Gesegnet oder verflucht: Wie soll ich den Augenblick nennen, in dem Du mir die Hand reichtest und mich vor dem Abgrund bewahrtest – Du ahnungsloses Werkzeug einer höhnischen Gottheit?!
Wer bist Du? Ein Engel? Ein Dämon? Deine Haut schimmert so mondhell, Dein goldenes Haar scheint zu wehen, selbst wenn es windstill ist. Du kannst nicht von dieser Welt, nicht aus dem launischen Spiel der Natur mit Materie, Form und Farben entsprungen sein. Vielmehr magst Du, auf einer Muschel gleitend, direkt aus den Tiefen von Himmel und Meer den Elementen entstiegen sein – Du Meerschaumgeborener!
Du weißt nichts von der Angst, die mich befiel, als ich Deiner zum ersten Mal gewahr wurde … wie ich erschauderte und außer mir war, und mich kaum hinzusehen getraute, da ich Ihn, den längst Entschwundenen, in Deiner Gestalt und in Deinem Antlitz wiederzufinden glaubte.
Du hast mich dem Abyss entrissen – und was nun? Was bleibt mir anderes übrig, als entweder an dieser Seuche zugrunde zu gehen, oder bis zum Ende meiner Tage Tantalusqualen ausstehen zu müssen, in der Gewissheit, dass mir eine Welt ohne Dich sinnlos und kalt wie die Tiefe des Weltalls erschiene? Wäre es nicht ein Gnadenakt gewesen, wenn Du mich, ohne mit der Wimper zu zucken, in den Abgrund gestoßen hättest – dorthin, wo Er, der Engelhafte, mich mit ausgebreiteten Flügeln auffangen und in sein Schattenreich mitnehmen könnte?
*
Als Silviu am Morgen nach der Ankunft im Bäder-Hotel erwachte, stand die Sonne schon hoch am Himmel und flutete sein Zimmer. Vom offenen Fenster her erklang das durchdringende Kreischen der Möwen in der Ferne. Schlaftrunken tastete Silviu nach dem Smartphone am Nachttisch. Sein Blick fiel aufs Display und sein Herz machte einen Sprung. Viertel nach neun! Verdammt, er würde sich zum Frühstück verspäten.
Mit einem Satz sprang Silviu aus dem Bett, stürmte ins Bad, putzte sich die Zähne und besprengte Gesicht und Achselhöhlen mit kaltem Wasser. Zurück im Zimmer griff er wahllos nach einem T-Shirt aus dem Stapel im Schrank, zog sich Pants und Jeans an und schlüpfte in seine Sneakers. Flüchtig fuhr er sich mit den Fingern durch die Haare und versuchte, sie ein wenig zu ordnen.
Schon bei der Tür angelangt, warf er noch einen hastigen Blick in den Wandspiegel und blieb abrupt stehen. Diese rötliche Stelle, direkt oberhalb der linken Augenbraue – war das etwa schon wieder so ein Pickel? Der am Kinn war doch erst letzte Woche verheilt! Was für ein Pech, dass er sein Clearasil-Gesichtswasser zu Hause in Bukarest gelassen hatte. Ein paar Sekunden lang starrte er mit Todesverachtung in den Spiegel, dann zuckte er die Achseln und flog davon.
Auf dem Weg nach unten checkte Silviu seine WhatsApp-Nachrichten. Mutter hatte ihren Kindern ausdrücklich verboten, Smartphones während der Mahlzeiten zu verwenden. Es gab drei neue Messages, alle von Dinu, der sich nach seinem Verbleiben erkundigte. In einer Stunde am Strand, schrieb er zurück, während er durch die Schwingtür in den Speisesaal trat. Dabei stieß er beinahe mit einem hünenhaften Mann zusammen.
»Sorry«, murmelte Silviu und drückte sich an ihm vorbei. Für einen Moment trafen sich ihre Blicke. Die umschatteten Augen des Mannes weiteten sich und ein staunender, fast erschrockener Ausdruck trat auf sein Gesicht. Silviu hatte keine Zeit, sich darüber Gedanken zu machen, steckte das Handy in die Hosentasche und preschte hinaus auf die Terrasse, wo seine Familie auf ihn wartete.
