne: Der kleine Junge, der Ron Lindes Brief hier abgeliefert hat, hat ein solches Gesicht gesehen.

„Heißt das, Ron Linde ist zur Zeit in Lamkat?“

Ich habe nicht vorgehabt, das laut auszusprechen, aber jetzt, wo es draußen ist, sollte ich es erklären. Sarah, Maria und Oliver schauen gespannt zu mir.

„Naja, weil, der Junge, der den Brief gebracht hat, hat ihn von einem Mann mit giftgrünen Augen und schwarzen Haaren bekommen.“

„Das ist höchstwahrscheinlich Ron Linde“, sagt Oliver, „Er ist höchstwahrscheinlich hier und hat höchstwahrscheinlich etwas mit dir vor. Aber er wird sich dir nicht einfach so zeigen, weil du seine Gedanken lesen kannst. Deshalb dürfte es kein Problem sein, wenn wir morgen zu dritt wegfahren, um deine Großeltern zu bestatten. Sarah?“

„Ja?“

„Willst du den Menschen noch immer ihre Kräfte zurückgeben?“
Sarah ist sich nicht ganz sicher. Aber dann denkt sie daran, dass Ron Lindes Rache ja eigentlich vorüber sein müsste und dass das Zurückgeben der Kräfte ja gar nichts mit ihm zu tun hat. Sie meint:

„Ja... Sonst wären wir doch nicht glaubwürdig! Jeder rechnet jetzt damit, dass er Superkräfte bekommen könnte...“

„Du könntest ihnen das Gedächtnis löschen“, schlage ich vor.

„Nein, das ist einfach nicht richtig. Ich ziehe das durch, was ich angefangen habe. Jetzt, wo ich über die Risiken besser Bescheid weiß, sollte es doch möglich sein, mit den Kräften zurechtzukommen.“

„Mach, was du willst“, sage ich, stehe auf und gehe. Gerade interessiert mich Sarahs Gefasel nicht im geringsten. Ich muss jetzt darüber nachdenken, was es für mein Ziel bedeutet, dass Ron Linde es auf mich abgesehen hat. Am besten ist es, wenn er niemals erfährt, wieviel Oliver mir bedeutet. Sonst könnte ich demnächst einen Folterfilm sehen, in dem Tomolli die Hauptrolle spielt.

Nur weil alle Angst davor haben, mir direkt Schaden zuzufügen, erpresst man mich mit den Menschen, die mir am Herzen liegen. Ron Linde ist da sicher keine Ausnahme, vielleicht wollte er meine Großeltern auch nur retten, um sie selbst gefangen zu nehmen. Gut. Dann darf eben ab jetzt niemand wissen, wen ich liebe.

 

Kapitel 25 - Maria

 

 

 

„Wohin jetzt?“, fragt Maria, die sich gerade ans Steuer gesetzt hat. Wir haben Sarah und Jan mit dem Auto zur Neckvilla gebracht, wo sie ihren dummen Plan umsetzen werden. Wegen mickriger zehn Prozent.

Oliver, Maria, Oma, Opa, Laetitia und ich fahren heute auf einen Ausflug. Oliver und ich haben uns darauf geeinigt, die Asche auf ganz Lamkat zu verteilen, auch Laetitias. Ihre Verwandten sind nämlich schon alle tot.

„Zuerst ans Meer“, antworte ich vom Beifahrersitz aus.

„Alles klar.“

Wir fahren los und ich lasse meine Gedanken schweifen, frage mich, ob wir heute wohl irgendwo eine Zeitung finden, die ich mir kaufen kann, um mich vorzubereiten.

Da Ron Linde möchte, dass ich die Heldin spiele, werde ich gleich morgen anfangen, mich darin zu versuchen. Ich finde, mit einem Diktator sollte man sich nicht leichtfertig anlegen, erst recht nicht, wenn man nicht genau weiß, was er überhaupt von einem will. Und wenn man Menschen zu verlieren hat.

Gedankenverloren werfe ich einen Blick nach hinten auf Oliver, der gerade die Urnen festhält. Wir fahren auf einer kurvigen Straße. Er erwidert meinen Blick und lächelt ganz leicht, dann sagt er:

„Maria?“

„Schätzchen?“, antwortet meine Großmutter.

„Können wir versuchen, dieser Adresse einen Besuch abzustatten?“

Er reicht ihr einen Zettel, den ich sofort wiedererkenne. Er sieht so aus, als würde Oliver ihn immer bei sich tragen.

„Schon wieder?“, fragt Maria.

„Naja, vielleicht ist sie dieses Mal zu Hause...“

„Also schön, dann fahren wir nochmal da hin. Wohnt dort eigentlich auch noch die Blondine?“

„Nein“, sagt Oliver.

Aus diesem Gespräch schließe ich, dass Maria und Oliver in den letzten zwei Tagen schon einmal versucht haben, Olivers Mutter zu besuchen, diese aber gerade nicht da war. Das habe ich von meinem Zimmer aus überhaupt nicht mitbekommen. Was wäre gewesen, wenn sie doch zuhause gewesen wäre und die Blondine zufällig gerade auf Besuch? Dann hätte Oliver sicher bemerkt, dass Hoggi sich überhaupt nicht an ihr Treffen im Bus erinnern kann. Vielleicht hätte er sich gleich gedacht, dass ich das gewesen sein muss.

Gott sei Dank war niemand zu Hause.

