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You are where you are need to be

Mein Herz schlug gleichmäßig in meiner Brust, nur langsam verschnellerte sich der Takt und erwärmte meinen Oberkörper von innen. Mit jeder Sekunde, die verstrich und je öfter ich das Blatt, das ich in meinen Händen hielt, las, breitete sich die Wärme weiter aus. Meine Mundwinkel hoben sich zu einem Lächeln, eines das echt war und mein Glücksgefühl noch mehr verstärkte.

Dieser Brief, aus dem ich das Blatt hatte, stellte mein vergangenes Leben komplett in den Schatten. Wie hatte ich vor fast zehn Jahren nur denken können, dass ich niemals mein Glück finden würde? Dass ich nach meiner grausamen Kindheit nie solche Menschen um mich haben könnte, die mich jeden Tag durch mein Leben begleiteten und dies gerne taten? Oder dass ich aufhörte, mir vorzuwerfen, dass ich zwei Menschen getötet hatte, die für meine Existenz verantwortlich gewesen waren. Ja, ich hatte ihnen das Leben genommen und hätte ich es nicht getan, dann würde ich jetzt nicht diesen Brief in meinen Händen halten. Die Papiere, die nun bestätigten, dass ich einen Adoptivsohn hatte. Den Jungen, den ich vor acht Jahren vor meinen Eltern gerettet hatte. Meinen Cousin.

Seine Eltern waren vor fünf Jahren bei einem Autounfall ums Leben gekommen und er hatte sich geweigert bei seinem Onkel zu bleiben. Er hatte darauf bestanden, dass ich seine Vormundschaft übernahm und er bei mir einziehen durfte. In den ersten zwei Jahren erhielt ich Hilfe vom Jugendamt und von den Eltern meines Studienfreundes, denn als 22-Jährige Studentin war es sehr schwer noch einen 9-Jährigen Jungen aufzunehmen und auch noch für die Erziehung verantwortlich zu sein.

Ich erinnerte mich dunkel an die Jahre bevor Jared zu mir zog und mein Leben lebenswert machte. Die düsteren Jahre, in denen ich mich so sehr verabscheute, dass ich versuchte mir das Leben zu nehmen. Doch als mächtiger Hexendämon, der ich war, war dies alles andere als einfach. Im Krankenhaus erholte ich mich von dem Gift, das ich mir injiziert hatte, was mich eigentlich hätte töten müssen, doch das tat es nicht. Wie durch ein Wunder überlebte ich und schöpfte neue Kraft.

Die vollständige Erholung machte es mir möglich, mich auf meinen Cousin Jared einzulassen und ihn als diesen zu betrachten, was sich im Laufe der Zeit änderte. Ich entwickelte mütterliche Gefühle für ihn. Wir schlossen eine Abmachung, die besagte, dass wir immer über alles reden würden und ich ihn in alle Entscheidung mit einschließen würde. Somit brachte ich erst die Adoption in Gang, als ich seine Zustimmung bekam.

An seine Eltern hatte er einige Erinnerungen, die er wie einen Schatz in sich hütete, um sie nicht zu verlieren. Wir hielten zusammen, wann immer es uns gelang und ließen keine Geheimnisse zwischen uns, was unser Zusammenleben angenehm gestaltete.

Mit fast acht Jahren stieg er ins Showbusiness ein und war seitdem Schauspieler. Vor zwei Jahren ergatterte er eine Hauptrolle in einer Märchenserie, ein Charakter, der ihm sehr ans Herz gewachsen war. Nebenher hatte er einen Privatlehrer, da eine öffentliche Schule aufgrund seiner Bekanntheit nicht mehr infrage kam.

So betrachtet könnte es nicht besser laufen, doch das Leben hält hinter jeder Ecke seine Tücken bereit. Es liegt auf der Lauer, um im richtigen Moment zuzuschlagen. So war es schon immer. Nichts geschieht ohne Grund, das weiß ich inzwischen.

 

 

Jared war den ganzen Morgen über total aufgeregt gewesen, weil er mir gesagt hatte, ich solle ihn zum Set fahren, damit er mich seinen ganzen Kollegen als seine Mutter vorstellen konnte. Er hatte extra niemandem etwas davon erzählt, damit er eine Bombe platzen lassen konnte. Das einzige, was die anderen wussten war, dass er seine Eltern mit neun Jahren verloren hatte und jetzt bei mir, seiner Cousine, lebte.

Fertig angezogen, stand ich vor der Tür und wartete auf Jared, damit wir losfahren konnten. Nach wenigen Augenblicken stand er neben mir und griff zur Türklinke. „Bereit?“ fragte er mich. „Bereit, wenn du es bist.“ Seine Augen strahlten mit seinem Mund um die Wette, sodass ich sein Lächeln erwiderte und ihm zunickte.

Er öffnete die Tür, trat in die warme Sommerluft hinaus, drehte sich einmal im Kreis und ging dann direkt auf das Auto zu. Seine dunklen Klamotten standen ihm sehr gut. Er hatte sich auch nicht sehr viel angezogen, da er nachher eh in die Kleider von „Henry“ schlüpfen musste. Seine Serienrolle.

Ich schloss das Haus ab, lief ihm hinterher zum Auto, drückte auf den Autoschlüssel, damit sich der schwarze BMW öffnete und wir einsteigen konnten. „Wenn du nichts dagegen hast, bleibe ich heute mal beim Dreh dabei. Dann hab ich auch genug Zeit deine Kollegen kennen zu lernen.“ Bevor er einstieg antwortete er: „Dass du das sagst, darauf hab ich echt ewig gewartet!“ Alles an ihm strahlte, seine Freude war nicht mal für einen Blinden zu übersehen.