Sie waren mit dem Frühstück fast fertig.
»… dass er sein Repertoire erweitern möchte, ist mir klar«, sagte Irina und bestrich ein Stück Toast mit Erdbeermarmelade. »Aber warum gerade Britten? Könnte mir das bitte jemand erklären? Wo es doch so viel anderes noch gäbe, im italienischen und deutschen Fach …«
Silviu setzte sich mit einem knappen »Bonjour« auf seinen Platz.
»Tu arrives en retard, chéri«, sagte Mutter und strich ihm eine Strähne aus den Augen.
»Pardon, maman.«
Mutter bestand darauf, dass sie so oft wie möglich miteinander französisch sprachen. Vor allem in der Öffentlichkeit. »Französisch bleibt nach wie vor die Sprache der Kultur«, erinnerte sie die Kinder immer wieder aufs Neue. »Es ist wichtig, dass wir sie pflegen, wann immer sich Gelegenheit dazu bietet. Gerade in dieser Zeit, wo das Englische alles überwuchert.«
Silviu fand das allerdings nicht so cool.
»Die Frage sollte eher lauten: Warum nicht Britten?«, griff Isabella den Faden auf und tat so, als würde sie Silviu nicht bemerken. »Immerhin handelt es sich hier um den Orpheus Britannicus, dem größten britischen Komponisten nach Purcell.«
»Jaah – aber das ist derselbe Mann, der sich vor dem Kriegsdienst gedrückt hat, als es darum ging, sein Vaterland zu verteidigen … der fast alle Hauptrollen seinem Liebhaber Pears auf die Zunge komponiert hat … und von dem man nur ahnen kann, was er in späteren Jahren, auf seinem Schloss in Aldeburgh, so alles angestellt haben mag …« Irina schlug die Augen nieder. »Ich würde meinen, dass ein wahrhaft großer Künstler auch menschliche Größe zeigen muss, sonst ist seine Kunst nichts als –«
»Was soll das bitte heißen?« Isabella straffte die Schultern und ein spöttischer Zug umspielte ihre Lippen. »Seit wann werden Künstler nach ihrer moralischen Integrität bemessen? Man braucht sich doch nur ein wenig in der Szene umzuschauen. Diese Künstler sind doch alle irgendwie – queer. Entweder sind es Psychos, Kriminelle, Rassisten, Sexualtriebtäter oder sonst wie moralische Monster.«
Mutter räusperte sich. »Bella, du übertreibst wieder einmal.«
»Nicht im Geringsten, Mutter. Ich will meiner lieben Schwester einfach nur klar machen, dass sie irrt, und zwar total, wenn sie Künstlertum mit Heiligtum gleichsetzt.«
Silviu nippte an seinem Milchkaffee und seufzte stumm in den Becher hinein. Irina und Isabella – wie Katz und Maus, seit eh und je. Mit den Jahren wurde es immer schlimmer, hatte er den Eindruck. Früher zogen sie sich an den Haaren und rauften bisweilen unter dem Esstisch. Jetzt lieferten sie sich geistige Duelle, bei denen Irina meistens den Kürzeren zog. Trotzdem ließ sie sich von ihrer Schwester immer wieder aufs Neue provozieren. Deren Attacken wurden zunehmend spitzzüngiger und sie tat es vornehmlich, wenn andere zugegen waren, meistens, wenn sich die Familie bei Tisch versammelte. Und Silviu musste sich dann den ganzen Quatsch mit anhören. Ihm wäre lieber gewesen, die beiden würden sich immer noch in die Haare fahren wie früher.
