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Kapitel 1

Harper ließ den Wagen ausrollen, den Blick auf das Haus vor sich gerichtet und die Augenbrauen hochgezogen. Ihre Mutter hatte ihr zwar gesagt, dass es groß war, aber nicht, wie groß. Harper hielt den Wagen, atmete tief durch und stieg aus dem Wagen.

Sofort versank sie in dem aufgeweichten Boden und fluchte leise. Ihre sommerlichen Ballerinas waren nicht für diesen Boden geeignet. Sie hatte nicht erwartet, dass sie hier mitten in der Wildnis landen würde.

Sie blieb einen Moment auf dem Weg stehen und betrachtete das Haus auf der Anhöhe. Es war aus grauem Stein erbaut und auf den ersten Blick in gutem Zustand. Durch die Kiefern, die um das Haus herum wuchsen, lag das Gebäude selbst etwas im Schatten. Vermutlich kam selbst im Sommer die Sonne nur in die obersten Räume herein.

Schließlich ging Harper auf das Gebäude zu und wühlte in ihrer Handtasche nach den Schlüsseln. Sie zuckte zusammen, als es im Gebüsch raschelte, musste dann aber lachen, als sie einen Fuchs sah. Neugierig tappte er über die Wiese vor dem Haus und verschwand gleich wieder im nächsten Busch.

Harper trat auf die Veranda und öffnete die schwere Eingangstür aus massivem Holz. Drinnen erwartete sie ein dunkler Flur, von dem ein paar Türen abgingen und an dessen Ende eine Treppe lag.

Gleich rechts lag eine große, offene Küche. Die Möbel und Wandverkleidungen waren aus dunklem Holz, nur ein paar der Geräte hellten den Raum durch ihr Metall auf. Die dunkle Einrichtung setzte sich auch in den nächsten Räumen fort. Es herrschte ein gewisser Charme und Harper war sich sicher, dass Amirah das Haus sicher schnell verkaufen konnte.

Langsam ging Harper weiter, schaute sich die anderen Räume im Erdgeschoss an und stieg anschließend in den ersten Stock hinauf. Auch hier herrschten die dunklen Möbel vor, nur zwei Räume, die nebeneinander lagen und eindeutig Kinderzimmer waren, waren heller eingerichtet.

In dem größten Schlafzimmer auf dieser Etage gab es einen Balkon und Harper genoss für einen Moment die Aussicht auf den Wald. Halfell musste auf der anderen Seite liegen. Sie würde wohl später in die Stadt zurückkehren und sich etwas zu essen holen. Hätte sie gewusst, dass das Haus so weit außerhalb der Stadt lag, hätte sie sich dort ein Zimmer genommen.

Bei ihrer weiteren Erkundung sparte sie bloß den Keller und den Dachboden aus. Zurück im Wohnzimmer stellte sie ihre Handtasche auf dem Sofa ab und holte ihr Handy raus. Schnell machte sie ein paar Fotos, die sie Amirah schickte, gleich darauf rief sie ihre Freundin an.

„Hey, die Zimmer sehen top aus“, begrüßte Amirah sie. „Also, zumindest auf eine altmodische, romantische Art und Weise.“

„Der Rest sieht genauso aus. Glaubst du, du kannst das loswerden?“

„Ich habe eine Kundin, die so etwas ähnliches sucht, aber eher an der Ostküste. Aber ich glaub, Melvin hat Kunden, die was in Kanada suchen. Vielleicht gefällt ihnen das. Kannst du mir noch ein paar Bilder schicken? Bad, Schlafzimmer und Küche wären gut. Und vielleicht eines aus einem der Fenster auf den Garten.“

„Klar, mach ich gleich. Das Haus ist allerdings etwas außerhalb der Stadt.“

„Genau das Richtige für Leute, die ein ruhig gelegenes Haus suchen. Oder für Urlauber.“ Amirah lachte leise. „Denk noch mal drüber nach, ob du es nicht doch als Ferienhaus vermietest. Momentan läuft das ganz gut.“

„Mom und ich sind uns einig. Wir wollen es verkaufen.“ Harper ging zum Fenster und blickte nach draußen. Es war noch hell, aber wie sie es bereits vermutet hatte, wurde es im Wohnzimmer schnell dunkel. Zumindest standen die Kiefern etwas auseinander, sodass man sehen konnte, ob sich dort jemand oder etwas bewegte.

Derzeit sah sie dort nichts, aber sie stellte es sich unheimlich vor, abends im Wohnzimmer zu sitzen. Es gab allerdings in allen Räumen Jalousien, wie sie gesehen hatte.

„Okay. Ich hab ja alle Unterlagen hier, zusammen mit den aktuellen Fotos sollte das eigentlich schnell gehen.“

„Gut. Wie gesagt, ich mach gleich die Fotos. Dann hol ich mir was zu essen und verbarrikadiere mich dann hier. Ich glaub, abends wird es allein hier etwas unheimlich.“ Harper lachte. „Ja, ja, ich weiß, ich blöde, abergläubische Nuss. Aber ich kann es nicht ändern. Ehrlich, Amirah, das sieht hier aus wie eines dieser Spukhäuser in einem Horrorfilm.“

„Hm, das packen wir aber nicht in die Beschreibung.“ Auch Amirah lachte leise.

„Also, wir hören uns. Ich will nicht in der Dunkelheit unterwegs sein. Und durch die Bäume wird es schneller dunkel auf der Straße.“ Sie verabschiedeten sich und Harper machte zunächst noch die Fotos. Nachdem sie diese Amirah geschickt hatte, verließ sie das Haus und ging zu ihrem Wagen.

Bis nach Halfell war es nicht weit und sie parkte vor dem ersten Diner, das sie entdeckte. Die Gäste sahen neugierig auf, als sie den Laden betrat und sich einen Platz suchte. Vermutlich war das hier einer der Orte, an den selten Fremde kamen.

Es dauerte nicht lange, bis sie ihren Hamburger und ihren Kaffee vor sich stehen hatte. Während sie aß, schickte sie ihrer Mutter eine kurze Nachricht, dass sie Amirah bereits die Fotos geschickt hatte. Sie wunderte sich noch immer, warum ihre Mutter sich so vehement geweigert hatte, mit ihr nach Halfell zu kommen.

Ein kleines Lächeln huschte über ihre Lippen. Vielleicht hatte sie hier einen alten Verehrer, dem sie nicht begegnen wollte. Nachdem Harper von dem Erbe erfahren hatte, hatte ihre Mutter ihr erzählt, dass sie in Halfell aufgewachsen war, etwas, was sie nie vorher erwähnt hatte. Harper hatte immer gedacht, ihre Mutter sei in Montreal aufgewachsen, da sie nie von einer anderen Stadt gesprochen hatte. Mit ihrer Großtante hatte Harper keinen Kontakt gehabt – sie hatte nicht einmal gewusst, dass es diese Großtante gab.

Wieder einmal schüttelte sie den Kopf über all diese Neuigkeiten, die über sie hereingebrochen waren. Der Brief des Anwalts über das Erbe, die Gespräche mit ihrer Mutter über Halfell und die unbekannte Großtante – es kam ihr alles vor wie in einem Film.

„Hi.“ Überrascht sah Harper hoch und in das Gesicht einer jungen Frau. „Darf ich mich setzen? Ich hab Sie beim Haus der Solomons gesehen und bin offen neugierig.“ Harper musste lachen.

„Ja, dann. Gerne.“

„Danke.“ Die Frau stellte ihren Kaffeebecher ab und setzte sich. „Ich bin Brielle. Brielle Auvray.“

„Harper Solomon.“

„Verwandt mit Catherine Solomon?“ Brielle nahm einen Schluck aus ihrer Tasse, verzog das Gesicht und griff nach dem Zuckerstreuer.

„Sie war meine Großtante.“ Harper winkte schnell ab, bevor Brielle etwas sagen konnte. „Aber ich kannte sie gar nicht. Ich bin auch nur hier, um Bilder vom Haus zu machen. Es soll verkauft werden.“

„Oh.“ Brielle hielt beim Rühren in ihrem Kaffee inne und sah Harper überrascht an. „Ist es sehr frech, wenn ich nach dem Preis frage?“ Nun war es Harper, die überrascht schaute.

„Nein, es soll ja verkauft werden. Laut Gutachten ist das Grundstück samt Haus über eine Million wert.“ Ihr wurde immer noch schwindelig bei diesem Betrag. Ihre Mutter hatte hingegen nur mit den Schultern gezuckt und bereits erklärt, dass sie das Geld nicht wollte. Harper sollte den gesamten Erlös bekommen. Schon deswegen hatte sie es letztlich auch übernommen, sich um den Verkauf zu kümmern.

„Okay, wow. Ich frag einfach, weil mein Bruder und ich das Haus schon immer toll fanden.“ Brielle lächelte leicht. „Leider reicht da unser Erspartes nicht. Und unser Haus können wir nicht verkaufen, da haben wir unseren Laden drin. Aber sicher findest du da schnell einen Käufer.“

„Wenn nicht, hab ich ein Urlaubsziel für nächstes Jahr.“ Harper lachte. Es war mehr im Scherz gemeint, aber wenn es tatsächlich so kam, dass das Haus bis dahin nicht verkauft war, konnte sie es sich doch vorstellen. Es war auf jeden Fall etwas anderes als die Städtetrips mit Amirah.

Die Wälder luden zum Wandern ein, es war ruhig und auf der ausgedehnten Wiese hinter dem Haus konnten sie genauso gut die Sonne genießen wie irgendwo am Strand. Sie selber schwamm ohnehin nicht gerne, einen Strandurlaub vermisste sie daher nie.

„Wenn du es ruhig und gemütlich magst.“ Brielle grinste, wurde aber gleich darauf ernst. „Im Moment rate ich aber von langen Wanderungen ab. Seit etwa einem Monat wird immer wieder von einem Wolf berichtet, der hier herumläuft. Und wenn du mich fragst, könnte es auch ein ganzes Rudel sein.“

„Wölfe?“ Harper sah Brielle entgeistert an.

„Ja. Ich hab bisher keinen gesehen, aber ich geh auch kaum mal wandern. Ein Freund meines Bruders hat neulich einen gesehen und ein paar andere Leute.“ Sie zuckte mit den Schultern. „Es ist möglich. Aber mach dir keine Sorgen. Sie bleiben sicher im Wald.“

„Na ja, das Haus ist ja etwas außerhalb.“ Harper verzog das Gesicht.

„Lass die Türen geschlossen und park in der Garage“, riet Brielle ihr mit mitfühlendem Blick. „Aber ich glaube nicht, dass sie ans Haus kommen werden.“

„Danke, dass du mir das gesagt hast. Mrs. Caldwell hat gar nichts davon erwähnt.“

„Lindsey? Na ja …“ Brielle zog die Nase kraus. „Sie ist der Meinung, dass alle spinnen und es hier keine Wölfe gibt. Deswegen hat sie es wohl auch nicht erwähnt.“

„Würde mich ja freuen, wenn es so wäre, aber ich geh erst einmal davon aus, dass die Leute tatsächlich einen Wolf gesehen haben.“ Harper lächelte gequält. „Dann werde ich nicht leichtsinnig.“ Vorhin hatte sie noch vor dem Haus auf der Wiese geparkt. Nun würde sie sich aber Brielles Rat zu Herzen nehmen und den Wagen in die Garage fahren.

„Es ist wahrscheinlich nur halb so schlimm.“ Brielle sah sie schuldbewusst an. „Angst wollte ich dir nun sicher nicht machen.“

„Ach, was, nein. Alles ist gut. Ich bin ja froh, dass du es mir gesagt hast.“ Harper winkte ab. „Ein Wolf ist nur etwas anderes als Gangstreitigkeiten.“ Jetzt, da sie es selber aussprach, wurde ihr bewusst, dass sie in New York auch nicht sicherer war als hier. Ein Wolf war auch keine andere Gefahr als der hektische Verkehr oder ein Überfall mit einer Waffe.

„Okay. Kommst du aus Montreal?“ Ein wenig überraschte sie der Themenwechsel, aber Brielle hatte ja gleich am Anfang gesagt, dass sie neugierig war. Da war es wohl doch nicht so seltsam, dass sie direkt zum nächsten Thema überging.

„Nein. Oder … na ja, ich bin dort geboren, aber meine Mutter ist schon früh mit mir nach New York gezogen.“

„Ah. Ich hatte gehört, dass Mrs. Solomons Schwester nach Montreal gezogen ist. Hier wird gerne getratscht.“ Brielle lachte und Harper stimmte mit ein. Das überraschte sie nun gar nicht.

„Ich muss zugeben, ich weiß wirklich nicht viel über die Familiengeschichte. Klar, dass Mom in Montreal aufgewachsen ist, wusste ich, aber sonst war das nie ein Thema. Ich sagte ja, ich kannte meine Großtante gar nicht. Und von dem Haus wusste ich auch nichts, bis der Brief vom Anwalt kam.“

„War vermutlich ein ziemlicher Schock. Stell ich mir jedenfalls so vor. Ich mein, wenn man auf einmal hört, dass es da eine Tante oder Großtante gab …“ Brielle zuckte mit den Schultern. „Hat was von einem Film.“

„Das hab ich mir auch schon gedacht.“ Ihre Mutter half ihr auch nicht sehr, mit der Situation zurechtzukommen. Sie wollte nicht über Halfell reden und hatte ihr einfach nur ein paar Kleinigkeiten erzählt, nachdem Harper immer weiter gebohrt und nachgehakt hatte.

„Hey, Brielle.“ Ein junger Mann gesellte sich zu ihnen und schenkte Brielle ein liebevolles Lächeln, bevor er Harper neugierig musterte.

„Brody, hi.“ Die Art, wie Brielle ihn anstrahlte, verriet Harper, dass dieser Brody wohl ihr Freund war. Ihre nächsten Worte bestätigten dies auch. „Das ist Harper Solomon. Und das hier ist mein ständig zu spät kommender Freund Brody.“ Brody brummelte, grinste dabei aber.

„Ich kann es nicht ändern. Whistle ist wieder abgehauen.“

„Und wer hat ihm nochmal beigebracht, wie man Türen öffnet?“ gab Brielle neckend von sich und wandte sich Harper zu. „Whistle ist Brodys Hund und Brody fand es lustig, ihm ein paar Tricks beizubringen. Unter anderem Türen zu öffnen. Seitdem findet man ihn oft bei den Nachbarn.“

„Solange er nicht auch deren Türen öffnet, ist es nicht so schlimm“, lachte Brody. Brielle stand auf und zwickte Brody in die Seite.

„Wir müssen los. Bleibst du länger in Halfell?“

„Noch ein paar Tage. Ich will Fotos machen und mit Lindsey abklären, ob was renoviert werden müsste.“

„Wenn du mal Lust auf einen Kaffee hast, komm zu uns in den Laden. Auvrays Büchereckchen. Kannst du nicht verfehlen, ist direkt hier die Straße runter an der nächsten Kreuzung.“ Brielle lächelte und sie verabschiedeten sich voneinander. Harper bestellte sich noch einen Kaffee zum Mitnehmen, bevor sie das Diner ebenfalls verließ und zu ihrem neuen Haus zurückkehrte.

 

Kapitel 2

Obwohl es noch hell war, lag das Haus bereits gänzlich im Schatten, als Harper wieder zurück war. Ganz wie Brielle es ihr geraten hatte, fuhr sie in die Garage und verschloss das Tor hinter sich, nachdem sie sicher gegangen war, dass ihr keine Tiere nach drinnen gefolgt waren.

Im Haus selbst lief sie durch alle Räume im Erdgeschoss, schaltete die Lampen ein und ließ die Jalousien herunter. Sie schaute zu der Treppe und beschloss schließlich, dass sie das Gästezimmer hier im Erdgeschoss beziehen würde. Es reichte völlig aus und ein wenig unheimlich fand sie es dann auch ganz allein in diesem riesigen Haus.

Harper holte ihre Reisetasche aus dem Wagen und machte es sich schließlich im Wohnzimmer bequem. Mrs. Caldwell hatte ihr die Zugangsdaten für das WLAN aufgeschrieben, sodass sie sich die Zeit mit Musik und Serien vertreiben konnte. Zum Glück hatte sie an ihren Laptop gedacht.

Mrs. Caldwell hatte den Kühlschrank gemäß ihrer Wünsche gefüllt und Harper holte sich einen Milchshake, bevor sie eine Comedyserie aufrief, um die Stille zu vertreiben. Ganz konzentrierte sie sich nicht auf den Inhalt. Immer wieder stellte sich ihr die Frage, was sie machen sollte, wenn sie das Haus nicht verkaufen konnte.

Natürlich konnte sie dann versuchen, es zu vermieten, um keine Verluste zu machen. Mrs. Caldwell konnte sich sicher weiterhin als Verwalterin um das Gebäude kümmern und auch Ansprechpartnerin für potenzielle Mieter sein. Aber Harper erinnerte sich genau an den Ausdruck in den Augen ihrer Mutter, als sie diese Möglichkeit ihr gegenüber erwähnt hatte.

Die Missbilligung hatte sie verstanden, die Resignation hingegen nicht. Und schon gar nicht verstand sie die Furcht, die sie immer wieder in den Augen ihrer Mutter aufblitzen sah, wenn es um das Haus ging. Wenn sie aber nachhakte, was denn los war, wollte ihre Mutter nicht darüber reden. Sie hatte ja auch schon nur mit großem Widerwillen über ihre Vergangenheit hier in Halfell gesprochen.

Dieses Geheimnis würde sie hier nicht lösen können, aber die Fragen ließen sie nicht los. Was war passiert? Warum hatte ihre Mutter ihr nie von Catherine und Halfell erzählt? Da musste einfach mehr dahinterstecken als bloß ein alter Familienstreit.

Sie überlegte, ihrer Mutter eine erneute Nachricht mit all ihren Fragen zu schicken, verwarf den Gedanken aber gleich wieder. Schon auf die letzten fünf Nachrichten dieser Art hatte sie keine Antworten bekommen. Da ihre Großmutter und auch ihr Vater bereits vor ihrer Geburt gestorben waren, blieb allerdings nur ihre Mutter, um ihr Antworten zu geben.

Sobald sie in New York war, wollte sie versuchen mit ihr zu reden. Im Moment ging es zunächst um das Haus. Harper stand auf und begutachtete den Kamin. Zwar war es zu warm, um ein Feuer zu machen, aber für einen kurzen Moment ging es gewiss. Ein Foto von dem Kamin mit dem prasselnden Feuer machte sich bestimmt gut für den Verkauf.

Da es durch die Bäume bereits dunkel im Wohnzimmer war und sie die Lampe eingeschaltet hatte, würde das Bild sicher eine gemütliche Atmosphäre vermitteln. Zumindest hoffte sie das, als sie den Kamin entzündete. Sie dimmte die Lampe ein wenig und machte schließlich ein paar Fotos, die sie gleich Amirah schickte. Danach löschte sie das Feuer wieder.

Etwas unschlüssig, was sie nun machen sollte, lief Harper das Wohnzimmer und die Küche ab. Es war noch zu früh, um ins Bett zu gehen, aber einen Spaziergang wollte sie auch nicht machen. Zu groß war die Angst, sie könnte dem Wolf begegnen, von dem schon andere berichtet hatten.

Sie warf einen Blick auf ihren Laptop, aber große Lust auf eine Serie oder einen Film hatte sie auch nicht. Das würden ein paar langweilige Tage werden. Halfell hatte auf sie nicht den Eindruck gemacht, dass man viel unternehmen konnte.

Da es noch hell war, beschloss sie doch einen kurzen Spaziergang ums Haus zu machen. Auch wenn ein Wolf gesichtet worden war, blieb er vielleicht von Häusern fern. Zumindest hoffte sie das.

Draußen war es angenehm warm und für einen Moment stand Harper einfach in der Sonne. Dann ging sie los, stellte aber schnell fest, dass ihre Ballerinas nicht geeignet waren für einen Spaziergang über die Wiese.

Grummelnd kehrte sie zur Veranda zurück und setzte sich auf die Holzbank, die hier stand. Sie dachte an ihre Mutter und versuchte sich vorzustellen, wie diese hier gelebt hatte und über die Wiese getobt war. Ob es hier oder hinten eine Schaukel und andere Spielgeräte gegeben hatte?

Es war ein schöner Ort. Halfell war zu klein für Harpers Geschmack, aber das kam sicher daher, dass sie in New York aufgewachsen war. Sie war einfach die Großstadt gewöhnt. Im Urlaub genoss sie es, an ruhigen Orten wie diesem zu sein.

Das Haus als Ferienhaus zu behalten, war allerdings keine gute Idee. Ein Haus verursachte Kosten und mit ihrem Gehalt konnte sie diese sicher nicht lange begleichen. Wenn sie das Haus vermietete, konnte sie es nicht als Ferienhaus nutzen, ganz abgesehen davon, dass ihre Mutter nicht begeistert sein würde, wenn sie die Pläne vom Verkauf einfach über den Haufen warf.

Es raschelte in einem der Büsche an der Hauswand und Harper zuckte zusammen. Dann schüttelte sie über sich selbst den Kopf. Da würde vermutlich kein Wolf drinstecken, sondern ein Vogel nach Futter suchen oder wie bereits vorhin ein Fuchs herumschleichen.

Neugierig stand sie auf und ging zur Seite. Im Busch raschelte es erneut, dann flog laut schimpfend eine Drossel davon. Harper lachte und lehnte sich an das Geländer der Veranda. An Tiere so direkt am Haus musste sie sich wohl gewöhnen, solange sie hier war.

Nach einer Weile richtete sie sich auf und streckte sich. Die Sonne verschwand langsam hinter den Bäumen und auch wenn sie es nicht laut äußern würde, gruselte sie sich ein wenig in dieser einsamen Gegend.

Zwischen den Bäumen war es mittlerweile komplett dunkel. Wenn sich dort jemand aufhielt, würde sie ihn nicht sehen. Ein Schauder lief ihr über den Rücken und Harper kehrte rasch ins Haus zurück. Sie schloss die Tür hinter sich ab und schob die beiden Riegel vor.

Nach einem Blick auf ihre Ballerinas zog sie diese aus und ging in das Gästebad, um sie zu reinigen. Zum Glück hatte sie immer Ersatzschuhe im Kofferraum. Sie holte sie heraus und stellte sie im Hausflur ab.

Die Zeit bis zum Abend vertrieb Harper sich damit im Internet zu surfen und sich Ferienhäuser in der Umgebung anzusehen. Es gab da sehr schöne Häuser. Vielleicht ließ sich ihre Mutter doch dazu überreden, das Haus zu behalten und zu vermieten.

Schließlich ging sie ins Gästebad, um kurz zu duschen und sich die Zähne zu putzen, bevor sie ins Bett ging. Jetzt, ohne die Musik und das Geräusch des laufenden Laptops, fiel ihr erst auf, wie leise es war. Natürlich gab es Geräusche im und um das Haus. Möbel und Leitungen knackten, ein naher Zweig schlug irgendwo gegen die Hauswand oder ein Fenster.

Sie drehte sich auf die Seite und hoffte, dass sie trotz der für sie ungewöhnlichen Stille schlafen konnte. Der Lärm in der Stadt fiel ihr kaum noch auf, erst jetzt merkte sie, welche Geräuschkulisse sonst um sie herrschte.

Das Klopfen und Knarren im Haus hielt sie jedoch lange wach und schließlich gab sie den Versuch zu schlafen vorerst auf und stand wieder auf. Sie überlegte, sich einen Tee zu machen.

Etwas schlug gegen das Fenster und Harper zuckte heftig zusammen. Ein Zweig konnte das nicht gewesen sein, so tief hingen sie nicht. Vielleicht war ein Tier gegen das Fenster geflogen. Ob es hier Fledermäuse gab?

Harper schüttelte sich. Fledermäuse fand sie unheimlich. Zum Glück gab es eine Klimaanlage im Haus, sodass sie die Fenster nicht geöffnet hatte. Sie hätte nicht im Haus bleiben können, wäre eine Fledermaus hereingelangt.

Als es ruhig blieb, stand Harper auf und verließ das Zimmer. Nur im Licht ihrer Handylampe tappte sie in die Küche und schaltete hier das Licht ein. In einem der Schränke fand die Kamillentee. Sie füllte den Wasserkocher und schaltete ihn ein, dann setzte sie sich auf einen der Stühle und blickte zum Fenster. Da sie die Jalousien vorhin runtergelassen hatte, sah sie nichts, aber auch sonst hätte sie wohl nur ihre Spiegelung im Glas gesehen.

Harper schaute auf ihr Handy. Ihre Mutter hatte ihr bisher nicht geantwortet, auch wenn sie ihre Nachrichten gelesen hatte. Entweder interessierte sie einfach nicht, was Harper plante und wie sie wegen des Verkaufs vorging, oder sie wollte schlicht nichts mit dem Haus zu tun haben.

Der Wasserkocher stellte sich aus und Harper füllte ihre Tasse auf. Nachdenklich lehnte sie sich an die Küchenzeile. Ihre Großtante hatte allein hier gelebt, aber vielleicht gab es noch irgendwo Erinnerungsstücke an ihre Mutter und ihre Großmutter. Fotos waren ihr bei ihrem Rundgang zwar nicht aufgefallen, aber sie hatte in dem großen Schlafzimmer ein Regal mit Fotoalben gesehen.

Dort konnte sie anfangen. Wenn ihre Großtante ihre Mutter und sie als Erben in ihrem Testament aufgenommen hatte, dann hatte sie womöglich nicht alles vernichtet, was auf ihre Mutter hinwies. Morgen konnte sie sich dann auch den Keller und den Dachboden ansehen.

Harper ließ ihren Tee stehen und verließ die Küche. Im Flur macht sie Licht und ging nach oben. Auch hier machte sie erst einmal Licht im Flur und ging schließlich zu dem Schlafzimmer, das wohl Catherine bewohnt hatte.

Die Lampe im Schlafzimmer flackerte, da brauchte sie bald eine neue Glühbirne. Rasch holte Harper sich ein paar der Fotoalben und ging mit ihnen runter ins Wohnzimmer. Nachdem sie sich ihren Tee geholt hatte, machte sie es sich auf dem Sofa bequem.

Im ersten Fotoalbum gab es zwar Farbbilder, sie waren aber eindeutig einige Jahre alt. Die Kleidung, die Frisuren, alles wies auf die Siebziger hin.

„Volltreffer“, murmelte Harper. Ihre Mutter war 1968 geboren, in den Siebzigern war sie ein Kind gewesen. Es gab auch tatsächlich Fotos eines kleinen Mädchens in bunten Kleidern und weiten, luftigen Hosen. Konnte das ihre Mutter sein?