Dieses Mal komme ich mit und rede mit Hoggi, wenn sie da ist. Oder ich frage nach ihrer Telefonnummer oder so. Ich weiß nicht genau, wie ich ihr erklären soll, dass sie sich meinetwegen nicht mehr daran erinnern kann, Oliver getroffen zu haben. Und dass sie es ihm nicht verraten darf. Soll ich ihr einfach die Wahrheit sagen? Mir wird schon etwas einfallen.

Hoffentlich.

Aber naja, selbst schuld. Ich habe mir das eingebrockt.

„Wie heißt deine Mutter eigentlich?“, frage ich Oliver.

„Rate.“

„Nicht ohne Tipp.“

„Okay, ähm... Dein Vater hieß Endinar, richtig? Und deine Großmutter Arendina.“

„Also bis du auch nur eine Wortverdrehung? Hm. Wie kann man aus >Oliver< etwas Feminines zaubern?“

„Wer sagt denn, dass ihr Name feminin klingt?“

„Sie kann ja wohl kaum Eroliv oder Livero heißen...“

„Nein.“

„Iverol?“

„Auch nicht.“

„Dann Veroli?“

„Jepp, das ist es. Sie heißt Veroli Tomas.“

„Veroli klingt schön.“

„Finde ich auch.“

Oliver sieht kurz zum Fenster hinaus und lässt seine Augen dann ziemlich lange auf mir ruhen. Wahrscheinlich bemerkt er es selbst gar nicht, wahrscheinlich ist er in Gedanken bei Veroli und Hoggi. Aber mich macht es nervös. Er zieht die Augenbrauen zusammen, als könnte er etwas nicht glauben, und wendet sich wieder der Landschaft zu, die an uns vorbeizieht. Ich drehe mich wieder nach vorne.

>>Wanda, kann ich dich kurz etwas fragen, was Oliver nicht hören darf?<<, denkt Maria.

Natürlich brauche ich ihr keine Antwort zu geben, ich kann sie ja nicht davon abhalten, weiterzudenken.

>>Liebst du ihn? Denn ich bin mir sicher, er mag dich, aber ich weiß nicht genau, wie sehr. Und ich denke auch, dass du ihn magst, aber keine Ahnung, ob das vielleicht nur Freundschaft ist. Wenn ihr einander liebt, könnt ihr das sehr gut vor einander verbergen... Ich mache mir nur Sorgen. Du weißt, Oliver wäre die Person, die als erstes entführt wird, wenn du ihn liebst, richtig? Also sag schon? Tust du's?<<

Ich drehe meinen Kopf zu ihr, blicke aber zu Boden, während ich sie mit einem leichten Nicken zu meiner Vertrauten mache.

>>Also doch. Weißt du, ob es auf Gegenseitigkeit beruht?<<

Eine gute Frage. Weiß ich das? Ich bin mir ziemlich sicher, dass Oliver Hoggi liebt. Also nicke ich wieder. Ich weiß es.

>>Und tut es das?<<

Ich schüttele den Kopf.

>>Das tut mir leid... Weiß er, dass du...?<<

Ich schüttele den Kopf heftiger. Nein, noch nicht. Noch habe ich es ihm nicht mitgeteilt. Wie und wann hätte ich das bitte machen sollen? Und wieso, wenn ich doch weiß, dass es nicht auf Gegenseitigkeit beruht?

>>Okay, schon gut. Themawechsel.<<

Gleichzeitig wechselt sie auf Sprache:

„Sag mir bitte, wie Sarah das mit dir wieder hinbiegen kann.“

Ich zucke mit den Schultern.

„Sie hat es ziemlich verbockt“, sage ich. „Sie ist ja nett und so, aber sie ist ein großes Risiko eingegangen und hat sich reinlegen lassen. Ich habe nicht wirklich das Gefühl, ihr vertrauen zu können.“

„Du willst aber bestimmt nicht, dass sie sich von jetzt an wegen ihrer Schuldgefühle wieder von dir fernhält.“
„Nein.“ Ich will nicht, dass sie sich distanziert. Die wenigen Menschen, für die ich etwas übrig habe, sollen am besten für immer in meiner Nähe bleiben. Damit ich mit Sarah besser auskomme, muss sie sich einfach anstrengen für mich. Sie muss versuchen, Vertrauen aufzubauen.

„Ich würde ihr gerne vertrauen.“

>>Schön zu hören.<<

Warum hat Maria gerade laut mit mir geredet? Mir fällt erst jetzt auf, dass das für diese Frage gar nicht notwendig war, sie geht Oliver nichts an, genausowenig wie die Antwort. Aber Maria will wissen, wie er reagiert. Sie macht sich für mich mehr Hoffnungen als ich mir selbst.

>>Vielleicht versucht er ja, mit Sarah zu reden. Das würde heißen, dass Wanda ihm etwas bedeutet.<<

„Oder Sarah“, sage ich ein wenig zu laut.

>>Wir werden ja sehen... Hatte er einmal etwas mit der Blondine? Ist das der Grund, warum du bereit bist, aufzugeben?<<

„Bin ich ja gar nicht. Ich wollte nie aufgeben.“

>>Gut, ich sehe nämlich keine Zukunft für Blondie und ihn. Ich weiß nicht, wieso, aber meine Intuition sagt mir, dass da nie wieder etwas sein wird, falls da einmal etwas war. Und es wäre doch ein großes Versäumnis deinerseits, wenn gerade dieser Frauenmagnet für immer Junggeselle bleiben würde.<<

„Ich weiß. Ich gebe ja nicht auf. Lass mir Zeit, es ist gerade etwas schwierig.“

>>Wegen Ron Linde?<<

„Ja.“

„Ladies, lasst ihr mich vielleicht auch an eurer Unterhaltung teilhaben? Geht es noch immer um Sarah?“, höre ich Olivers Stimme hinter mir.