Die Fahrt zum Drehort verlief ziemlich schnell, denn Jared erzählte von jedem seiner Kollegen. Es war schön ihm zu zuhören, doch ich behielt nicht viel von dem, was er sagte, ich war viel zu aufgeregt. Ich war noch nie bei ihm am Set gewesen, also wusste ich auch nicht, wer die ganzen Leute waren, mit denen er arbeitete. Ich hatte es immer für besser gefunden, mich so wenig wie möglich in seine Karriere einzumischen. Ich hatte ja auch selbst viel zu tun. Vor allem aber bei dieser Serie, in der er jetzt seit zwei Jahren mitspielte. Er hatte mir viel davon erzählt, um was es ging und wer wen spielte. Wenn es um Filme ging, die Magie beinhalteten, war ich etwas empfindlich, deswegen hielt ich mich fern. So kam es, dass ich ihn das erste Mal zum Set von „Once upon a Time“ begleitete.

Nach einer halben Stunde parkte ich dann endlich vor dem Studio. Meine Sonnenbrille ließ ich im Auto, dafür nahm ich mein schwarzes Jäckchen mit, falls die Klimaanlage drinnen auf Hochtouren lief.

Jared ging mir voraus ins Gebäude, begrüßte ein paar Leute, die hinter den Kulissen arbeiteten, darunter John, der Kameramann. Ein mittelalter Mann stand in einer großen Halle, welche aussah wie ein Lagerraum. Hier drin war es schön kühl, in wenigen Minuten musste ich meine dünne Jacke doch anziehen.

 „Wo sind denn die anderen?“ fragte mein Adoptivsohn John. Er fixierte mich einen Augenblick zu lang, Verwirrung stand ihm ins Gesicht geschrieben, doch ich lächelte nur freundlich und wartete auf eine Antwort. „Du die machen grade Pause. Ich glaube Jennifer, Lana und Michael sind nach draußen.“

„Danke“, grinste Jared und klopfte ihm freundlich auf die Schulter. „Das ist übrigens meine Mom.“ Seine Stimme klang ziemlich entspannt und fröhlich. War er aufgeregt, er verbarg es gut. Dann trat er einen Schritt zur Seite, damit er mir nicht die Sicht versperrte. Johns Augen wurden größer, als er wieder zu mir sah und mich nun auffällig musterte. „Er ist mein Adoptivsohn,“ ergriff ich sogleich das Wort. Denn mir war klar, für eine Mutter war ich eindeutig zu jung, vor allem da Jared bereits 13 Jahre alt war.

Ich lächelte Jared zu und legte einen Arm um seine Schultern. Er grinste weiter. „Und gleichzeitig ist sie meine Cousine, also sind wir wirklich verwandt.“ John brauchte einen Moment, bis er alles verstanden hatte, dann grinste auch er. „Das freut mich sehr für dich, Jer!“ Nun wandte er sich an mich. „Freut mich Sie kennen zu lernen. Ich bin John Matthews, der Kameramann.“ Mit freundlichen Augen reichte er mir die Hand, die ich gleich darauf nahm. „Ebenfalls. Ich bin Jane Knightly.“ Nach einer kurzen Unterhaltung zog mich Jared von ihm weg, um sich auf die Suche nach den anderen zu machen.

Ein netter Mann, dachte ich mir, als wir uns auf den Weg nach draußen machten. „Ein toller Kerl. Jeder versteht sich mit ihm. Wär der nicht was für dich?“ Jared knuffte mich in die Seite und rannte lachend davon, als ich mich rächen wollte. Er war gerne frech und weil er wusste, dass ich auf diese Witze immer ansprang, kam es nicht selten vor. Klar, ich war seine Mutter und ich glaubte nicht, dass es so zwischen uns laufen würde, wäre er wirklich mein Sohn, doch ich genoss es. Wir würden immer Cousin und Cousine bleiben. Das war das Tolle an unserer Beziehung.

Draußen versuchte ich ihn einzuholen und tatsächlich, auf einer Wiese blieb er plötzlich stehen. Ich bremste ab, atmete ein paar Mal kurz durch, dann sprang ich auf ihn zu und nutzte seine kleine Schwäche aus. Er war fast überall kitzelig. Irgendwann gewann er aber die Überhand und wir fingen an zu rangeln. Er war ziemlich gut und schon bald darauf lag ich lachend am Boden.

„Gnade! Gnade! Ich kann nicht mehr. Ich brauch eine Pause.“ Rief ich zwischen meinem Kichern und nach meinem letzten Satz ließ Jared wirklich Gnade walten. „Pause ist gut. Ganz schön anstrengend.“ Mit einem Satz sprang er auf und hielt mir die Hand hin. Dankbar nahm ich sie entgegen und ließ mir hochhelfen. Ich schwankte kurz, dann klopfte ich mir das Gras vom Körper und als ich aufblickte, sah ich eine kleine Gruppe auf uns zu laufen.

Jared tat es mir gleich, übersah aber noch einen Grashalm in seinen Haaren. „Warte mal Kleiner, du hast da noch was in den Haaren.“ Mit den Fingern entfernte ich das Gras von seinen Haaren und ließ es mir nicht nehmen, ihm noch durch die Haare zu wuscheln. Zu spät bemerkte er es, duckte sich und jammerte gespielt: „Mom! Muss das sein?“ Mein Lachen schallte über die Wiese, was seine Kollegen hörten und näher kommen ließ.

„Gewöhn dich dran.“ Meine Mundwinkel blieben oben, langsam schmerzten sie. Zu viel gelacht, aber es tat gut und weil Jared mitlachte, freute ich mich doppelt darüber.

„Jer, da bist du ja endlich! Wir haben dich schon gesucht.“ Ich drehte mich um, als ich die Stimme hinter mir hörte und erblickte eine blonde Frau, die ich als Jennifer zuordnen konnte. Neben ihr Ginnifer und Josh, Raphael und Michael. Hinter den fünf stand noch jemand.

Sein Gesicht wurde etwas ernster. „Entschuldigt, noch ist ja Pause. Ich hab jemanden mitgebracht, den ich euch vorstellen möchte.“ Darauf strahlte er wieder und schob mich sanft etwas nach vorne. Und da war es, alle richteten ihre Aufmerksamkeit auf mich. Fünf neugierige Augenpaare musterten mich, fragten sich, wer ich wohl war.