Die Fotos waren nicht beschriftet und Harper erkannte niemanden bis auf Catherine und ihre Großmutter. Ihre Mutter hatte irgendwann nach langen Gesprächen ein Foto ihrer Tante herausgesucht und ihr gezeigt. Catherine sah ihrer Schwester Rachel, Harpers Großmutter, nicht sehr ähnlich.

Catherine war klein, zierlich und hatte blonde Locken, Rachel war zwar ebenfalls zierlich, aber größer und hatte dunklere, glatte Haare. Der Unterschied war allerdings in ihren Gesichtern noch deutlicher zu sehen. Während Catherine ein zartes Puppengesicht hatte, waren Rachels Züge derber und ihre Nase eindeutig zu groß für ihr Gesicht. Kurz schoss es Harper durch den Kopf, dass sie Glück hatte, dass sich diese Nase nicht durchgesetzt hatte.

Nachdenklich betrachtete sie die Bilder ihrer Großmutter und ihrer Großtante. Konnte das vielleicht bereits ein Hinweis darauf sein, warum ihre Mutter sich so seltsam verhielt? Waren die beiden womöglich Halbschwestern und hatten sich einfach nicht leiden können?

Harper erinnerte sich an eine Mitschülerin, die auch keinen Kontakt zu ihrer Halbschwester hatte. Sie gab ihr und ihrer Mutter die Schuld an der Scheidung ihrer Eltern. Es war durchaus möglich, dass in ihrer eigenen Familie etwas ähnliches geschehen war.

Sie seufzte leise. Im Gegensatz zu ihr konnte Amirah ihr all ihre Cousins und Cousinen, Onkel und Tanten und sonstige Verwandte egal welchen Grades nennen, ihr deren Berufe und Lebensläufe aufzählen und dies bis zu ihrer Urgroßmutter, die sogar noch lebte. Harper kannte gerade einmal ihre Mutter und wusste selbst über sie kaum etwas, wie sie festgestellt hatte.

Sie griff nach dem nächsten Album und stellte fest, dass es sich um ein Hochzeitsalbum handelte. Catherine strahlte in ihrem schlichten weißen Hochzeitskleid in die Kamera, der Mann neben ihr musste wohl ihr Ehemann sein. Er lächelte beinahe so strahlend wie sie.

Hier war zwar auch nichts beschriftet, aber Harper vermutete, dass auf den ersten Seiten die Fotos mit der Familie zu sehen waren. Catherine und Rachel waren deutlich jünger als in dem ersten Album, anscheinend hatte ihre Großtante früh geheiratet.

Sie blätterte sich kurz durch das Album, legte es aber schnell beiseite. Die Leute waren ihr fremd und ihre Mutter war zu dem Zeitpunkt wohl noch nicht auf der Welt gewesen. Das dritte Album schließlich zeigte wieder viele Bilder von Rachel mit einem kleinen Mädchen.

Harper schätzte das Kind auf vielleicht vier oder fünf Jahre. Ihre Mutter hatte ihr nicht gesagt, wann sie mit ihren Eltern Halfell verlassen hatte, aber da es sonst kein Kind auf den Fotos zu sehen gab, musste dies ihre Mutter sein.

Das Album war nur zur Hälfte gefüllt, stellte Harper fest, als sie weiterblätterte. Das letzte Foto war eine Großaufnahme ihrer Mutter, die mit großen, kindlichen Augen in die Kamera blickte und weit lächelte. Verwirrt schaute Harper auf die beiden letzten Seiten des Albums.

Wenn Catherine die Fotos aufbewahrt hatte, waren ihr ihre Schwester und ihre Nichte sicher noch immer wichtig gewesen. Warum hatte es keinen Kontakt zwischen ihrer Mutter und ihr gegeben?

Harper seufzte und legte das Album weg. Sie griff nach ihrer Tasse, nur um festzustellen, dass ihr Tee mittlerweile kalt geworden war. Es störte sie nicht sehr, immerhin ließ er sich so leichter trinken.

Während sie an ihrem Tee nippte, dachte sie über die Bilder nach. Viel sagten sie nicht aus. Keine Beschriftung, nicht einmal Jahreszahlen, nichts. Sie hatte bloß ihre Vermutungen und sie bezweifelte, dass die restlichen Alben aufschlussreicher sein würden.

Nach einem Blick auf ihr Handy beschloss sie, schon jetzt in den Keller zu gehen. Vielleicht gab es dort irgendetwas, was für sie von Interesse war.

 

Kapitel 3

Der Keller war erstaunlich groß und aufgeräumt. Sie hatte einen vollgestellten, staubigen Raum erwartet, wurde aber positiv enttäuscht. Hier konnte sie leichter nach alten Sachen ihrer Mutter suchen.

In den ersten beiden Schränken entdeckte sie bloß alte, zum Teil in Kleidersäcken verpackte Kleidung. Der dritte Schrank enthielt Bücher. Neugierig sah Harper sich diese an und stellte fest, dass die meisten alte Sachbücher waren. Die Themengebiete waren völlig unterschiedlich, sie fand Geschichtsbücher neben medizinischen Fachbüchern, Atlanten neben Büchern über Forstwirtschaft. Irgendwer in diesem Haus hatte wohl gerne gelesen. Auch im nächsten Schrank waren Bücher aufbewahrt, hier nun tatsächlich nur Romane.

Seufzend sah Harper die nächsten Schränke durch, fand aber nichts von Interesse. Einer enthielt eine Sammlung alter Schallplatten, in einem anderen entdeckte sie eine wuchtige Nähmaschine, mehrere abgedeckte Stoffrollen und eine Holzkiste voller Wolle. Ansonsten gab es noch mehr Kleidung. Auch Catherines Hochzeitskleid fand sie in einem der Schränke, sorgfältig in einem Kleidersack aufbewahrt und immer noch strahlendweiß.

Es knarrte und Harper hielt inne. Das hatte geklungen wie die Kellertür. Sie ging langsam auf die Treppe zu und schaute zur Tür hoch, aber die stand natürlich immer noch offen. Wer sollte sie auch bewegen? Sie war allein im Haus und sie hatte abgeschlossen. Vermutlich hatte irgendwas anderes geknarrt.

Sie schloss den zuletzt inspizierten Schrank wieder und ging nach oben. Ein wenig mulmig war ihr doch, als sie den Keller verließ, aber in der Küche war niemand. Die Tür knarrte wieder, als sie sie schloss, und Harper runzelte leicht die Stirn. Es war eindeutig das gleiche Geräusch, das sie unten im Keller gehört hatte.

Die Tür war sehr leichtgängig. Vielleicht hing sie nur schief in den Angeln und bewegte sich deswegen immer etwas wie von selbst. Sie hatte einen alten Küchenschrank, bei dem eine Tür nach dem Öffnen ebenfalls immer etwas hin und her schwang, bevor sie stillstand.

Harper schüttelte den Kopf. Sie war wirklich albern. Da hätte sie gleich dran denken können. Dieses Haus und die einsam gelegene Lage ließen sie einfach überreizt reagieren.

Sie machte sich auf den Weg nach oben, um sich auf dem Dachboden umzusehen. Dieser überraschte sie genauso wie der Keller. Irgendjemand – vermutlich Catherine – hatte den weitläufigen Raum in ein Atelier verwandelt. An den Wänden und vor den Dachfenstern standen Staffeleien, teilweise noch mit halbfertigen Leinwänden drauf, in der Mitte des Raumes befand sich ein großer Tisch mit Malutensilien und in einer Ecke stapelten sich Bilder.

Harper ging langsam zwischen den Staffeleien herum und betrachtete die Bilder. Manche zeigten den Wald, einige das Meer oder Berge. Von Kunst verstand Harper nicht viel, aber der Stil wirkte auf sie unterschiedlich. Vielleicht hatte Catherine mit einer Freundin gemeinsam gemalt.

Von wem die Bilder auch waren, sie verrieten ihr auch nichts über ihre Mutter. Da blieb wohl doch nur, ihre Mutter so lange zu löchern, bis diese endlich auf all ihre Fragen antwortete. Aber das würde sicherlich dauern, so stur wie ihre Mutter war.

Harper verließ den Dachboden und kehrte langsam in das Wohnzimmer zurück. Sie sank auf das Sofa und schaltete ihr Handy ein. Während sie noch überlegte, ob sie doch noch einmal ihrer Mutter schreiben sollte, hörte sie ein Knarren. Irritiert hob sie den Kopf. Das hatte wieder wie die Tür zum Keller geklungen.

Von ihrem Platz konnte sie einen Teil der Küche einsehen. Natürlich war da nichts. Dennoch stand sie auf und schaute zu der Kellertür. Die stand tatsächlich einen Spaltbreit offen. Vielleicht war das Schloss alt und hielt nicht mehr richtig. Sie ging rüber, machte die Tür wieder zu und schloss diesmal auch ab.

Kopfschüttelnd kehrte sie ins Wohnzimmer zurück. Diese Szene passte ganz hervorragend in einen Horrorfilm. Ein altes Haus, es war spätnachts, sie war allein und eine Tür ging von alleine auf. Eigentlich fehlte es jetzt nur noch, dass sie irgendwelche Schritte hörte oder Schatten sah.

Schmunzelnd griff sie nach einem der Fotoalben. Sie fotografierte eines der Kinderbilder ab und schickte es ihrer Mutter, direkt gefolgt von der Frage, ob sie das war. Sobald ihre Mutter die Nachricht las, würde ihr erneut bewusstwerden, dass Harper nicht aufgeben würde. Sie wollte mehr über ihre Familie wissen.

Nach einem Blick auf die Uhr beschloss Harper wieder ins Bett zu gehen. Vielleicht konnte sie jetzt endlich schlafen. Entgegen ihrer sonstigen Gewohnheit ließ sie das Licht im Wohnzimmer und im Flur an. Falls sie noch einmal aufstand in der Nacht, musste sie nicht durch die Dunkelheit gehen. Die ungewohnte Größe des Hauses machte sie tatsächlich nervös, sie konnte es auch vor sich selbst nicht mehr leugnen.

 

Irgendwann schlief Harper ein, nachdem sie sich Musik angemacht hatte, um die ungewohnten Geräusche des Hauses zu übertönen. Sie erwachte am frühen Vormittag, während eines ihrer Lieblingslieder lief. Einen Moment blieb sie noch liegen, dann richtete sie sich gähnend auf und schaltete die Musik aus.

Sie stand auf und ging verschlafen in die Küche. Dabei wunderte sie sich, dass im Flur und im Wohnzimmer Licht brannte, dann fiel ihr aber ein, dass sie es ja selber in der Nacht angelassen hatte. Sie schaltete die Lampen aus und setzte einen Kaffee auf.

Während sie überlegte, ob sie bereits frühstücken wollte, piepte ihr Handy. Amirah schickte ihr auf ihre letzten Bilder ein paar Smileys und hochgereckte Daumen. Grinsend schüttelte Harper den Kopf. Was den Hausverkauf anging, konnte sie sich auf Amirah verlassen. Sie war prima in ihrem Beruf.

Da sie mit Mrs. Caldwell erst am Nachmittag verabredet war, beschloss Harper in dem Diner zu frühstücken. Sie wollte nicht den halben Tag allein im Haus verbringen.

Mit einer Tasse Kaffee ging sie ins Bad, wusch sich und zog sich um. Nachdem sie den Kaffee ausgetrunken hatte, machte sie sich auf den Weg in die Stadt. Es herrschte etwas mehr Verkehr als am vergangenen Tag, war aber immer noch weit von dem entfernt, was sie von New York gewohnt war.

Die Bedienung im Diner war heute eine andere, eine junge Frau, die noch nicht lange aus der Schule raus sein konnte. Sie strahlte gute Laune aus, nahm Harpers Bestellung mit einem weiten Lächeln entgegen und kam schon bald mit ihrem Kaffee zu ihr.

Harper dachte an ihr Gespräch mit Brielle und beschloss, deren Laden einen Besuch abzustatten. In einer Buchhandlung konnte sie die Zeit gut totschlagen. Die Bücher im Keller fielen ihr ein. Vielleicht konnte Brielle einschätzen, ob sie noch etwas wert waren oder ob sie sie direkt wegwerfen konnte. Wenn sie das Haus verkaufte, würde sie alle privaten Sachen ihrer Großtante ohnehin ausräumen müssen.

Das Frühstück war genauso üppig wie der Burger und Harper verließ das Diner deutlich gesättigt. Es lohnte sich kaum, mit dem Wagen bis zur Buchhandlung zu fahren, der Weg war vom Diner nicht weit. Sie stellte das Auto auf dem Parkplatz ab und betrat die Buchhandlung.

Ein aromatischer Duft nach Kaffee, Äpfeln und Karamell stieg ihr in die Nase und Harper sah sich verwundert um. Es war eindeutig eine Buchhandlung, an allen Wänden zogen sich Bücherregale entlang. Aber dieser Duft sprach eher für ein Café.

Den Grund dafür entdeckte sie, als sie durch eine offene Tür in den Nebenraum schaute. Hier befand sich tatsächlich ein Café und ein paar Gäste saßen hier, tranken Kaffee und lasen Zeitung oder spielten an ihren Handys herum. Brielle lief herum und verteilte Kaffeebecher.

„Hallo.“ Harper drehte sich um, als hinter ihr eine männliche Stimme erklang. „Und willkommen. Kann ich Ihnen helfen oder wollen Sie sich nur umschauen?“ Hätte sie schätzen müssen, hätte sie getippt, dass der Mann Brielles Bruder war. Sie hatten ähnliche Gesichtszüge und die Augen waren beinahe die gleichen.

„Ich hab gestern zufällig Brielle kennengelernt“, dabei wies sie in Richtung des angrenzenden Raumes, „und war jetzt neugierig auf den Laden, den sie erwähnt hatte.“ Der Mann grinste.

„Ah, Miss Solomon. Sorry, falls Brielle genervt hat. Sie ist furchtbar neugierig.“

„Hat sie nicht, ganz im Gegenteil. Ich fand das Gespräch sehr angenehm.“

„Das werde ich ihr nicht verraten, sonst hab ich ja gar keine Munition mehr gegen sie.“ Der Mann lachte. „Ich bin Jeremiah Auvray, Brielles Bruder. Sie hat bereits gejammert, dass wir das schöne Haus der Solomons wohl nicht kaufen können.“

„Meine Maklerin wird mir vermutlich raten, nicht zu weit runterzugehen mit dem Preis.“

„Würde ich auch nicht.“ Jeremiah zwinkerte ihr zu. „Ist doch klar, dass das Haus und das ganze Grundstück ihren Preis haben. Wie wäre ein Kaffee? Ich hol uns einen. Oder du setzt dich zu Brielle. Aber Vorsicht, unsere Cafékatzen laufen frei rum.“

„Cafékatzen?“ Irritiert sah Harper Jeremiah an und der grinste.

„Brielle ist eine Katzennärrin. Irgendwo hat sie was von einem Katzencafé gelesen und daraufhin beschlossen, unsere Katzen auch ins Café zu lassen. Und was soll ich sagen … Die Gäste lieben es.“ Jeremiah zuckte mit den Schultern. „Manche sitzen einfach ein, zwei Stunden mit Kaffee und Kuchen da und bespaßen die Katzen.“

„Klingt irgendwie cool.“

„Ich hab es geahnt. Ich kann mit Büchern nicht punkten.“

„Vielleicht mit einer Katze dazu.“ Harper lachte leise auf und Jeremiah grinste.

„Manchmal verirrt sich eine hierher. Die Tür steht ja immer offen und die Gäste können hin und her wechseln, wie sie wollen. Sie können ihre Bücher auch genauso drüben im Café bezahlen oder ihren Kaffee hier.“

„Da kann man gleich anfangen in seinem neuesten Schmöker zu lesen.“ Die alten Bücher ihrer Großtante fielen ihr wieder ein. „Ähm, sorry, wenn ich so mit der Tür ins Haus falle, aber ich habe einen Haufen alter Bücher im Keller meiner Tante gefunden. Ich will sie nicht behalten, aber vielleicht gibt es Abnehmer für sie.“

„Ich kann sie mir ansehen. Wie wäre heute Nachmittag? Da löst mich Brielles Freund ab.“

„Heute Nachmittag bin ich schon mit der Haushälterin meiner Großtante verabredet. Morgen vielleicht?“

„Brielle hat morgen Vormittag frei. Sofern sie noch keine anderen Pläne hat, kann sie sicher bei dir vorbeikommen.“ Jeremiah ging zu der Verbindungstür. „Hey, Brielle. Komm mal eben.“ Brielle strahlte, als sie Harper sah.

„Hi. Wie geht’s?“

„Gut, danke.“

„Wie sieht es mit deinen Plänen für morgen aus, Brielle? Harper meinte grad, sie hat ein paar alte Bücher, die sie loswerden will.“

„Ich kann vorbeischauen.“ Brielle grinste. „Dann komm ich auch dazu, das Haus mal etwas von innen zu sehen.“ Harper lachte.

„Okay, Hausführung und Bücherschauen, das sollte klappen. Wann kannst du kommen? Neun? Zehn?“

„Machen wir neun.“ Brielle wies auf das Café. „Ich geh wieder zurück. Komm einfach rüber, wenn du mit Stöbern fertig bist.“ Eine Katze strich an Harpers Bein entlang und sie schmunzelte.

„Mach ich.“ Da sie noch etwas Zeit hatte bis zu ihrer Verabredung mit Mrs. Caldwell, schaute sie sich tatsächlich die Bücher an und setzte sich schließlich in das Café. Neben verschiedenen Kaffeespezialitäten gab es auch Gebäck und Kuchen und sie bestellte sich einen Apfelmuffin.

Eine Katze machte es sich auf ihrer Sofalehne bequem und Harper kraulte sie sanft hinter den Ohren. Nachdem sie ihren Muffin gegessen hatte, nahm sie ihr Handy und schrieb ihrer Mutter, was sie im Keller gefunden hatte.

Verkauf alles oder schmeiß es weg. Ich will nichts von den Sachen.

Harper seufzte, als sie die Antwort durchlas. Da hätte sie ihrer Mutter gar nicht schreiben müssen. Aber nun hatte sie auch ihr Okay dafür, das Haus von allen persönlichen Gegenständen ihrer Großtante zu leeren. Die Möbel würde sie lassen, wie sie waren. Vielleicht gefiel den potentiellen Käufern auch das eine oder andere Teil.

Die Katze bewegte sich und setzte sich auf Harpers Schoß. Leise schnurrend stupste sie mit dem Kopf gegen Harpers Bauch, bevor sie sich einrollte. Harper lächelte und kraulte die Katze wieder hinter den Ohren.

Weitere Katzen schlenderten umher, manche suchten sich einen Gast aus und ließen sich kraulen oder jagten nach den Katzenangeln, mit denen manche Gäste gelegentlich spielten. Es war gemütlich und Harper war froh, dass sie nicht allein im Haus geblieben war. Hier ließ sich die Zeit deutlich besser vertreiben.

Leider verging sie dafür auch gefühlt umso schneller. Nach zwei weiteren Kaffees musste Harper wieder aufbrechen, um pünktlich zu ihrem Termin mit Mrs. Caldwell zu sein. Sie verabschiedete sich von Brielle und verließ den Laden, wobei ihr beinahe eine Katze mit nach draußen folgte.

Auf der Fahrt zurück bemerkte sie einen Wagen, der ihr folgte und schließlich hinter ihr auf das Grundstück einbog. Sie runzelte die Stirn, atmete dann aber erleichtert auf, als sie Mrs. Caldwell erkannte. Wen oder was sie eigentlich erwartet hatte, wusste sie gar nicht.

Vielleicht lag es an der einsamen Lage des Hauses, dass sie etwas nervös war. Sie hatte bisher weder Autos gesehen, noch gehört, die hier vorbeifuhren. Vermutlich schlugen die meisten Leute den Weg nach Süden ein, Richtung Montreal.

Harper hielt auf dem Stellplatz vor dem Haus, um Mrs. Caldwell direkt in Empfang zu nehmen. Mit energischen Schritten kam die Frau auf sie zu und hielt ihr eine Hand mit Kratzspuren entgegen.

„Hallo. Lindsey Caldwell. Miss Solomon? Freut mich, Sie jetzt auch persönlich kennenzulernen.“

„Freut mich ebenso. Bitte, kommen Sie rein.“ Harper ging vor und schloss die Tür auf. „Möchten Sie einen Kaffee oder einen Tee?“

„Ein Wasser, danke.“ Mrs. Caldwell folgte ihr in die Küche und nahm auf ihre Aufforderung hin Platz. Harper nahm eine Flasche Wasser aus dem Kühlschrank und stellte zwei Gläser auf den Tisch, dann setzte sie sich ebenfalls.

„Also, ich hatte es ja schon angesprochen“, begann sie. „Ich will das Haus verkaufen.“

„Also, ich kümmere mich natürlich gerne weiterhin um das Haus, bis Sie einen Käufer haben. Schau nach dem Rechten und so. Es gibt ja hier keine Nachbarn, die ein wenig darauf achten können.“

„Genau. Die Möbel lass ich drin, vielleicht wollen die Käufer ja auch was übernehmen. Aber die privaten Sachen von meiner Großtante müssen natürlich weg. Und dafür brauche ich Ihre Hilfe.“

„Das schaffen wir alles. Ich kümmere mich ja um ein paar Häuser, die nur als Ferienhäuser genutzt werden und habe da Kontakt zu unterschiedlichen Firmen. Wollen Sie die Sachen entsorgen oder zu sich bringen?“

„Hauptsächlich entsorgen. Die ganze alte Kleidung und das alles … das kann weg. Ich hab im Keller aber auch ein paar alte Bücher gefunden, da möchte ich sehen, ob sich für die jemand findet, sonst können die auch weg.“

„Da sollten Sie sich an die Geschwister Auvray wenden. Die haben eine Buchhandlung und können Ihnen da auf jeden Fall helfen.“

„Das habe ich bereits.“

„Ah, sehr gut.“ Mrs. Caldwell lächelte. „Wie ist es mit Catherines Bildern? Waren Sie schon auf dem Dachboden?“

„Ja. Ehrlich gesagt, hab ich für die keine Verwendung. Die können auch weg. Oder … keine Ahnung. Wie ist es mit Freunden von Catherine? Gibt es da jemanden, der womöglich etwas als Erinnerungsstück haben möchte?“ Harper hatte immer nur mit Mrs. Caldwell gesprochen. Weder hatte die bisher Freunde erwähnt, noch hatte sich jemand von sich aus an sie gewandt. Hatte Catherine niemanden gehabt oder wollten ihre Freunde einfach nicht mit der unbekannten Großnichte reden?

„Nun, da gibt es eigentlich nur noch Caroline. Catherine und ihre Freunde waren nun einmal bereits etwas älter. Sie hat in den letzten Jahren viele ihrer Freunde verloren.“ Mrs. Caldwell seufzte leise auf. „Und um Caroline steht es auch nicht gut. Meine Tochter ist ihre Nachbarin und hat sie oft hierhergefahren, wenn sie und Catherine wieder zum Tee und zum Malen verabredet waren. Sie war jetzt kürzlich erst im Krankenhaus. Also, Caroline, nicht meine Tochter. Es ist ihr Herz. Ich werde mal mit ihrer Tochter sprechen. Aber ich glaube, jetzt an ihre Stunden in Catherines Atelier erinnert zu werden, täte ihr nicht gut.“

„Verstehe. Es drängt ja noch nicht. Ich habe gerade erst einer Freundin ein paar Fotos geschickt. Sie will übermorgen selber hierherkommen, um auch Bilder zu machen. Das war nur für einen ersten Eindruck. Sie meint, man kann das Haus gut verkaufen.“

„Sie wollen es wirklich nicht behalten?“ Mrs. Caldwell sah sie prüfend an und Harper schüttelte leicht den Kopf.

„Ich kann es mir schlicht nicht leisten“, gab sie zu und lächelte schief. „Vielleicht käme ich, wenn ich es vermiete, irgendwo bei null raus, aber ich will kein Risiko eingehen.“

„Das verstehe ich. An so alten Häusern muss ja immer mal etwas gemacht werden.“

„Eben. Und da reicht auch Catherines Geld nicht ewig. Es ist für meine Mutter und mich einfacher, wenn wir das Haus verkaufen.“

„Soll ich vor Ort sein, wenn es zu Besichtigungen kommt?“

„Das wäre vermutlich nicht schlecht. Wenn Amirah, das ist meine Freundin und gleichzeitig Maklerin, Fragen hat, können Sie sie ihr sicher am besten beantworten.“ Harper seufzte und sah Mrs. Caldwell fragend an. „Sie leben hier. Wie sehen Sie die Chancen, dass jemand das Haus kauft?“ Amirah konnte noch so oft sagen, dass es gut aussah – sie war letztlich noch nie hier gewesen. Halfell bot nicht viel und Harper konnte sich nicht vorstellen, dass hier oft Leute herzogen.

„Ganz ehrlich? Schwierig. Nicht unmöglich, sicher nicht, aber schwierig. Hier ist in den letzten zehn Jahren nur eine Frau zugezogen und das war die langjährige Freundin unseres Tierarztes.“ Mrs. Caldwell zuckte mit den Schultern. „Aber ich kann mir vorstellen, dass irgendwer das Haus gerne als Ferienhaus kaufen wird. Sowas ist wohl gerade in. Meine Tochter hat auch eines und vermietet es das Jahr über, bis auf einen Monat im Sommer, wenn sie selber dort Urlaub macht.“ Sie lächelte schief. „Und wie Sie schon sagten, sie kommt da nur bei ungefähr null raus. Aber manche haben da mehr Glück. Oder nehmen einfach mehr.“

„Also bleibt mir nur abwarten und schauen, ob das Geld reicht, sollte etwas sein, bevor es neue Käufer gibt.“

„Ich fürchte, so ist es. Aber seien Sie beruhigt, das Haus ist in einem guten Zustand. Catherine hat es in den letzten Jahren komplett renovieren lassen.“ Mrs. Caldwell lachte leise. „Es sieht alt aus, aber sie hat alles neu machen lassen. Ein neuer Anstrich und jemand, der sich diese knarrenden Türen mal ansieht, mehr braucht es momentan nicht.“

„Dann hoffe ich, dass es so bleibt, bis es einen Käufer gibt und der Vertrag unterschrieben ist.“ Harper zog die Nase kraus. Wenn der ausblieb, saß sie da mit diesem Haus. Dann blieb ihr tatsächlich nichts weiter übrig, als es zu vermieten, um zumindest grobe Verluste auszugleichen. Ein wenig Geld hatten sie und ihre Mutter von Catherine zwar auch geerbt, aber lange würde es nicht reichen.