Ich erschrecke ein wenig.

Maria grinst ein wenig zu breit und denkt:

>>Er hat aufmerksam zugehört, was?<<

Ich sage schnell:

„Ja, ich will das Verhältnis zu ihr nicht aufgeben. Aber... Ich kann einfach nicht den ersten Schritt machen... Vielleicht brauche ich einfach mehr Zeit.“

Oliver nickt.

„Viele Sprichwörter würden dir Recht geben, Wanda. >Je länger die Arbeit des Seilers, desto stärker sein Seil< zum Beispiel. Oder >Zeit ist keine Hürde, sondern ein Geschenk.<“

Ich muss kichern. Er hat mich gerade ohne es zu wissen ermutigt, um sein Herz zu kämpfen. Das nehme ich als gutes Omen.

„Wie lange dauert es noch bis wir am Meer sind?“, fragt Oliver Maria.

„Eine halbe Stunde“, antwortet sie.

„Vielleicht ist Zeit doch eine Hürde“, meint Oliver.

Ich sage:

„Man könnte eigentlich meinen, dass es auf einer Insel nicht so lange dauern kann, bis man irgendwo am Strand steht.“

„Naja, viele schöne Strände gibt es ja nicht“, gibt Maria zu bedenken.

Mir fällt der Strand aus dem Tagebuch meiner Ururgroßmutter ein.

„Fahren wir denn an den Seeungeheuer-Strand?“, frage ich Maria die Zweite.

„Wie ihr jungen Leute immer so schön sagt: Jepp.“

„Was für ein Seeungeheuer?“, fragt Oliver.

 

Kapitel 26 - Oliver

 

 

 

Wir gehen mit den drei Urnen am Strand spazieren, Oliver mit Laetitias, ich mit Opas und Maria mit Omas, und verstreuen ein wenig ihrer Asche.

„Und eure Ahnin hat hier wirklich ein Seeungeheuer gesehen?“, fragt Oliver, der noch immer nicht glauben kann, was wir ihm im Auto erzählt haben.

„Sie hat es so beschrieben, dass es wie ein Jungtier aussah, das noch wuchs“, antworte ich, „Naja, das war vor über hundert Jahren. Entweder ist es jetzt tot oder viel größer.“

Nachdem ungefähr ein Drittel meines Großvaters an die Stelle im Wasser gestreut habe, an der ein Drittel von Oma schwimmt, schließe ich die Urne. Ein eigenartiges Gefühl, das, was von den Personen, die ich am meisten geliebt habe, übrig ist, im Meer treiben zu sehen. Irgendwann werden meine verbrannten Großeltern und Laetitia auf den Grund sinken, wo sie sich dann langsam zersetzen und dann vielleicht in einem anderen Organismus wieder lebendig sein werden. Ja, Tod und Leben sollte es heißen, nicht Leben und Tod. Zuerst war jeder von uns tot, dann wurden wir lebendig und letztendlich werden wir wieder zum Tod zurückkehren. Der Tod war zuerst und dann erst entstand das Leben. Obwohl ich weiß, dass ich kein großer Philosoph bin und sicher nicht die erste mit diesem Gedanken, bin ich gewissermaßen stolz auf mich, dass ich es begriffen habe. Trotzdem will ich meinen Großeltern nicht allzu bald in unseren Ursprungszustand folgen...

Auch Oliver und Maria sind fertig mit der Asche und wir setzen uns in den Sand und beobachten das Meer. Das ist das erste Mal, dass ich es in seiner vollen Pracht erlebe. Ich kann meinen Blick nicht mehr davon abwenden. Es ist so überwältigend groß. Ich hatte gehofft, von hier aus vielleicht das Festland zu sehen. Aber bis zum Horizont kann ich nichts anderes als Wasser erkennen, sanfte Wellen, die im Wind schaukeln. Irgendwie beruhigend, da muss ich Opa Recht geben. Nur weiß ich, dass unter der schönen Oberfläche etwas Großes, Unheimliches leben könnte. Irgendwie beunruhigend.

Maria teilt Müsliriegel aus und ich beiße von einem ab. Hinter mir im dünnen Streifen Wald höre ich das Plätschern eines Bachs. Es ist fast Mittag und mal wieder sehr heiß. Natürlich bin ich an Hitze gewohnt, wie jeder aus Lamkat und so schnell fange ich auch nicht zu schwitzen an, aber ich würde mich trotzdem gerne abkühlen, da die Gelegenheit gerade so günstig ist.

Bach oder Meer?

Da muss ich nicht lange überlegen. Eindeutig Meer, das möchte ich unbedingt ausprobieren. Ich prüfe meine Kleidung und frage mich, wie lange das dünne Sommerkleid zum Trocknen brauchen wird. Die Sandalen kann ich einfach ausziehen.

„Ich würde gern Schwimmen gehen“, verkünde ich.

Maria ist dagegen.

