Cover

Der Wettstreit beginnt

Waldmenschen

 

  • Diese Kurzgeschichte spielt im Land des Waldes.
  • Die Waldmenschen veröffentlichen diese Kurzgeschichte.
  • Die Weltanschauung der Waldmenschen ist durch die heilige Quelle der Wahrheit geprägt und ist Grundlage für die  Zensur, die die Waldmenschen vornehmen.

 

„Liebe Schülerinnen und Schüler“, das Mikrofon des Direktors quietschte. Einige Schüler verzogen das Gesicht, andere begannen zu tuscheln.

„Ruhe bitte! Also, liebe Schülerinnen und Schüler... Ich bitte um Ruhe!“

Die geräumige Aula des Internats „Zur tiefen Höhle“ war bis auf den letzten Platz besetzt. Im Land des Waldes begann das neue Schuljahr und es war an der Zeit, dass alle Jugendlichen, die das siebzehnte Lebensjahr erreicht hatten, von nun an im Höhleninternat unterrichtet werden würden. Dies galt für alle drei Völker: Wald-, Stadt- und Höhlenmenschen.

Die Aula wurde, wie auch alle anderen Räume, die tiefer in der Höhle lagen, durch künstlich erzeugtes Tageslicht beleuchtet. Indirekte, gelblich warme Strahler ließen die kahlen, grauen Felswände beinahe gemütlich wirken.

 

David saß in der letzten Reihe neben seinem besten Freund Alexander. Sie gehörten zum Volk der Waldmenschen.

„Unglaublich, wie viele von uns hier sind“, flüsterte David. Sein Freund nickte und sah sich um.

Das Getuschel wollte nicht abebben.

„Ruhe bitte!“ Jetzt schlug der Direktor dreimal mit der flachen Hand auf das Pult vor ihm. Die Schläge hallten trotz der vielen Menschen wie ein Echo. Die Schüler verstummten, der Direktor raufte sein graues, wirr auf dem Kopf stehendes Haar und fuhr fort:

„Ich begrüße euch zu eurem neuen Lebensabschnitt im Internat „Zur tiefen Höhle“. Von nun an wird hier euer neues Zuhause sein. Zwei unserer elementaren Regeln sind Ruhe und Folgsamkeit. Die Einhaltung unserer Hausordnung ist äußerst wichtig. Weitere Punkte darauf sind Ehrlichkeit, Pünktlichkeit, Strebsamkeit, Loyalität und Anstand. Nur wenn sich alle...“

„Das ist ganz schön viel auf einmal, findest du nicht?“ Alexander beugte sich zu David herüber.

„Allerdings.“

„Hast du die da vorne gesehen?“ Alexander wies mit dem Kopf auf ein Mädchen einige Reihen vor ihnen.

David grinste. Natürlich hatte er sie gesehen. Blonde Locken wie glänzender Honig, blaue Augen, Sommersprossen und wenn sie lächelte, wurde ihm warm im Bauch.

In diesem Moment drehte sie sich um und musterte ihn. Wieder schenkte sie ihm, wie bei ihrem ersten Blickkontakt, dieses scheue Lächeln und er erwiderte es.

Alexander stieß ihm mit dem Ellenbogen in die Seite.

„So ist das also. Kaum bist du von zu Hause weg...“

„Halt die Klappe.“

„Und nun, liebe Schülerinnen und Schüler...“

David nahm die Stimme des Rektors nur gedämpft wahr, als hätte er Watte im Ohr. In seinem Bauch schienen Ameisen zu rennen. Seine Wangen waren warm und er musste dieses Mädchen immerzu betrachten.

„... viel Spaß und Erfolg an unserer Schule. Ihr dürft jetzt in die Klassenräume gehen und eure neuen Mitschüler kennenlernen.“

Es wurde applaudiert. Einige Schüler sprangen auf, andere erhoben sich zögerlich.

Auch das honigblonde Mädchen stand auf, David beobachtete sie.