Sie fragte sich, womit Catherine und ihr Mann wohl ihr Geld verdient hatten. Ihre Tante war ganz offensichtlich reich gewesen. Auch dazu hatte ihre Mutter ihr gar nichts erzählen wollen. In Harpers wildesten Vorstellungen gehörte ihre Großtante einer kriminellen Vereinigung an und hatte daher ihr Vermögen. Aber das war natürlich Unsinn.

Hoffentlich.

 

Kapitel 4

Nachdem sie mit Lindsey, die ihr schnell das Du angeboten hatte, durch das Haus gegangen war und abgeklärt hatte, was alles bereits entsorgt werden konnte, hatte Lindsey ihr versprochen alles in die Wege zu leiten. Danach hatten sie sich verabschiedet und nun saß Harper mit einer Tasse Tee auf der Veranda und überlegte, was sie machen sollte.

Es war noch früh und entsprechend hell, aber im Haus machten sich bereits die ersten Schatten bemerkbar. Sie wunderte sich, dass Catherine die Kiefern so nah am Haus hatte stehen lassen. Harper hätte sie sofort gefällt. Sie nahmen Licht weg und bei einem starken Sturm waren sie ebenfalls eine Gefahr. Nicht auszudenken, wenn einer von diesen Bäumen, geschweige denn mehrere, auf das Haus stürzten.

Lindsey hatte auf diese Frage keine Antwort gehabt. Die Kiefern, die direkt um das Haus standen, hätte Catherine fällen können, immerhin handelte es sich um ihr eigenes Grundstück. Sie hatte den Ausblick von ihrem Atelier in die Bäume allerdings immer genossen, wusste Lindsey Harper zu berichten.

Harper war es im Grunde egal. Sie würde nur noch ein paar Tage bleiben. Am Samstag würde sie Amirah herumführen und dann entweder mit ihr zusammen am Sonntagmorgen aufbrechen oder spätestens am Montag die Rückreise antreten. Sie zog den Sonntag vor. Immerhin hatte sie nichts weiter im Haus zu erledigen, den Rest konnte Lindsey übernehmen. Und sobald Amirah ihre Bilder hatte, musste sie auch gar nicht mehr nach Halfell kommen.

Sie leerte ihre Tasse und stellte sie neben sich auf die Bank. Wenn sie sich jetzt etwas zu essen holte, konnte sie den Abend gemütlich vor ihrem Laptop verbringen, sich ein paar Filme ansehen und dann schlafen gehen. Vielleicht würde sie noch einen Kaffee bei Brielle trinken. Die Vorstellung, jetzt noch eine oder zwei Stunden mit einer Katze im Schoß dazusitzen, hatte etwas Angenehmes, Beruhigendes.

Entschlossen stand Harper auf und brachte ihre Tasse in die Küche. Dabei bemerkte sie, dass die Kellertür einen Spaltbreit offenstand. Vermutlich hatte sie sie bei ihrem Rundgang mit Lindsey nicht richtig abgeschlossen.

Sie holte ihre Handtasche, in der sie den Schlüsselbund aufbewahrte, und kehrte in die Küche zurück. Verwirrt sah sie auf die Küchentür. Sie stand noch weiter offen. Hatte sie beim Weggehen einen solch starken Luftzug erzeugt, dass die Tür mitgeschwungen war?

Wenigstens hatte sie das Licht ausgeschaltet. Sie schloss die Tür, drehte den Schlüssel und machte sich auf den Weg zur Haustür. Dann zögerte sie kurz und schaute den dunklen Flur entlang. Sich selbst eine Idiotin nennend, machte sie Licht im Flur und im Wohnzimmer und ließ hier die Jalousien schon einmal herunter. Albern oder nicht, sie wollte nicht in ein dunkles Haus zurückkehren.

Als sie in ihrem Wagen saß, warf sie einen Blick auf das Haus und die Kiefern, die es umgaben. Im Sonnenlicht wirkte das Bild ruhig, malerisch. Stellte sie sich das Ganze jedoch bei wolkenverhangenem Himmel oder gar Sturm vor, verflog dieser Eindruck sofort wieder. Bei völliger Dunkelheit wollte sie das Haus lieber auch nicht anfahren.

Sie schüttelte den Kopf. Als Kind hatte sie sich vor Geistern und Gruselgeschichten gefürchtet, aber sie dachte eigentlich, sie hätte diese Furcht mit den Jahren abgelegt. Immerhin konnte sie auch Horrorfilme mit ihren Freunden gucken. Andererseits hatte sie immer noch Probleme mit Filmen, die in Geisterhäusern spielten.

Leise schnaufend startete sie den Wagen und machte sich auf den kurzen Weg nach Halfell, wobei sie schmunzelte. Genau betrachtet befand sie sich noch immer in Halfell, aber irgendwie erschienen ihr das Haus und die Kleinstadt seltsam getrennt.

Diesmal hielt sie nicht am Diner, sondern fuhr etwas herum, bis sie eine Pizzeria gefunden hatte. Sie beschloss nach ihrem Cafébesuch gleich zwei Pizzen zu holen, dann musste sie morgen nicht noch einmal los und hatte auch direkt etwas zum Frühstück.

Als sie an der Kirche vorbeikam und dahinter den Friedhof entdeckte, überlegte sie, ob sie an Catherines Grab gehen sollte. Es kam ihr seltsam vor, immerhin hatte sie Catherine gar nicht gekannt. Andererseits war sie neugierig, ob sie noch weitere Gräber ihrer Familie hier entdecken würde.

Sie stellte ihren Wagen auf dem Besucherparkplatz der Kirche ab und stieg aus. Das schlichte Steingebäude lud sie geradezu ein, kurz hineinzugehen und es sich von innen anzusehen. Harper zögerte kurz und warf einen Blick auf ihr Handy, um nach der Uhrzeit zu sehen. Sie hatte noch jede Menge Zeit, bevor es richtig dunkel wurde.

Außerdem wusste sie ohnehin nicht, wo Catherine begraben war. Ohne dieses Wissen würde es lange dauern, bis sie das Grab gefunden hatte. Halfell mochte nicht groß sein, aber der Friedhof machte einen ausgedehnten Eindruck auf sie. Vielleicht konnte ihr jemand in der Kirche dabei helfen, das Grab schneller zu finden.

Im Inneren der Kirche war es kühl und dunkel, eine Kombination, die Harper bereits von anderen Kirchen kannte, die sie besichtigt hatte. Außer ihr gab es nur eine weitere Besucherin. Die junge Frau saß in einer der Bänke, einen Skizzenblock auf dem Schoß und dicke Kopfhörer auf den Ohren. Sie hatte Harper bestimmt nicht bemerkt und war vermutlich keine Kirchenangestellte.

Harper ging langsam weiter, betrachtete die Bänke mit den Schnitzarbeiten, die Fresken an den Wänden und der Decke und die Stuckarbeiten, die alles durchzogen. Es war ein schönes Gebäude, von innen noch mehr als von außen.

Vor dem Altar blieb sie stehen und sah sich um, ob sie nun jemanden entdecken konnte, aber hier war niemand. Da musste sie doch auf eigene Faust losziehen. Brielle wusste sicher, an wen sie sich wenden musste, wenn sie erfahren wollte, wo sich ein bestimmter Grabplatz befand. Sie konnte sie einfach morgen fragen.

Beim Rausgehen bemerkte sie, dass die junge Künstlerin sie anstarrte. Auf ihr Hallo antwortete sie nicht, aber da sie noch immer ihre Kopfhörer trug, hörte sie vermutlich nichts. Harper lächelte bloß und verließ die Kirche. Sie blickte zum Friedhof rüber, beschloss dann aber, tatsächlich erst mit Brielle zu sprechen, bevor sie sich auf gut Glück auf die Suche machte.

Noch einfacher war es vermutlich Lindsey zu fragen. Die wusste mit Sicherheit, wo Catherine begraben war. Allerdings mochte Harper sie nicht nur deswegen anrufen. Brielle war morgen ohnehin bei ihr, da konnte sie dieses Thema einfach ansprechen.

Und, so dachte sie bei sich, vielleicht wusste Brielle ebenfalls, wo Catherines Grab lag. Harper hegte die geringe Hoffnung, dass Brielle womöglich der Beerdigung beigewohnt hatte. Es war ein kleiner Ort, möglicherweise hatte eine Art Neugier oder Ähnliches sie hingetrieben.

Ihren Cafébesuch verschob sie vorerst, damit es nicht zu dunkel wurde, wenn sie zu ihrem Haus zurückkehrte. Sie holte sich ihre Pizzen und machte sich auf den Heimweg. Der Duft nach Tomaten, Knoblauch, Thunfisch und Sardellen füllte den Wagen aus und ließ ihren Magen knurren. Sie freute sich auf ihren Filmabend.

Als sie auf ihr Grundstück einbog, stockte sie und wurde langsamer. Ein großer, schwarzer Hund lief über die Wiese vor dem Haus. Zumindest hoffte sie, dass es ein Hund war, allerdings musste sie sofort an Brielles Erzählung über die Wolfssichtungen denken.

Konnte das ein Wolf sein, der gerade an den Stufen zu ihrer Veranda schnüffelte? Harper wusste nicht, was sie machen sollte, außer einer Sache: Sie würde vorerst im Auto bleiben.

Der Hund – Wolf? – hatte sie bemerkt und lief nun schwanzwedelnd auf sie zu. Ihr Herz begann zu rasen. Sie hatte gehört, dass Hunde mit dem Schwanz wedelten, wenn sie sich freuten und guter Laune waren, aber sie kannte dieses Tier nicht. Zudem war sie sich noch immer nicht sicher, ob es nicht doch ein Wolf war.

Sie bemerkte eine Bewegung zwischen den Bäumen, im nächsten Moment trat jemand auf ihre Wiese. Erleichtert erkannte sie Brody. Er rief etwas und der Hund lief auf ihn zu. Nun wagte sie es auch auszusteigen.

„Hallo“, rief sie Brody zu und er kam grinsend zu.

„Hi. Harper, richtig?“

„Ja. Brody?“ Er nickte und sie wies auf den Hund. „Ich vermute, das ist der türöffnende Whistle?“ Brody lachte auf.

„Ja. Aber diesmal ist er nicht abgehauen, wir machen eine lange Runde. Er braucht viel Auslauf.“ Whistle tappte auf sie zu und sie hielt ihm unsicher die Hand hin. „Handfläche nach unten, bevor er denkt, du bietest ihm was an.“

„Oh.“ Sie drehte die Hand und Whistle schnupperte an ihr, bevor er sie sacht mit der Schnauze anstieß. Immer noch etwas unsicher kraulte sie ihn kurz am Hals.

„Keine Sorge, er ist ein ganz Lieber. Außer du lässt Hühnerherzen frei liegen, dann wird er zum Dieb. Dabei sind die Herzen für unsere Katzen.“

„Wer kann schon Hühnerherzen widerstehen?“ Harper grinste und Brody stöhnte auf.

„Nicht du auch noch. Brielle steht da auch total drauf.“ Er lachte. „Und Jeremiah.“

„Ah, da ist es also eine Familiensache.“

„Gut möglich. Ihre Mutter mag auch Hühnerherzen.“ Brody grinste. „Brielle ist schon ganz aufgeregt, weil sie morgen dein Haus zu sehen bekommt. Davon träumt sie schon ewig.“ Harper erinnerte sich an ihr Gespräch mit Jeremiah und sah Brody fragend an.

„Aber solltest du nicht jetzt in der Buchhandlung sein? Brielles Bruder meinte, du löst ihn heute Nachmittag ab. Er hätte sich die Bücher wohl auch gern angesehen.“

„Theoretisch ja, praktisch ist es so, dass ich eine jüngere Schwester habe, die einen Job sucht, weil sie grad ein Semester aussetzt. Also habe ich ein paar Stunden an sie abgetreten.“ Brody grinste. „So kann ich mich auch mehr um Whistle kümmern. Dann haut er hoffentlich nicht mehr so oft ab und nervt die Nachbarn.“

„Aber sind so Spaziergänge im Wald nicht gefährlich? Brielle hat mir von den Wolfssichtungen erzählt.“

„Eigentlich ist er angeleint.“ Brody wies auf die Leine, die auf dem Boden schleifte, und lächelte verlegen. „Ich … hatte ein dringendes Bedürfnis und hab die Leine nur locker um einen Ast gewickelt. Irgendwas hat Whistle dann wohl aufgeschreckt und lospreschen lassen. Und wenn man Wölfen begegnet, sollte man sich einfach ruhig zurückziehen. Ist jedenfalls die Empfehlung, die ich so gelesen habe.“

„Okay. Ich werde wohl trotzdem keine Spaziergänge im Wald unternehmen.“ Harper zog die Nase kraus. „Vermutlich würde ich alles falsch machen, was man falsch machen kann.“

„Überreden will ich dich sicher nicht, aber wenn du auf den Wegen bleibst, ist es unwahrscheinlich einem Wolf zu begegnen. Die meisten haben ihn mitten im Wald gesehen. Und ein paar Spinner behaupteten natürlich, ihn auch in der Stadt gesehen zu haben, aber das glaube ich nicht. Wölfe meiden Menschen.“ Brody nahm Whistles Leine auf. „Aber ich muss weiter, bevor Whistle wieder auf dumme Ideen kommt.“ Sie verabschiedeten sich und Brody joggte mit Whistle los.

Harper fuhr ihren Wagen in die Garage und nahm ihre Pizzen vom Beifahrersitz. Sie stellte fest, dass sie die Verbindungtür zum Haus abgeschlossen hatte, und machte den Umweg über die Haustür. Wieder fiel ihr jemand zwischen den Bäumen auf. Brody konnte es nicht sein, die Gestalt war zierlicher und dunkler gekleidet.

Rasch trat Harper ins Haus und schloss die Tür hinter sich ab. Vermutlich war es nur ein weiterer Spaziergänger, aber so ganz geheuer waren ihr Gestalten in Wäldern einfach nicht, zumindest nicht, wenn sie die Leute nicht erkennen konnte. Es wurde langsam dunkler, zwischen den Bäumen musste das Licht inzwischen fast gänzlich verschwunden sein. Da hatte es für sie einen faden Beigeschmack, wenn jemand um das Haus herumschlich.

Sie streifte ihre Schuhe ab, stellte die Pizzen erst in der Küche ab und lief dann durch das Erdgeschoss, um sich die Fenster anzusehen. Ihr fiel nichts auf, worüber sie erleichtert war. Während sie die Jalousien im Gästezimmer herunterließ, überlegte sie kurz, dann ging sie nach oben und wiederholte hier ihren Rundgang.

Alle Fenster waren geschlossen und unbeschädigt. Es hätte sie auch gewundert, hätte jemand versucht hier oben in das Haus zu gelangen. Im Erdgeschoss ging das schneller und vor allem einfacher.

Schließlich machte sie es sich mit ihrer Sardellenpizza und einem Milchshake im Wohnzimmer vor ihrem Laptop bequem. Eine Komödie war jetzt genau das Richtige. Etwas, was sie von ihren albernen Gedanken ablenkte.

Der Film war gerade einmal eine halbe Stunde gelaufen, als sie ein Knarren hörte. Sie hob den Kopf, aber das Geräusch wiederholte sich nicht. Vermutlich waren es die Dielen oder eines der Holzmöbel. Es hatte zwar geklungen, wie die Kellertür, aber die konnte es nicht gewesen sein. Sie wusste, dass sie sie abgeschlossen hatte.

Dennoch ließ der Gedanke sie nicht los, während sie sich wieder dem Film zuwandte und ein weiteres Stück Pizza aß. Schließlich pausierte sie den Film frustriert, stand auf und ging in die Küche.

Die Kellertür stand einen Spaltbreit offen.

Verdutzt starrte Harper sie an. Das konnte einfach nicht sein. Sie hatte sie abgeschlossen, das wusste sie. Immerhin hatte sie noch darüber nachgedacht, ob das Schloss einfach nicht hielt, wenn man die Tür bloß schloss.

Sie ging zu der Tür und betrachtete das Schloss. Konnte es defekt sein, sodass der Riegel zurückgeschnappt war? Mit Türen und Schlössern kannte sie sich nicht aus, daher wollte sie das nicht ausschließen. Sie holte den Schlüssel, schloss die Tür und drehte den Schlüssel gleich zweimal herum. Als sie die Türklinke probeweise herunterdrückte und an der Tür zog, blieb diese geschlossen.

Dann klickte es zweimal und die Tür schwang knarrend einen kleinen Spaltbreit auf.

„Das gibt’s doch nicht“, entfuhr es Harper. Also war das Schloss tatsächlich defekt. Sie würde es Lindsey mitteilen, damit diese einen Schlosser beauftragen konnte. Um nicht mehr von der knarrenden Tür abgelenkt zu werden, verschloss Harper sie erneut und stellte diesmal einen der Küchenstühle vor sie. So würde sie sich wohl nicht mehr bewegen.

Sie kehrte zu ihrem Film und ihrer Pizza zurück. Ein erneutes Knarren ließ sie entnervt aufstöhnen und sie ging wieder in die Küche. Die Kellertür hatte sich nicht bewegt, diesmal kam das Geräusch irgendwo anders her.

Harper lauschte, hörte aber nichts. Da war das Brummen des Kühlschranks, aber kein Knarren oder Klopfen. Diesmal war es vermutlich wirklich nur ein Möbelstück gewesen. Ihre eigenen gaben auch hin und wieder ein Knarren von sich und die Möbel hier waren sicherlich deutlich älter als ihre Einrichtung.

Ein lauter Knall ließ Harper zusammenfahren.

Sie eilte zum Fenster. Das Geräusch war von hier gekommen und sie entdeckte einen Abdruck an der Scheibe, der in ihr einen Verdacht weckte, was gerade geschehen war. Als sie das Fenster öffnete und sich herausbeugte, entdeckte sie auch tatsächlich eine Drossel, die reglos in den Büschen lag.

Warum der Vogel gegen die Scheibe geflogen war, konnte Harper nicht sagen. Unschlüssig betrachtete sie ihn einen Moment, bevor sie das Fenster wieder schloss. Sollte sie ihn begraben oder der Natur die Arbeit überlassen? Allerdings wollte sie ungern, dass irgendwelche Aasfresser den Vogel direkt vor dem Küchenfenster auseinandernahmen.

Sie ging in die Garage und holte sich die Schaufel, die sie hier gesehen hatte. Danach verließ sie das Haus und ging zu dem Busch, in dem die Drossel lag.

„Tut mir leid, Kleine“, murmelte sie, während sie die Drossel mit der Schaufel vorsichtig aus dem Busch holte und auf das Schaufelblatt hob. Sie sah sich um und hielt auf die nächsten Bäume zu. Hier würden Raben und Krähen sicher bald auf die tote Drossel aufmerksam werden.

Harper lud die Drossel vor den Bäumen ab und wollte sich gerade umdrehen, als sie ein Rascheln hörte. Sie erstarrte und blickte zwischen die Bäume. Allerdings dämmerte es inzwischen und sie konnte nichts erkennen. Die Schatten mochten alles sein. Baumstämme, Büsche, Menschen, Wölfe.

Sie machte langsam ein paar Schritte rückwärts, bevor sie sich umdrehte und auf das Haus zulief. Vielleicht war es nur ein Fuchs oder ein Vogel gewesen, den sie aufgeschreckt hatte, aber sie musste an die Wolfssichtungen und all die Nachrichten denken, die sie gehört hatte.

Menschen, vermisst in Wäldern. Menschen, tot aufgefunden in Wäldern, bereits von wilden Tieren angeknabbert und nur noch anhand ihrer Zähne zu identifizieren. So wollte sie nicht enden.

Ihre Ängste waren vermutlich albern, hier ging sicher kein Mörder um, aber sie war froh, als sie wieder im Haus war, den Schlüssel zweimal im Schloss umgedreht und die Riegel vorgelegt hatte.

Die Schaufel ließ sie im Flur stehen, sie konnte sie auch morgen in die Garage zurückbringen. Jetzt wollte sie ihren Film zu Ende schauen und sich von ihren Gedanken ablenken. Dieses Mal nahm sie ihre Ohrhörer, um nicht wieder von irgendwelchen Geräuschen hochzuschrecken.

 

Kapitel 5

„Also, erst die Bücher oder erst die Führung?“ Harper sah Brielle fragend an und die grinste.

„Wenn du so fragst – erst die Führung.“

„Okay.“ Harper schmunzelte und wies mit einer ausladenden Handbewegung auf die Küche und den Übergang zum Wohnzimmer. „Also, wie unschwer zu erkennen, haben wir hier eine offene Wohnküche mit angrenzendem Wohnzimmer. Es gibt Schiebetüren, um die Küche zu schließen. Das ist sehr von Vorteil, wenn man geruchsintensiv kocht und nicht alles im Wohnzimmer haben will.“ Brielle lachte leise auf.

„Wenn Brody sein Haus mal verkauft, heuer ich dich als Maklerin an.“

„Ich bin aber Bankangestellte.“ Harper kicherte. „Ich war aber Übungsobjekt für meine Freundin Amirah. Die ist nämlich tatsächlich Maklerin und hat vor ihren ersten Führungen an mir geübt.“ Sie führte Brielle durch das Erdgeschoss, zeigte ihr die verschiedenen Räume und beantwortete ihre Fragen.

In der zweiten Etage hielten sie sich länger auf, da Brielle die altmodische Einrichtung und die Betten aus massivem Holz bewunderte. Sie seufzte entzückt, als sie den Schaukelstuhl in Catherines Schlafzimmer sah.

„Der ist wirklich toll. Den im Wohnzimmer am Kamin, eine kuschelige Decke, ein heißer Kakao und ein gutes Buch – ein Traum.“ Sie stupste den Schaukelstuhl an und er setzte sich lautlos in Bewegung. „Und gut gepflegt ist er auch noch.“

„Du kannst ihn gerne haben. Wer weiß denn, ob potentielle Käufer ihn haben wollen? Am Ende kommt er noch in den Müll. Das wäre doch schade, oder?“

„Wie viel willst du für ihn?“

„Gar nichts. Wie gesagt, eventuell käme er ohnehin weg. Hol ihn einfach ab oder nimm ihn mit. Sicher sind in der Garage noch Gurte, dann können wir ihn auf dein Autodach schnallen.“

„Das geht doch nicht“, widersprach Brielle. „Ich kann den nicht einfach so nehmen.“

„Doch. Ich will ihn nicht und mögliche Käufer werfen ihn vielleicht eh weg. Oder versuchen ihn teuer zu verkaufen. Und ich glaub, bei dir hätte er ein gutes Zuhause.“ Harper grinste leicht und Brielle seufzte.

„Führe mich nicht in Versuchung.“

„Schau, wie sanft er schaukelt. Das ist nicht nur im Winter mit Decke und Kakao ein Traum. Der ist das ganze Jahr ein Traum. Stell dir vor, du hast irgendwann Kinder. Ich stelle es mir ganz entspannend vor, mit meinem Kind hier zu sitzen und es zu stillen, während ich etwas schaukle.“ Ein wenig verblüfft sah Brielle sie an.

„Die Vorstellung hatte ich tatsächlich immer, wenn ich mal nach Schaukelstühlen geguckt habe.“ Sie seufzte. „Aber einfach so …“

„Hey, immerhin bist du hergekommen, um mir mit all den Büchern zu helfen. Nimm ihn als kleinen Dank dafür.“

„Ich hab die Führung schon als Dank dafür gesehen.“

„Muss ich ihn dir erst selbst aufs Autodach schnallen?“ Harper sah Brielle gespielt drohend an und die lachte.

„Ich glaub, das würde mir auffallen beim Einsteigen. Aber okay, okay, ich gebe mich geschlagen. Danke. Die nächsten Kaffees und Muffins gehen dann auf mich. Nein, jetzt keine Widerworte.“ Brielle drohte Harper spielerisch mit dem Zeigefinger.

„Okay, abgemacht.“ Nach ihrem Handel gingen sie weiter und stiegen auf den Dachboden. Brielle bestaunte die Bilder und verglich einige mit der Aussicht aus den Dachfenstern. Als Harper ihr erzählte, dass die Bilder von Catherine und deren Freundin Caroline waren – das zumindest hatte sie von Lindsey erfahren – nickte Brielle.

„Ich habe mal gehört, dass sie schon immer gemalt hat.“ Sie stellte vorsichtig eines der Bilder zurück und Harper erinnerte sich an ihre Frage.

„Weißt du, an wen ich mich wenden muss, wenn ich wissen will, wo sich ein bestimmtes Grab befindet?“

„Du willst das Grab deiner Großtante besuchen?“ Brielle sah sie etwas verwundert an. „Hat es dir niemand erzählt?“

„Was denn?“

„Na ja.“ Brielle wirkte etwas unsicher. „Also, sie hat sich verbrennen und die Urne hinterm Haus im Wald vergraben lassen. Die Solomons haben da ihren eigenen Friedhof.“

„Was?“ Verdutzt sah Harper Brielle an und die zuckte mit den Schultern.

„Das weiß hier jeder. Ich dachte, irgendwer hätte es dir auch schon erzählt. Spätestens Lindsey.“

„Nein, bisher wusste ich davon gar nichts. Da hätte ich gestern ja lange auf dem Friedhof suchen können.“

„Ich kann dich hinführen.“ Brielle lächelte verlegen. „Jugendsünden. Ich glaube, fast jeder war mal als Kind oder Jugendlicher auf dem Friedhof der Solomons. Es ist ja auch nicht direkt verboten. Jedenfalls hatte deine Großtante nie etwas dagegen, wenn da jemand hingeht. Sie hatte meinen Bruder erwischt und ihm auf seine Entschuldigung hin gesagt, dass es okay sein. Friedhöfe seien schließlich öffentliche Flächen.“

„Hm, in den Unterlagen stand nichts von einem Friedhof. Das werde ich mir mit Amirah und dem Anwalt wohl noch einmal ansehen müssen.“ Harper seufzte. „Ich glaube nämlich nicht, dass jemand ein Haus mit einem Friedhof kauft.“

„Wahrscheinlich nicht.“ Brielle lächelte schief. „Schon gar nicht einen Friedhof einer Familie. Wobei ich nicht einmal weiß, ob er wirklich deiner Familie gehört. Er ist vom Friedhof aus sichtbar, aber zwischen beiden Friedhöfen liegt eine Wiese. Ich zeig es dir einfach, dann siehst du es ja. Komm.“

„Und die Wölfe?“

„Ach, mach dir wegen denen nicht so einen Kopf. Die sind scheuer, als manche Leute einen Glauben machen wollen.“ Sie machten sich auf den Weg nach unten und verließen das Haus. Harper schloss hinter ihnen ab und folgte Brielle dann in den Wald.