Irina wollte sich allerdings noch nicht geschlagen geben. »Schaut euch doch mal seine Opern an: Peter Grimes – ein Fischer, der seinen Lehrling missbraucht und ihn in den Tod treibt. Billy Bud – eine Oper, in der es keine einzige Frauenfigur gibt! Und dann seine unverblümte Vorliebe für Knabenchöre … Was für ein Mensch muss das gewesen sein, der seine eigenen Neigungen so offensichtlich in seinen Werken –«
»Du bist so schrecklich naiv, Irina. Die Diskussion über die moralische Qualifikation eines Künstlers ist doch längst obsolet.« Isabella schüttelte den Kopf. »Das Werk wirkt oder eben nicht. Das zumindest gilt in unserer heutigen, liberalen Zeit. Du hingegen scheinst ja immer noch im 19. Jahrhundert zu leben, zu Zeiten eines Tolstoi, der Kunst und Moral für ein und dasselbe hielt. Damit gute Kunst entsteht, braucht es keinen guten Künstler – es braucht einen genialen! Ich wage sogar zu behaupten, dass der Mensch hinter dem Künstler schlecht sein muss, um Großartiges zu produzieren.« Sie fuhr sich mit der Zunge über die Lippen, als würde sie jedes einzelne Wort, das sie aussprach, genießen. »Du glaubst mir nicht? Gib mir dann bitte ein Beispiel – nur ein einziges – eines echten Philanthropen und Menschenfreundes, der irgendwas künstlerisch Bedeutungsvolles geschaffen hat!«
»Bella … wie kannst du so etwas behaupten?« Irinas Nasenflügel bebten leicht. »Das ist doch … da gibt es sicher eine Vielzahl an Beispielen …« Sie warf ihrer Mutter Hilfe suchende Blicke zu.
Silviu stocherte derweil in seiner Müslischale herum. Es war immer das Gleiche. Wenn Irina spürte, dass sie den Kampf verloren hatte, mussten andere für sie einspringen. Was für ein Horror-Frühstück! Er sehnte sich nach draußen, nach Sonne, Strand und Meer. Und nach Dinu.
»Kinder, wir sind im Urlaub und nicht in einem Opernseminar! Venedig wartet auf uns«, sagte Mutter, als hätte sie Silvius Gedanken gelesen. »Im Übrigen bin ich der Ansicht, dass ihr beide extreme Meinungen vertretet. Damit liegt man selten richtig. Ihr solltet euch erst mal fragen, was –«
»Ariana!« Eine korpulente Frau mit einer juwelenbesetzten Gucci-Sonnenbrille, die ihr Gesicht noch breiter wirken ließ, trat an den Tisch heran und fasste Mutter an der Schulter.
»Gina! Ravie de te retrouver!« Die beiden umarmten sich herzlich.
Silviu brauchte einen Moment, bis ihm klar wurde, dass er Dinus Mutter vor Augen hatte. Sie war fülliger, als er sie zuletzt in Erinnerung hatte. Und ihre Haarfarbe hatte sich geändert. Letztes Jahr noch rabenschwarz, erstrahlte es jetzt in üppigem Rubinrot.
Ginas Blick fiel auf Silviu. Sie nahm ihre Brille ab und ihr Mund klappte ein wenig auf. Silviu zählte drei Goldzähne.
»Du meine Güte, was für ein Prachtjunge! Neben dir sieht mein armer Dinu beinahe wie ein Bettelknabe aus, hahaha. Na, will dich aber nicht verhexen.«
Silviu wurde ganz heiß im Nacken. Lächelnd erhob er sich und streckte Gina die Hand entgegen, doch sie ignorierte das. Stattdessen drückte sie ihn so fest an sich, dass ihm für ein paar Sekunden der Atem wegblieb. Schließlich entließ sie ihn mit einem schmalzigen Kuss auf die Wange. Silviu schnappte nach Luft und musste dem Impuls widerstehen, sich mit der Handfläche über die feuchte Stelle zu fahren. Irina und Isabella, die von Gina völlig unbeachtet blieben, warfen ihm giftige Blicke zu.
»Schon sechzehn geworden, mein Früchtchen?«
»Ähm – in vier Wochen«, sagte Silviu und setzte sich wieder.