Die sechste Person fixierte mich, ihr Blick brannte sich in meinen, sodass ich unfähig war, wegzusehen. Für einen Moment hörte die Welt auf sich zu drehen, die Zeit stand still. Braune Augen erkannte ich, umrahmt von sehr dunklen, fast schwarzen kinnlangen Haaren. Ich musste nicht direkt vor ihr stehen, um zu wissen, dass sich eine kleine Narbe von ihrer rechten Oberlippe einen Zentimeter nach oben zog. Ich wusste es, obwohl ich dieser Frau sicher noch nie zuvor begegnet war. Nur dass Jared sie oft erwähnt hatte, ihr Name war Lana und sie spielte seine Serienadoptivmutter.

„Leute, das ist meine Mom!“ durchbrach er feierlich die Stille.

Ich sah wie Lana einen Schritt nach vorne trat, ihre Augen starrten noch immer in meine. Sie zeigten keine Scheu, als wäre ihr nicht bewusst, dass dieses Starren bei Fremden unhöflich war. Ihr Gesichtsausdruck war wie ein offenes Buch, das ich grade aufgeschlagen hatte, doch ein paar Wörter schienen in einer anderen Sprache geschrieben zu sein, sodass ich nicht jedes Gefühl darin lesen konnte. Der Schock war ihr am deutlichsten anzusehen, jedoch wusste ich nicht warum. Ich war ihr nie zuvor begegnet, umso verwirrender war es, wieso sie mein Anblick so schockierte.

Mein Kopf fühlte sich an, als würde er sich mit Watte füllen, meine Sicht verschwamm und ich wurde plötzlich zurückgerissen.

Schnelle Schritte, aufgeregte Stimmen, stechende Schmerzen, ein Pochen – mein Herz. Eine 21-Jährige auf einem Krankenhausbett, das durch die Gegend geschoben wird. Man hat sie grade eingeliefert. Die Symptome sagen, dass Gift in ihrem Blut ist. Sie ist nicht bei Bewusstsein, sie hört nichts und reagiert nicht auf Berührungen. Sie muss stabilisiert werden.

Jemand steht im Gang und sieht dem Mädchen ins Gesicht und folgt den Ärzten. Vom Flur aus kann sie in das Zimmer sehen, wie sie sie stabilisieren und sie an mehrere Geräte anschließen. Ein Herzmonitor steht neben dem Bett und zeigt ihren schnellen Herzschlag an. Dann wird die Beobachterin weggeschickt. Das Mädchen fällt in ein Koma.

„Hallo“, ist das erste, was ich höre, als ich die Augen aufschlage. Dann sehe ich die Frau, zu der die Stimme gehört. Lange dunkle Haare umschmeicheln ihr Gesicht. Braune warme Augen sehen mich sanft an, ihre Lippen formen sich zu einem kleinen Lächeln, wodurch ich ihre Narbe auf ihrem Mund entdecke.

Ich blinzle ein paar Mal und frage: „Wer sind Sie?“ Sie sitzt auf meinem Bett, da fällt mir auf, dass sie nach meiner Hand greift. Ich bin verwirrt, aber ich lasse die Berührung geschehen. Ein Schauer jagt mir über den Rücken, als sie wieder spricht. Ihre Stimme ist ruhig und tief, ich vertraue ihr sofort. „Ich heiße Lana.“

Meine Sicht wurde wieder klarer und das Flashback war vorüber. Was hatte ich da eben gesehen? War ich Lana etwa schon vor heute begegnet oder wieso wurden mir diese Szenen gezeigt? Aber wenn nicht, wieso hatte ich dann dieses Déjà-vu-Gefühl bei ihr?

„Deine Mutter?“ kam es aus Ginnifers Mund, den sie vor Überraschung vergaß zu zuklappen. Verwirrung spiegelte sich in jedem Gesicht. Und gerade weil seine Kollegen wussten, dass seine Eltern nicht mehr am Leben waren, verstand ich ihre Verwirrung nur zu gut. Ich musste zugeben, ich war mit dem Gefühl Mutter zu sein noch nicht sehr vertraut, vielleicht sah man mir das auch an, weil ich mehr wie seine Cousine agierte.

„Meine Cousine hat mich adoptiert. Als meine Eltern starben, nahm sie mich bei sich auf, weil ich bei keinem anderen Familienmitglied wohnen wollte. Und heute hat sie mich hergebracht, außerdem wolltet ihr Jane doch schon lange kennen lernen.“ Ein Lächeln konnte ich mir nicht verkneifen, dann legte ich einen Arm um Jareds Schultern, um meiner Freude über seine Worte mehr Ausdruck zu verleihen.

„Und euch geht’s gut dabei, wie man sieht. Es ist schön dich endlich mal kennen zu lernen. Ich darf doch „Du“ sagen oder? Jared hat ja schon einiges über dich erzählt und wie gut ihr klarkommt“, ergriff daraufhin Jennifer das Wort, kam auf mich zu und hielt mir ihre Hand entgegen. Ein freundlich und sehr aufgeschlossenes Lächeln machte sich in ihrem Gesicht breit, welches ich gerne erwiderte, als ich meine Hand in ihre legte. „Sag einfach Jane zu mir.“ Schon fühlte ich mich etwas wohler in meiner Haut. Dass sie mich gleich duzte, gab mir ein gutes Gefühl, als würden wir uns bereits kennen. Das „Du“ gab mir Vertrauen und Sicherheit.

Sie löste den Händegriff und ließ die Hand in ihrer Lederjackentasche verschwinden, jedoch nicht weil sie schüchtern war, sondern weil es cool aussah. Dann trat sie wieder zur Seite und stellte mir die anderen vor.

Ginny, die ihr am nächsten stand, stellte sie zuerst vor. „Das ist Ginnifer.“ Eine junge Frau, laut Jared 35 Jahre alt und damit ein Jahr älter als Jennifer. Kurze schwarze Haare, braune sanftmütige Augen und etwas rundlicher, da sie ein Baby mit Josh erwartete. Sie spielte ganz klar Schneewittchen. Neben ihr stand Josh, ihr Verlobter, der nicht von Ginnys Seite wich. Er hatte ein hübsches Gesicht, das kaum von seinen dunkelblonden Haaren bedeckt wurde. Seine Augen waren blau.