>>Also wirklich, Wanda. Da hättest du einen Badeanzug mitnehmen sollen, sonst... Oh, vielleicht gerade wegen Oliver? Aber denk bitte an die Autositze deiner Mutter. Alles für die Liebe, aber noch mehr für die Vehikel, die dir nicht gehören...<<

Oliver sagt scherzhaft:

„Gerade eben hast du mir erzählt, dass es im Meer ein Seeungeheuer gibt und jetzt willst du dich ihm servieren?“

„Nein, mir ist nur heiß“, antworte ich beiden. „Ich gehe Schwimmen. Wer möchte, kann mitkommen.“

„Igitt, Wasser“, sagt Maria und verzieht das Gesicht.

Oliver sagt in seinem herausforderndem Ton:

„Tut mir leid, Wanda, aber einer muss hier den Anstand wahren. Ich gehe nur mit Badekleidung ins Wasser.“

Aha, er will also Anstand.

„Wie leid es mir tut, Herr Tomas, dass ich feststellen muss, wie langweilig Sie sind.“

Oliver lächelt.

„Nicht doch, Sie sind zu freizügig, Fräulein Meier.“

„Was ist denn an ein bisschen Wasser auszusetzen?“, frage ich, in der Hoffnung, dass er es sich anders überlegt.

Er wirft einen hastigen Blick aufs Wasser, fast, als hätte er Angst, dann atmet er einmal scharf ein. „Gar nichts“, antwortet er und legt dabei eindeutig Wert darauf, mir in die Augen zu sehen, „aber ich kann leider nicht schwimmen.“

Während diesem Satz hat er keine Miene verzogen, er hat ohne große Umschweife einfach die Wahrheit gesagt. Diese Wahrheit habe ich allerdings nicht erwartet.

>>Das leuchtet ein, oder?<<, denkt Maria. >>Wann hätte er es denn lernen sollen, Schwimmstunden hat man erst mit 13 Jahren.<<

Natürlich, wie konnte ich das vergessen? Nicht jeder hatte eine glückliche Kindheit.

„Oh, klar“, sage ich, ohne ihm dabei in die Augen zu sehen. Aber noch gebe ich die Hoffnung nicht auf: „Willst du es lernen?“

Ich habe noch viel weniger erwartet, dass Oliver mir jetzt ein breites Grinsen zeigt und „Wenn du es mir beibringen willst“ sagt. Doch er tut es. So habe ich ihn während den elf Tagen unserer Bekanntschaft noch nie lächeln gesehen. Ich kann mein ebenso breites Grinsen nicht unterdrücken und sage:

„Aber natürlich! Und einen besseren Lehrer kannst du gar nicht bekommen, ich habe schon Wettbewerbe im Schwimmen gewonnen, weißt du?“

„Angeberin.“

Maria kann nicht glauben, dass Oliver nicht an mir interessiert ist. Und so langsam kann auch ich mir vorstellen, dass ich eine Chance habe.

Wir beginnen mit Trockenübungen, bei denen ich Oliver die Grundbewegung zeige. Ich will es ihm genauso beibringen, wie ich es in der Schule gelernt habe.

„Ihr seht aus wie zwei Schildkröten, wie ihr da im Sand herumrudert“, lacht Maria.

Ich strecke ihr die Zunge raus und Oliver macht es nach, als gehöre es zur Übung dazu.

„Die Jugend heutzutage“, seufzt meine Großmutter. „Aber ihr müsst danach ins Wasser gehen, ja? Ihr seid voller Dreck, den ich nicht im Auto haben will.“

„Jaja“, sage ich gespielt genervt. Im Moment bin ich einfach nur aufgeregt und froh, dass Oliver neben mir auf dem Bauch liegt und genauso dumm aussieht wie ich.

Ich habe Spaß. Am Tag, an dem ich meine Großeltern bestatte, an dem meine Mutter zehn Prozent der Bevölkerung in Supermenschen verwandelt, habe ich so viel Spaß wie lange nicht mehr. Ich würde am liebsten ewig hierbleiben, alles vergessen bis auf Oliver und Maria und das Meer. Diesen Ausflug möchte ich auskosten.

„Gut“, sage ich, „Du bist jetzt bereit fürs Wasser.“

„Aber werde ich da nicht nass?“, fragt Oliver, als hätte er erst vor Kurzem entdeckt, was Nässe ist.

„Doch, junger Schüler“, antworte ich mit meiner tiefstmöglichen Stimme.

Maria verdreht die Augen.

>>Wow, Wanda. Du klingst wirklich männlich...<<

Sarkastische Gedanken haben anscheinend die Farbe von roten Trauben.

Ich versuche, meine Stimmlage nicht zu erhöhen, als ich Oliver erkläre:

„Aber wenn du dir die Schuhe ausziehst, so wie ich, dann verspreche ich dir, dass es nicht weiter schlimm sein wird.“

>>Wie willst du dich abtrocknen?<<

Ich gehe auf Marias Gedanken ein und fahre in meinem Bass fort:„Die Sonne ersetzt uns heute die Handtücher.“

Oliver und ich gehen langsam Richtung Wasser, lassen unsere bloßen Füße von den Wellen anschwappen.

„Das kitzelt ja so“, piepst Oliver so hoch er kann. Er hüpft ein wenig herum und ich muss lachen. Wir spielen unsere Rollen beide gut, ich den gut gebauten Schwimmlehrer mittleren Alters und er das junge, hübsche, ahnungslose Ding. In irgendeinem berühmten alten Film vom Festland ist das der Ausgangspunkt für eine Liebesgeschichte.

„Wie heißt noch gleich der Film?“, frage ich Oliver in der Annahme, dass er ihn auch kennt.