»Na, da werden die bukarester Mädels bald vor deiner Tür Schlange stehen, hahaha.« Gina zwinkerte ihm schelmisch zu. »Ja, ja, du wirst schon sehen …«
Hitze kroch Silviu bis in die Ohrenspitzen. Er warf einen schiefen Blick zu seinen Schwestern, die beide fast synchron die Augen verdrehten. Erst jetzt schien Gina sie bemerkt zu haben und streckte ihnen herablassend die Hand, an der ein riesiger Diamantring funkelte, entgegen.
»Wo sind die Kinder?«, fragte Mutter, nachdem sich Gina vom Nachbartisch einen Stuhl geholt hatte.
»Schon am Strand. Die konnten es kaum noch aushalten, diese Wasserratten.« Sie winkte einem Kellner zu und bestellte einen Cappuccino. »Wen wundert’s, schließlich sind sie ja allesamt an den Ufern der Donau aufgewachsen. Bei uns in Brăila gibt’s in den Sommermonaten keinen Tag, an dem nicht gebadet wird.« Sie kramte ein Taschentuch aus ihrer Louis-Vuitton-Handtasche hervor. »Stell dir mal vor, Ariana«, sagte sie, während sie sich die Nase putzte, »neulich hat mir der Lift Boy erzählt, dass dieses Hotel demnächst stillgelegt wird.«
»Was?«, rief Irina und machte ein bestürztes Gesicht. »Das darf doch nicht wahr sein! Ein so Ehrfurcht gebietender Ort, wo seit über hundert Jahren –«
»Ehrfurcht hin oder her, aber so ist es«, fiel ihr Gina ins Wort. »Angeblich ist das Dach so undicht, dass es bei starkem Regen in die Zimmer der obersten Etage rein tropft. Stellt euch das mal vor.« Sie warf die Hände theatralisch in die Luft. »Ich kann nicht verstehen, was eure Mutter an dieser maroden Hütte gefressen hat. Als ob es kein anderes Fünfsternehotel gäbe am Lido.«
»Das gibt es sehr wohl, aber das des Bains ist einzigartig, auf seine Art«, entgegnete Mutter mit einem ruhigen Lächeln. »Wenn man bedenkt, welch illustre Namen damit verbunden sind … Thomas Mann hat hier Inspiration gefunden … Djagilew seine letzten Atemzüge getan … Visconti seinen Film gedreht …«
»Genau«, griff Irina eifrig den Faden auf. »und auch Ingrid Bergman und Maria Callas haben hier logiert und –«
»Die können mir allesamt den Buckel runterrutschen«, fauchte Gina. »Mein Gicu rackert sich nicht vierzehn Stunden am Tag ab, um tote Namen am Leben zu erhalten. Wenn man schon so viel bezahlt, will man auch den bestmöglichen Komfort haben. Und da kann sich kein Hotel mit dem Excelsior messen. Nur euretwegen bin ich in dieser Bruchbude abgestiegen.« Sie nahm einen kräftigen Schluck von ihrem Cappuccino, der eine weiße Kontur auf ihren blutrot gefärbten Lippen hinterließ.
Plötzlich zerriss ein schriller Klingelton die Luft. Gina griff hektisch nach ihrer Handtasche, zückte ihr Smartphone und presste es ans Ohr. »Was? Ja, ich bin’s, wer denn sonst? Was? Den Rasen mähen? Wo ist denn Mihai? Was? Kann dich nicht hören. Hab gesagt: WO … IST … MIHAI?«
Ginas gewaltiges Organ dröhnte über die Terrasse hinweg. Eine betagte Dame am Nachbartisch sah sich mit erhobenen Augenbrauen um, doch Gina schien das nicht im Geringsten zu stören.
»Wozu bezahl ich denn einen Gärtner, wenn der nicht mal imstande ist … Was? Ach, so. Na, gut. Dann mach’s du halt. Irgendjemand muss es ja schließlich machen. Was? Lass nur, schon gut. Nur pass auf, dass du keine Löcher reinmachst. Du weißt doch, wie sehr Gicu an seinem Rasen hängt. Was? Hab gesagt: KEINE … LÖCHER! Verstanden? Also dann, Tschau.« Ein tiefer Seufzer kam aus ihrer Brust. »Kaum ist man einen Tag weg von zu Hause, schon bricht das Chaos aus.« Sie schüttelte den Kopf und steckte das Handy zurück in die Handtasche.