Er beschloss ihr zu folgen um herauszufinden, in welche Klasse sie gehen würde. So konnte er sie noch ein wenig ansehen oder sogar ein Lächeln erhaschen. Er folgte ihr eilig, um sie im Gewusel nicht zu verlieren. Alexander war ihm dicht auf den Fersen. Vielleicht ergäbe sich die Gelegenheit sie anzusprechen und...

neben ihr tauchte ein braungebrannter, stämmiger Typ auf, legte seinen Arm um ihre Taille und zog sie an sich. David schluckte hart und spürte, wie Alexander ihm die Hand auf die Schulter legte.

„Die kannste wohl vergessen.“

David kniff die Augen zusammen und starrte auf den blonden Hinterkopf des Kerls, der sich nun zu ihr beugte und einen Kuss auf ihre Wange drückte. Sein Magen meldete sich zum zweiten Mal an diesem Tag und er presste die Lippen aufeinander.

„Los komm, David. Lass uns unser Klassenzimmer suchen.“

Ergeben nickte er und sie reihten sich in den Strom der Schüler ein, der in den Westtunnel der Höhle floss.

 

Es herrschte eine seltsame Stimmung im Klassenzimmer. Auch hier dominierten felsige Wände und hohe Decken, allerdings fiel durch darin eingelassene Fenster echtes Tageslicht. David schloss daraus, dass sie sich im flachen Teil des Berges befinden mussten.

Die Jugendlichen musterten sich argwöhnisch, es bildeten sich kleine Grüppchen. Die Waldmenschen waren erneut in der Überzahl.

Getuschel und Lachen erfüllte den Raum, Plätze wurden gesucht, Stühle gerückt.

David kam sich fremd vor zwischen all den jungen Leuten. Obwohl er einige Schüler kannte und nicht zuletzt sein bester Freund bei ihm war, hatte er ein ungutes Gefühl im Bauch – in etwa wie vor einem Zahnarztbesuch.

 

Plötzlich flog die Tür auf, krachte mit einem lauten Rums gegen die Wand und der Braungebrannte trat ein – an seiner Hand: sie.

David stöhnte frustriert auf und ließ sich auf den freien Stuhl neben Alexander fallen.

„Das kann ja heiter werden.“

 

„Leute!“ Der Braungebrannte hob den Arm und zog damit die Aufmerksamkeit aller auf.

„Schon mal vorab, hier ist euer neuer Klassensprecher!“ Er grölte schallend, schlug sich mit der Hand auf sein Bein und entblößte seine viel zu weißen Zähne. Während er eine lautstarke Diskussion mit ein paar anderen Jungen begann, verdrehte seine Freundin die Augen und entfernte sich von der Gruppe.

Davids Blick wich keine Sekunde von ihr. Sie schritt durch die Reihen, sah sich um, bis sie ihn bemerkte. Seine Hände wurden warm und er spürte, wie das Herz ihm gegen die Rippen preschte, denn sie kam geradewegs auf ihn zu.

Er hielt erwartungsvoll die Luft an. Dann stand sie vor ihm und sah ihm unverwandt in die Augen.

„Hi, ich bin Hanna.“ Sie lächelte.

„Hallo, ich heiße David.“

„Ist neben dir noch frei?“

„Äh... ja...“

„Prima!“ Sie ließ sich auf den Stuhl plumpsen. „Du hast doch nichts dagegen?“

David grinste.

Er spürte, dass ihn jemand beobachtete und als er aufschaute, starrte ihn der Braungebrannte mit zusammengekniffenen Augen angriffslustig an. David wandte sich nicht ab, sondern starrte mit versteinerter Miene zurück. Dabei war ihm gar nicht nach Ärger zumute und er wusste, dass er den Typen nun provozierte. Dieser setzte sich prompt in Bewegung und stand bald direkt vor ihm. Er war größer als erwartet, baute sich auf wie ein Riese.