Da es noch so früh war, war es auch entsprechend hell und der Wald wirkte nicht annähernd so unheimlich wie abends. Es gab einen Pfad, den Harper nur als solchen erkannte, weil Brielle sie auf ihn aufmerksam machte. Brennnesseln und andere Sträucher, die Harper nicht namentlich benennen konnte, wuchsen am Rand. Alleine hätte sie sich wohl einen anderen, leichteren Weg gesucht, wäre sie überhaupt hier in den Wald gegangen.

Sie liefen ein ganzes Stück zwischen den Bäumen entlang und der Pfad wurde immer überwucherter. Hier waren wohl nicht oft Leute entlanggekommen. Schließlich endete der Pfad auf einer Lichtung, die ihrerseits an einer hohen Steinmauer endete. Ein hohes, zweiflügeliges Eisentor befand sich in der Mauer.

Brielle hielt auf das Tor zu und öffnete es ohne zu zögern. Harper trat nach ihr durch das Tor und blieb dann erstaunt stehen. Die hohen Bäume, die an drei Seiten um die Mauer wuchsen, waren das einzige Anzeichen, dass sie sich noch im Wald befanden. Der Friedhof selbst sah aus wie jeder Friedhof, den Harper bisher gesehen hatte.

In sauberen Reihen, wenn auch mit größeren Abständen, als Harper es von anderen Friedhöfen kannte, standen hier meist graue Grabsteine, manchmal durchbrochen von schwarz oder weiß. Es gab Statuen, niedrige, sauber gestutzte Büsche und Rosenhecken an der Mauer und in jeder Ecke des Friedhofs ein Mausoleum. Mittig zwischen den Gräbern befand sich eine kleine Kapelle.

„Es ist schön hier.“ Harper lief an den ersten Gräbern vorbei und betrachtete die Grabsteine. Die Namen sagten ihr nichts, auch wenn auf jedem Grabstein Solomon stand. Aber die Daten reichten weit zurück. Jedes dieser Gräber war aus dem 18. Jahrhundert.

„Ich weiß nun nicht, wo genau sich die Urne deiner Großtante befindet“, erklärte Brielle, die neben ihr ging und ebenfalls die Grabsteine betrachtete. Sie kamen an dem ersten Mausoleum vorbei und eine kleine Tafel verriet Harper, dass es 1867 erbaut worden war und sechs ihrer Vorfahren als Ruhestätte diente.

„Das sind ganz schön viele Solomons“, stellte sie fest und sah sich um. Es war zwar ein kleiner Friedhof, aber für eine einzelne Familie immer noch groß.

„Ich glaube, deine Familie war eine der Gründerfamilien von Halfell. Oder kam zumindest schon sehr früh hier an.“ Brielle zuckte mit den Schultern. „Ich hab da nie so gut aufgepasst in der Schule. Jeremiah kann dir da mehr drüber erzählen. Halfell wurde jedenfalls ungefähr Mitte des 17. Jahrhunderts gegründet. Frag mich aber nicht nach der genauen Jahreszahl. 1747 oder 1749 oder so.“

„Aber das Haus wurde erst irgendwann am Anfang des 19. Jahrhunderts erbaut. Steht zumindest in den Unterlagen.“

„Das neue Haus. Davor stand da ein anderes. Es brannte nieder. Während eines Sturms schlug ein Blitz ein.“ Brielle lächelte schief. „Das konnte ich mir merken. Ich habe mal ein Referat über große Katastrophen in Halfell gehalten. Dieser Sturm gehörte dazu. Er war beinahe wie ein Tornado und forderte Dutzende von Menschenleben. Das war 1897. Der große Sturm von Halfell. Er verwüstete Felder, zerstörte Häuser und Blitzschläge sorgten für Brände und Tote.“

„Das klingt nicht schön.“

„Nein. Die Menschen haben lange gebraucht, um sich davon zu erholen. Und wie gesagt, das Haus wurde dann zwar neu gebaut, aber die Solomons lebten schon immer hier. Samt ihrem eigenen Friedhof.“

„Verstehe. Auch wenn ich jetzt neugierig bin, warum sie so außerhalb der Stadt gebaut haben.“

„Na ja, das war ja früher alles etwas weitläufiger. Da waren viele Häuser außerhalb der Stadt, wenn du so willst. Davon gibt es jetzt nur noch das Haus der Solomons, also deins, und die alte Ruine der McLanes. Der Erbe kümmert sich so gar nicht und lässt es seit Jahren verfallen.“ Sie gingen weiter und nun entdeckte Harper auch die ersten Grabsteine vom Anfang des 19. Jahrhunderts.

„Okay, das hatte ich jetzt nicht bedacht, dass vielleicht anders gebaut worden ist. Also weitläufiger.“ Sie kannte nur die Enge der Stadt, Häuser dicht an dicht und Hochhäuser, wohin man schaute. Das Krankenhaus mit seinen vier Etagen war das höchste Gebäude in Halfell.

„Da war halt viel Platz. Wozu sich also zu sehr auf die Pelle rücken?“ Brielle lächelte und wies auf die Kapelle. „Wollen wir uns die ansehen? Jetzt, wo ich wieder hier bin, bin ich neugierig. Bei meinem ersten und letzten Besuch hier war ich nicht drin.“

„Klar.“ Harper war ebenfalls neugierig. Sie ging vor und betrachtete die Kapelle dabei. Das Gebäude war aus Stein gebaut und erschien ihr gerade groß genug für vielleicht ein Dutzend Menschen – wenn die dicht zusammenstanden. Auf der Seite, die sie von dem Weg aus sehen konnte, gab es ein Fenster, das klein und schmal war. Da passte auf jeden Fall niemand durch, daher wunderte sie sich über die Eisenstange, die das Fenster einmal quer versperrte.

Die alte Tür war aus dunklem, massivem Holz, in das ein Kreuz eingebrannt war. Unter dem Kreuz stand etwas, aber sie verstand die Inschrift nicht. Vielleicht war es Latein. Sie hatte mal gelesen, dass Bibeln lange Zeit in Latein verfasst worden waren.

Es gab weder ein Schloss noch einen Riegel, nur eine Klinke, die Brielle nun beinahe zögernd herunterdrückte. Die Tür schwang mit einem lauten Knarren auf. Offensichtlich war sie lange nicht bewegt worden.

Die Kapelle war leer und es lag ein wenig Staub auf dem Boden. Harper konnte keine Spuren entdecken, was zu ihrem Verdacht passte, dass die Tür lange nicht geöffnet worden und kein Besucher in der Kapelle gewesen war.

Gegenüber der Tür befand sich ein kleiner, steinerner Altar. Alte Reste von Wachskerzen standen da, meist zu einem kleinen Stumpf niedergebrannt, manche aber noch beinahe eine Handbreit hoch. Über dem Altar war ein Holzkreuz an der Wand angebracht, an dem ein Rosenkranz hing. Auch hier lag Staub. Natürlich. Wenn niemand hierherkam, entstaubte auch niemand den Altar und das Kreuz.

Es gab bloß vier schmale Bänke und auf einer entdeckte Harper einen vertrockneten Blumenstrauß. Sie überlegte, ihn mitzunehmen und draußen zu entsorgen, verwarf den Gedanken aber wieder. Sicher gab es jemanden, der sich sowohl um den Friedhof als auch um die Kapelle kümmerte. Dass es hier so staubig war, hieß vielleicht nur, dass dieser Jemand etwas nachlässig gewesen war.

„Schau mal. Das lag unter der Bank.“ Brielle hielt ihr ein Armband aus angelaufenem Silber hin. „Der Verschluss ist kaputt. Vermutlich hat die Besitzerin nicht mal gemerkt, dass es abgefallen ist.“

„Ob es Sinn macht, es ins Fundbüro zu geben? Hier dürfte ja Monate niemand gewesen sein. Und wenn es ohnehin der Friedhof meiner Familie ist, könnte es sogar Jahre hier liegen.“

„Es müsste doch eigentlich einen Verwalter oder einen Gärtner oder so geben. Der Friedhof sah zu gepflegt aus. Der ist nicht sich selbst überlassen. Aber die Kapelle … Ich weiß nicht. Vielleicht hat deine Familie sich selbst um sie gekümmert. Und deine Großtante hatte dann irgendwann einfach keine Kraft mehr dafür.“ Brielle wickelte das Armband in ein Taschentuch und steckte es ein. „Ich gebe es einfach bei der Polizei ab. Glaub zwar auch nicht, dass es jetzt noch jemand sucht, aber einfach wegwerfen kann ich es doch auch nicht.“

„Könnte ich wohl auch nicht.“ Nachdem sie die Kapelle verlassen hatten, kehrten sie zu den Gräbern zurück, bei denen sie zuvor gewesen waren. Harper hoffte, dass sie so zu den jüngsten Gräbern und damit auch dem von Catherine kommen würden.

Tatsächlich erfüllte sich ihre Hoffnung. Die Jahreszahlen auf den Grabsteinen stiegen an und schließlich erreichten sie die jüngsten Gräber. Marie Rachel war ihre Großmutter gewesen, die sie nie kennengelernt hatte. Den Daten nach war Michael vermutlich Maries Ehemann gewesen. Er war zehn Jahre vor seiner Frau verstorben. Danach folgte ein Jeffrey.

Der Name sagte ihr aus ihrer Familie nichts. Seinem Geburtsdatum nach konnte er ein Bruder ihrer Großmutter sein und wenn Harper bedachte, dass ihre Mutter ihr schon nichts von ihrer Großtante erzählt hatte, hätte sie sich auch nicht über einen verschwiegenen Großonkel gewundert. Vielleicht war er aber auch Catherines Mann.

Das danebenliegende Grab entlockte Brielle ein leises „oh nein“. Harper trat zu ihr und erkannte gleich, was Brielle so bestürzte. Hier lag ein Kind, Sarah. Sie war mit gerade einmal fünf Jahren verstorben, ein Jahr, bevor Harpers Mutter geboren worden war. Ob Sarah Catherines Tochter gewesen war? Oder lag hier womöglich die ältere Schwester ihrer Mutter?

Das nächste Grab schließlich war das von Catherine. Der Grabstein war genauso schlicht gestaltet wie alle davor. Nur ihr Name, ihr Geburtsjahr und ihr Todesdatum waren in den grauen Stein eingemeißelt.

Sie hatte nicht erwartet, viel zu empfinden, wenn sie an Catherines Grab stand. Immerhin kannte sie die Frau gar nicht. Daher war sie auch nicht überrascht, dass sich nichts weiter als ein leises Bedauern einstellte, dass sie nichts von Catherine gewusst hatte.

Eine Weile betrachtete sie das Grab schweigend, dann ging sie weiter. In dieser Reihe folgten keine weiteren Gräber. Am Ende des Weges stand ein weiteres Mausoleum. Auf einer kleinen Messingtafel standen vier Namen und hinter jedem war das gleiche Todesjahr eingraviert: 1897. Harper sah zu Brielle.

„Wann war noch mal dieser schreckliche Sturm?“ Sie wies auf die Tafel und Brielle nickte.

„1897, ja. Ich sage ja, es gab viele Opfer. Vielleicht haben sie versucht das Feuer zu löschen und dabei kam es zu weiteren Blitzschlägen oder ein Baum stürzte um oder etwas in der Art.“

„Schrecklich, gleich so viele Familienmitglieder auf einmal zu verlieren.“ Langsam gingen sie weiter und bogen auf den nächsten Weg ein. Hier gab es nur auf einer Seite Gräber und den Grabsteinen nach waren dies die ältesten, die es auf diesem Friedhof gab. Sie stammten vom Ende des 17. Jahrhunderts. Auf diesen Grabsteinen war noch weniger eingraviert, teilweise fehlte sogar das Geburtsjahr.

Harper blieb schließlich vor einer Statue stehen. Sie zeigte eine Frau, die mit heiterem Lächeln in die Ferne blickte. Am Sockel der Statue gab es eine Messingtafel, auf der etwas stand, aber Harper verstand die Worte nicht. Sie erinnerten sie aber an den Satz an der Tür zur Kapelle.

„Ob das eine Solomon ist?“ Harper lächelte schief und sah zu Brielle, die leise lachte.

„Möglich. Vielleicht von einem liebenden Ehemann in Auftrag gegeben, damit jeder sie auch nach ihrem Tod sehen konnte.“ Brielle seufzte tief. „Irgendwie eine seltsame, aber auch romantische Vorstellung.“

„Kannst du das hier lesen?“

„Nein. Klingt aber ein bisschen wie das an der Tür. Bei der Kapelle war doch auch so ein Schriftzug.“

„Dachte ich mir auch grad. Vielleicht ist es ja Latein. Das war doch die Kirchensprache. Oder ist es noch?“

„Hm, möglich. Jedenfalls ist es weder Französisch noch Italienisch. Das sind die einzigen Fremdsprachen, die ich kann. Na ja … sagen wir beim Italienisch eher, die ich noch bruchstückhaft kann.“

„Meine Mutter hat auch drauf bestanden, dass ich in der Schule Französisch lerne. Ich kann mich inzwischen nur noch vorstellen und fragen, wie es dir geht.“ Harper lachte. „Ich hatte es nie mit Fremdsprachen. Wenn mir einer sagt, das da wäre Chinesisch, würde ich es auch glauben.“ Sie schüttelte leicht den Kopf. „Na ja, egal. Ich denke, es ist irgendein Bibelzitat.“

Sie machten sich auf den Rückweg, wobei Harper versuchte den Weg zu finden, falls sie noch einmal zum Friedhof kommen wollte. Es war gar nicht so schwer. Der Pfad mochte etwas überwuchert sein, aber er war noch gut zu erkennen. Es fiel ihr jetzt wohl auch leichter, weil sie vorher schon darauf geachtet hatte.

Zurück im Haus gingen sie gleich in den Keller, um sich die Bücher anzusehen. Den meisten Sachbüchern räumte Brielle kaum eine Chance ein, da sie einfach zu alt waren und da inzwischen neue Erkenntnisse gewonnen waren. Bei den Romanen war sie sich hingegen sicher, dass sie dafür Abnehmer finden würden.

Brielle erklärte, dass sie einen befreundeten Buchhändler aus Montreal anrufen würde. Er führte neben seinem Buchladen auch ein Antiquariat und konnte vermutlich einige der Bücher besser einschätzen als sie.

„Ist es okay, wenn er sich die Bücher ansieht?“

„Wenn er es bis Samstag schafft. Voraussichtlich fahre ich am Sonntag bereits wieder nach New York.“

„Okay, könnte schwierig werden. Lindsey verwaltet doch das Haus, oder? Lindsey Caldwell?“ Als Harper auf ihre Frage nickte, grinste Brielle. „Gut, dann mach ich das mit ihr aus, wenn es okay ist.“

„Klar. Du, die Bücher kämen ohnehin weg. Ich schau ja grad, was bleiben kann und was nicht. Die Bücher und alles, was private Sachen von Catherine waren, kommen weg. Also, wenn sie sich gar nicht verkaufen lassen, lass Lindsey sie mit dem Rest entsorgen.“

„Um die Romane wäre es schade. Und die Sachbücher könnten vielleicht auch den einen oder anderen Sammler anlocken. Nicht wegen ihres Inhalts, einfach weil Sammler halt alles sammeln aus ihrem Lieblingsbereich.“ Brielle zuckte mit den Schultern. „Aber da weiß John mehr drüber.“

„Gut, dann überlass ich die Bücher einfach dir. Hast du Lindseys Nummer?“

„Ja, klar. Sie ist eine Nachbarin von Brodys Eltern.“ Nachdem sie abgeklärt hatten, wann Brielle den Schaukelstuhl abholen würde, beschlossen sie noch gemeinsam eine Pizza zu essen. Harper hätte es nicht laut ausgesprochen, aber sie war froh, dem Haus wieder eine Weile zu entkommen. Je länger sie hier war, desto unheimlicher erschien es ihr, obwohl es dafür gar keinen Grund gab.

 

Kapitel 6

Am frühen Abend saß Harper wieder im Wohnzimmer, auf dem Laptop lief eine Komödie und in einer Schüssel lagen Chips, die sie bisher nicht angerührt hatte. Sie dachte über den bisherigen Tag nach.

Nachdem sie gegessen hatten, hatten sie sich voneinander verabschiedet und Brielle war in den Buchladen gefahren, um mit dem befreundeten Buchhändler zu sprechen. Harper hatte ein wenig Halfell erkundet und war schließlich in das Haus zurückgekehrt, in dem sie sich immer mehr gruselte.

Sie hatte es zunächst nicht wahrhaben wollen, aber das war es einfach: Sie gruselte sich. Das große, einsame Haus mitten zwischen den Bäumen, in dem es so schnell dunkel wurde, machte ihr Angst.

Wenn sich hier jemand einschlich, konnte er sich gut vor ihr verstecken. Die immer wieder aufspringende Kellertür gefiel ihr auch nicht. Zumindest gab es keinen weiteren Zugang zum Keller, auf dem Weg konnte also niemand in das Haus eindringen.

Sollte hier jemand einbrechen, würde es niemand merken. Sie war völlig auf sich allein gestellt. Wie hatte Catherine es hier so lange Zeit alleine ausgehalten? Kinder hatte sie nicht und ihr Mann war offensichtlich schon seit Jahren tot.

Harper seufzte leise auf und griff nach ihrem Handy. Es brachte nichts, sich darüber den Kopf zu zerbrechen. Je mehr sie darüber nachdachte, wie verlassen das Haus lag, desto mehr steigerte sie sich in ihre Angst hinein. Es würde wohl niemand hier einbrechen.

Sie wählte aus ihren Kontakten ihre Mutter aus, zögerte kurz, drückte dann aber den Wahlknopf. Es klingelte zweimal, dreimal, viermal. Endlich, beim achten Klingeln, meldete ihre Mutter sich.

„Hey, Harper. Ich bereite gerade Burger für morgen vor.“ Ihre Mutter gab ein „shh“ von sich, vermutlich versuchte ihr Kater gerade einen der besagten Burger zu ergattern. „Wie geht es voran?“

„Gut. Lindsey – also Mrs. Caldwell – wird sich um die Entsorgung der Sachen von Catherine kümmern. Die Bücher, die ich entdeckt hab, übernimmt eine Buchhändlerin aus dem Ort.“

„Schön. Dann ist das Thema ja durch.“

„Warum hast du mir nichts von dem Friedhof hinterm Haus erzählt?“ Hinterm Haus war wohl etwas übertrieben, immerhin lag er doch ein Stück entfernt und grenzte nicht direkt an das Haus. Aber er lag doch sehr nahe. Vermutlich hätte man ihn vom Haus sehen können, wäre der Wald nicht gewesen. Ihre Mutter schwieg eine Weile.

„Warst du dort?“ Ihre Stimme klang seltsam belegt und Harper runzelte die Stirn.

„Ja. Ich habe Brielle, die Buchhändlerin, gefragt, wie ich herausfinden kann, wo Catherine begraben ist. Ich wollte nicht auf gut Glück auf den Friedhof losziehen. Und da erzählte sie mir, dass die Solomons einen eigenen Friedhof haben.“

„Nun, die ersten Solomons waren ziemliche Exzentriker, wenn du mich fragst. Einen eigenen Friedhof anlegen, was für ein Blödsinn. Jedenfalls, bevor du fragst, meine Mutter hat den Friedhof an die Stadt gegeben. Er gehört also nicht zum Grundstück.“

„Ja, das wäre tatsächlich die nächste Frage gewesen. Ist ja gut zu wissen, ob man auch einen Friedhof verkauft. Aber du hast mir immer noch nicht gesagt, warum du mir nichts von dem erzählt hast.“

„Ach, wozu denn? Es ist ein Friedhof wie jeder andere.“

„Außer, dass dort bloß lauter Solomons liegen.“

„Aber nun ja nicht mehr. Ich denke jedenfalls nicht daran, irgendwas zu verfügen, dass man mich irgendwann mal dort begraben soll.“

„Großmutter ist dort begraben. Aber sie hat doch später in Montreal gelebt.“ Wieder schwieg ihre Mutter eine Weile und Harper seufzte. „Mom? Komm schon. Was ist das große Familiengeheimnis?“

„Es gibt keins“, fauchte ihre Mutter. Dann seufzte sie leise. „Entschuldige. Aber das einzige Geheimnis, wenn du es denn so nennen willst, ist, dass meine Mutter im Alter doch wieder nach Halfell zurückkehrte. Sie wurde sentimental und meinte, sie wolle bei der Familie begraben werden, wie jeder Solomon.“

„Und warum willst du dann so gar nichts mit dem Haus zu tun haben? Warum hast du mir nie von Catherine erzählt?“ Harper wollte Antworten, aber sie ahnte, dass sie keine kriegen würde.

„Weil da Funkstille herrschte“, wiederholte ihre Mutter nur wieder, was sie schon so oft gesagt hatte. „Sie war sehr eigen und hielt nichts von Mutter Umzug nach Montreal. Und Mutter war eben auch sehr dickköpfig und hat jahrelang nicht mit Catherine gesprochen.“

„Ganz ehrlich, Mom, du klingst, als hättest du das alles auswendig gelernt. Willst du mich mit irgendwelchen Ausreden abspeisen?“

„Natürlich nicht. Es ist einfach die Wahrheit.“

„Wer ist Sarah?“ Es klirrte und sie hörte ihre Mutter leise fluchen. „Mom?“

„Ach, es ist nichts, mir ist ein Glas runtergefallen. Ich fege das lieber auf, bevor Winnie reintritt. Vermutlich wird er die Gelegenheit gleich ausnutzen und sich einen Burger klauen, der Schlingel. Also, wir hören uns. Bis dann.“ Bevor sie etwas antworten konnte, hatte ihre Mutter aufgelegt und Harper starrte fassungslos auf ihr Handy.

„Was war das denn?“ murmelte sie. Nicht nur, dass ihre Mutter einfach aufgelegt hatte, sie war auch noch völlig hektisch geworden, etwas, was Harper von ihr nicht kannte. Schon gar nicht wegen ein paar Scherben.

Es musste mit Sarah zu tun haben. Erst, als sie nach ihr gefragt hatte, hatte ihre Mutter so seltsam reagiert. Harper schnaufte und legte ihr Handy weg. Vielleicht, so dachte sie bei sich, hatte ihre Mutter sich noch keine Geschichte zu Sarah überlegt. Wenn sie genauer über alles nachdachte, stimmte es – ihr kamen die Aussagen ihrer Mutter vor, als hätte sie diese auswendig gelernt. Sie variierte kaum einmal in ihren Erzählungen.

Es tat ihr weh, so über ihre Mutter zu denken, aber sie gelangte immer mehr zu der Überzeugung, dass sie ihr etwas verheimlichte. Schlimmer noch, sie war sich sicher, dass ihre Mutter sie belogen hatte.

Diese Sicherheit half ihr nur leider überhaupt nicht weiter. Wenn es irgendein Familiengeheimnis gab, dann konnte ihr wohl auch niemand aus Halfell helfen an Antworten zu gelangen. Aber zu Sarah konnte ihr sicherlich jemand etwas sagen.

Ihr erster Gedanke galt Caroline, aber sie wollte die alte Freundin ihrer Großtante nicht aufregen. Lindsey hatte ja klargemacht, dass es ihr auch nicht gut ging. Vielleicht wusste ja auch Lindsey etwas über Sarah oder konnte ihr zumindest jemanden nennen, der ihr mehr über sie sagen konnte.

Bevor sie es sich anders überlegte, rief Harper Lindsey an. Schon nach dem zweiten Klingeln meldete sich ein Mann, der nur leise brummte, als sie nach Lindsey fragte. Er reichte das Telefon mit einem leisen „die junge Solomon“ weiter und Harper zog die Nase kraus. Ob sie nun in Halfell so genannt wurde? Die junge Solomon. Das klang seltsam.

„Hey, Harper. Was gibt es?“

„Hi. Also, es klingt vielleicht seltsam, aber ich war heute mit Brielle auf dem Friedhof meiner Familie. Ich wusste bis heute gar nicht, dass es ihn gibt.“

„Ah. Ich dachte, das wäre dir bekannt.“

„Nein, gar nicht. Na ja, jedenfalls hab ich da das Grab eines Kindes entdeckt. Sarah. Sie starb ein Jahr vor der Geburt meiner Mutter.“

„Das muss Catherines Tochter sein. Ich bin nicht ganz im Bilde, aber Caroline erwähnte mal, wie tragisch es war, dass Catherine ihr kleines Mädchen so früh verloren hat und keine Kinder mehr kriegen konnte.“

„Weißt du irgendwas über meine Familie? Ich meine, du kümmerst dich schon seit Jahren um das Haus und alles. Oder kennst du jemanden, der mir da mehr sagen kann?“

„Nur das übliche Getratsche. Ich war noch ein Säugling, als deine Großmutter Halfell verließ, aber das war wohl ein Skandal damals. Aber warum, darüber schweigt meine Mutter sich aus. Ich glaube ja“, Lindsey schnaufte leise, „sie hat sich damals wohl kurzzeitig von ihrem Mann getrennt. Was für ein Skandal, damals jedenfalls. Heute kräht doch kein Hahn mehr danach. Na ja, zumindest hab ich mir das aus allem, was ich so gehört habe, zusammengereimt.“

„Meine Mutter schweigt sich auch aus und hat sehr seltsam reagiert, als ich sie nach Sarah gefragt habe. Deswegen will ich gerne mit jemandem über alles sprechen, der da etwas drüber weiß.“

„Mir fällt nur Caroline ein. Sie und Catherine waren seit Schulzeiten befreundet.“

„Aber Caroline ist selber krank, hast du gesagt. Ich will sie nicht aufregen.“

„Sprich mal mit Carolines Tochter. Die kann es sicher gut einschätzen, ob ihre Mutter fit genug für solch ein Gespräch ist.“ Lindsey gab ihr die Telefonnummer von Wendy Jeffrey und Harper legte auf, nachdem sie sich bei Lindsey bedankt hatte. Sie sah auf die Uhr.

Für einen Anruf war es noch nicht zu spät. Sie zögerte dennoch einen Moment, bevor sie sich einen Ruck gab. Wendy Jeffrey meldete sich schon beim ersten Klingeln, als hätte sie das Telefon in der Hand gehabt.