»Kinder, ich denke, es ist Zeit zu gehen«, sagte Mutter und erhob sich. »Dieser herrliche Tag ist viel zu kostbar, um verschwendet zu werden. A plus tard, Gina. Wir sehen uns dann am Strand.«
*
Silviu und Dinu wateten im Meer herum. Die Sonne stand hoch über ihren Köpfen und eine sanfte Brise wehte ihnen um die Haare. In der Nähe bauten ein paar Kinder eine Sandburg, die mit kleinen Flaggen in den Farben verschiedener Länder geschmückt war.
»Mann, bin ich froh, dass du da bist«, sagte Dinu. »Den ganzen Tag von morgens bis abends mit meinen Leuten zu verbringen, ist auf Dauer ziemlich anstrengend.«
Silviu klopfte ihm lachend auf die Schulter. »Davon kann ich ein Lied singen.«
Dinu stieß einen Seufzer aus. »Meine Alte ist richtig ätzend in letzter Zeit, der kann man’s einfach nicht mehr recht machen. Na ja, und Remus – der war immer schon ein kleiner Quälgeist, aber jetzt, wo wir uns das Zimmer teilen, ist es kaum noch auszuhalten mit ihm.« Er fuhr sich mit einer Hand durch die Haare. »Täglich will er mit dem Piratenschiff segeln und vor dem Schlafengehen muss ich ihm auch noch irgend so ’ne blöde Geschichte vorlesen, stell dir das mal vor!«
»Und was ist mit Sandra?«
»Die lebt in ihrer eigenen Welt, hängt mit ihren neuen russischen Freundinnen rum.« Dinu machte eine wegwerfende Handbewegung. »Das heißt, wenn sie nicht gerade telefoniert. Hat jetzt ’nen Typen zu Hause in Brăila, weißt du, und fährt total auf den ab …«
»Warum ist er dann nicht auch mitgekommen?«, fragte Silviu.
»Ha, da kennst du meine Alte nicht! Die hätt das nie und nimmer zugelassen. Der Typ liegt ihr ohnehin quer im Magen. Weil er nicht aus guter Familie kommt, wie sie sagt … Hat alles Mögliche versucht, um Sandra den Kerl auszureden, aber ohne Erfolg. Da ist Sandra mindestens so eigensinnig wie Mutter. Hat ihr an den Kopf geworfen, dass Großvater vor der Revolution ein Schafzüchter gewesen war, bevor er sein Vermögen mit Immobilien gemacht hat. Soviel also zu ›gute Familie‹.« Dinu verzog das Gesicht zu einer Grimasse. »Na und neulich, da hat Sandra bei dem Kerl übernachtet, ohne irgendjemandem Bescheid zu geben. Du hättest Mutter sehen sollen am nächsten Tag! Halleluja! Die hat geschäumt vor Wut. Ihr Gekeife war in der ganzen Nachbarschaft zu hören.«
Silviu verkniff sich einen Lacher. Er konnte sich Ginas Gezeter gut vorstellen. Es war ihm ein Rätsel, wie Mutter und Gina über ihre gemeinsame Schulzeit hinaus Freundinnen geblieben waren. Zwei Menschen, wie sie unterschiedlicher nicht sein konnten – zumindest in Silvius Augen. »Harte Schale, weicher Kern«, pflegte Mutter über ihre Freundin zu sagen, wie um Ginas Schrulligkeit zu rechtfertigen. Und einmal, als Irina eine abfällige Bemerkung über Gina hatte fallen lassen, hatte Mutter mit strenger Miene geantwortet: »Sie war für uns da, als wir es am schwersten hatten. Das solltest du nie vergessen.«