>>Was für ein Film?<<, fragt sich Maria.

Oliver antwortet:

„>In Liebe versunken<. Ziemlich kitschige 120 Minuten, stimmt's? Aber meiner Mutter hat der Film gefallen.“

Also kennt er ihn. Dachte ich's mir doch.

„Meinem Großvater auch“, sage ich und gehe einige Schritte ins Wasser hinein. Je tiefer es wird, desto kühler fühlt es sich an. Es ist so angenehm, dass ich bald bis zum Kinn tief im Wasser stehe.

„Hab keine Angst, Kinetta!“, rufe ich Oliver zu. Soweit ich mich erinnern kann, war Kinetta der Name des Mädchens aus dem Film. „Schwimm zu mir!“

Ich könnte schwören, ich hätte gerade unabsichtlich den Helden aus >In Liebe versunken< wortwörtlich zitiert.

„Warte auf mich, Tarres!“, ruft Oliver und wagt sich drei Schritte nach vorne.

In diesem Moment wechselt er seine Persönlichkeit und plötzlich muss ich die Gedanken eines verwirrten Olivers hören, der mich nicht kennt und Angst davor hat, ins Wasser zu gehen.

Ich schwimme schnell zu ihm, spreche die beinahe schon magischen Worte und befreie ihn von seiner Unsicherheit.

„Wäre schlimm gewesen, wenn dir das beim Schwimmen passiert wäre“, überlege ich laut. „Nur weil der eine Teil deiner Persönlichkeit schwimmen kann, heißt das nicht, dass der andere weiß, wie es geht.“

Oliver zieht die Augenbrauen zusammen.

„Vermutlich. Aber egal, ich hätte mich schon irgendwie über Wasser halten können, zumindest, bis die Rettungsschwimmerin kommt.“

Ich zucke mit den Schultern.

„Ja, stimmt, für eine Weile schafft das jeder. Aber wir wollen hier richtiges Schwimmen praktizieren, ja? Also versuch es einmal!“

Und Oliver versucht es. Natürlich geht es wegen der Trockenübungen schon ganz gut. Es ist zwar noch langsam, aber seine Bewegungen sehen gut koordiniert aus. Nach einer Stunde Brustschwimmen, in der wir uns langsam in immer tieferes Wasser vorarbeiten, ruft Maria nach uns:

„Hey, wolltet ihr nicht noch ein bisschen Asche verstreuen? Langsam wird mir hier langweilig!“

In ihren Gedanken lese ich, dass sie nur deshalb so lange gewartet hat, weil sie mir eine Gelegenheit geben wollte, Zeit mit Oliver zu verbringen. Um ihm >>gehörig den Kopf zu verdrehen<<... Sie will mich anscheinend wirklich gerne unterstützen, was Oliver angeht. Aber das war mir klar, sie mag ihn schließlich sehr gern und sie weiß jetzt, dass ich ihn noch mehr mag.

Als wir aus dem Wasser steigen, ist es mir dann doch ein bisschen peinlich, dass mein Kleid beim Schwimmen fast durchsichtig geworden ist. Ich versuche, den Stoff ein bisschen von meinem Körper zu lösen und hoffe, dass ihn die Sonne schnell trocknen wird.

Oliver hat jedenfalls nicht zu befürchten, dass man seine Unterwäsche durch seine kurze Hose und sein T-Shirt durchsieht. Die sind so dick, dass sie wohl um einiges länger zum Trocknen brauchen werden als mein Kleid.

>>Es hat alles Vor- und Nachteile<<, denke ich, als ich mir wieder meine Schuhe anziehe. Der Sand zwischen meinem Fuß und der Sandale kratzt unangenehm.

>>Er sieht gar nicht hin!<<, denkt Maria geschockt. >>Nicht einmal ein kurzer neugieriger Blick von der Seite. So etwas, der Junge ist scheinbar vollkommen desinteressiert. Ist er vielleicht schwul?<<

Dieser Gedanke ist mir bis jetzt gar nicht gekommen. Ich habe immer gedacht, er wäre einfach nur an mir nicht interessiert. Könnte das vielleicht für mein gesamtes Geschlecht gelten?

Nein, oder? Ich bin mir ziemlich sicher, dass er einmal in Hoggi verliebt gewesen ist.

Aber ich sollte es trotzdem irgendwie austesten. Jetzt zieht Oliver sich die Schuhe an. Ich ergreife die Gelegenheit und gehe schnell zu Maria, um ihr ins Ohr zu flüstern:

„Kannst du ihn das heute vielleicht unauffällig fragen?“

Maria zwinkert mir zu.

>>Aber klar doch. Ich bin deine Kuppelpartnerin. Nur was meinst du mit unauffällig? Ich denke, Oliver wird eine ehrliche Antwort geben, egal, wie ich frage.<<

„Hast du schon einmal mit einem Mann geschlafen, Schätzchen?!“, ruft Maria Oliver zu, ohne weiter darüber nachzudenken.

Unauffällig, hä? Ich muss mich zusammenreißen, um nicht panisch loszulachen. Na toll. Musste das sein? Ich tue so, als wäre ich irrsinnig beschäftigt damit, Opas Urne von Sand zu befreien, als hätte ich gar nichts mit Marias Frage zu tun, während ich gespannt auf die Antwort warte.

Oliver ist zu Recht irritiert.