„Goliath.“

David fiel vor Verblüffung die Kinnlade herunter.

„Ist nicht wahr, oder?“, stieß er hervor. „David.“

Alexander knuffte David ans Bein.

Doch es war bereits zu spät: der Riese Goliath stütze sich mit den Händen auf dem Tisch ab, sodass jener knackte, als würde er jeden Augenblick zusammenbrechen. Der Typ kam ganz dicht mit seinem Kopf an Davids, der den warmen, nach Pfefferminzkaugummi riechenden Atem direkt ins Gesicht bekam.

„Is‘ mir scheiß egal, wie du heißt. Aber verarsch mich nicht.“

David schaute nicht weg, auch wenn er es gerne getan hätte. Er war angespannt bis in die Haarspitzen.

„Lass die Finger von meiner Freundin, hast du verstanden?“

David zuckte mit den Schultern und spürte sogleich eine Hand daran fest zupacken.

„Ob du mich verstanden hast.“

„Ja, Mann, hat er!“ Alexander sprang auf. Er machte seinem Namensvetter Alexander dem Großen alle Ehre, denn er war fast so groß wie Goliath. Dieser hob beschwichtigend die Hände.

„Vergiss es nur nicht“, brummte er noch und zog davon.

 

Natürlich ließ sich Goliath tatsächlich für die Wahl des Klassensprechers aufstellen und keiner der anderen traute sich gegen ihn anzutreten.

„Dann können wir uns die Wahl ja auch schenken.“ Goliath grinste gefällig.

„Keiner sagt, dass wir dich als Klassensprecher wollen.“ David bemühte sich möglichst lässig in seinem Stuhl zu sitzen. Dabei pumpte sein Herz wie eine Dampfmaschine.

„Bist du irre?!“ Alexander beugte sich zu ihm. „Sei doch nicht immer so verdammt ehrlich.“

„Ich trete gegen dich an.“ Jetzt hatte sich David aufgerichtet und fixierte seinen Gegner. Für einen Augenblick huschte ein Schatten der Verwunderung über dessen Gesicht. Dann unkte er:

„Du willst gegen mich antreten? Dass ich nicht lache.“ Goliath verschränkte die Arme vor seinem Körper.

„Lass ihn doch.“ Überrascht drehte sich David zu Hanna. Noch ehe er etwas erwidern konnte, rief Goliath:

„Also gut! Dann verlier doch gegen mich.“

Genau das hatte David nicht vor. Trotzdem erklärte er:

„Es soll eine faire Wahl geben, egal wer gewinnt.“

„Du spinnst doch“, brummte Alexander und packte seinen Freund am Arm. „Du mit deinem Sinn für Gerechtigkeit. Das wird dir noch viel Ärger einbringen.“

„Er hat recht. Lass ihn reden.“ David schaute zu Hanna hinab und sie sahen sich tief in die Augen. Hannas Wangen röteten sich sanft, wie bei einem leichten Sonnenbrand.

Da verkündete der Lehrer: „Also heißt es in einer Woche bei der Wahl des Klassensprechers "David gegen Goliath“.

Die Klasse lachte, doch David war angesichts der Wut, die im Gesicht seines Widersachers stand, mulmig zu mute. Er sah, dass Goliath den Kiefer zusammenpresste und die Hände zu Fäusten ballte. Seine Augen waren zu Schlitzen verengt.

David setzte und räusperte sich.

„Du bist erledigt.“ Sein bester Freund legte ihm grinsend die Hand auf die Schulter.

David seufzte leise.

Auf geht’s.

 

Impressum

Texte: Kurzgeschichte von Silvia Konnerth (textbaustelle.com); Spielkonzept von Tobias Thulke
Bildmaterialien: Buchcover wurde erstellt von AutorenServices.de
Tag der Veröffentlichung: 14.01.2014

Alle Rechte vorbehalten

Nächste Seite
Seite 1 /