Silviu wusste, was damit gemeint war, obwohl er sich selbst an nichts erinnern konnte. Schließlich war er gerade mal zwei Jahre alt gewesen, als es geschehen war. Jedenfalls schien nach Vaters Tod die Bande zwischen Mutter und Gina noch enger geworden zu sein, und seit einigen Jahren machten die beiden Familien auch gemeinsamen Sommerurlaub. In letzter Zeit allerdings ohne Gicu, der vor drei Jahren die Geschäfte seines Schwiegervaters übernommen hatte, und seitdem kaum noch aus seinem Büro rauskam, wie Gina jedes Mal aufs Neue klagte. »Irgendwann kriegt er noch einen Herzinfarkt, Gott bewahre uns davor! So einen Stress hält doch kein Mensch auf Dauer aus …«
Silviu warf seinem Freund einen forschenden Blick zu. »Was ist eigentlich aus dir und Mara geworden?«
»Ach, die!« Dinu machte ein Gesicht, als hätte er in eine Zitrone gebissen. »Die ist passé. Schon seit über zwei Monaten. Hat sich ’nen Kerl aus der Elften geschnappt. Irgend so ’n Warmduscher aus der Schulmannschaft, für den sie jetzt Cheerleader machen kann. Und weißt du was? Ich bedaure es kein bisschen. Dieses ständige Herumknutschen ging mir sowieso auf ’n Wecker.« Er schwieg einen Moment und schien zu überlegen. »Also gut, dir kann ich’s ja verraten: Ich bin mit Mara nur ausgegangen, weil … weil das eben so üblich ist … weil alle Jungs in meiner Klasse schon ’ne feste Freundin gehabt haben, nur ich nicht. Aber innerlich, da hab ich gar nichts gespürt. Innerlich war ich leer, verstehst du?«
Dinu blieb stehen und packte Silviu am Arm. »Wenn man die anderen so reden hört …«, seine Stimme zitterte leicht, »… über ihre Mädels, und was sie schon alles miteinander machen, und wie geil sie’s finden … da denk ich mir manchmal … na ja, ich denk mir … vielleicht …«
»Hei, Silviu!«
Ein junges Mädchen löste sich aus einer Gruppe kichernder Teenager und trippelte auf sie zu. Sie trug einen äußerst knappen Bikini und ihr kunstvoll gelocktes Haar strahlte in knalligem Pink.
»Hei, Sandra«, sagte Silviu und grinste ihr zu.
Dinus Schwester nahm die Sonnenbrille ab, umarmte Silviu und küsste ihn auf beide Wangen. »Mann, bist du aber fesch geworden!« Sie strich ihm durch die Haare.
Silvius Ohren begannen zu glühen und er wurde unwillkürlich an Ginas Bemerkung von vorhin erinnert. Aus dem Augenwinkel sah er, wie sich ein Schatten über Dinus Gesicht legte.
Sandra schien es ebenfalls zu bemerken, denn sie warf Dinu einen neckischen Blick zu. »Jetzt, da sein Prinz endlich bei ihm ist, schlägt wohl auch Brüderchens Herz wieder munterer, nicht wahr?« Sie wartete Dinus Antwort gar nicht erst ab, sondern wandte sich glucksend wieder an Silviu: »Wusstest du eigentlich, dass du so einen glühenden Verehrer hast?«
»Ähm –« Silviu starrte auf seine Füße.
»Kannst dir gar nicht vorstellen, was er für ein Theater aufgeführt hat, seitdem wir hier sind.« Sandra rollte mit den Augen. »Silviu dies und Silviu das – tagein, tagaus. Ich konnt’s kaum noch hören. Der wäre mit Sicherheit durchgedreht, wenn du auch nur einen Tag später gekommen wärst …«
Auf Dinus Gesicht glühten scharlachrote Flecken, doch er schwieg und starrte hinaus aufs Meer. Am Horizont glitt ein Kreuzfahrtschiff wie ein vorzeitliches Meeresungetüm an ihnen vorbei.
»Sandra, kommst du?«, rief ein Mädchen auf Englisch. Die Gruppe schwatzender Teenager entfernte sich langsam.
Sandra winkte ihrer Freundin zu. »Also, ich muss los. Wir sehen uns. Tschau.« Sie tätschelte Silviu den Arm, setzte ihre Sonnenbrille wieder auf und lief mit tänzelnden Schritten davon.