„Josh.“ Jennys Augen strahlten in einem wunderschönen grün, als sie wieder zu mir sah. Ich lächelte die beiden erfreut an. „Freut mich euch kennen zu lernen und herzlichen Glückwunsch zur Verlobung und zu eurem Baby!“ Ginny strahlte mich an und auch von Josh bekam ich ein glückseliges Lächeln geschenkt. „Danke, Jane. Das ist lieb von dir.“ Die werdende Mutter legte eine Hand auf ihren Bauch und versank lächelnd in ihren Gedanken. Hinter den beiden traten Raphael und Michael hervor, beide ein freundliches Gesicht. Michael war der Jüngere von beiden, so alt wie Ginny. Raphael dagegen war 49.

„Willkommen in der Oncer-Family.“ Rapha grinste frech, was ich ihm für die erste Begegnung nicht zugetraut hätte, aber es machte ihn sofort sympathisch. Michael rammte ihm seinen Ellbogen in die Seite, worauf Raphael kurz lachte, dann aber wieder ernst wurde. „Ihr müsst sie ja nicht gleich am ersten Tag verschrecken!“ kam eine melodisch tiefe Stimme von hinten. Ein dunkelbrauner Schopf drängte sich zwischen die beiden Männer. Lana hatte bisher nicht ein einziges Wort gesagt, doch jetzt trat sie hervor und bedachte mich mit einem derart sanften Blick, dass ich mich beinahe in ihren Augen verlor.

Warum, zum Teufel, sah sie mich so an?

„Ach Lana, das sollte nur ein Witz sein.“ Michael schüttelte den Kopf, grinste aber. Die zwei Männer schienen sich wohl gut zu verstehen, wenn sie so miteinander umgingen. Ich winkte ab. „Keine Sorge, um mich zu vertreiben, muss man sich was Besseres ausdenken!“ Lana schenkte ich ein freundliches Lächeln.

Diesmal war Lanas Blick einfacher zu deuten. Ihr Gesicht spiegelte Überraschung, doch nur für einen Augenblick, dann zogen sich ihre Mundwinkel nach oben und sie lächelte. „Das ist schön zu hören!“ Sie kam auf mich zu, legte mir vorsichtig eine Hand auf den Rücken, gab den anderen mit einem Kopfnicken Richtung Studio ein Zeichen und ging dann mit mir voraus.

Ihre Hand übte keinen Druck auf meinen Rücken aus, sie lag einfach da, als wolle sie mich beschützen. Lana ließ sie nicht sinken, auch nicht, als sie unser Schweigen brach. „Was machst du beruflich, wenn ich so frei sein darf…?“ Ihre Augen waren auf den Weg gerichtet, was ihn für mich ebenfalls interessant machte. Irgendetwas war anders. Ich wusste, hätte mich Jenny oder Michael so begleitet, würde ich mich nicht so seltsam fühlen, wie es grade der Fall war. Ich spürte die Wärme ihrer Hand durch meine Jacke, was wohl auch die Ursache für meine Gänsehaut war. Die Berührung gab mir eine unbekannte Sicherheit und ein Gefühl, das in meinen Erinnerungen fast gänzlich verblasst war.

Mein Mund war trocken, ich schluckte, damit ich sprechen konnte. „Ich bin Chemielehrerin an der High School.“ Den Eingang zu den Studios hatten wir gerade passiert, da blieb sie plötzlich wie angewurzelt stehen. Sie starrte mich an, als hätte ich eben gesagt, dass morgen die Welt unter geht, bis ihre braunen Augen zu strahlen begannen. „Du hast es geschafft.“ Die Freude in ihrer Stimme war nicht zu überhören, aber wieso freute sie sich, fragte ich mich. Aus welchem Grund auch immer, ich sah ihr die Aufrichtigkeit an, mit der sie ihre Gefühle zeigte.

Ich wurde unsicher, versuchte es aber irgendwie zu überspielen, damit sie es nicht merkte. „Ja, das war immer mein Traum“, sagte ich deshalb und wollte den Weg fortsetzen, doch sie hielt mich zurück. Als sie nach meinem Arm griff, durchzuckte ein Blitz meinen ganzen Körper, meine Sicht wurde schwarz. Erneut begann der Bilderschwall, doch es war nicht der gleiche.

Mein Kopf hob sich, als ich Schritte auf dem Asphalt hörte. In einiger Entfernung erkannte ich Lana, die auf mich zulief. Sie trug keinen Pyjama mehr, wie noch heute Morgen. Jetzt floss ein marineblaues Kleid an ihrem Körper herab, was ein schöner Kontrast zu ihrer hellen Haut und dunklen Haaren war. Ich erhob mich von der Bank und ging ihr langsam entgegen, mein Mund verzog sich sofort zu einem Lächeln, welches sie eine Sekunde später erwiderte.

„Also, um was geht’s?“ kam es über meine Lippen, als ich vor ihr stehenblieb. In ihren Augen erkannte ich eine freudige Spannung, was mich noch neugieriger machte. „Ich will dir was zeigen.“ Die 30-Jährige Schauspielerin bot mir ihren Arm an, damit ich mich bei ihr einhaken konnte. Wir schwiegen bis wir ihr Ziel erreicht hatten. Die Krebsstation für Kinder.

Im Aufenthaltsraum bat sie die Kinder um Aufmerksamkeit, um uns beide vorzustellen. Die Kinder sahen verwundert auf, etwas verunsichert durch den unbekannten Besuch. Doch nur wenige Minuten später hatten sich alle Kinder, ob 6 Jahre alt oder 14, auf dem Teppichboden niedergelassen und lauschten dem wundervollen Klang von Lanas Stimme. Sie las ihnen ein Buch vor.