„Nein, wieso? Ich bin nicht schwul.“

„Schade“, sagt Maria, „Ich kenne da nämlich einen netten Kerl, einen Sportlehrer auf der Suche, dem du bestimmt gefallen würdest. Er ist nicht viel älter als du, so um die 27 und er war mit mir gemeinsam in der Entzugsklinik. Keine Angst, jetzt trinkt er nicht mehr.“

Oliver schüttelt lächelnd den Kopf.

„Klingt gut, aber nein danke.“

Maria nickt.

„Schade, er hat mich gebeten, die Augen offen zu halten. Aber schon klar: das Herz macht, was es will, nicht wahr?“

Mit einem theatralischen Seufzer beendet sie diese Meisterleistung. Natürlich gibt es keinen jungen Sportlehrer, den sie einmal zufällig getroffen hat, das hat sie aus einer Fernsehserie. Der einzige homosexuelle Mann, den sie kennt, ist über dreißig und schon vergeben.

Ich muss zugeben, ich habe mich mit meinen Gefühlen an die richtige Person gewendet, Maria ist eine tolle Kuppelpartnerin. Sie kann lügen wie gedruckt.

>>Er ist also nicht schwul<<, denkt sie jetzt, >>sondern ein Gentleman.<<

Sie zwinkert mir zu.

>>Du hast dir sicher nicht den falschen ausgesucht, Wanda.<<

Ich zucke mit den Schultern. Darüber habe ich nicht groß nachgedacht, bevor ich mich verliebt habe.

„Das Herz macht, was es will.“

Und mein Herz hat mich ohne zu fragen an Oliver gebunden. Ich bin noch immer ein bisschen wütend auf mich selbst und frage mich, wie das passiert ist. Aber ich kann nichts tun, gar nichts, außer zu hoffen, nein, darum zu kämpfen... Irgendwann wird mir sein Herz gehören. Wenn ich meins nicht zurückbekommen kann, muss ich eben seins nehmen. Und ich glaube jetzt wirklich, dass es möglich ist. Ich glaube, ich verstehe ihn mehr und mehr.

Also ist er ein Gentleman?

So habe ich das noch nie betrachtet. Aber der Gedanke gefällt mir, weil er Sinn ergibt und weil das bedeuten würde: In Olivers Augen bin ich es zumindest wert, wie ein Mensch und nicht wie etwas zum Gaffen behandelt zu werden, anders als bei früheren Verehrern. Er wendet seinen Blick ab, wenn ich halb nackt bin, damit ich mich nicht unwohl fühle. Das wäre der Inbegriff eines Gentlemans.

Vielleicht findet er mich auch einfach nicht attraktiv. Um das herauszufinden, müsste ich wissen, wie er mit anderen Frauen umgeht.

Oder wie er mit Hoggi umgehen würde. Ich vertreibe schnell den unguten Gedanken, bevor er meine Laune verdirbt.

Ich bin nach zehn Minuten Mittagssonne komplett trocken und auch Olivers Kleidung ist höchstens noch ein wenig feucht. Wieder nehmen wir die Urnen und tragen sie quer über den Strand bis zum Trampelpfad, über den wir gekommen sind. Maria und Oliver sind schon ein Stück in den Wald hineingegangen, da werfe ich noch einen letzten Blick aufs Meer, sauge seine Schönheit in mein Gedächtnis und versuche, die Schwimmstunden mit Oliver in unvergessliche Erinnerungen zu verwandeln. Wer weiß, wann ich das nächste Mal wieder glücklich sein werde.

Da sehe ich etwas am Horizont, etwas, dass dort aus dem Wasser auftaucht. Es ist schillernd blau und riesengroß, hat um die zehn Flossen auf beiden Seiten und vorne kein Maul, sondern einen Schlund. Ich bekomme eine Gänsehaut. Dieses Ding ist die ganze Zeit über im Wasser versteckt gewesen, auch während Oliver und ich im Seichten in der Nähe des Strandes herumgeplanscht haben. Ich frage mich, ob es uns bemerkt hat. Ob es uns beobachtet hat.

Es dreht sich ein wenig Richtung Strand und beginnt, auf mich zuzuschwimmen. Mein Herz rutscht einige Etagen tiefer. Ein eigenartiges Schimmern geht von dem Ding aus. Ohne nachzudenken renne ich jetzt, hinein in den Wald und weg vom Wasser.

„Ich habe es gesehen!“, rufe ich schnell meinen Kumpanen zu, „Das Seeungeheuer! Es ist riesig und schwimmt gerade auf den Strand zu!“

Laufend überhole ich zuerst Maria, dann Oliver.

„Ihr solltet besser auch rennen, keine Ahnung, wie weit es an Land gehen kann!“, versuche ich, den beiden die Gefahr klarzumachen.

Maria versteht sofort und bewegt sich, so schnell sie kann. Kurz darauf zieht Oliver sie an der Hand mit und wir stürmen gemeinsam den Pfad enlang.

Zeit, Wichtiges zu beschützen. Ich strecke drei meiner unsichtbaren Arme hinter mich, immer weiter zurück, bis sie ins Wasser tauchen und das Seeungeheuer ertasten. Es fühlt sich unerwarteterweise gar nicht glitschig, sondern einfach nur hart an, als bestünde es aus Kristall. Und es schwimmt noch immer auf den Strand zu, jetzt sogar ziemlich schnell.