„Hallo. Mein Name ist Harper Solomon, ich habe Ihre Telefonnummer von Lindsey Caldwell bekommen.“

„Ah, ja. Catherines Großnichte. Warum rufen Sie an?“

„Also, es ist so.“ Harper leckte sich über die trockenen Lippen und kam sich plötzlich total bescheuert vor. Einfach bei einer Fremden anzurufen, um sie über ihre eigene Familie auszufragen, konnte man doch auch nicht anders nennen als bescheuert. Dann aber sprudelte es nur so aus ihr hervor und sie erzählte Wendy, was sie bereits Lindsey erzählt hatte. Wendy seufzte leise.

„Da musst du nicht mit meiner Mutter sprechen, ich weiß auch einige Geschichten. Aber …“ Sie schwieg einen Moment und seufzte erneut. „Wenn deine Mutter nicht mit dir darüber sprechen will, dann ist es nicht an mir oder anderen, dir alles zu erzählen.“

„Also ist etwas vorgefallen. Ich wusste es!“ Harper stand auf und begann im Wohnzimmer auf und ab zu laufen. „Warum wollen Sie nicht darüber reden?“

„Zunächst einmal, du kannst mich ruhig duzen. Und dann … nun, es gibt Sachen, die sollte man von seiner eigenen Familie hören.“

„Von der nicht mehr viele übrig sind. Nur meine Mutter und ich. Und meine Mutter will mir einfach gar nichts über ihre Zeit hier erzählen. Auch nicht über unsere Familie. Gar nichts. Als ich sie nach Sarah fragte, wurde sie auf einmal total hektisch und hat das Telefonat einfach abgewürgt.“

„Nur noch zwei. Und dabei waren die Solomons mal so eine große Familie.“ Wendy seufzte. „Nein, es liegt nicht an mir dir alles zu erzählen. Das ist Sache deiner Mutter. Aber sie scheint es lieber alles beenden zu wollen. Das ist natürlich ihr gutes Recht.“

„Beenden? Was will sie beenden? Bitte, Wendy, wenn du was weißt, dann sag es mir. Ich muss es einfach wissen und meine Mutter erzählt mir doch nichts.“

„Ich kann nicht. Es tut mir leid.“ Damit beendete Wendy das Gespräch und Harper starrte zum zweiten mal an diesem Abend völlig fassungslos auf ihr Handy.

„Ihr seid doch alle bekloppt“, murmelte sie und sackte auf das Sofa zurück. Nun hatte sie zwar noch mehr Sicherheit darüber erlangt, dass es hier ein Geheimnis gab, aber sie tappte weiterhin im Dunkeln.

Frustriert lehnte sie sich zurück und starrte an die Decke. Was auch immer das für ein Geheimnis war, es musste mindestens ein Mord sein, wenn ihre Mutter und Wendy sich so sehr weigerten, ihr davon zu erzählen.

Sie schnaubte leise. Vielleicht war es ja auch genau das. Vielleicht hatten Catherine und Rachel jemanden umgebracht, ihn irgendwo im Garten verscharrt und waren danach so sehr darüber in Streit geraten, dass Rachel Halfell verlassen hatte.

Nein, das passte nicht. Von einem Mord hätte Rachel ihrer Tochter auch nichts erzählt. Lindsey hatte erwähnt, dass Rachel und ihr Mann wohl kurzzeitig getrennt gewesen waren. Hatte Rachel eine Affäre gehabt und war deswegen gegangen? Hatte sie in Montreal mit einem anderen Mann zusammengelebt?

Auch das erschien Harper unwahrscheinlich. Ihre Mutter blockte immerhin, wenn es um ihre Familie und Halfell ging. Über Rachel hatte sie Harper zwar nur wenig erzählt, aber immerhin mehr als über den Ort ihrer Geburt.

Es brachte nichts. Sie konnte noch so sehr über diese Sache nachdenken, die Lösung würde sie so nicht finden. Ihre Mutter kannte die Antworten. Irgendwie musste Harper sie zum Sprechen bringen. Wenn sie nur gewusst hätte, wie.

 

Kapitel 7

Müde tappte Harper in die Küche, um sich einen Kaffee zu machen. Sie hatte noch lange wachgelegen und gegrübelt, war aber keinen Schritt weitergekommen, was ihre Mutter anging. Vielleicht hatte Amirah später einen Tipp für sie.

In der Küche stellte sie fest, dass die Kellertür wieder aufgegangen war. Sie hatte am Abend vergessen einen Stuhl vor sie zu stellen, was sie nun nachholte. Danach setzte sie ihren Kaffee auf und schaute in den Kühlschrank. Außer ihren geliebten Milchshakes enthielt er nicht viel.

Sie nahm sich Eier raus, um sich Rührei zu machen. Speck fand sie keinen, aber es würde auch so gehen. Während der Kaffee durchlief und ihre Eier in der Pfanne brieten, fing sie wieder an zu überlegen, wie sie ihre Mutter doch zum Reden bringen konnte.

Vielleicht half es, wenn sie ihr einfach von dem Verdacht erzählte, Rachel sei ihrem Mann wohl fremdgegangen. Konnte es sein, dass es doch so etwas Banales war? Zu der Zeit, als ihre Mutter noch ein Kind gewesen war, war so etwas sicher noch ein großer Skandal gewesen. Möglicherweise hatte ihre Mutter wegen eines Seitensprungs von Rachel eine schlechte Zeit hier durchgemacht und sprach deswegen nicht gerne von Halfell.

Nach ihrem recht kargen Frühstück duschte sie und zog sich um, dann setzte sie sich mit einem Kaffee auf die Veranda. Amirah hatte ihr geschrieben, dass sie noch etwa eine halbe Stunde brauchte, bis sie bei ihr war. Sie war in aller Frühe aufgebrochen, war die Strecke von New York nach Montreal geflogen und saß nun in einem Mietwagen.

Während Harper ihren Kaffee trank, hörte sie ein Rascheln in den Büschen und wieder schlich ein Fuchs geduckt um die Ecke. Als er sie sah, jagte er davon und sie lächelte. Die Füchse waren niedlich, gegen ihre Anwesenheit hier hatte sie gar nichts.

Als sie sich gerade einen neuen Kaffee holte, hörte sie Motorengeräusche von draußen. Sie ging raus und sah Amirah aus einem kirschroten VW steigen.

„Whoa“, rief Amirah anstelle einer Begrüßung. Mit großen Augen betrachtete sie das Haus. „Größer, als ich dachte. Aber hübsch. Sieht gemütlich aus. Hey.“ Sie eilte zu Harper und begrüßte sie mit einer Umarmung. „Die Bäume sind aber auch sehr nah am Haus.“

„Ja, dachte ich mir auch. Aber ich lass es so. Sollen sich die nächsten Eigentümer überlegen, ob sie sie fällen oder nicht. Komm rein.“ Sie führte Amirah durch das Haus, zeigte ihr auch den Keller und den Dachboden. Amirah zog etwas die Nase kraus, als sie ihr von dem defekten Schloss an der Kellertür erzählte.

„Aber diese Lindsey kümmert sich drum, sagst du? Sonst muss ich das mit aufnehmen. Du glaubst nicht, weswegen manche Leute sich nach einem Hauskauf noch beschweren.“ Mit den Augen rollend trat Amirah an eines der Dachfenster und schaute nach draußen. „Einer beklagte sich, dass ich ihm nicht gesagt hatte, dass die Rosen in seinem Garten nicht nur rote Blüten hätten, sondern auch in Rosa, Weiß und Gelb blühten. Die Farben würden seine Frau und er nicht mögen und es sei unmöglich, dass ich ihm das verschwiegen hätte. Als ob man an sowas denkt, zumal er nicht mal gefragt hat.“

„Ich kann mir schon vorstellen, dass ihr da schwierige Kunden habt.“

„Aber es gibt auch ganz süße unter ihnen. Einer schickte uns ein Bild, das seine Tochter gemalt hatte. So als Dank, dass sie nun ein eigenes Zimmer hatte und nicht mehr mit ihrem großen Bruder eines teilen muss. Es sollte zwar mich zeigen, aber ich meine noch immer, dass es eigentlich ein Bär war.“ Amirah kicherte, dann runzelte sie die Stirn. „Da läuft einer durch den Wald.“

„Das kann gut sein. Spaziergänger oder Jogger wird es hier wohl öfter geben.“ Harper zuckte mit den Schultern.

„Sah eher wie ein Kind aus.“

„Vielleicht ein Familienspaziergang.“

„Kann sein. Okay.“ Amirah drehte sich zu ihr um und grinste bereits wieder. „Ich mach jetzt noch ein paar Fotos, dann kann ich im Büro ein schönes Angebot erstellen. Mein Kollege hat seinen Kunden mal deine Fotos zugeschickt. Sie sind sich noch unschlüssig, aber er meinte, sie klangen durchaus angetan, sich das hier als Ferienhaus zuzulegen.“

„Das klingt doch schon mal gut.“ Vor allem ging es auch schneller, als Harper erwartet hatte. Sie folgte Amirah nach unten, wo diese ihre Kamera auspackte und anfing, Fotos von den unterschiedlichen Räumen zu schießen. Auch vom Dachboden machte sie Fotos und lächelte.

„Kann man sowohl als Atelier anpreisen, als auch einem Heimwerker schmackhaft machen, dass man den Dachboden noch ausbauen könnte. Kannst du es dir vorstellen? So eine hübsche kleine Wohnung hier oben? Mir würde es gefallen.“ Vorstellen konnte Harper es sich, aber sie hätte hier nicht wohnen wollen. Zum Glück waren Geschmäcker verschieden und irgendwem würde das Haus schon gefallen.

Als Amirah schließlich fertig war, beschlossen sie in der Pizzeria zu essen. Amirah wollte zu Fuß gehen, weit war es immerhin nicht. Als Harper ihr von den Wolfssichtungen erzählte, winkte Amirah ab und zeigte ihr ihr Pfefferspray.

„Hilft auch bei Wölfen. Komm schon, lass uns gehen.“ Sie zog Harper mit sich und die gab sich geschlagen. Unterwegs erzählte sie Amirah von ihrem Verdacht, dass ihre Mutter ihr etwas bezüglich ihrer Familie und Halfell verheimlichte.

„Und nun weiß ich nicht, wie ich sie zum Reden bringen soll. Ich hab auch schon geschaut, ob es Tagebücher oder so gibt, hab aber nur ein paar alte Fotoalben gefunden. Die waren auch nicht so aufschlussreich. Nicht mal beschriftet waren die Bilder. Keine Jahreszahlen, keine Namen, nichts.“

„Hm, find ich jetzt nicht ungewöhnlich. Ich beschrifte meine Fotos auch nicht, nur die Alben kriegen einen Titel. Sowas wie Familienurlaub oder Florida oder so.“ Amirah hob die Schultern. „Ich weiß ja, wer da drauf zu sehen ist.“

„Ja, schon klar, aber mir würde es echt helfen, da mal ein wenig Ordnung reinzubringen. Jedenfalls irgendwie.“

„Am Telefon ist das eh immer schlecht, finde ich. Warte, bis du wieder in New York bist, geh sie besuchen und dann quetsch sie aus. Löcher sie so lange mit nervigen Fragen, bis sie aufgibt.“

„Hatte ich schon gemacht, bevor ich hergekommen bin. Als ich den Brief von dem Anwalt bekommen habe, habe ich meine Mutter sofort ausgefragt. Ich dachte ja, das wäre irgendwie ein Versehen oder ein blöder Scherz oder so.“ Harper seufzte leise auf. „War es aber nicht. Und Antworten gab es kaum welche. Nur Dinge, die wie auswendig gelernt klingen.“

„So blöd es auch klingt, deine Mutter meint es sicher nur gut und will dich schützen.“

„Schützen wovor? Vor Verwandten, die lange tot sind?“ Harper schnaubte und Amirah zuckte mit den Schultern.

„Keine Ahnung. Eltern können manchmal echt seltsam sein. Frag sie einfach noch mal aus, wenn du wieder in New York bist. Ich denke immer noch, übers Telefon bringt das nichts. Da wird sie nur weiter mauern, außerdem ist es sehr leicht einfach aufzulegen.“ Sie wies nach vorne. „Und da sind wir auch schon. Und du wolltest mit dem Auto fahren. Weit und breit kein Wolf.“

„Na, zum Glück.“ Die Begegnung mit einem Wolf wäre wohl noch die Krönung ihres Besuches hier gewesen. Harper führte Amirah zu der Pizzeria und zeigte ihr dabei auch Brielles Laden. Sie machten ab, nach dem Essen auf einen Kaffee zu ihr zu kommen.

Die Pizzeria war gut besucht. Ein paar Jugendliche hatten zwei Tische zusammengeschoben, unterhielten sich lautstark und lachten immer wieder los. An drei Tischen saßen Eltern mit ihren Kindern, an einem weiteren Tisch entdeckte Harper die junge Frau, die sie bereits in der Kirche gesehen hatte. Sie saß mit zwei Freundinnen zusammen und unterhielt sich angeregt.

Amirah steuerte zielstrebig einen der beiden freien Tische an. Er stand ausgerechnet neben dem, an dem vier junge Männer saßen, die mit ihren langen Haaren, den dunklen Lederjacken und den Bikerstiefeln völlig dem Klischeebild eines Rockers entsprachen.

Auf dem Tisch gab es nur eine Karte. Amirah schob sie ihr hin und beugte sich zu den jungen Männern hin, um nach deren Karte zu fragen. Harper fragte sich, ob ihr das schon vorher aufgefallen war und sie deswegen diesen Tisch angesteuert hatte. So hatte sie immerhin einen Vorwand, die Männer anzusprechen, und Harper wusste von Amirahs Schwäche für langhaarige Rockertypen.

Sie vertiefte sich in die Karte, während Amirah ein wenig mit einem der Männer flirtete und sich von ihm eines der Nudelgerichte empfehlen ließ. Die Kellnerin kam zu ihnen und nahm ihre Bestellung auf. Sie schaute etwas verwundert, als zwei der Männer jeweils eine weitere Pizza orderten, nahm aber auch diese Bestellung auf.

Amirah führte ihren Flirt weiter und Harper versuchte, sich ihre Unruhe nicht anmerken zu lassen. Irgendetwas an den Männern machte sie nervös, auch wenn sie nicht sagen konnte, was es war. Sie waren ruhig und freundlich, lachten und scherzten. Insgesamt verbreiteten die Jugendlichen mehr Unruhe als diese vier. Und doch war da etwas, was ihr eine Gänsehaut verursachte.

„Du musst die Solomon sein“, wandte einer der Männer sich plötzlich an sie. Harper sah ihn überrascht an, dann nickte sie.

„Harper Solomon, richtig.“

„Hier spricht sich alles recht schnell rum.“ Der Mann grinste breit. „Caelan Foster. Ich hab deiner Großtante manchmal auf dem Grundstück ausgeholfen. Gärtnerarbeiten und sowas halt.“

„Ah, okay.“ Warum schrie plötzlich alles in ihr danach, aufzuspringen und wegzulaufen? Harper musste sich zwingen, sitzenzubleiben. Caelan betrachtete sie mit einem seltsamen Blick, dann grinste er beinahe noch breiter. Als er sich zu ihr vorbeugte, versteifte Harper sich.

„Keine Sorge, das Kriegsbeil ist lange begraben“, raunte er ihr zu und sie sah ihn verwirrt an.

„Was meinst du damit?“ fragte sie. Er legte den Kopf schief und musterte sie, dann huschte sein Blick kurz zu Amirah, bevor er wieder Harper ansah.

„Nicht vor ihr, oder?“

„Ich weiß echt nicht, wovon du redest.“ Langsam wurde es Harper zu viel. Ihre Mutter hatte Geheimnisse vor ihr, Wendy machte seltsame Andeutungen und nun auch noch Caelan, den sie gar nicht kannte und der so tat, als teilten sie ein Geheimnis.

Zum Glück kam ihr Essen nun und Harper konzentrierte sich voll und ganz auf dieses. Sie bemerkte zwar, dass Caelan sie immer wieder mal ansah, aber sie ignorierte ihn, so gut sie konnte. Amirah flirtete immer noch mit einem seiner Freunde und schien nichts von Harpers Unbehagen zu merken.

Harper war weit vor Amirah fertig und rutschte unruhig auf ihrem Stuhl hin und her. Schließlich stand sie auf. Amirah sah zu ihr und sie lächelte schwach.

„Ich geh etwas frische Luft schnappen. Die Kids da drüben sind mir zu laut, ich krieg Kopfschmerzen. Bin gleich wieder da.“

„Soll ich uns Nachtisch bestellen? Sie haben Panna Cotta, hab ich gesehen.“

„Ja, gerne.“ Harper verließ den Laden und atmete draußen tief durch. Kaum weg von den vier Männern fühlte sie sich deutlich besser. Sie hörte, wie sich die Ladentür öffnete und drehte sich um. Caelan war ihr gefolgt. Er hob die Hände, als sie unwillkürlich einen Schritt zurückwich.

„Hey, ich sagte doch, das Kriegsbeil ist lange begraben.“

„Und ich sagte, ich weiß nicht, wovon du sprichst.“

„Du meinst das ernst, oder?“ Caelan sah sie forschend an, dann seufzte er. „Scheiße. Ernsthaft jetzt?“

„Offensichtlich. Hat dein seltsames Verhalten auch mit dem seltsamen Solomongeheimnis zu tun, von dem meine Mutter mir nichts erzählen will? Ich hab echt langsam die Schnauze voll. Niemand erzählt mir was, du tust so, als müsste ich irgendwas wissen, was Wichtiges wohl auch noch.“ Harper warf die Arme in die Luft. „Aber ich habe schlicht keine Ahnung.“

„Okay, wow. Hatte ich nicht erwartet. Ich meine, du bist mit deiner Mutter die letzte Solomon, jedenfalls aus dieser Linie, und du weißt nichts. Das ist scheiße.“ Caelan seufzte und trat näher an sie heran. Harper schaffte es nur mit Mühe, ihm nicht auszuweichen. „Das ist aber kein Thema für hier mitten auf der Straße. Nein, keine Sorge, ich will dich nicht an irgendeinen einsamen Ort einladen.“ Er grinste.

„Witzig, ich hätte auch nicht angenommen“, entgegnete Harper bissig und Caelan lachte herzhaft.

„Glaub ich dir. Selbst wenn du es nicht weißt, deine Instinkte funktionieren.“ Er winkte ab, als Harper nachhaken wollte, was er meinte. „Später, okay? Deine Freundin ist abgelenkt, lass uns ein Stück gehen. Die Kirche ist nah, wir können uns in den Kirchhof setzen. Da wird uns niemand belauschen.“

„Klingt sehr geheimnisvoll“, murmelte Harper. Sie zögerte einen Moment, dann nickte sie. Ihre Neugier wog stärker als ihre irrationale Angst vor Caelan. Er lächelte leicht und ging los.

„Je nach Standpunkt ist es das wohl auch.“

 

Kapitel 8

Bei der Kirche angekommen suchte Caelan eine Sitzbank an einer Wand aus, von der der Hof und der Weg hierher gut einsehbar war. Er drehte sich zu Harper um und musterte sie eingehend, bevor er leise seufzte.

„Also, du weißt nichts.“

„Jedenfalls nichts über meine Familie.“

„Dann wird das jetzt schwierig. Du kannst dir vorstellen, dass es Dinge gibt, die Außenstehenden schwer zu erklären sind.“ Caelan fuhr sich durch die Haare.

„Mag sein. Aber was ist das für ein Familiengeheimnis, wenn du davon weißt? Du bist ja wohl kein Solomon.“

„Nein, bin ich nicht.“ Caelan atmete tief durch. „Hör mir einfach zu und lauf nicht gleich weg, okay?“ Harper sah ihn scharf an.

„Wie wäre es, wenn du einfach anfängst? Was ist los? Was hat meine Großmutter gemacht? Jemanden umgebracht? War das der große Skandal?“

„Nicht direkt.“

„Was soll das denn heißen?“ entfuhr es Harper. „Indirekt schon oder was? Das kann doch jetzt nicht wahr sein.“

„Okay, fangen wir anders an. Du hast dich unwohl gefühlt in unserer Gegenwart. Tust es immer noch bei mir, oder?“ Sie nickte zögernd und er lächelte schief. „Ich“, wieder atmete er tief durch, „rieche es.“ Harper hob die Augenbrauen.

„Du riechst es“, wiederholte sie tonlos.

„Ja. Jetzt guck mich nicht so an.“ Er seufzte leise auf. „Du wolltest am liebsten weglaufen, nicht wahr? So viele Meilen wie nur möglich zwischen uns bringen.“ Harper sah ihn entgeistert an.

„Das stimmt“, gab sie mit leiser Stimme zu. „Aber wie kannst du so etwas riechen?“ Hätte er gesagt, er habe es in ihrer Mimik erkannt, hätte sie ihm ohne zu zögern geglaubt. Aber niemand konnte Gefühle und Gedanken anderer riechen.

„Okay, ich entnehme deiner Skepsis, dass du nicht an das Übernatürliche glaubst.“ Caelan sah sie fragend an und sie schnaufte.

„Komm mir jetzt nicht damit, dass du ein Medium bist oder so. Das ist doch Blödsinn.“

„Eben nicht. Also, ich bin kein Medium, aber es ist kein Blödsinn. Es gibt Medien und es gibt andere Wesen und Dinge, deren Existenz die meisten Menschen leugnen oder einfach nicht wahrhaben wollen.“

„Blödsinn“, wiederholte Harper heftig und stand auf. „Hör mal, verarschen kann ich mich selbst. Ich …“

„Du willst wissen, was das Geheimnis der Solomons ist. Dazu solltest du offen für das Übernatürliche sein. Ich weiß nicht, warum deine Mutter dir alles verschwiegen hat, aber ich weiß, dass es nicht gutgehen wird.“ Caelan wies neben sich. „Setz dich und hör mir einfach zu.“ Harper wollte gar nichts mehr hören. Immer noch sträubte sich alles in ihr, in Caelans Nähe zu bleiben. Dennoch setzte sie sich nach ein paar Herzschlägen wieder.

„Okay. Das Übernatürliche. Du bist … Was? Ein Zauberer?“ Sie versuchte spöttisch zu grinsen, merkte aber, dass es ihr misslang. Caelan lachte.

„Nein. Ich bin ein Werwolf.“

„Ein Werwolf. Na klar. Warum bin ich darauf nicht gleich gekommen.“ Harper schüttelte den Kopf. „Aber okay, ich höre zu. Du bist also ein Werwolf. Sind wir Solomons auch welche? Ich hab mich allerdings nie an Vollmond verwandelt und habe auch keine Gedächtnislücken.“ Caelan grinste.

„Könnte dran liegen, dass du keiner bist. Die Solomons, also die richtigen, nicht die eingeheirateten, sind allesamt bis hin zu deinen Urgroßeltern Druiden.“

„Druiden, klar.“ Harper runzelte die Stirn. „Was sind Druiden?“ Caelan schnaufte.

„Druiden sind Naturmagier. Sie stammen ursprünglich aus dem keltischen Bereich, zogen sich aber stark zurück, als die Kelten untergingen. Einige überlebten, unter anderem die Solomons.“ Caelan fuhr sich durch die Haare. „Wir Werwölfe konnten mit den Druiden und Hexen nicht viel anfangen. Sie kamen nach Halfell, in unser Revier, und breiteten sich einfach aus, benutzten ihre Magie … Kurzum, es gab Krieg.“

„Krieg jetzt auch noch.“ Harper schüttelte den Kopf und versuchte, sich ein Lachen zu verkneifen. „Das klingt ganz schön abgefahren, das ist dir klar, oder? Bist du vielleicht so ein Hobbyschriftsteller?“

„Nein. Ich sagte ja, manches ist Außenstehenden schwer zu erklären. Und Solomon hin oder her, du weißt nichts, damit bist du eine Außenstehende. Aber weiter. Wie gesagt, es gab diesen Krieg zwischen unseren Seiten. Irgendwann beschlossen aber sowohl die Druiden als auch wir Werwölfe, dass der nun lange genug gedauert hat. Deine Urgroßeltern und meine schlossen einen Friedenspakt.“

„Und deswegen hast du bei Catherine gegärtnert. Weil jetzt Frieden herrscht.“

„Um ehrlich zu sein, war ich mehr ein Wachhund als ein Gärtner. Seit ein paar Jahren schleichen hier fremde Wölfe herum. Werwölfe, um genau zu sein. Wir mögen Frieden mit den Druiden geschlossen haben, andere Werwölfe aber nicht und Catherine war beunruhigt.“

„Du meinst das wirklich alles ernst, oder?“ Harper sah Caelan verwirrt an und schüttelte den Kopf. „Komm schon, du machst doch nur Witze.“

„Nein, mach ich nicht.“ Caelan sah sie ernst an. „Ich bin ein Werwolf, Harper. Du bist … was anderes.“

„Eine Druidin.“

„Zum Teil.“ Caelan zog die Nase kraus. „Damit kommen wir zu dem Teil mit deiner Großmutter. Ich war natürlich nicht dabei, ich kenne die Geschichte nur von meiner Mutter. Nun, Rachel war in ihrer Ehe nicht glücklich. Sie hatte, wie auch Catherine, einen Werwolf geheiratet, um den Friedenpakt auf diese Weise noch einmal zu festigen. Aber im Gegensatz zu Catherine entwickelte sie keine Gefühle für ihren Mann. Und dann war sie schwanger, allerdings ohne dass sie und ihr Mann je Sex gehabt hätten. Beteuerte er jedenfalls und die anderen Werwölfe konnten riechen, dass Rachels Kind auch kein Werwolf war.“

„Das könnt ihr also auch riechen.“

„Wir können so einiges riechen.“ Caelan grinste kurz. „Nun, Rachel bekam dann ihr Kind und da erkannten auch die Druiden, dass es kein Werwolf war. Es war auch nicht halb menschlich, das hatten die Werwölfe ebenfalls schon während Rachels Schwangerschaft ausgeschlossen. Sie selber wollte nie etwas über den Vater ihrer Tochter sagen.“

„Aha. Eine geheimnisvolle Schwangerschaft. Rachel war aber nicht von Aliens entführt worden und kam schwanger zurück, oder?“

„Natürlich nicht.“ Caelan seufzte. „Ich seh ja, du nimmst das alles nicht ernst. Frag einfach deine Mutter mal danach. Rachel blieb ein paar Jahre hier, aber lange hielten sie die Anfeindungen ihrer Familie und der Werwölfe nicht aus. Also packte sie ihre Sachen und zog samt deiner Mutter weg.“

„Nach Montreal.“

„Ja. Direkt in ein Nest von Hexen und Dämonen. Ehrlich, in der Stadt begegnest du denen ständig.“

„Da fällt ja eine Druidin nicht weiter auf, oder?“

„Wenig, das stimmt. Aber deine Mutter fiel auf.“

„Schon klar. Ihr geheimnisvoller Vater. Was war er? Ein Vampir?“ Harper kicherte und Caelan schnaufte empört.