Zwei Tage später hatte sie mich dazu gebracht das gleiche zu tun. So wenig Ahnung ich auch von Kindern hatte oder von etwas, das unter die Kategorie „Soziale Kompetenz“ fiel, sie hatte mir genau erklärt, wie einfach es war, anderen Menschen eine Freude zu machen. Wie Kindern, die todkrank waren und jeden Tag in diesem öden Krankenhaus liegen mussten.

Die Szene brach ab, ich drehte den Kopf und Lana trat wieder in mein Sichtfeld. Mein Blick fiel auf ihre Hand, die noch meinen Arm festhielt. Als ihr dies bewusst wurde, ließ sie ihn schnell wieder sinken. „Geht’s dir gut? Du scheinst kurz weggetreten zu sein.“ Sie runzelte die Stirn, sie sah besorgt aus. Ich schüttelte die Bilder ab, um mich wieder zusammenzureißen. „Nein. Ich meine ja, mir geht’s gut. Ich hab nachgedacht, da versinke ich manchmal.“ Ein nervöses Lachen von mir folgte.

Wir standen uns noch sekundenlang gegenüber, ohne dass Lana antwortete, bis uns Jared, mit Jenny und den anderen drei im Schlepptau, einholte. Die Spannung zwischen uns löste sich in Luft auf, sodass ich den anderen gelassen folgen konnte. Und obwohl ich eine gewisse Erleichterung spürte, schaffte ich es nicht, meine Augen von Lana zu nehmen, die nun ein paar Meter vor mir her lief.

„Alles okay? Oder ist dir das zu viel?“ flüsterte Jared neben mir. Ich zuckte kurz zusammen, lächelte ihn dann aber an. Wir hatten vor Jahren eine Vereinbarung getroffen. Diese besagte, dass wir uns immer die Wahrheit sagten, egal um was es ging. Ich wollte hier nur nicht die ganze Wahrheit sagen, also beschränkte ich mich auf das Wichtigste. „Ich empfange Visionen, als wäre es mir passiert, aber ich kann mich nicht erinnern“, erwiderte ich so leise, dass er es hören konnte. Er sah mich verwirrt an, runzelte die Stirn und meinte dann: „Erzähl mir heute Abend davon!“

Am heutigen Nachmittag wurde hauptsächlich in Snows Appartement gedreht. Ich saß also die meiste Zeit einfach hinter der Kamera und sah den anderen beim Schauspielern zu. Vorher hatte man mich den anderen Kollegen noch vorgestellt und mir dann einen Platz angeboten, um das Ganze mit zu verfolgen. Ich war begeistert von ihren Talenten. Es war bereits die dritte Staffel, die sie drehten, was man an der Harmonie merkte. Alle waren ein sehr gut eingespieltes Team, nur selten patzte jemand. Doch wenn jemandem mal ein Fehler unterlief, lachten alle darüber.

Ich beobachtete die Szenen ganz genau, um etwas zu verstehen. Die Geschichte war mir noch nicht so vertraut, zumindest die der jetzigen Staffel. Jareds Charakter Henry hatte sich durch das Vergessen seines alten Lebens total verändert. Sein Gameboy war ihm plötzlich viel wichtiger, als seine Familie, von der er aber nicht wusste, dass sie es war. Doch das Schlimmste war wohl, dass er sich nicht mehr an Regina, seine Adoptivmutter, erinnerte. Diese wurde von Lana gespielt und weil sie Regina so gut verkörperte, dachte ich gar nicht mehr daran, dass alles nur gespielt wurde.

Mir wurde nicht langweilig, obwohl ich nur zusah. Meine Augen verfolgten jede Bewegung der Schauspieler. Und selbst wenn ich wollte, ich hätte meinen Blick nicht abwenden können. Das, was sich vor mir abspielte, fesselte mich. Jedes Gefühl, das die Charaktere fühlen sollten, zeigten sie, als wäre alles wirklich.

In einer Pause verschwanden ein paar, Lana tippte auf ihrem Handy herum, Jared holte sich etwas zu trinken, winkte mich zu sich, als er zurückkam und verwickelte mich und Robert in ein Gespräch. Er spielte Rumpelstilzchen in der Serie. Er erzählte mir ein paar der Geschichten aus der Serie und was dahintersteckte, ob über seine Rolle oder eine der anderen. Dabei musste ich mir das Grinsen verkneifen, weil er mit einem lustig klingenden Akzent sprach. Doch seine ruhige und freundliche Art gefiel mir, denn in seine Rolle war er das ganze Gegenteil.

Als es Abend wurde und Jared rechtlich nicht weiterdrehen durfte, da er noch minderjährig war, begleitete ich ihn in seine Garderobe. Auch für die anderen war für heute Schluss, morgen wartete ein freier Tag auf sie, Sonntag.

„Ich bereue es, dass ich nicht schon früher hier war. Als würde ich bei einem Linkin Park Konzert direkt auf der Bühne stehen… Ihr seid echt ein tolles Team!“ Ich hatte mich auf eines der Sofas niedergelassen, die im Raum standen und wartete darauf, dass sich Jared umzog, damit wir nach Hause gehen konnten. Er griff ans vordere Ende seines T-Shirts und zog es sich über den Kopf. „Ja, das hat schon was oder?“ Grinsend schnappte er sich seine Klamotten und legte das Shirt zu den Klamotten, die gewaschen werden sollten.

Nickend vermittelte ich ihm meine Zustimmung. „Vor allem, wenn man so gut ist wie ihr!“ Sein Grinsen wurde noch breiter, er schien mit dem Tag voll zufrieden zu sein. Seine gute Laune hatte sich nicht geändert. Kurz darauf hatte er wieder seine Schuhe an und etwas Deo aufgetragen, auch wenn er später duschen würde, was er jedes Mal tat, wenn er vom Set kam.