Drei Arme müssen reichen, sonst kann ich auf keinen Fall weiter so schnell rennen, ohne zu stolpern. Ich hebe das Riesending aus dem Wasser, was selbst meinen Superarmen schwer fällt. Ich schicke doch noch einen vierten dazu, mit dessen Hilfe das Ungeheuer schließlich in der Luft schwebt.

Es gibt ein ohrenbetäubendes Geräusch von sich, eine Mischung aus lautem Quietschen und einer Art Rasseln. Ich bleibe stehen und halte mir die Ohren zu. Mit dem fünften Arm werfe ich das blaue Ding so weit ich kann. Irgendwo in der Ferne höre ich ein leises Platsch.

Hoffentlich überlegt es sich jetzt gründlich, ob es wieder angreifen will. Ich hole schnell zu Oliver und Maria auf, wir steigen ins Auto und rasen davon.

 

Kapitel 27 - Veroli

 

 

 

„Nächster Halt: Veroli Tomas“, sagt Maria, als wir alle wieder ein wenig zu Atem gekommen sind.

„Schön“, sage ich.

„Ist gut“, sagt Oliver.

„Seid doch froh, ihr seid jetzt sicher wieder ganz trocken“, scherzt Maria.

„Soll das ein Witz sein?“, entrüste ich mich, „Was heißt da trocken? Ich hätte mir fast in die Hose gemacht!“

„Wie hat das Monster denn ausgesehen?“; fragt Oliver.

Ich versuche, ihm möglichst alles zu beschreiben:

„Sehr groß, hart und blau. Mit zwanzig Flossen und einem riesigen Schlund. Und es leuchtet irgendwie.“

>>Das erinnert doch an Kortuma<<, denkt Maria. >>Blau und leuchtend, meine ich.<<

„Ja, wirklich, Kortuma“, sage ich ein bisschen erstaunt über die Gemeinsamkeiten. Ich habe vermutet, dass das Seeungeheuer irgendetwas mit dem Kometensplitter zu tun hat, aber ich dachte nicht, dass es ihm sogar ähnlich sieht.

„Und ich habe euch das nicht geglaubt“, sagt Oliver und verschränkt die Hände vor der Brust.

„Ja, wir reden eben nicht den ganzen Tag lang Blödsinn“, lacht Maria.

Es dauert nicht lange, bis wir in eine kleine Ortschaft namens Krähennest kommen, die aus ungefähr fünf Bauernhöfen besteht. Das einzige Haus, das zu keinem der Höfe gehört, ist das der Familie Tomas. Oliver rutscht aufgeregt auf seinem Platz herum, als wir vor dem kleinen gelben Häuschen stehen bleiben. Sarahs Auto passt farblich viel besser zum Haus als der silberne Wagen, der in der Einfahrt steht.

Anscheinend befindet sich die Bewohnerin dieses Heims bereits in 100m Nähe, denn ich kann sehen, wie Veroli Tomas gerade das Mittagessen vorbereitet. Heute kocht sie zur Abwechslung für zwei weitere Personen, die jeder Zeit kommen könnten. Nämlich für Hoggi und ihren Freund Gorren, die gerade bei der Neckvilla sind, um sich auf Superkräfte untersuchen zu lassen. Veroli ist ein bisschen skeptisch, was Jans Blut betrifft.

„Veroli ist da“, erkläre ich, „Und sie kocht gerade für Hoggi und ihren Freund. Ihr Freund heißt Gorren und die beiden bekommen gerade eine Blutspritze von Sarah und Jan.“

>>Also will Blondie auch wissen, ob sie etwas Besonderes ist<<, denkt Maria. Ich werfe ihr einen bösen Blick zu und konzentriere mich dann auf mich selbst. Im Gegensatz zu Oliver habe ich keinen Grund, nervös zu sein. Keinen, von dem er etwas wissen darf. Also versuche ich, nicht allzu schnell zu atmen, während wir alle aussteigen und auf die Haustür zugehen. Obwohl- ich könnte meinen Schock über das Monster als Ausrede verwenden.

Oliver sucht nicht erst nach der Klingel, sondern klopft gleich an. Er war ja schon einmal hier.

Natürlich denkt Veroli, es wäre Hoggi, ruft „Ich komme gleich!“, stellt brav den Herd ab und öffnet uns die Tür. Und ist vollkommen baff.

Sie kennt uns natürlich schon, vom Konzert, von den Zeitungen. Obwohl sie das Gefühl hat, Oliver von uns allen am besten zu kennen, gibt sie zuerst mir die Hand:

„Schön, Sie kennenzulernen, Wanda Meier. Aber ich muss Ihnen wohl nicht sagen, was ich über Sie denke, nicht wahr?“

Ich lächle ihr zu, in der Hoffnung, dass sich ihre vage Meinung von mir zum Guten wendet. Sie hat es noch nicht gewagt, sich ein Urteil über mich zu bilden, rein aus dem, was die Zeitungen schreiben. Bis jetzt hat sie ein wenig Angst vor mir, aber auch herzliches Beileid mit mir.

Mein Lächeln wirkt sich natürlich positiv aus.

Oliver hat die ganze Szene natürlich genau beobachtet. Ich kann mir gut vorstellen, wie er sich gerade überlegt, was er sagen soll, aber jetzt schüttelt Veroli meiner Großmutter die Hand:

„Sie waren doch auf auf der Bühne, nicht wahr? Wie heißen Sie? Oh, da fällt mir ein, ich habe mich auch noch gar nicht vorgestellt. Ich bin Veroli Tomas.“

„Angenehm, Maria Redt“, sagt Maria bloß. „Ich bin nur der Chauffeur.“

Veroli denkt darüber nach, was wir von ihr wollen könnten.