»Mein liebes Schwesterlein – ein hoffnungsloser Fall«, sagte Dinu mit einem Seufzen, als sie außer Hörweite war, doch die Röte war ihm noch nicht ganz aus dem Gesicht gewichen.
Sie gingen noch eine Weile schweigend nebeneinander her. Das Meer war so weit vom Strand zurückgetreten, dass es mehrere Reihen langer Sandbänke freiließ. Sie durchschritten das seichte Wasser bis zur ersten Sandbank und hockten sich nieder. Kinder planschten in ihrer Nähe und quiekten vergnügt. Silviu stützte sich auf die Ellenbogen und schaute hinaus aufs offene Meer. Kleine Wellen umspülten seine Zehen. Weiter draußen ruderten ein paar junge Menschen in kleinen, bunt gestrichenen Booten. Manche kenterten lachend.
Silviu schloss die Augen und ließ sich treiben. Sonne, Wind und Wasser spielten auf seiner Haut. Endlich Ferien. Endlich weg von Bukarest, das im Sommer einem Backofen glich, und wo es manchmal so stickig war von Auspuffgasen, dass einem die Lungen davon brannten. Seine Nüstern weiteten sich und er atmete gierig die salzige Meeresluft ein.
Plötzlich spürte er eine sanfte Berührung. Dinu legte ihm eine Hand um die Schulter und zog ihn sachte an sich heran, bis sich ihre Köpfe berührten. »Ich bin echt froh, dass du da bist«, säuselte Dinu ganz dicht an seinem Ohr.
Eine Gänsehaut lief Silviu über den Rücken. Sein Herz begann schneller zu schlagen. Mit geschlossenen Augen lauschte er dem Rauschen des Meeres und dem Treiben am Strand und wünschte sich, die Zeit würde für ein paar Augenblicke stillstehen.
*
Silviu fläzte sich auf seine Liege, immer noch ein wenig außer Atem vom Schwimmen. Die feuchten Badeshorts klebten ihm am Körper, betonten die ausgebeulte Stelle. Nicht schon wieder – war das lästig! Es konnte eine Ewigkeit dauern, bis es wieder nachließ … Silviu umhüllte sich fest mit seinem Strandtuch und schielte zu Dinu hinüber, der mit Kopfhörern bäuchlings neben ihm lag und seine Zehen rhythmisch in den Sand stieß. Ob Dinu wohl vom gleichen Problem geplagt wurde? Auf seinen braun gebrannten Oberarmen zeichneten sich deutlich Muskeln ab. Wie gern hätte Silviu auch solche Muskeln gehabt. Dann hätte er es Dinu nachmachen und weit hinaus ins Meer schwimmen können, anstatt immer in Ufernähe zu bleiben. Er machte sich keine Sorgen, wenn Dinu erst nach einer gefühlten Ewigkeit wieder aus den Wellen auftauchte, wusste er doch, dass sein Freund ein ausgezeichneter Schwimmer war.
Silviu hingegen konnte sich nie ernsthaft für irgendeinen Sport begeistern. Er warf einen skeptischen Blick auf seine schmächtigen Oberarme, die käseweiß aus dem Strandtuch herausragten. Vielleicht sollte er den Sportunterricht nicht mehr so oft schwänzen … oder die Gewichte zur Abwechslung mal stemmen, statt sie nur angeberisch in seinem Zimmer zu lagern.
Nach einer gefühlten Viertelstunde hatte die Schwellung endlich abgenommen. Silviu streifte das Strandtuch ab, kramte in seinem Rucksack herum und holte seinen E-Reader hervor.
»Was liest du denn da?« Dinu hatte die Kopfhörer abgelegt und blickte neugierig zu ihm auf.
Wortlos streckte Silviu ihm den Kindle vor die Nase.