Bevor er noch irgendwas darauf sagen konnte, wurde die Tür aufgerissen und Ginny stürmte herein. „Hey ihr zwei! Lanas Schwester Mary ist hier. Sie will euch kennen lernen.“ Sie zwinkerte uns zu. Ein Gefühl von Angst machte sich in meinem Magen breit, doch ich wusste nicht, woher es gekommen war. Jareds Kinnlade war herunter gefallen und er starrte Ginny ungläubig an. Er blinzelte. „Was? Ihre Schwester? Aber ich dachte Lana hätte den Kontakt abgebrochen?!“ Sie zuckte mit den Achseln, redete dann aber weiter. „Irgendwas scheint vorgefallen zu sein… Lana ist ihr praktisch in die Arme gefallen und jetzt will Mary euch sehen.“

Lana hatte also eine Schwester namens Mary und so wie ich die Unterhaltung von Ginny und Jared deutete, hatte bis eben noch dicke Luft zwischen den Schwestern geherrscht. Von Lanas erstem Eindruck konnte ich mir gar nicht vorstellen, dass sie ein Mensch war, der den Kontakt abbrechen würde. Ich kannte zwar den Grund nicht, aber dennoch verstörte mich diese Vorstellung.

Ich blickte zu Boden, bis ich mich dazu entschloss Ginny danach zu fragen. „Weißt du, was zwischen den beiden passiert ist?“ Ihr Gesicht war ernst, als sie einen Moment zu lange schwieg. „Das weiß keiner. Sie redet kaum über ihre Vergangenheit.“ Aus ihrem Tonfall schloss ich, dass sie es wohl schon mal versucht hatte, sie danach zu fragen, aber gescheitert war. Gab es etwas, dass niemand von ihr wissen sollte oder war es für sie einfach nur zu schmerzhaft, um überhaupt darüber zu sprechen?

Fragend blickte ich hinter mich, als Antwort bekam ich ein stummes Nicken. „Okay, wir kommen gleich.“, nickte ich Ginny dann zu, worauf sie das Zimmer wieder verließ. Meine Füße rührten sich nicht von der Stelle, als wären sie am Boden festgewachsen, meine Augen noch auf den Flur gerichtet, auf dem sie verschwunden war. Jared tauchte einen Augenblick später neben mir auf und starrte auf die Tür. „Wirklich seltsam! Irgendwas muss passiert sein…“ murmelte er mehr zu sich selbst und ging dann zur Tür, drehte sich um, weil ich ihm nicht folgte und fragte: „Kommst du?“ Seine Frage riss mich aus meiner Starre, ich nickte und wir liefen gemeinsam den Gang entlang.

Aus einiger Entfernung erkannte ich Ginny bei Josh und Jenny. Dann bemerkte ich da noch Robert und Colin, der wiederum neben Emilie stand. Und bei ihnen nicht zu übersehen: Lana. Sie verdeckte eine weitere Person. War das ihre Schwester? Nur noch wenige Meter trennten uns beide von der Gruppe, als die Person einen Schritt zur Seite trat, sodass sie in unser Sichtfeld kam.

Hellbraune Haare umrahmten ein junges Gesicht, helle Augen starrten uns eindringlich an, wodurch ich meine Angst wieder spürte. Mary war nur wenig größer als ihre Schwester, aber vielleicht lag das auch nur an den Absatzschuhen. Ich war mir aber nicht sicher. Lana hatte es ihrer Schwester gleichgetan, sie drehte sich um und sah uns an. In der Gruppe blieben wir stehen und ich ließ erneut einen musternden Blick über mich ergehen. Ich war der Meinung, dass ich für heute genug fremde Menschen getroffen hatte.

Ich kam mir an diesem Tag wie ein Museumsstück vor. Alle Aufmerksamkeit lag auf mir, was ja logisch war, aber das war für meinen Geschmack zu viel des Guten. Mary erlöste mich bald, reichte Jared die Hand und schüttelte sie leicht. „Schön dich kennen zu lernen, Jared. Meine Tochter ist ein riesen Fan von dir!“ Ein freundliches Lächeln huschte über ihr Gesicht. Von der Seite betrachtend sah ich, wie sich eine Anspannung in ihm löste. „Danke, freut mich ebenfalls.“ Freude ließ sein Gesicht erstrahlen, was seine Unsicherheit wieder wettmachte.

Dann blickte sie wieder zu mir, ihr Gesichtsausdruck veränderte sich sofort. Zuerst war da noch die Freundlichkeit von eben, schon machten Erstaunen und Schock diesem Blick Platz. Kurz warf sie einen Blick zu Lana herüber, sie lächelte ihrer Schwester vielsagend zu, welches Lana zurückhaltend erwiderte und ergriff dann mit glänzenden Augen meine Hand. Meine Sicht wurde schwarz.

Mary, Lanas vier Jahre jüngere Schwester, saß neben mir im Park des Krankenhauses. Sie war vor einer Stunde gekommen, um Lana zu besuchen, aber da sie grade beim Röntgen war, vertrieben wir uns so lange zu zweit die Zeit. Die paar Minuten wollte ich nutzen, um sie nach ein paar Dingen zu fragen, die ich Lana nicht fragen wollte. Ich wusste, würde ich sie selbst fragen, würde sie sofort Verdacht schöpfen.

Ich blinzelte, die Sonne blendete mich. „Sag mal… was mag Lana? Also zum Beispiel was ist ihre liebste Jahreszeit oder was für Bücher liest sie?“ Meine Wangen erhitzten sich, ich war rot geworden. Mary bemerkte es und lächelte verständnisvoll. „Sie hat in acht Tagen Geburtstag…“ Erschrocken zuckte ich zusammen. In acht Tagen schon? Wie sollte ich bis dahin ein gutes Geschenk für sie finden? Reis dich zusammen, sagte ich mir, damit ich mich wieder fing. „Sie ist so eine große Hilfe für mich… ich will ihr einfach was zurückgeben.“ Die helle Brünette nickte und tätschelte meine Schulter. „Ich weiß.“