>>Also will nur Wanda Meier etwas von mir? Oder doch dieser junge Mann...<<

Oliver ergreift jetzt die Initiative und gibt seiner Mutter die Hand.

„Schön, dich wiederzusehen“, sagt er ziemlich hektisch. „Mein Name ist Oliver Tomas.“

Da klingelt etwas bei Veroli. >>Oliver Tomas, Oliver Tomas... Das habe ich doch schon einmal gehört. Warum hat er denn denselben Nachnamen wie ich?<<

„Sind wir verwandt?“, fragt Veroli ein wenig verwirrt.

„Ja, sind wir“, erwidert Oliver. „Wärst du so freundlich, uns zum Mittagessen einzuladen? Ich kann dir dann die ganze Geschichte erzählen.“

Veroli will unbedingt die Geschichte hören.

„Ja, natürlich, kommt nur herein. Ich habe heute sowieso schon Gäste eingeplant, drei mehr sind nicht schlimm, ich habe genug zu essen da.“

In Gedanken dankt sie Hoggi für das Geld, das sie Veroli monatlich schenkt. Hoggi hat die Schule dank Veroli fertigmachen und Veterinärmedizin studieren können und verdient hier am Land sehr gutes Geld. Sie wohnt allerdings am Hof ihres Freundes.

Wir werden ins Haus hineingeführt und an den Esstisch gesetzt. Schnell deckt Veroli noch drei weitere Teller auf.

Sie verkündet:

„Es gibt Rindsgeschnetzeltes mit Nudeln. Sowohl Rind als auch Nudeln habe ich beim Bauern schräg gegenüber gekauft. Den Nachtisch habe ich aber selbst angebaut und selbst hergestellt.“

>>Pfirsichkompott.<<, denkt sie.

„Was gibt es denn zum Nachtisch?“, fragt mich Oliver.

„Wenn die Dame es dir nicht sagen will, werde ich das auch nicht tun.“

Veroli findet es nett, dass ich die Gedanken, die ich lese, normalerweise nicht ausplaudere. Sie setzt sich zu uns und sagt:

„Also, ihr dürft hier essen, aber bitte erzählt mir, wer ihr seid.“

Sie denkt zwar nicht, dass wir besonders gefährlich sind, aber natürlich will sie wissen, wieso wir hier sind.

Ich werfe einen Blick auf Oliver und Maria. Maria hat eigentlich nicht vor, viel zu reden. Und Oliver hat wahrscheinlich gemerkt, dass Veroli mich für die Anführerin hält. Also sage ich:

„Sie wissen zumindest schon unsere Namen, wahrscheinlich kennen Sie meinen aus den Nachrichten. Ähm, ich... Was ich auf der Bühne gesagt habe, stimmt wirklich alles, also wäre es durchaus möglich, dass Hoggi mit Superkräften von der Villa zurückommt. Auch wenn es einen Tag dauert, bis sie sie benutzen kann. Ich kann es Ihnen zeigen, wenn Sie wollen.“

Ich lasse sechs Gabeln gleichzeitig in die Höhe schweben und lege sie wieder zurück. Nicht eine klirrt, ich werde anscheinend immer besser.

>>Oh mein Gott, wie unheimlich. Das ist unmöglich. Aber ich habe es doch gerade gesehen! Dieses Mädchen kann wirklich Telekinese. Und natürlich weiß sie von Hoggi, ich habe ja vorhin an sie gedacht. Und sie weiß auch, was ich jetzt gerade denke. Aber sie sieht ganz nett aus und sie hat nichts Schlimmes vor, glaube ich...<<

„Beeindruckend“, meint Veroli.

Jetzt erst dämmert mir, dass ich, wenn alles nach mir ginge, gerade mit meiner zukünftigen Schwiegermutter reden würde. Zum Glück mache ich einen guten Eindruck. Besser wäre es natürlich, wenn ich ein ganz normaler Mensch wäre. Aber das ist Oliver schließlich auch nicht. Vielleicht nicht einmal Veroli selbst, vielleicht ist sie auch Hypnotiseurin.

„Naja, ist eben meine Kraft“, sage ich ein wenig verlegen. „Ähm, Sie haben sicher auch von meinen Verwandten, den Necks, gehört, richtig? Sie, meine Mutter und ich können auch Gedächtnisse löschen. Was ich natürlich nicht tun werde, keine Angst. Aber ich muss Ihnen mitteilen, dass die Necks Ihnen schon die Erinnerungen an eine wichtige Person genommen haben. Und ihretwegen sind wir jetzt hier.“

Veroli denkt natürlich sofort an Oliver, sie sieht ihn jetzt genauer an und bemerkt seine Ähnlichkeit mit ihr. Dieselbe Nase, dieselbe Haarfarbe, wenn auch Veroli schon graue Strähnen im rotblonden Lockenkopf hat. Langsam schwant ihr, wie Oliver mit ihr verwandt sein könnte.

Sie starrt Oliver an, er starrt zurück.

„Warum kommst du mir so bekannt vor?“, fragt Veroli.

Sie weiß die Antwort schon, tief in ihr, sie kann sie nur nicht glauben. Endlich fragt sie:

„Bist du mein Kind?“

Oliver lächelt wieder sein Grinselächeln.

„Jepp“, sagt er.

 

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 29.11.2014

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