»Was – Harry Potter und der Halbblutprinz?« Dinu verdrehte die Augen. »Also, ich kann, ehrlich gesagt, mit diesem Zauberhokuspokus nicht wirklich was anfangen.«
Silviu schwieg und lächelte in sich hinein. Er liebte die Harry-Potter-Bücher. Vor allem aber liebte er die Idee, dass es irgendwo da draußen eine Parallelwelt geben könnte, die anders war als die, in der er lebte. Insgeheim graute ihm vor dem Gedanken, erwachsen zu werden – und zwar erwachsen wie all die Erwachsenen, die er so kannte. Wie etwa Onkel Darius, der eine eigene Firma mit über fünfzig Angestellten hatte, und vom frühen Morgen bis zum späten Abend die Zeit in seinem Büro vor einem Computer mit drei nebeneinanderstehenden Bildschirmen verbrachte; der mit noch nicht einmal vierzig schon eine Glatze hatte, und einen Bauch, der über beide Armlehnen quoll, wenn er in seinem Chefsessel saß; der einen Mercedes der S-Klasse fuhr und eine Geliebte hatte, über die seine Frau, und überhaupt alle in der Familie, Bescheid wussten, aber so taten, als wüssten sie’s nicht. Zu allem Übel war die Nebenbuhlerin auch noch eine Zugereiste aus der Moldau (Irina rümpfte jedes Mal die Nase, wenn davon die Rede war), für die Onkel Darius eigens ein Appartement in der Bukarester Innenstadt mietete. Ein Skandal.
War das das Erwachsenenleben, das auch Silviu bevorstand? Er hatte nicht das geringste Bedürfnis nach einem Mercedes, auch nicht nach einer Frau und schon gar nicht nach einer Geliebten. Und als braver Angestellter, der tagein tagaus seinen Geschäften nachging, sah er sich auch nicht. Nicht einmal, wenn er’s bis in die Chefetage schaffen sollte. Nein, er wollte keineswegs so werden wie Onkel Darius. Es musste auch anders gehen. Selbst wenn Harry Potters Zauberwelt ein Fantasieprodukt war, so musste es doch noch eine andere Welt geben, davon war Silviu überzeugt – eine Welt voller Abenteuer und Witz, lebendig, aufregend und knallbunt. Doch wo lag der Schlüssel versteckt, der Eintritt in diese geheime Welt gewährte?
Jäh wurde Silviu aus seinen Gedanken gerissen. Remus stand plötzlich neben ihnen.
»Hei, Dinu.«
Dinu stieß einen Seufzer aus. »Was willst du?«
»Komm, lass uns eine Sandburg bauen.«
»Nee, kein Bock.« Dinu drehte seinem Bruder den Rücken zu, zückte sein Smartphone und begann, in schneller Abfolge mit dem Daumen über das Display zu fahren.
Remus trat einen Schritt näher. »Bitte …«
Eine peinliche Pause entstand, während Dinu so tat, als würde er Remus nicht hören.
»Bitte, Dinuuh!«
»Lass mich in Ruhe, Schrumpelschwanz! Ich bin zu alt für so ’n Quatsch, kapiert?«, rief Dinu verärgert, ohne von seinem Smartphone aufzublicken. »Wo sind die anderen Wichte, mit denen du sonst herumhängst? Mach doch mit denen deine Sandburg.«
»Aber ich will sie mit dir machen …«
»Schluss jetzt!« Dinu steckte das Handy weg und setzte sich auf. »Los, hau ab!«
Remus begann zu schluchzen, dicke Tränen kullerten über seine rosigen Wangen. Er trottete zu Silviu herüber, kauerte sich auf den Boden und vergrub seinen Kopf in den Händen.
Silviu war schon im Begriff, ihm etwas Aufmunterndes zu sagen, da ertönte von Weitem eine heisere Stimme: »Coco bello …, coco …! Mjam, mjam!«
Ein ausgemergelter Schwarzer mit einem Filzhut auf dem Kopf ging durch die Reihen, einen schwer beladenen Plastikeimer unterm Arm. Keiner der Badegäste schien ihn zu beachten.
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Lois Nabakow
Bildmaterialien: © Dima Aslanian - stock.adobe.com
Cover: Kooky Rooster
Lektorat: Kooky Rooster
Satz: Kooky Rooster
Tag der Veröffentlichung: 03.12.2020
ISBN: 978-3-7487-6679-7
Alle Rechte vorbehalten