„Die können keine Kinder zeugen, zum Glück. Ekelhafte tote Brut.“ Er schüttelte sich.

„Komm schon. Wo du mir so schön alles erzählst, kannst du mir nun auch sagen, wer oder was mein Großvater ist. Kein Werwolf, kein Mensch, kein Vampir. Vermutlich auch kein Zauberer? Oh, ja, genau. Er war ein Dämon!“

„Ein Inkubus, um genau zu sein.“

„Ein was?“

„Na ja, ganz vereinfacht ist ein Inkubus ein männlicher Sexdämon. Er sucht nachts Frauen heim, schläft mit ihnen und schwängert manche. Damit hätte deine Familie wohl leben können, aber Rachel gab zu, ihn gerufen zu haben.“

„Ein Sexdämon.“ Harper prustete los und stand auf. „Echt, eine wirklich tolle Story, aber der Sexdämon schießt alles ab. Ich geh jetzt lieber zurück, bevor Amirah sich fragt, wo ich stecke.“

„Ich kenne deine Mutter nicht, aber an dir rieche ich kaum Sukkubusblut. Sukkubi sind die weibliche Variante dieser Dämonen. Du dagegen …“ Caelan stand ebenfalls auf, trat zu ihr und schnupperte. „Druidin, eindeutig. Dein Vater ist wohl ein Druide, wenn das bei dir so stark rauskommt.“

„Keine Ahnung, er starb vor meiner Geburt. Vielleicht war er auch eine Elfe.“ Harper kicherte.

„Sprich mit deiner Mutter. Frag sie nach all diesen Dingen. Du hast gesagt, sie habe nicht mit dir reden wollen. Frag sie gezielt nach allem, was ich dir gerade erzählt habe.“ Caelan setzte sich in Bewegung und Harper folgte ihm.

„Ich werde meine Mutter doch nicht nach solchem Blödsinn fragen.“

„Du willst doch die Wahrheit über deine Familie wissen. Also, frag deine Mutter.“ Caelan lächelte leicht. „Was hast du schon zu verlieren? Entweder hält sie dich für völlig übergeschnappt oder sie knickt ein und will wissen, wer dir das alles erzählt hat. Ich weiß eh nicht, warum sie es dir verheimlicht hat.“

„Stimmt. Du sagtest was davon, dass es schiefgehen wird.“ Harper sah ihn fragend an. „Was meintest du damit? Wird dann der Krieg zwischen unseren Familien wieder ausbrechen?“

„Nein, das wird sicher nicht so bald passieren. Hey, wir stehen gar nicht so auf Kämpfe, wie man glauben könnte, wenn man sich manche Filme über Werwölfe ansieht.“ Caelan lachte leise, wurde aber schnell wieder ernst. „Nein, da ist noch etwas anderes. Da du mir aber bisher schon nicht geglaubt hast, überlasse ich das Thema dann mal deiner Mutter. Wenn sie meint, sich dem entziehen zu können, bitte.“

„Oh, komm schon. Sind dir die Ideen ausgegangen?“ Harper sah ihn herausfordernd an. Caelan blieb stehen und griff nach ihrem Arm.

„Okay, du wolltest es wissen“, begann er leise. „Die Druiden und Hexen waren nicht die einzigen, die ihren Weg nach Halfell fanden. Es kamen auch Vampire. Einer davon war Samuel. Keine Ahnung, ob das sein echter Name ist. Er war alt, schon als er nach Halfell kam. So alt, dass seine Wunden einfach heilten, wenn man ihm überhaupt eine zufügen könnte. Das war das erste Mal, dass die Werwölfe von Halfell sich mit den Druiden zusammentaten, denn sie wussten, dass die eine Möglichkeit haben, andere Wesen gefangen zu halten. Dauerhaft.“

„Alles klar. Haben sie den Vampir bei sich im Keller vergraben? Meine Kellertür spinnt nämlich, vielleicht ist er das.“ Harper grinste. „Nette Geschichte, echt.“

„Er ist unter der Kapelle des Solomonfriedhofs begraben“, erklärte Caelan mit ruhiger Stimme. „Die Bäume, die um den Friedhof wachsen, sind Ebereschen. Druiden arbeiten viel mit Bäumen und Pflanzen allgemein. Samuel ist in einem Steinsarg unter der Kapelle begraben, gefangen durch Druidenblut und uralte Magie, die in den Pflanzen ruht und von den Druiden geweckt wurde.“

„Ah ja.“ Harper schüttelte den Kopf. „Warum hat man ihn nicht einfach verbrannt oder in die Sonne gestellt?“

„Ich sagte doch, er war kaum zu verletzen. Selbst in der Sonne brannte er kaum. Er muss uralt sein.“

„Silberkugeln? Weihwasser? Köpfen?“

„Hat alles nichts gebracht. Silberkugeln sind übrigens für uns tödlich, nicht für Vampire. Die lachen über Kugeln nur, egal aus welchem Material.“

„Nun ja, die Kirche wird sich um ihn kümmern. Mom hat mir zumindest erzählt, dass Rachel den Friedhof an die Stadt gegeben hat.“

„Dann hat sie gelogen. Ich weiß von Catherine, dass der Friedhof nicht offiziell in ihren Unterlagen auftaucht, aber allen Vermessungen nach gehört den Solomons das Land, auf dem er errichtet ist, immer noch.“

„Na ja, wie auch immer. Wie gesagt, schöne Geschichte. Ich hoffe, ich bekomme von diesem Unsinn heute Nacht keine Alpträume.“ Harper ging weiter und war froh, als sie die Pizzeria sah. Caelan sagte nichts mehr, er betrachtete sie bloß hin und wieder mit einem seltsamen Ausdruck in den Augen.

Sie beeilte sich und betrat den Laden, der sich merklich geleert hatte. Die Jugendlichen waren weg, dafür hatten Amirah und Caelans Freunde sich zusammengesetzt. Amirah grinste leicht, als sie zu Harper und Caelan sah.

„Dein Panna Cotta hab ich jetzt gegessen“, erklärte sie. „Aber wir könnten uns welches mitnehmen, was meinst du? Was macht dein Kopf?“

„Dem geht es besser. Ich hab einen kleinen Spaziergang gemacht.“ Harper holte ihr Portemonnaie heraus. „Wollen wir gehen?“

„Jack hier will mir ein wenig Halfell zeigen. Wenn ich schon mal hier bin, warum nicht einen kleinen Rundgang machen? Dann kann ich potentiellen Käufern gleich von der Stadt vorschwärmen, das macht sich immer gut.“ Amirah sah sie fragend an. „Kommst du mit?“ Alleine würde sie nicht gehen, das wusste Harper. Um Amirah nicht den Tag zu vermiesen, nickte sie. „Prima. Also, dann los. Einmal Halfell und Umgebung.“

Nachdem sie bezahlt hatten, verließen sie die Pizzeria und Jack übernahm die Führung. Harper hielt sich an Amirahs Seite, hörte aber kaum zu, was Jack erzählte. Immer wieder ging sie Caelans Geschichte durch.

Natürlich war sie totaler Unsinn, wahrscheinlich hatte er sich alles in dem Moment ausgedacht, in dem er es aussprach. Und dennoch – er hatte die ganze Zeit über so gewirkt, als ob er jedes einzelne Wort ernst meinte.

 

Kapitel 9

Nach der Führung durch Halfell holten Amirah und Harper sich Pizza und Panna Cotta für den Abend und machten sich so beladen auf den Rückweg. Amirah schwärmte von dem Charme der Kleinstadt und versicherte Harper, dass sie das Haus sicher schnell verkaufen konnte.

Harper versuchte die Gedanken an Caelans Geschichte zu verdrängen. Werwölfe, Druiden, Vampire – das waren Märchen, Geschichten, um Kinder zu erschrecken und sich zu gruseln, mehr nicht. Dass sie sich unwohl in seiner Nähe fühlte, hatte er sicherlich an ihrer Mimik und Körperhaltung erkannt und sich dann diese Geschichte ausgedacht.

Je länger sie darüber nachdachte, desto wahrscheinlicher erschien ihr das. Vermutlich dachte er, sie habe Vorurteile gegenüber Rockertypen wie ihm und seinen Freunden, und hatte sie deswegen hochnehmen wollen.

Das wird es sein, dachte sie bei sich. Er hatte sich mit der Fremden einfach einen Spaß erlaubt. Vermutlich lachten er und seine Freunde sich gerade über sie kaputt. Sie konnte es ihnen nicht verübeln. Caelan so lange zuzuhören war reine Zeitverschwendung gewesen.

Damit hakte sie die Begegnung ab und genoss den Abend mit Amirah. Entgegen ihrer ersten Pläne hatte Amirah sich doch für den Flug entschieden, sodass sie nicht hetzen musste. Sie war neugierig auf das Haus und Halfell, wie sie zugab. Leben wollte sie selber zwar auch nicht in so einem kleinen Ort, aber es gefiel ihr hier.

„Und wenn du das Haus doch nicht so schnell loswirst, machen mir einfach Urlaub hier“, erklärte sie, während sie die Oliven von ihrer Pizza pulte und verschlang.

„Abgemacht.“ Der Film, den sie sich ausgesucht hatten, lief eher nebenher, während sie sich unterhielten. Als ihnen die Augen zufielen, beschlossen sie schließlich ins Bett zu gehen. Amirah bezog eines der Gästezimmer im Erdgeschoss und Harper ließ sich einfach ins Bett fallen.

Allerdings wollte der Schlaf nicht kommen. Jetzt, da sie keine Ablenkung mehr hatte, kehrten ihre Gedanken wieder zu Caelans Geschichte zurück. Wie hatte er bei dem Unsinn die ganze Zeit so ernst bleiben können?

Nun wieder hellwach drehte Harper sich frustriert auf die Seite. Es war unglaublich, dass sie diese Geschichte so sehr beschäftigte. Caelan hatte es aber auch recht geschickt angestellt, überlegte sie.

Er beobachtete ihre Mimik, zog seine Schlüsse daraus und schob diese auf seine gute Nase als Werwolf. Dann nutzte er die Wolfssichtungen aus und behauptete, das seien fremde Werwölfe. Mit seiner Fantasie sollte er sich überlegen, doch ein Buch zu schreiben.

Eine weniger fantastische Geschichte hätte sie vielleicht sogar glauben können. Hätte er ihr erzählt, Rachel wäre beim Geheimdienst gewesen und hätte deswegen nach Montreal gehen müssen – seltsam, unwahrscheinlich, aber immer noch deutlich glaubwürdiger als Druiden und Werwölfe.

 

Als ihr Wecker klingelte, schreckte Harper hoch. Da war sie doch irgendwann eingeschlafen. Zum Glück hatte sie keine Alpträume von Caelans wirrer Geschichte gehabt. Sie gähnte und stand auf, um sich zu waschen und die Zähne zu putzen.

Aus der Küche zog Kaffeeduft in ihre Nase. Sie überlegte, ob sie gemeinsam mit Amirah abreisen sollte. Der Gedanke erschien ihr verlockend, zumal sie hier nichts mehr zu tun hatte. Sie konnte Amirah am Flughafen noch ein bisschen Gesellschaft leisten und dann ganz gemütlich ihre Fahrt fortsetzen.

Einmal entschieden, rief sie Lindsey und Brielle an, um die Abholung des Schaukelstuhls zu klären. Danach erklärte sie Amirah ihren Plan und die nickte verständnisvoll. Sie nahm an, Harper wolle so bald wie möglich mit ihrer Mutter sprechen.

Das war auch ein Grund, warum Harper sich für die Abreise entschieden hatte. Sobald sie in New York war, würde sie ihre Mutter erneut zur Rede stellen. Irgendwann musste sie doch einfach einknicken und ihr alles erzählen.

Nachdem sie noch einmal alle Fenster und Türen überprüft hatte, verließ Harper das Haus und machte sich mit Amirah auf den Weg Richtung Montreal. Es waren wenig andere Autos unterwegs, sodass sie gut vorankamen.

In Montreal angekommen, musste Harper wieder an Caelans Geschichte denken. Ein Nest von Hexen und Dämonen. Als sie Amirah zu einem Café im Flughafen folgte, stellte sie sich unwillkürlich vor, dass alle Menschen um sie herum Hexen oder auch Dämonen waren.

Harper schauderte und hätte sich am Liebsten selber in den Hintern getreten. Da dies nicht ging, kniff sie sich unauffällig in den Unterarm. Sie war eine blöde Gans. Es gab keine Hexen oder Dämonen, keine Werwölfe, Druiden oder Vampire. Warum ließ sie sich von Caelan so aus der Fassung bringen?

Sie hatten Zeit für einen Kaffee und einen Muffin, bevor Amirah einchecken musste. Harper wartete, bis ihr Flugzeug gestartet war, dann verließ sie den Flughafen wieder und machte sich auf den Weg nach New York.

 

Am Montagmorgen schließlich überfiel Harper ihre Mutter mit frischen Bagels und ein paar Croissants. Auch Winnie hatte sie nicht vergessen, sie hatte unterwegs bei einem Fleischer ein paar Hühnerherzen für ihn erstanden. Maunzend strich er um ihre Beine, während ihre Mutter Kaffee kochte.

„Das Haus ist jetzt in den besten Händen. Lindsey kümmert sich weiter darum und Amirah macht die Anzeigen fertig.“ Sie nahm ein Messer, zerteilte zwei der Hühnerherzen und legte sie in Winnies Napf. Schnurrend machte er sich über die Leckerei her.

„Das ist gut. Hast du schon überlegt, was du mit dem Geld machen willst?“

„Erst einmal haben.“ Harper spülte das Messer ab, wobei sie wieder an Caelans Geschichte dachte. „Ich hab eine irre Geschichte gehört.“ Sie trocknete das Messer ab und steckte es zurück in die Schublade. Ihre Mutter sah sie fragend an.

„Ach ja? Was denn?“

„Na ja.“ Harper grinste. „Da war so ein Typ, der wollte mir weismachen, er sei ein Werwolf und ich eine Hexe.“ Ihre Mutter wurde bleich und erstarrte, während sie gerade nach dem Zucker griff. „Er kam mir ganz nüchtern vor, aber ein bisschen durchgeknallt war er wohl doch.“

„Ja, muss wohl“, murmelte ihr Mutter und führte fahrig ihre Bewegung zu Ende. Das Zuckerglas fiel um und nur der Deckel verhinderte, dass der Zucker sich überall auf der Arbeitsplatte verstreute. „Oh, Mist.“

„Mom? Was ist los?“

„Nichts, nichts. Einfach diese Irren, die es heutzutage einfach überall gibt. Hier laufen sie doch auch in Scharen herum.“

„Das stimmt.“ Die Reaktion ihrer Mutter verwirrte Harper. Sie hatte gedacht, ihre Mutter würde die Geschichte mit einem Augenrollen und einem Lachen abtun, aber sie wirkte geradezu geschockt. Harper zupfte wie beiläufig ihr T-Shirt zurecht und beobachtete ihre Mutter bei ihren nächsten Worten genau. „Dann meinte er noch, Rachel sei mit einem Dämon durchgebrannt.“ Ihre Mutter fuhr zusammen und krallte sich in die Arbeitsfläche. „Mom?“

„Wer erzählt solchen Blödsinn?“ wisperte ihre Mutter, den Blick starr auf die Kaffeemaschine gerichtet. „Ach, egal, derjenige ist doch einfach völlig durchgedreht.“

„Dafür reagierst du gerade ziemlich seltsam.“ Harper packte ihre Mutter an der Schulter und drehte sie zu sich um. „Raus mit der Sprache. Was ist los? Warum hast du nie von Halfell erzählt?“

„Weil es nichts zu erzählen gibt.“ Ihre Mutter klang trotzig und Harper schnaubte.

„Ich glaube doch, sonst würdest du dich nicht so seltsam aufführen. Ach ja, dieser Möchtegernwerwolf meinte noch, es kämen fremde Werwölfe nach Halfell. Sind das Codenamen für irgendwelche Gangs oder so? Mom, jetzt komm schon. Sag mir endlich, was los ist. Wendy wollte mir auch nichts erzählen, aber sie machte auch deutlich, dass es was zu erzählen gibt.“

„Wendy?“

„Wendy Jeffrey, die Tochter einer Freundin von Catherine. Du willst mir ja nichts erzählen, also dachte ich, ich höre mich in Halfell mal um.“

„Jeffrey … Caroline Jeffrey? Ich erinnere mich kaum an sie. Catherine und sie haben schon früher viel Zeit zusammen verbracht.“ Ihre Mutter rieb sich über das Gesicht.

„Mom, ich werde nicht aufhören zu fragen, bis du mir endlich erzählt hast, was los ist. Warum hat Rachel Halfell verlassen? Warum hast du mir nie was von Halfell erzählt, von der ganzen Familie da? Und jetzt sag nicht wieder, dass es nichts zu erzählen gibt. Gäbe es nichts zu erzählen, würdest du dich nicht so aufführen.“

„Harper, lass es doch einfach gut sein“, bat ihre Mutter, doch Harper schüttelte den Kopf.

„Nein. Ich will es wissen. Und ich kann genauso stur sein wie du.“ Sie betrachtete ihre Mutter, die leise seufzte und sich an den Küchentisch setzte. Harper nahm ihr gegenüber Platz und sah sie abwartend an. Ihre Mutter schwieg noch eine Weile, dann seufzte sie erneut.

„Rachel verließ Halfell, weil sie die Anfeindungen ihrer Familie ihr und mir gegenüber nicht mehr aushielt“, begann sie und Harpers Herz machte einen Satz. Endlich bekam sie ihre Antworten. „Sie war verheiratet, aber sie liebte ihren Mann nicht. Also …“ Ihre Mutter schluckte. „Also bediente sie sich ihres Wissens und ihrer Fähigkeiten, um einen Inkubus zu rufen. Das ist … in der Tat eine Art Dämon.“ Um Harper begann sich alles zu drehen.

Sie hatte nicht von einem Inkubus gesprochen.

Dass ihre Mutter nun genau diesen erwähnte, konnte nur bedeuten, dass Caelans Geschichte stimmte. Aber das konnte doch nicht sein. Es gab keine übernatürlichen Wesen.

„Sie hatte es ihren Eltern einfach nie verziehen, dass sie bestimmt hatten, wen sie heiraten sollte“, fuhr ihre Mutter leise fort. „Catherine war mit ihrer Wahl glücklich. Sie verliebte sich fast Hals über Kopf in ihren Mann. Er hieß Jeffrey, der gleiche Name, den ihre beste Freundin als Familiennamen trug. Sie nahm es als gutes Zeichen.“

„Ich habe seinen Grabstein gesehen“, murmelte Harper, den Blick regungslos auf ihre Mutter gerichtet.

„Sie sind alle da. Jeder einzelne Solomon, ob von Geburt oder durch Heirat.“ Ihre Mutter stand auf und holte die Kaffeekanne und das Zuckerglas. Sie füllte zwei Tassen und gab in ihre drei Löffel Zucker. Gedankenverloren rührte sie in ihrer Tasse. „Ich wollte dir das alles nie erzählen. Ich dachte … ich dachte, ich kann es enden lassen. Diesen ganzen Mist, die Wache über Samuel, die ständige Sorge um Angriffe fremder Werwölfe oder gar der Vampire.“

„Caelan erwähnte den Namen auch“, gab Harper tonlos von sich. Ihre Mutter sah sie an und seufzte schwer.

„Ich kann mir vorstellen, dass es nicht leicht für dich ist, Harper. Aber das alles, diese ganzen Wesen, die von den meisten Menschen als Humbug abgetan werden, das alles gibt es wirklich. Wir Solomons sind in erster Linie Druiden, hin und wieder haben auch Hexen eingeheiratet. Meine Mutter war somit das schwarze Schaf der Familie mit ihrem Inkubuslover. Sie kehrte bloß nach Halfell zurück, weil sie sich der Pflicht, über Samuel zu wachen, nicht entziehen wollte.“

„Du willst mir also sagen, dass … dass Caelans Geschichte wahr ist. All dieser Kram über Druiden und Werwölfe und einen Friedenspakt …“

„Ja. Meine Großeltern schlossen diesen Friedenpakt mit den Werwölfen. Sie machten ab, dass ihre Töchter beide einen Werwolf heiraten sollten. Wie gesagt, Catherine und Jeffrey waren glücklich.“

„Sie hatten auch eine Tochter. Sarah.“

„Ja, Sarah. Ich war noch nicht geboren, aber ich kenne die Geschichte. Sie hat sich ganz überraschend verwandelt und war in die Wälder gelaufen. Ein Jäger hat sie erwischt. Catherine und Caroline haben sein Gedächtnis verändert, sodass er sich nicht mehr erinnerte, wie sie sich vor ihm zurückverwandelte. Die offizielle Geschichte war später, dass Sarah im Wald gespielt hat und von einer verirrten Kugel getroffen wurde.“

„Caroline … ist also auch eine Druidin?“

„Eine Hexe. Alle Jeffreys sind Hexen. Die Solomons und die Jeffreys standen schon immer eng zusammen. Die Jeffreys halfen uns früher auch im Kampf gegen die Werwölfe, was ja nun schon lange nicht mehr nötig ist.“

„Du weißt schon, dass sich das völlig irre anhört? Ich will das alles gar nicht glauben.“

„Aber es ist die Wahrheit.“ Ihre Mutter seufzte. „Als du sagtest, dass du auf dem Friedhof warst, wusste ich, dass ich dich einweihen muss.“

„Warum da auf einmal?“

„Samuel ist unter der Kapelle begraben. Er wird durch die alte Macht der Druiden dort gehalten, aber das heißt nicht, dass er nichts von der Welt mitbekommt. Er ist alt, so alt.“ Ihre Mutter schauderte. „Ich habe natürlich nicht gegen ihn gekämpft und ihn nie gesehen, ich kenne nur die Geschichten, aber er kann nicht getötet werden. Sobald er freikommt, wird er Rache an den Solomons nehmen wollen.“

„Es gibt ja nur noch zwei.“

„Richtig. Und er wird uns suchen. Er kennt nun deinen Geruch, meinen wird er auch kennen.“

„Aber du sagtest gerade, dass er dort festgehalten wird.“

„Noch. Durch deinen Aufenthalt wird es sich auch wieder etwas verlängert haben, aber diese Magie hält nicht ewig. Sie braucht einen anwesenden Druiden, dessen Wille sie am Leben hält. Du wirst es nicht bewusst gemacht haben, aber irgendwo in dir wird etwas auf die Magie reagiert und sie gefüttert haben.“

„Das klingt absolut irre“, wiederholte Harper und rieb sich über das Gesicht.

„Ich weiß. Ich hatte gehofft, wenn Samuel nichts von dir weiß, wird er auch nicht nach dir suchen. Und für mich hatte ich die Hoffnung, dass auch solch ein alter Vampir nicht an eine Dämonin geht.“

„Du sagst also tatsächlich, dass du ein Inkubus bist.“

„Sukkubus. Die Frauen nennt man bei dieser Art Sukkubus. Aber ja, das bin ich. Und du bist zum größten Teil eine Druidin. Dein Vater war auch einer.“ Ihre Mutter zögerte, gab sich dann aber einen sichtlichen Ruck. „Sein Tod war kein Unfall. Er wurde von einem Werwolf angegriffen.“

„Alles Lügen. Mein ganzes Leben lang hast du mir also nur Lügen erzählt.“

„Ich wollte dich nur schützen.“

„Das meinte Amirah auch. Manche Dinge sollte man seinen Kindern aber erzählen, auch wenn man sie schützen will.“ Harper stand auf. „Warum hast du mich überhaupt nach Halfell fahren lassen, wenn du mich vor Samuel schützen wolltest?“

„Ich dachte nicht, dass du auf den Friedhof gehst. Er ist alt und mächtig, ja, aber seine Macht ist begrenzt. Wärst du nur im Haus geblieben, hätte er dich niemals bemerkt. Aber jetzt wird er wissen, dass es noch eine Solomon gibt.“ Ihre Mutter seufzte. „Ich … wollte ihm einen Pakt anbieten. Ich habe bereits gepackt und wollte nach Halfell reisen, um Samuel seine Freiheit anzubieten, im Gegenzug für deine Sicherheit.“

„Warum sollte er sich darauf einlassen, wenn er doch so alt und mächtig ist? Im Zweifel braucht er nur abwarten, bis wir tot sind. Oder bis sich dieser Zauber löst, der ihn da gefangen hält.“

„Es war einfach eine Idee. Und vermutlich keine gute, das gebe ich ja zu. Aber ich will einfach nicht an eine Pflicht gebunden sein, die ich nicht eingegangen bin.“ Das konnte Harper verstehen. Ihr gefiel der Gedanke auch nicht, etwas tun zu müssen, was jemand anderer womöglich bereits vor Jahrhunderten beschlossen hatte.

Doch ihr gefiel auch die Vorstellung nicht, einen alten und offensichtlich gefährlichen Vampir freizulassen. Er musste eine Gefahr sein, sonst hätte ihre Familie ihn nicht eingesperrt. Caelan zufolge hatten sie sich zu der Zeit sogar mit den verhassten Werwölfen zusammengetan, um Samuel zu bekämpfen.

Harper seufzte leise und griff nach ihrer Kaffeetasse. Das Frühstück war komplett in den Hintergrund getreten, aber nun merkte sie, wie hungrig sie war. Dem Kaffee folgten zwei Bagels und ein Croissant, während sie über die Geschichte nachdachte, die sie nun sowohl von Caelan als auch von ihrer Mutter gehört hatte.

Sie war kein Mensch.

Das war ein Gedanke, der nur schwer zu verdauen war.

 

Kapitel 10

Wie betrunken war Harper nach dem Gespräch mit ihrer Mutter nach Hause gegangen. Sie konnte – wollte – das alles einfach nicht glauben, gleichzeitig aber spürte sie, dass es die Wahrheit war.