Eine Weile beobachteten wir das Treiben um uns herum. Patienten, die hier mit ihren Familien entlang liefen. Ihr Lachen drang zu uns herüber, doch meine Stimmung, die mit einem Mal kippte, hob sie nicht wieder. Mary brach als erste das Schweigen. Ihr Blick war in die Ferne gerichtet, als würde sie nicht mehr hier sein, sondern in Erinnerungen. „Wir waren früher oft Skifahren. Unser Dad hat uns immer gezwungen einen Skikurs zu machen. Sie wollte das nie und konnte sich irgendwann durchsetzen. Sie überzeugte unsre Eltern davon, dass sie alleine fahren konnte. Kurz danach starb er. - Dad und sie hatten eine große Gemeinsamkeit. Beide lieben den Winter über alles. Ich denke, wenn es sowas wie Magie geben würde, würde sie es sogar im Sommer schneien lassen.“

Total von ihren Worten gefesselt, wurde mir klar, dass ich das perfekte Geschenk für sie hatte. Niemand sonst konnte ihr so etwas bieten. Keinen, den sie kannte, verfügte über Fähigkeiten wie ich. Als sie sich mir wieder zuwandte, lächelte ich sie dankend an. „Danke! Ich weiß jetzt, was ich tue.“ Dann wurde ich abgelenkt. Ich sah wie Lana in einem umwerfenden Kleid in einer Mischung aus Lila und Rot auf uns zukam. Sie rief irgendwas, doch ich verstand es nicht mehr, da die Szene zu verblassen begann.

Mary war wieder älter und ihre Haare waren länger, als die, die ich eben an ihr gesehen hatte. Hieß das, dass ich auch Mary kannte? Aber wenn nicht, wieso wurde mir das sonst alles gezeigt, als ich gerade ihre Hand berührt hatte?

„Du bist Jane.“ Es war keine Frage gewesen, sondern schlicht weg ein Fakt, den sie nannte. Sie hatten also über mich gesprochen, aber ob mir das gefiel, konnte ich nicht sagen. Allmählich hatte ich das Gefühl, dass sich die Nachricht über mich, Jareds Adoptivmutter und Cousine, schneller verbreitete, als mir lieb war. Sie lächelte voller Freude, was ich mir nicht wirklich erklären konnte.

„Das ist richtig. Und du bist…?“ Ich legte fragend den Kopf schief, wohlwissend, dass es Lanas Schwester war, doch ich wollte es noch einmal von ihr hören. Augenblicklich fielen ihre Mundwinkel nach unten, was ihre Stimmung schlagartig veränderte. Ich konnte direkt beobachten, wie sie sich zusammenriss und wieder ihr freundliches Gesicht aufsetzte, als ob ich nicht sehen sollte, dass sie irgendwas an meinen Worten beunruhigt hatte. „Ich bin Mary, Lanas Schwester.“

Mein Mund formte sich zu einem zufriedenen Lächeln, ich fixierte sie, damit ich keine Regung verpasste. Ihre Augenfarbe war ganz anders, als die von Lana. Sie waren hellgrau und wirkten sehr einschüchternd, fast wie Eis. Aber ich hatte kein schlechtes Gefühl bei ihr. „Ihr seht euch kaum ähnlich, nur eure Gesichtsform ist identisch.“ Ein vertrautes Gefühl durchfuhr mich wie ein Déjà-vu. Dieser Moment kam mir so bekannt vor, mir war, als hätte ich genau das Gleiche schon einmal gesagt. Doch es war mir schleierhaft, wieso.

Die Schwestern sahen einander an, ihr Blick unergründlich. „Du bist die Erste, die das sagt“, sagte Lana mit einem Unterton, den ich nicht deuten konnte. Schnell ließ ich Marys Hand wieder los und zog mich unmerklich zurück. Fünf Minuten später, welche mir wie eine Ewigkeit erschienen, verabschiedeten wir uns beide und liefen in zügigem Tempo zum Ausgang. Nur ein einziges Mal, bevor wir um die Ecke bogen, drehte ich mich um. Im Nachhinein wünschte ich mir, ich hätte es nicht getan. Aus der einen Gruppe hatten sich zwei verschieden große Grüppchen gebildet. Eine der beiden bestand aus grade mal zwei: Lana und Mary. Sie starrten uns nach, mit einem Blick, der mich verängstigte, verwirrte und zur gleichen Zeit anzog.

Man musste nicht übernatürlich sein, um zu bemerken, dass hier etwas nicht stimmte. Benahm man sich etwa so einer völlig Fremden gegenüber? Mir, die sie noch nie gesehen hatten, geschweige denn wussten, wer ich überhaupt war? Nein, ganz bestimmt nicht! Was, zum Teufel, ging hier vor sich?

 

 

Die Fahrt nach Hause verlief sehr still. Keiner von uns redete. Ich hatte Mühe mich auf die Straßen zu konzentrieren, anstatt mir darüber Gedanken zu machen, was heute alles geschehen war. Wen ich alles kennen gelernt hatte und was ich in meinem Kopf gesehen hatte. Was auch immer das alles zu bedeuten hatte, wie sollte ich das herausfinden? Am Ende spielte mir mein Gehirn vielleicht doch nur einen Streich, weil es durch all die schrecklichen Jahre zu Schaden gekommen war.

Ich beschloss das Ganze erst einmal zu vergessen und mich auf den Abend zu konzentrieren, um uns beiden etwas zu essen zu zaubern. Nach einigen Stunden am Set war Jer immer sehr hungrig und konnte Massen verdrücken, also machte ich zwei große Steaks mit Kartoffeln als Beilage. Das, was ich nicht essen konnte, verputzte entweder er oder es wurde für die nächsten Tage im Kühlschrank aufbewahrt.

Später, nachdem alles gespült und abgetrocknet war, wuselte er in der Küche herum. Nach einigen Momenten kroch mir der Geruch von heißer Schokolade und Zimt in die Nase. Als er mit zwei Tassen ins Wohnzimmer kam, konnte ich mir ein Grinsen nicht verkneifen. Immer dann, wenn wir uns einen gemütlichen Abend zu zweit machten, durfte die heiße Schokolade nicht fehlen. Obwohl wir einen offenen Kamin hatten und das Sofa davor stand, erhöhte die Schokolade den Wohlfühlfaktor doch noch um ein gutes Dutzend.