Endlich hatte ihre Mutter mit ihr gesprochen und dann war es eine völlig verrückte Geschichte. Etwas, was sie sich nie ausgemalt hätte. Harper hatte nie an das Übernatürliche geglaubt. Ja, sie gruselte sich bei der Vorstellung von Geistern und alte Häuser, die womöglich noch einen Ruf als Geisterhaus hatten, jagten ihr kalte Schauer über den Rücken.

Aber dennoch hatte sie nie wirklich daran geglaubt, dass sie jemals einen Geist, geschweige denn irgendwas Anderes sehen würde. Und nun brach alles über ihr zusammen. Es gab Druiden, Werwölfe und Dämonen, Hexen und Vampire und wer wusste, was sonst noch. Sie hatte gar nicht danach fragen wollen.

Da sie noch Urlaub hatte, schloss sie sich in ihrer Wohnung ein, stellte das Handy aus und versuchte irgendwie ihre Gedanken zu ordnen, was gar nicht so einfach war. Wie ein Schwarm Fliegen summten sie in ihrem Kopf, immer wieder und wieder hörte sie die Stimme ihrer Mutter.

Sie war froh, dass sie noch ein paar Tage Urlaub hatte. Erst am Mittwoch war sie soweit, dass sie sich wieder unter Menschen wagte. Der Gedanke, dass es jedoch keine Menschen waren, sondern etwas Anderes, ließ sie nicht los.

War die nette Verkäuferin im Supermarkt womöglich ein Dämon? Der exzentrische Typ in der Etage unter ihr ein Druide?

Caelan hatte Montreal ein Nest von Hexen und Dämonen genannt. Vielleicht traf das auf jede Großstadt zu. Wo, wenn nicht in der Anonymität einer Großstadt, konnte man sich gut verstecken? Und verstecken mussten sich solche Wesen sicher.

Während Harper die scharfe Gemüsepfanne aß, die sie sich von einem chinesischen Imbiss geholt hatte, öffnete sie den Internetbrowser ihres Laptops und gab in das Suchfeld „sind Geister und so real“ ein.

Es gab unzählige Treffer und ihr Essen wurde kalt, als sie sich in einige Foren vertiefte. Die Antworten waren, wie sie es erwartet hatte: Einige Leute glaubten fest an Geister und anderes Übernatürliches, dann gab es die Skeptiker, die nichts glaubten, aber auch nichts verneinten, und natürlich waren auch überall diejenigen vertreten, die jeden einen Spinner nannten, der seinen Glauben an das Übernatürliche kundtat.

Harper seufzte leise auf und lehnte sich zurück. Sie wusste ja nun, dass es stimmte, aber zu sehen, dass andere Leute an das Übernatürliche glaubten, beruhigte sie nicht, wie sie gehofft hatte. Im Gegenteil erschreckte es sie sogar ein wenig, wie viele Leute behaupteten, sie seien Hexen oder Ähnliches oder hätten übersinnliche Fähigkeiten.

Logen sie oder trauten sie sich in der Anonymität des Internets einfach die Wahrheit zu sagen? Sie konnte das absolut nicht einschätzen. Zumindest verspürte sie keinen Drang danach, in einem dieser Foren zu schreiben, dass sie eine Druidin war.

Am liebsten hätte sie alles wieder vergessen. Aber der Gedanke an den gefangenen Vampir ließ sie nicht los. Ob es viele von ihnen gab? War sie vielleicht schon einmal einem begegnet ohne es zu merken?

Wenn sie ihre Mutter richtig verstanden hatte, würde er nun freikommen, da kein Solomon mehr auf dem Grundstück lebte. Und dann würde er sie jagen. Harper schauderte bei dem Gedanken.

Sie mussten etwas machen, auch wenn sie überhaupt keine Ahnung hatte, was. Aber ihre Mutter hatte sicherlich eine Idee. Harper griff nach ihrem Handy und rief ihre Mutter an. Sie meldete sich fast sofort.

„Mom, wir können diesen Vampir nicht einfach freikommen lassen“, überfiel Harper sie gleich. „Es klingt zwar alles immer noch total irre und ich weiß auch nicht, was ich davon halte, aber wenn dieser Vampir so gefährlich ist, darf er nicht freikommen.“

„Ihn weiter gefangen halten funktioniert aber nur, wenn ein Solomon in Halfell lebt und den Zauber am Leben hält“, erklärte ihre Mutter erschöpft. „Harper, ich habe doch auch schon hin und her überlegt, aber ich kenne keine Möglichkeit solch einen alten Vampir zu töten. Meine Mutter hätte es mir nicht nur erzählt, sie hätte Samuel gleich selber getötet.“

„Du kennst keine, aber das heißt nicht, dass es sie nicht gibt.“

„Den Erzählungen nach kann man ihn doch nicht einmal verletzen. Seine Wunden heilen sofort, noch bevor die Klinge aus seinem Körper gezogen wird.“ Ihre Mutter seufzte. „Es gibt nur die Möglichkeit, dort zu leben und diese leidige Pflicht an deine Kinder weiterzugeben oder allem seinen Lauf zu lassen. Wenn er freikommt, werden sich andere mit ihm befassen.“

„Er wird Menschen töten.“

„Und das nicht zu knapp. Vampire sind Raubtiere. Tote, hungrige Raubtiere. Nach all der Zeit ohne Blut wird er ausgehungert sein.“

„Vielleicht hat es ihn ja auch umgebracht, kein Blut zu bekommen.“

„Wohl kaum. Ein paar Tropfen lassen einen vertrockneten Vampirkörper sich wieder regen. Ein Schluck lässt ihn sich erheben. Ein paar Liter von einem Menschen …“ Ihre Mutter brach ab und Harper schauderte. Sie konnte sich denken, was nach ein paar Litern geschah: Der Vampir war wieder wie unversehrt.

„In Filmen hilft immer Feuer oder die Sonne. Oder ein Pflock durchs Herz.“ Sie runzelte die Stirn. „Er wird doch jetzt gefangen gehalten. Heißt das, er kann sich nicht bewegen?“

„Genau. Er ist gelähmt.“

„Könnte man nicht versuchen ihn jetzt zu verbrennen? Wenn er gelähmt ist, funktioniert seine Heilung vielleicht auch nicht. Zumal er doch geschwächt sein dürfte, wenn er nun schon seit Jahrzehnten, ach was, seit Jahrhunderten kein Blut bekommen hat?“

„Ich weiß es nicht“, antwortete ihre Mutter nachdenklich. „Es hat noch nie jemand versucht.“

„Warum versuchen wir es nicht? Sollte es nicht klappen, bleibt er doch gefangen, oder?“

„Noch, ja.“ Ihre Mutter seufzte. „Das ist riskant, sogar sehr dumm. Er wird wissen, dass wir es sind und dann haben wir gar keine Chance mehr mit ihm zu handeln.“

„Hast du diese Idee immer noch?“

„Ich muss dich doch schützen.“

„Es ist eine sehr blöde Idee, wenn du mich fragst. Ich glaube nicht, dass sich so ein uralter Vampir auf einen Handel einlässt, nur weil du nett fragst. Wäre er so drauf, hätte man ihn nicht eingesperrt, oder?“

„Vermutlich nicht.“

„Also, hast du noch eine andere Idee?“ Harper stand auf und ging in ihr Schlafzimmer. Wollte sie wirklich nach Halfell zurückkehren, um gegen einen Vampir zu kämpfen? Sie hatte vor zwei Tagen noch nicht einmal an deren Existenz geglaubt. Beinahe hätte sie gelacht.

„Harper, du solltest nicht nach Halfell gehen. Himmel, du weißt doch überhaupt nichts über Vampire oder irgendwas anderes.“

„Na, ich weiß, dass Feuer gegen sie hilft.“

„Und weißt du, dass sie unglaublich schnell sind? Dass sie in einem Menschen eine solche Furcht wecken können, dass er gelähmt ist? Dass sie einem Menschen mit bloßer Hand das Herz herausreißen können?“

„Ich habe einige Horrorfilme gesehen, Mom, und das alles und noch mehr kam über Vampire da auch vor.“

„Filme“, schnaubte ihre Mutter. „Filme haben zwar manches Wahre über Vampire in sich, aber auch einigen Unsinn. Kreuze helfen nur in der Hand eines Gläubigen, Silber tut ihnen gar nichts und über fließendes Wasser springen sie einfach drüber.“

„Mag ja alles sein, aber dieser spezielle Vampir ist in einem Sarg gefangen und gelähmt. Zumindest versuchen müssen wir es, bevor er herumläuft und einen Menschen nach dem anderen tötet.“

„Du kommst ohnehin nicht unter die Kapelle. Du kennst den Weg dahin nicht.“

„Oh, komm schon, Mom. Könntest du wirklich damit leben, dass dieser Vampir herumläuft und Menschen tötet und du nicht mal versucht hast, ihn unschädlich zu machen?“ Ihre Mutter schwieg einen Moment und Harper begann T-Shirts und Hosen aus ihrem Schrank auf das Bett zu werfen.

„Vielleicht“, murmelte ihre Mutter schließlich und Harper hielt in der Bewegung inne. „Vergiss nicht, ich bin nicht einmal teilweise ein Mensch, Harper. Ich bin mehr Sukkubus als Druidin und Menschen waren mir schon immer gleichgültig. Ich könnte mir nur niemals verzeihen, wenn er dir etwas antut.“

„Dann komm mit nach Halfell und hilf mir. Ich fahre so oder so und versuche es. Irgendwie finde ich schon den Weg zu ihm.“

„In der Kapelle suchst du jedenfalls am falschen Ort“, erklärte ihre Mutter trocken. „Es gibt einen geheimen Gang vom Haus aus. Der Zugang liegt im Keller.“ Harper musste an die Kellertür denken.

„Dann ist die Tür vielleicht gar nicht defekt.“

„Welche Tür?“

„Die Kellertür. Sie ist immer wieder aufgesprungen. Ich hab irgendwann einen Stuhl vor sie gestellt.“

„Der Gang führt auch zu ein paar Geheimräumen unter dem Haus. Vielleicht wollte jemand dich dorthin bringen.“

„Wer? Meinst du, jemand hat einen Schlüssel für das Haus?“

„Ich dachte eher Maire Solomon. Sie ist eine Vorfahrin von uns und wacht über die Gänge.“

„Sie wacht über die Gänge“, wiederholte Harper tonlos. „Aber du willst mir jetzt nicht sagen, dass da eine Untote im Keller haust?“

„Sie ist so tot, wie man sein kann. Aber ihr Geist ist auf dem Grundstück geblieben, um über die Gänge zu wachen. Ich habe sie oft gesehen und sie hat mir viel von ihrem Wissen beigebracht.“

„Ein Geist. Ja, warum auch nicht ein Geist? Immerhin gibt es ja auch Vampire und Druiden und Werwölfe. Schwirren da vielleicht auch noch Elfen durch den Garten anstelle von Schmetterlingen und Glühwürmchen?“

„Natürlich nicht. Und was du meinst, sind Feen. Elfen sind nicht so niedlich, wie mancher meint.“ Ihre Mutter schnaubte. „Außerdem verlassen Elfen und Feen ihr Reich nicht, also keine Sorge.“

„Sag mir bitte, dass du mich zumindest jetzt veralberst. Nicht auch noch Elfen und Feen.“

„Sie sind einfach Naturgeister, wie es sie viele gibt. Aber wie gesagt, sie verlassen ihr Reich nicht.“

„Ich frag lieber nicht nach all den anderen Wesen aus irgendwelchen Sagen und Geschichten. Also, wie sieht es aus? Kommst du mit? Ich habe bereits mit Packen begonnen. Ich fahre noch heute Abend los.“

„Du gibst eh nicht auf. Ja, ich komme mit. Ich kann dich doch nicht allein zu Samuel gehen lassen.“

„Gut. Dann pack jetzt, ich hol dich ab. So in einer Stunde.“ Damit verabschiedete Harper sich von ihrer Mutter und begann eilig zu packen. Vermutlich war es wirklich eine bescheuerte Idee, aber einfach nichts tun kam nicht in Frage. Sie mussten zumindest versuchen Samuel unschädlich zu machen.

Ihre Mutter wartete bereits vor dem Haus auf sie. Schnell verstauten sie ihre beiden Taschen im Kofferraum, stiegen ein und Harper fuhr los. Ihre Mutter holte eine Kette aus ihrer Jackentasche und hing sie an den Rückspiegel. Harper sah sie verwirrt an. Die Kette erinnerte sie an einen Rosenkranz, bestand aber Holzperlen und Steinen.

„Ein kleiner Schutz“, erklärte ihre Mutter. „Falls es in Halfell tatsächlich fremde Werwölfe gibt, müssen sie ja nicht gleich merken, dass wir kommen.“

„Und da hilft eine Kette?“

„Eine Schutzkette, ja. Sie verschleiert, was wir wirklich sind.“

„Ich dachte, Werwölfe riechen alles.“

„Schon, aber sie narrt auch ihre Nasen. Glaub mir, ich habe Ahnung von dem, was ich tue. Rachel und Maire waren sehr gründlich in ihrer Ausbildung.“ Gründlich oder nicht, sie hatten auch kein Mittel gekannt, um Samuel zu töten. Aber Harper wollte nicht glauben, dass dies unmöglich war.

 

Kapitel 11

Sie erreichten Halfell am späten Abend. Das Haus lag in tiefe Schatten gehüllt da und Harper schauderte. Jetzt, da sie die Wahrheit über ihre Familie und das Haus wusste, erschien es ihr noch unheimlicher als zuvor. Sie stellte sich vor, dass Geister hinter den Fenstern standen und die Neuankömmlinge beobachteten, abwogen, ob sie sie ins Haus lassen oder sie verjagen sollten.

Aber die Geister waren vermutlich keine Gefahr. Wenn es weitere Geister außer dieser Maire gab, waren es sicherlich Familienmitglieder und würden ihnen nichts tun. Samuel war die wahre Gefahr und der lag unter der Kapelle.

Ihre Mutter wies sie an, auf dem Stellplatz zu halten. Harper wollte den Wagen lieber in die Garage fahren, da sie an die Wölfe dachte, aber ihre Mutter schüttelte den Kopf.

„Falls hier tatsächlich fremde Werwölfe sind, könnte es sein, dass wir schnell wegmüssen. Da können wir uns nicht mit dem Garagentor aufhalten.“ Die Erklärung gefiel Harper nicht, aber sie widersprach nicht und parkte vor der Garage. Ihre Mutter starrte durch die Windschutzscheibe eine Weile zu dem Haus, dann schnallte sie sich ab und sie stiegen aus.

Gerade als sie ihr Gepäck aus dem Kofferraum holten, trat jemand zwischen den Bäumen hervor. Es war zu dunkel, um ihn auf die Entfernung zu erkennen, aber Harper hoffte, dass es einfach Brody war, der wieder mit Whistle joggen war.

„Wer ist da?“ rief ihre Mutter und hob eine Hand. Die Gestalt blieb in einiger Entfernung stehen.

„Caelan Foster. Hi, Harper. Und Sie müssen Harpers Mutter sein.“

„Das ist er“, raunte Harper ihrer Mutter zu. „Ich erkenne seine Stimme.“

„Ein Foster. Nun, dann komm, wenn du wirklich ein Foster bist.“ Harper schnappte nach Luft, als sich vor Caelan eine schimmernde Wand erhob. Er ging weiter, direkt durch die Wand hindurch, und ihre Mutter nickte. „Also tatsächlich ein Foster.“

„Natürlich, Mrs. Solomon.“ Caelan erreichte sie und nun konnte Harper ihn in der Dämmerung auch erkennen. „Schon wieder zurück. Und wohl doch mit deiner Mutter gesprochen, hm?“

„Ich hatte wohl keine Wahl, nachdem irgendein Werwolf Harper alles erzählt hat“, murrte ihre Mutter und wies auf Caelan. „Glücklich bin ich darüber immer noch nicht.“

„Na, sie wollte es doch wissen.“ Caelan zuckte mit den Schultern und nahm sich zwei der Taschen. „Ich helfe euch. Und dann sollten wir machen, dass wir reinkommen. Wir haben Vampire um Halfell gewittert.“

„Vampire“, keuchte ihre Mutter auf.

„Es hat sich herumgesprochen, dass kein Solomon mehr hier lebt.“ Caelan zuckte mit den Schultern und ging auf das Haus zu. Harper folgte ihm mit der letzten Tasche und schloss die Tür auf. Im Hausflur stellte Caelan das Gepäck ab und hob die Nase, als wolle er schnüffeln. Vermutlich tat es das auch. „Keine Eindringlinge.“

„Nun, eine Solomon gibt es hier noch“, erklärte Harpers Mutter, die ihnen langsam ins Haus folgte und die Tür hinter ihnen schloss. „Auch wenn sie nicht lebt. Aber es reicht, um den Schutz über das Haus noch eine Weile zu halten.“ Sie legte eine Hand auf die Tür, schloss die Augen und verharrte einen Moment in ihrer Position. Caelan machte derweil Licht in der Küche und im Wohnzimmer. Harper sah fragend zu ihrer Mutter.

„Alles okay?“

„Nur eine kleine Erneuerung des Schutzzaubers“, murmelte ihre Mutter und öffnete die Augen wieder. Sie lächelte. „Ein Vampir kommt so oder so nicht rein, aber sie haben auch ihre menschlichen Verbündeten. Da muss man sicher gehen.“

„Also stimmt es, dass man Vampire hereinbitten muss?“

„Ja. Leider kann jeder sie hereinbitten, weshalb sie dazu übergegangen sind, sich Menschen als Sklaven zu halten und sie als Einbrecher in ein Haus vorzuschicken. Die Menschen bitten sie dann herein und sie können in aller Ruhe über die Bewohner des Hauses herfallen. Von jedem nur ein bisschen Blut, dann werden sie getötet und es sieht alles nach einem Überfall aus.“ Ihre Mutter schnaubte und folgte Caelan in die Küche. „Widerliche tote Brut.“

„Meine Worte.“ Caelan sah zu ihnen und jetzt bemerkte Harper, dass seine Augen gelb schimmerten. Harper schluckte und sah lieber wieder zu ihrer Mutter. „Meine Freunde sind draußen. Sie werden uns warnen, sollten die Vampire doch noch näherkommen. Bisher haben sie Halfell gemieden.“

„Hattet ihr schon einen Zusammenstoß?“

„Nein. Das ist ja das Seltsame. Sie sind da, kommen aber nicht näher. Es sind mal vier, mal fünf, bisher nie mehr.“ Caelan zuckte mit den Schultern. „Uns stört es nicht. Sind vielleicht auch nur auf der Suche nach einem neuen Revier und überlegen noch, ob sie uns angreifen sollen oder nicht.“

„Oder sie wissen von Samuel“, murmelte Harpers Mutter mit düsterer Miene. „Gehen wir lieber davon aus.“

„Und warum seid ihr hier? Ich dachte, ihr verkauft das Haus.“

„Meine Tochter ist eben durchgeknallt.“

„Hey …“

„Wie würdest du es denn sonst nennen?“ Ihre Mutter sah Harper wütend an. „Dein Vorhaben ist verrückt und ich sehe keine Erfolgschancen.“

„Was hast du vor?“ Harper seufzte bei Caelans Frage leise auf.

„Na ja, ich dachte mir, wenn Samuel doch gefangen und gelähmt ist, dann können wir versuchen ihn zu verbrennen. Er hat doch nun schon ewig kein Blut gehabt und heilt in diesem Zustand vielleicht nicht so gut.“ Sie sah von ihrer Mutter zu Caelan, der ihren Blick nachdenklich erwiderte.

„Einen Versuch ist es wert“, meinte er schließlich. „Wir haben uns das auch schon überlegt, aber wir kommen ja nicht zu ihm. Keine Ahnung, wo ihr Solomons den Zugang versteckt habt.“

„Hier im Haus. Aber ich weiß immer noch nicht, ob ich ihn euch zeigen soll.“ Ihre Mutter lehnte sich mit verschränkten Armen zurück und Harper stöhnte leise auf.

„Mom, wir sind doch nicht hierhergefahren, damit du jetzt wieder bocken kannst.“

„Ich will nicht, dass du dich in Gefahr bringst. Auch wenn du das so oder so bist. Ach, das ist alles einfach nur ein riesengroßer Mist. Warum bist du auch auf den Friedhof gegangen?“

„Na, hätte ich gewusst, was da lauert, wäre ich nicht hingegangen. Aber jemand dachte ja nicht daran, mir alles zu erzählen.“

„Ich konnte ja nicht ahnen, dass du das Grab einer dir völlig Fremden besuchen willst!“

„Nachdem ich so neugierig war, hättest du dir das doch eigentlich denken können!“

„Schreit bitte nicht“, knurrte Caelan. „Mir klingeln die Ohren.“ Harper sah ihn überrascht an und ihre Mutter lachte leise auf.

„Entschuldige. Wenn es um Harpers Sicherheit geht, geht es manchmal mit mir durch.“

„Ich hörte schon, dass Dämonen da sehr eigen sind. Manche jedenfalls.“ Caelan trat an das Fenster. „Ich schlage vor, ihr seht euch Samuels Grab an. Wenn er nun ohnehin von ihr weiß, kommt es darauf auch nicht mehr an. Ich warte hier.“

„Über diese Schwelle kommen ohnehin momentan nur Werwölfe und Menschen, die nicht von Vampirblut infiziert sind. Die Gefahr ist also gering.“ Ihre Mutter trat an die Kellertür und öffnete diese. Harper folgte ihr nach unten.

„Hier unten ist keine Tür“, erklärte sie. „Ich war doch unten. Sowohl alleine, als auch mit Brielle und Lindsey. Und zumindest Lindsey wüsste von einer Tür.“

„Nicht von dieser.“ Ihre Mutter ging zu einem der Regale, auf dem Kartons mit alten Gardinen standen. Sie begann die Karton herunterzunehmen, dann wies sie Harper an, ihr mit dem Regal zu helfen. Gemeinsam schoben sie es zur Seite.

„Und nun?“ fragte Harper und verschränkte die Arme vor der Brust, als sie sich einer Steinwand gegenübersahen. „Da ist keine Tür, sag ich doch.“ Ihre Mutter schnaubte, dann hob sie die Arme und begann leise zu summen.

Die Melodie kam Harper vertraut vor und unwillkürlich, begann sie mit zu summen. Schließlich erkannte sie die Melodie auch: Es war eines der Schlaflieder, die ihre Mutter ihr früher vorgesungen hatte.

Harper verstummte, als die Steinwand zu schimmern begann. Vor ihren Augen wurde der Stein durchlässig, ließ eine tiefe Schwärze hinter sich erahnen, und löste sich nach einigen Herzschlägen gänzlich auf. Das Licht im Keller reichte nicht weit, aber Harper wurde bewusst, dass hier der Gang lag, von dem ihre Mutter gesprochen hatte.

„Keine Tür, hm?“ Ihre Mutter lächelte amüsiert. „Aber nun brauchen wir Licht. Das habe ich nie wirklich gemeistert.“ Harper verkniff sich die Frage, was sie damit meinte. Sie hatte gerade beobachtet, wie ihre Mutter eine Tür aus dem Nichts erscheinen ließ. Vermutlich gab es Möglichkeit, genauso Licht erscheinen zu lassen.

„Hier waren Taschenlampen, aber ich weiß nicht, ob sie noch funktionieren.“ Harper holte die Taschenlampen aus dem Schrank, doch als sie den Schalter drückte, tat sich nichts. „Wäre ja auch zu schön gewesen.“

„Kerzen tun es auch. Wenn sie nichts geändert hat, sind in der Küche welche.“ Ihre Mutter ging nach oben und kam nach einer Weile mit zwei hohen Gläsern wieder, in denen lange, weiße Kerzen brannten.

„Ein bisschen wenig“, murmelte Harper, als sie eines der Gläser entgegennahm und ihrer Mutter in den finsteren Gang folgte. Es war kühl hier und ein muffiger Geruch lag in der Luft. Nun erkannte Harper, dass der Stein nicht natürlichen Ursprungs war. Es waren bearbeitete Steinplatten, in die Rankenmuster, Bäume und Rosen eingraviert waren.

Sie erinnerte sich an ihren Besuch mit Brielle bei dem Friedhof und fühlte sich unbehaglich bei dem Gedanken, die ganze Strecke nun unter der Erde zu gehen. Gleichzeitig fragte sie sich, wie man so etwas hatte bauen können, ohne dass jemand es merkte. Ihre Mutter lachte leise, als sie diese Frage laut stellte.

„Darüber wunderst du dich? Magie, Harper, ganz einfach. Unsere Vorfahren haben die Erde einfach dazu gebracht den Gang und die Räume zu formen.“ Sie strich mit einer Hand über die Steinwand. „Ich könnte es nicht, aber ich bin ja auch mehr Sukkubus als Druidin. Aber ich spüre die Magie, die noch immer in diesem Gang weilt.“

„Du willst mir also sagen, dass … sich die Erde selber bewegt hat? Aber sowas muss man doch merken. Es hat doch sicher Erdbeben gegeben. Und selbst wenn nicht, diese Massen an Erde müssen doch irgendwohin.“

„Über Erdbeben weiß ich nichts. Aber was meinst du, warum es hier diese kleine Anhöhe gibt? Das Erdreich hat sich hier einfach verschoben und verändert. Ich kenne die Geschichten. Die Menschen hatten das Gebiet noch nicht besonders gut erschlossen, denen fiel nichts auf. Aber die Werwölfe waren zornig über diese Änderungen. Einer der Gründe für den Streit zwischen uns.“

„Gruselig. Ich meine die Vorstellung, dass jemand das Land einfach so verändern kann.“

„Einfach so nun auch nicht. Ein Druide alleine schafft nur kleine Änderungen. Die ganze Familie hat sich damals zusammengetan, auch die Kinder.“

„Trotzdem gruselig.“ Zumal sie sich einfach immer noch nicht vorstellen konnte, wie das funktionieren sollte. Sie hatte auch keine Ahnung, was ihre Mutter im Keller gemacht hatte. In ihren Augen hatte sie einfach nur dagestanden und gesummt.

Doch das waren Fragen für ein anderes Mal. Nun wollten sie zu Samuel gelangen. Harper stöhnte auf, als ihr bewusst wurde, dass sie kein Benzin dabeihatten. Die Kerzen allein würden vermutlich nicht reichen, wenn er schon sonst nicht zu töten war.