Er stellte die beiden Tassen auf zwei Untersetzer neben das Sofa, auf dem ich Platz genommen hatte. Er setzte sich im Schneidersitz mir gegenüber, nahm seine Tasse und pustete vorsichtig, damit er nichts verschüttete, auf die Flüssigkeitsoberfläche. Ich tat es ihm gleich.

„Also… wie fandest du den Tag?“ begann er. Ich runzelte die Stirn. „Ich weiß ehrlich nicht, was ich erwartet hatte, aber es war so vollkommen anders. Es war etwas völlig Neues. Sie sind alle sehr freundlich, das hat mir gefallen. Das Einzige, was mich verwirrt sind die Bilder, die ich gesehen habe. Es hat gleich auf der Wiese angefangen und ging bis zu Lanas Schwester.“ Darauf lächelte er, bis sich Falten auf seiner Stirn bildeten. „Erinnerst du dich noch an Einzelheiten von den Visionen? Was und wen hast du dort gesehen?“ Bevor ich groß überlegt hatte, ließ er einen Block und Stift erscheinen. Den Block schlug er auf und öffnete den Kugelschreiber.

„Hm… also ich erinnere mich vor allem daran, dass ich Lana gesehen habe, eine deiner Kolleginnen. Einmal saß sie zwischen einer Gruppe von Kindern mit einem Buch. Sie las ihnen vor und ich sah ihr zu. Dann erinnere ich mich daran, dass ich im Krankenhaus lag. Als ich die Augen aufgeschlagen habe, war sie wieder da. Wieder Lana. Und das andere Mal saß ich mit Lanas Schwester auf einer Bank und habe mich mit ihr unterhalten. Mary war schwanger. Diesmal habe ich nicht nur gehört, was gesprochen wurde, sondern konnte meine Gefühle genau wahrnehmen. Es waren sehr starke Emotionen. Ich habe Mary um Rat gefragt, weil ich Lana etwas schenken wollte, um meine Dankbarkeit auszudrücken. Ich wollte ihr etwas ganz Besonderes schenken und nachdem Mary etwas erzählte, wusste ich etwas, aber ich weiß es nicht.“

Während ich von den Bildern in meinem Kopf erzählte, flitzte der Kuli durch Zauberhand über den kleinen Notizblock. Legte ich eine Pause ein, hob er seine Spitze vom Blatt und blickte mich an, als wäre er ein Mensch und kein Stift. Klar, er hätte auch selber schreiben können, aber erstens schrieb Jared als 14-Jähriger noch nicht ganz so schnell und zweitens sagte ich ihm immer wieder, er sollte das Zaubern üben so viel er konnte. Von allein ließ sich schließlich keine Kontrolle über die Kräfte lernen.

Jared sah mich nachdenklich an und warf einen kurzen Blick auf die Notizen. „Also wusstest du nicht, was du gedacht hast. Du hast nur die Gefühle gespürt.“

„Ja so könnte man es sagen.“ Ratlos nippte ich an meinem Kakao, der inzwischen trinkbar war. Der Kuli glitt über den Notizblock. Jared runzelte eine Weile die Stirn, während ich weiter schweigend kleine Schlucke aus der Tasse nahm.

Plötzlich erhellte sich sein Gesicht, was mich vermuten ließ, dass er zu einer Idee gekommen war. „Am besten wäre es, wenn du es jedes Mal aufschreibst, wenn du wieder etwas siehst. Vielleicht lässt sich dann herausfinden, was das zu bedeuten hat. Aber bis dahin, denk nicht zu viel drüber nach. Das macht dich sicher nur wahnsinnig.“

Mitfühlend lächelte er mich an, nickte dem Kugelschreiber zu, der auf sein Zeichen zusammen mit dem kleinen Schreibblock zu mir schwebte und sich in meinen Schoß segeln ließ. Eine angenehme Wärme durchdrang mich. Manchmal fragte ich mich, ob ich ihm zu viel zumutete, wenn er solche Unterhaltungen mit mir führte. Sollte er vielleicht mehr mit Freunden seines Alters zusammen sein? Ich hatte schon oft daran gezweifelt, dass ich ihn zu wenig Kind sein ließ. Die Frage war einfach nur, wie?

Gut, da war zum Beispiel Mary, seine Klavierlehrerin. Sie war nur ein paar Jahre älter als er und dennoch irgendwie zu weit entfernt. Obwohl sich die beiden sehr gut verstanden. Als sie sich vor ein paar Monaten kennen lernten verhielten sie sich noch sehr fremd, doch je öfter Mary zu uns kam, desto angenehmer wurden die Klavierstunden. Wenn ich die Gelegenheit hatte, dann blieb ich Zuhause und lauschte Jareds langsamen Versuchen.

Mary war 19 Jahre alt und spielte seit frühester Kindheit Klavier und das pausenlos. Sie spielte vor allem klassische Stücke, welche ich am liebsten mochte. Seit ein paar Wochen blieb Mary länger als üblich. Sie hatte mich mal dabei ertappt, wie ich mich zu ihr ins Wohnzimmer setzte, als Jared grade das Zimmer verlassen hatte und ihr beim Spielen zuhörte. Ich hatte zugegeben, wie gern ich sie und mit Jared spielen hörte. Seitdem wurden es immer mehr als die zwei Stunden, die ich ihr bezahlte. Doch dafür verlangte sie nichts. Einmal pro Woche wichen wir noch etwas weiter ab und banden Mary in unsere kleine Familie ein.

Dies war der Grund dafür, weshalb wir für morgen einen kleinen Ausflug geplant hatten. Jared, Mary und George und ich hatten uns zu einem Picknick verabredet.

George war mein bester Freund. Ich hatte ihn vor einigen Jahren während des Studiums kennen gelernt. Er war mein engster Vertrauter und wie eine Vaterfigur für Jared.

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Texte: Alle Rechte liegen bei mir
Bildmaterialien: Google
Satz: Alle Rechte liegen bei mir
Tag der Veröffentlichung: 22.11.2017

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