„Darum kümmern wir uns dann. Erst einmal will ich sehen, wie stark der Schutz um sein Grab noch ist.“ Ihre Mutter sah sie ernst an. „Es macht mir Sorgen, dass Vampire hier sind. Sie haben Halfell immer gemieden, aus gutem Grund. Werwölfe hassen Vampire noch mehr als Druiden. Sie zerfetzen sie, sobald sie ihnen begegnen. Und auch Druiden sind nicht sehr gut auf Vampire zu sprechen. Also alles in allem kein Ort, an den ein vernünftiger Vampir kommt.“

„Du meinst, es hängt mit Samuel zusammen.“

„Das ist sehr wahrscheinlich. Wenn er in der Lage ist, sie aus seinem Gefängnis heraus zu rufen, ist die Magie doch deutlich schwächer, als ich befürchtet habe.“

„Sie wissen aber nicht, wo er ist, oder?“ Beunruhigt sah Harper ihre Mutter an und die hob die Schultern.

„Vermutlich nicht. Aber wer kann das schon sagen? Sie wissen zumindest, dass er irgendwo in Halfell gefangen ist. Und ganz sicher vermuten sie ihn auf dem Grundstück der Solomons.“ Sie blieb stehen und obwohl der Gang nur wenige Schritte vor ihnen weiter in Dunkelheit lag, fühlte Harper sich unwohl. Es war das gleiche Gefühl wie bei Caelan, nur ungleich stärker.

„Ist es da?“ krächzte sie und musste sich zusammenreißen, um nicht herumzufahren und wegzulaufen. Ihre Mutter nickte.

„Die Magie ist schwächer, aber noch immer stark genug, dass er sich nicht befreien kann.“ Sie sah Harper prüfend an. „Du spürst sie, oder? Seine Feindseligkeit?“

„Auf jeden Fall wäre ich gerade doch lieber woanders“, gab Harper zu. „Auf dem Friedhof habe ich nichts bemerkt.“

„Dort sind mehr Schutzsteine, um Samuels Gefängnis zu verschleiern. Sonst würden die Vampire ihn gleich finden. Hier unten hat man darauf verzichtet. Der Gang als solches ist ja bereits durch das Haus geschützt.“

„Also sind wir jetzt unter dem Friedhof?“ Ein Schauer lief Harper über den Rücken.

„Ja, unter einem der Wege, die zur Kapelle führen.“ Ihre Mutter berührte wieder die Steinwand. „Auch die Toten wachen über Samuel.“

„Das ist jetzt nicht gerade ein Satz, den ich in einem Gang unter der Erde und einem Friedhof hören möchte“, murrte Harper und sah sich nervös um.

„Sie werden sich nur erheben, um zu verhindern, dass Samuel befreit wird.“

„Mom? Danke, wirklich. Ich versuche mir gerade keine Zombies vorzustellen und du redest munter weiter davon.“

„Sie sind keine Zombies. Sie sind einfach Tote, die sich zu einem bestimmten Zweck erheben werden. Untote, wenn du so willst, aber keine Zombies. Ich weiß, was man sich gemeinhin unter Zombies vorstellt, und das sind sie nicht.“

„Es ist trotzdem gruselig.“

„Das wäre es nicht, wärst du damit aufgewachsen.“ Ihre Mutter sah sie mit einer Mischung aus Bedauern und Trauer an. „Vielleicht habe ich einen Fehler gemacht, als ich alles vor die geheim hielt.“ Sie drehte sich um und machte sich auf den Rückweg. Harper folgte ihr schnell.

„Und was jetzt?“

„Nun, ich probiere es mit deinem Plan. Samuel soll dich dabei nicht an meiner Seite spüren. Wenn es misslingt, wird sich seine Wut nur gegen mich richten. Sollte er dann doch irgendwann freikommen, hoffe ich einfach darauf, dass er mich in Ruhe lässt. Vampire meiden Auseinandersetzungen mit Dämonen.“ Ihre Mutter schürzte die Lippen.

„Aber du bist eine Halbdämonin, oder? Dann versucht er es vielleicht doch.“

„Ich erwähnte es vorhin schon. Dämonen sind sehr wild, wenn es um ihre Kinder geht. Und mein Vater lebt noch. Ich denke, er wäre nicht sehr erbaut, wenn ein Vampir mir etwas tut. So wie ich nicht erfreut wäre, wenn dir jemand etwas antut.“ Ein kurzes Lächeln huschte über ihre Lippen. „Glaub mir, wenn ich sage, ich würde denjenigen zerfetzen, meine ich das genauso, wie ich es sage.“ Harper schluckte. Ihre Mutter als Dämonin zu sehen, die für sie über Leichen gehen würde, war genauso unheimlich wie die Vorstellung von Toten, die ihre Gräber verließen.

Es war sogar unheimlicher.

 

Kapitel 12

Eine Woche. Es war gerade einmal eine Woche her, dass Harper zum ersten Mal nach Halfell gekommen war. Sie konnte nicht glauben, was sich in der Zwischenzeit alles verändert hatte.

Ihr neues Wissen über ihre Familie und damit sich selbst verunsicherte sie, doch mehr noch erschreckte sie zu sehen, wie kalt und abweisend ihre Mutter über Menschen dachte und sprach. Dass sie oft etwas harscher auf ihre Mitmenschen reagierte, hatte Harper schon immer gewusst, aber sie hatte nie erwartet, dass sie ihr so gleichgültig waren.

Allerdings war es sicherlich kein neuer Zug an ihrer Mutter, sondern bloß einer, den sie Harper bisher nicht auf diese Weise gezeigt hatte. Vielleicht waren die Geheimnisse doch nicht so schlecht gewesen.

Das Licht des Kellers riss sie aus ihren Gedanken und Harper seufzte leise auf. So viel besser war sie vermutlich auch nicht. Immerhin hatte sie, ohne irgendwas über Vampire zu wissen, beschlossen Samuel zu töten. Andererseits ließ ihre Mutter keinen Zweifel daran, dass Vampire nichts weiter als wilde Raubtiere waren. Wer wusste, welchen Schaden ein so mächtiger Vampir anrichten konnte.

Vielleicht war es auch eine Art Instinkt, der sie zu ihrem Entschluss getrieben hatte. Auf Caelan hatte sie auch instinktiv mit Furcht reagiert, auch wenn sie in seinem Fall unbegründet war.

Auf den letzten Metern beeilte Harper sich und atmete erleichtert auf, als sie im hellerleuchteten Keller stand. Ihre Mutter folgte ihr nach oben und machte sich sofort auf den Weg in die Garage. Caelan sah sie fragend an.

„Und?“

„Wir waren nur vor seinem Gefängnis. Es ist furchtbar da unten.“

„Wollt ihr euren Plan noch durchführen?“

„Ich für meinen Teil schon“, antwortete Harper zögernd. „Auch wenn ich echt verdammt viel Angst hatte, als wir vor dem Gefängnis standen.“

„Ich kenn das“, sagte Caelan zu ihrer Überraschung. „Jedes Mal wieder, wenn ich vor einem Vampir stehe. Es ist einfach etwas, was in uns verankert ist. So wie deine Angst vor mir und meinen Freunden, auch wenn sie unnötig ist.“

„Hast du auch Angst vor Druiden?“ Neugierig musterte sie ihn und er lachte leise auf.

„Nein. Aber vor Hexen und Dämonen. Meine Mutter hat es mir damit erklärt, dass vor Urzeiten Werwölfe und Hexen verfeindet waren. Warum, das weiß sie nicht. Auch nicht, wann und warum diese Feindschaft beigelegt wurde. Aber in manchen Werwölfen ist die Furcht vor Hexen einfach immer noch da.“

„Wenn ihr mit eurem Plausch fertig seid, könntet ihr mir mal helfen.“ Harper drehte sich zu ihrer Mutter um, die gerade eine Sackkarre in die Küche schob, auf der sich zwei Kanister befanden. Sie musste nicht fragen, was in ihnen war. Caelan nahm ihr die Sackkarre ab und trug sie in den Keller. Harper nahm die beiden Gläser mit den Kerzen und folgte ihm, bevor ihre Mutter Einwände erheben konnte.

„Da also.“ Caelan stellte die Sackkarre vor dem Eingang zum Tunnel ab. „Ich vermute, ich soll hierbleiben.“

„Nun, es braucht nur eine Person, um Samuel mit Benzin zu übergießen und anzuzünden.“ Ihre Mutter sah sie scharf an und Harper zuckte mit den Schultern.

„Wenn du das Ding schiebst, hast du keine Hand mehr für die Kerzen frei.“ Ihre Mutter wollte etwas entgegnen, aber Caelan kam ihr zuvor und nahm Harper die Gläser ab.

„Ich gehe mit. Ihr fangt nur an, euch anzukeifen, fürchte ich.“ Er sah zu Harper. „In der Garage ist eine Axt. Bring sie mir. Nur für alle Fälle.“ Harper sah ihn verdutzt an.

„Ja, ein Foster durch und durch“, sagte ihre Mutter. „Geh und hol die Axt, Harper. Es ist eine gute Idee.“ Für einen Moment zögerte Harper noch, dann lief sie die Treppe hoch und in die Garage. Sie brauchte einen Moment, um die Axt zu finden, sie lehnte an einem Regal mit Gartengeräten. Schnell kehrte sie in den Keller zurück und reichte Caelan die Axt, der sie in seinen Gürtel hängte.

„Also, dann wohl los, hm?“

„Ja, gehen wir. Harper, bleib in der Küche. Maire wird dich warnen, sollte irgendwas schiefgehen.“

„Okay.“ Harper wollte nicht streiten und wenn sie ehrlich war, war sie froh, nicht zu Samuels Gefängnis zurückkehren zu müssen. Sie sah ihrer Mutter und Caelan nach, die in den dunklen Gang traten. Bald wirkte das Kerzenlicht wie ferne Glühwürmchen und Harper ging wieder in die Küche hoch.

Sie versuchte sich mit ihrem Handy abzulenken, surfte im Internet, fing verschiedene Spielchen an und beendete sie auch gleich wieder. Schließlich lief sie nervös in der Küche auf und ab. Sie ließ die Jalousien herunter, damit niemand zu ihr hineinblicken konnte, und begann schließlich zu zählen.

Jedes Mal, wenn sie die Hundert erreichte, warf sie einen kurzen Blick in den Keller. Aber weder hörte sie von dort etwas, noch sah sie ihre Mutter oder Caelan. Ihnen zu folgen war Unsinn. Sie würden schon zurückkehren, sobald sie mit ihrer Tat fertig waren.

Wieder begann sie zu zählen und fuhr heftig zusammen, als es an der Haustür klingelte und jemand gleich darauf kräftig gegen diese hämmerte. Einen Moment stand sie erstarrt da, dann hörte sie, wie jemand nach Caelan rief. Sie schlich zur Haustür und schaute durch den Spion nach draußen.

„Harper, ich rieche dich, mach auf.“ Einer von Caelans Freunden stand dort draußen. Harper zögerte, dann dachte sie an die Worte ihrer Mutter: Nur Werwölfe und Menschen, die nicht von Vampiren beherrscht wurden, konnten momentan das Haus betreten. Sie öffnete die Tür und Caelans Freund schob sich an ihr vorbei ins Haus.

„Was ist los?“ fragte sie im gleichen Moment, in dem er „Wo ist Caelan?“ fragte. Er knurrte leise.

„Die Vampire kommen rasend schnell näher. Einen haben meine Freunde bereits zerrissen, aber das kümmert den Rest nicht. Schlimmer noch – ich rieche noch mehr von ihnen.“

„Oh nein.“ Harper wies auf die Küche. „Caelan ist mit meiner Mutter auf dem Weg zu Samuels Gefängnis. Sie wollen ihn verbrennen.“ Caelans Freund sah sie überrascht an, dann schnaufte er.

„Feuer ist immer gut gegen dieses widerliche Pack. Okay, also, wenn du irgendwelche Druidentricks kennst, dann nutze sie.“

„Ich weiß erst seit vorgestern, was ich bin. Ich kenne keine Tricks.“

„Schlecht.“ Er ging an ihr vorbei zur Garage. Sie folgte ihm und beobachtete ihn dabei, wie er die Bürste von einem Besen abschraubte. „Hier.“ Er reichte ihr den Stiel und sie nahm ihn verwirrt entgegen. „Nur zur Sicherheit. Einfach zustechen, wenn so einer dir zu nahekommt.“

„Was?“

„Am besten direkt in die Brust. Vampirkörper sind nicht so widerstandsfähig wie menschliche Körper, alles dringt leicht in sie ein. Zumindest, wenn sie noch so junges Pack sind wie die da draußen. Sind noch nicht lange verwandelt.“

„Kannst du das auch riechen?“

„Ja. Sie riechen noch nicht so faulig, wie alte Vampire. Also, wie gesagt, einfach zustechen. Kannst du mit Messern umgehen?“

„In der Küche …“

„Was frage ich auch. Dann kein Messer. Fehlt noch, dass du dich selbst verletzt.“ Er nahm einen schweren Hammer mit langem Griff von einem der Regale, schwang ihn prüfend und nickte zufrieden. „Eine Axt wäre nicht schlecht, aber der tut es auch.“

„Caelan hat die Axt. Ich weiß nicht, ob hier noch eine ist.“

„Schon gut, wie gesagt, der tut es auch.“ Der Mann sah sie ernst an. „Also, was auch passiert, geh nicht raus. Vampire können ein Haus nur betreten, wenn sie eingeladen wurden und ich vermute, niemand hat sie hier eingeladen, aber wer weiß das schon. Vielleicht haben sie auch jemanden dabei, der keine Einladung braucht. Ich rieche jedenfalls auch Menschen im Wald.“

„Vielleicht Spaziergänger oder so.“ Harper wusste nicht, was sie von der ganzen Sache halten sollte. Es war verrückt. Vor einigen Tagen noch hatte sie sich bloß um den Verkauf dieses Hauses kümmern wollen, nun stand sie hier und hörte sich Warnungen vor Vampiren an.

„Vielleicht oder auch nicht, keine Ahnung. Besser davon auszugehen, dass sie zu den Vampiren gehören. Sollte ein Mensch hier hineingelangen, kann er sie einladen.“

„Meine Mutter hat irgendwas gemacht. Sie meint, hier kommen nur Werwölfe herein und Menschen, die nicht von Vampiren beherrscht sind.“

„Okay, das klingt gut.“ Der Mann ging wieder ins Haus zurück, trat in die Küche und schaltete das Licht aus. Sie hörte, wie er im Dunkeln weiterging, dann surrten die Jalousien in die Höhe. „Bleib hier, lausche auf alles, was von draußen kommt und rühr dich nicht. Ah, nicht das Licht anmachen. Sie sollen dich doch nicht von draußen sehen können.“ Harper senkte ihre Hand, die sie gerade nach dem Lichtschalter ausgestreckt hatte.

„Warum nicht? Wenn sie doch nicht reinkommen können, ist es doch egal?“

„Dass sie nicht reinkommen können, heißt nicht, dass sie nicht ins Haus schießen können.“ Der Mann klang ernst und Harper schluckte. Daran hatte sie bisher nicht gedacht. Sie trat zur Seite, als er auf sie zukam, und folgte ihm ins Wohnzimmer. Auch hier schaltete er das Licht aus.

„Können sie denn im Dunkeln nicht auch gut sehen?“

„Nein. Keine Ahnung, wo das mit den ausgeprägten Sinnen der Vampire herkommt, aber ihre Sinne sind nicht besser als die eines Menschen. Kein Wunder, sie waren ja mal Menschen.“ Sie erahnte in der Dunkelheit nur, dass er sich zu ihr umdrehte und sie ansah. „Sie sind stärker, ja, manche auch schneller, und ihre Witterung für Blut ist sehr gut. Manche haben auch psychische Fähigkeiten, können dir Dinge, Bilder vorgaukeln, dich hypnotisieren. Aber das funktioniert nur bei direktem Blickkontakt. Sollten sie also vor den Fenstern auftauchen, schau ihnen nicht in die Augen.“

„Okay. Also still verhalten und keinem Vampir in die Augen schauen. Sollte irgendwer hier drin auftauchen, der nicht zu euch gehört, mit dem Stock zuschlagen.“ Sie war sich noch nicht sicher, ob sie das konnte. Bisher hatte sie sich nie mit jemandem geprügelt und fürchtete, dass sie Hemmungen haben würde zuzuschlagen. Allerdings ging es hier wohl um ihr Überleben, nicht um eine Schulhofstreitigkeit.

„Das ist eine gute Zusammenfassung. Ich geh wieder raus und helfe meinen Freunden.“ Sie brummte nur zustimmend und folgte ihm zur Tür, um sie hinter ihm zu schließen.

Vampire. Werwölfe. Vermutlich ein Kampf. Nein, nicht nur vermutlich. Der Kampf fand gerade statt. Irgendwo dort in den Wäldern bekämpften sich die Werwölfe mit den Vampiren.

Harper schluckte und tastete sich durch die Dunkelheit in die Küche und zur Kellertür. Das Licht aus dem Keller schien ihr seltsam tröstlich und sie beschloss, runter zu gehen. Dann konnte sie ihre Mutter und Caelan sofort warnen, wenn sie zurückkehrten.

Die Kellertür schwang hinter ihr zu, als sie sie gerade schließen wollte, und Harper zuckte zusammen. Maire. Das musste sie gewesen sein. Harper atmete tief durch und ging die Stufen langsam runter, immer darauf gefasst plötzlich eine durchscheinende Gestalt zu sehen, aber nichts tat sich.

Unten angekommen sah sie sich um und setzte sich auf eine der Kisten. Den Besenstiel balancierte sie auf ihren Beinen. Jetzt konnte sie nur abwarten.

Nervös lauschte sie, ob von oben Geräusche kamen, aber dort tat sich nichts. Auch in dem Tunnel bemerkte sie keine Veränderung. Kein Licht, das sich näherte.

Sie wusste nicht, wie lange sie schon hier saß, als sie dann doch einen schwachen Lichtschein im Tunnel ausmachte. Erleichtert und zugleich nervös sprang sie auf.

Was, wenn es nicht geklappt hatte?

Das Licht kam näher und schließlich erkannte sie ihre Mutter und Caelan. Sie sahen zerzaust aus und ihre Mutter humpelte, aber ansonsten schienen sie unversehrt.

„Es hat geklappt“, rief ihre Mutter, noch bevor sie gänzlich im Keller waren. „Caelan hat ihn geköpft und wir haben ihn verbrannt. Es ist nur noch Asche übrig. Morgen werde ich Weihwasser holen und ihn damit übergießen. Was willst du mit dem Stock?“ Bevor Harper antworten konnte, hob Caelan schnüffelnd die Nase und knurrte leise.

„Vampire!“

„Ja. Einer deiner Freunde war hier und hat mich gewarnt. Er …“ Verwirrt sah sie Caelan nach, der die Kellertreppe nach oben lief. „… ist wieder draußen. Aber das wusste er wohl.“ Ihre Mutter sah sie fragend an.

„Und was sollst du mit dem Stock? Du schlägst dir nur selber auf den Fuß.“

„Danke für das Vertrauen.“

„Gib ihn mir. Sie können zwar nicht rein, aber wer weiß, ob sie Handlanger dabeihaben.“

„Hat Caelans Freund auch gesagt. Er meinte, es seien auch Menschen draußen. Und deutlich mehr Vampire als bisher.“ Sie reichte ihrer Mutter den Besenstiel.

„Mehr?“ Ihre Mutter seufzte. „Ich schaue, ob ich ihnen helfen kann. Dämonen verstören Vampire immer so schön.“

„Das klingt bei dir so, als sei das alles gerade ein Riesenspaß.“

„Ein wenig ist es das für mich auch.“ Ihre Mutter sah sie ernst an. „Ich bin damit aufgewachsen. Das hier“, sie machte eine ausholende Handbewegung, „das ist meine Welt. Auch wenn ich sie vor dir geheim gehalten habe, ist sie mir vertrauter als das relativ sichere, ruhige Leben als Mensch.“

„Für mich ist alles nur verwirrend und erschreckend“, gab Harper zu und folgte ihrer Mutter nach oben. Zumindest einer dieser Schrecken war nun vernichtet. Ihr Plan, mehr eine vage Idee als alles andere, hatte funktioniert.

„Ich denke, wir werden viel zu reden haben, wenn das hier vorbei ist.“ Ihre Mutter drückte kurz ihren Arm. „Bleib aber jetzt hier. Gegen Vampire kannst du so viel ausrichten wie ein Kätzchen gegen einen Bulldozer.“ Harper schnaubte, aber natürlich hatte ihre Mutter Recht. Vermutlich würde sie vor Schreck erstarren, wenn sie einem Vampir gegenüberstand.

Im Dunkeln tastete sie sich zu einem Stuhl, während ihre Mutter die Küche verließ. Sie fragte sich, wie nah die Vampire wohl inzwischen am Haus waren. Würden sie versuchen ins Innere zu gelangen? Hatten sie tatsächlich jemanden dabei, der sie hineinbitten konnte? Harper schauderte bei dem Gedanken. Wenn das geschah, war sie hier drinnen auch nicht sicher. Ihr blieb nur die Hoffnung, dass ihre Mutter, Caelan und dessen Freunde mit der Gruppe Vampire fertig wurden.

 

Kapitel 13

Als sie Geräusche an der Tür hörte, sprang Harper auf. Waren das ihre Mutter und die Werwölfe oder wollte jemand einbrechen? Mit rasendem Herzen nahm sie sich einen der Küchenstühle und schlich in den Flur.

„Harper? Wir sind es.“ Erleichterung durchflutete Harper und sie stellte den Stuhl rasch ab, um die Tür zu öffnen. Ihre Mutter humpelte herein und schaltete das Licht ein. Ihr folgten Caelan, seine Freunde – und Brielle und Jeremiah.

„Was …?“ Verdutzt sah Harper die beiden Geschwister an. Sie trugen beide Waffengürtel, in denen Pistolen und Messer steckten, Brielle hatte einen Bogen in der Hand und einen Köcher umgeschnallt und Jeremiah trug eine wuchtige Axt bei sich.

„Hi.“ Brielle lächelte schief.

„Okay. Noch mehr Geheimnisse, scheint mir.“ Harper ging den anderen nach in das Wohnzimmer, wo sich Brielle und Jeremiah zunächst ihrer Waffen entledigten.

„Sie waren zwei der Menschen, die wir gewittert haben“, erklärte einer der Werwölfe. Jack stand neben ihm, die Arme verschränkt und ein breites Grinsen auf den Lippen.

„Allerdings keine Handlanger von ihnen wie der Rest. Ich wusste nicht, dass es hier noch Vampirjäger gibt.“

„Wusste wohl niemand“, meinte Brielle. „Wir haben den Buchladen von unserer Tante übernommen und sie hatte sich nie mit der Vampirjagd beschäftigt. Sie hatte von Kindheit an ein schwaches Herz, das war nichts für sie. Von Halfell wusste sie, dass es hier ruhig und sicher ist. Und dass es einen gefangenen Vampir gibt. Sie wollte beobachten und die Familie informieren, sollte etwas passieren.“

„Aber es ist nie etwas passiert“, stellte Caelan fest. „Wir sind ja auch noch da.“

„Richtig. Also blieben wir und beobachteten genauso. Und hin und wieder halfen wir an anderen Orten, wenn es dort Probleme mit Vampiren gab.“ Brielle lachte leise. „Das waren dann unsere Geschäftstermine außerhalb.“

„Nun, jetzt habt ihr aber nichts mehr zu beobachten. Wir haben Samuel verbrannt. Ich hole morgen Weihwasser, um die Asche damit aufzulösen.“

„Ihr konntet ihn verbrennen?“ Brielle sah Harpers Mutter verdutzt an und die nickte.

„Harper hatte diese Idee. Sie meinte, dass er doch nun schon seit langer Zeit ohne Blut in seinem Gefängnis lag und vielleicht geschwächt ist. Keine Ahnung, warum noch niemand diese Idee hatte, aber sie erwies sich als richtig. Caelan hat ihn geköpft und wir haben ihn verbrannt.

„Wir hörten Geschichten über einen Vampir namens Samuel“, begann Jeremiah und sah Harper und ihre Mutter prüfend an. „Er soll sehr alt und mächtig sein. So mächtig, dass seine Wunden sich sofort schlossen, noch bevor die Klingen aus seinem Fleisch entfernt waren.“

„Ja, diese Geschichten kennen wir auch. Deswegen wurde er hier damals von meinen Vorfahren eingesperrt.“

„Wir hörten auch, dass Samuel vor seiner Verwandlung ein Druide war.“ Jeremiah hob eine Augenbraue. Harper sah ihn irritiert an und blickte dann zu ihrer Mutter, die mit den Schultern zuckte.

„Und wenn schon? Vampir ist Vampir.“

„Dann hat ihn nicht nur seine Macht als Vampir geschützt, sondern auch sein Blut als Druide. Oder ist es nicht so, dass die Solomons das Land bei ihrer Ankunft hier an sich banden?“

„Was soll das heißen?“ warf Caelan ein. „Willst du sagen, Samuel war ein Solomon?“

„Ein verstoßener Solomon.“ Die Stimme kam aus dem Nichts, dann schimmerte es an der Tür und eine Frauengestalt in einem altmodischen Kleid erschien dort. „Ich bin Maire Solomon. Samuel war mein Bruder.“ Obwohl sie ein Geist war, erschien sie Harper durchaus fest und stofflich, so wie alle anderen im Raum. Maire rückte ihr Schultertuch zurecht und blickte in die Ferne. „Er wandte sich bereits früh der Dunkelheit zu. Ich versuchte natürlich, ihn von diesem Pfad abzubringen, aber ich scheiterte. Mir blieb nichts weiter, als Vater zu sagen, was Samuel trieb.“

„Er rief einen Dämon“, fuhr Harpers Mutter an Maires Stelle fort. „Eine Kunst, die Druiden nur lernen, um zu wissen, wie sie Dämonen bannen können. Sie rufen sie nie selber. Normalerweise.“ Sie lachte heiser auf. „Aber manche tun es doch.“

„Richtig.“ Maire sah sie traurig an. „Samuel wollte mehr Macht, um die Werwölfe endgültig zu vertreiben. Er sah keine friedliche Lösung. Und er war es auch, der die Vampire nach Halfell lockte.“

„Und unsere Vorfahren haben sich noch mit den Solomons verbündet damals, um gegen Samuel zu kämpfen.“ Caelan sah Maire empört an. „Dabei haben die den Kerl überhaupt erst hierhergebracht.“

„Er war kein Solomon mehr, nicht, nachdem er sich diesen dunklen Künsten zuwandte“, entgegnete Maire. „Unsere Familie verstieß ihn. Er lernte bei dem Dämon und fand auf diese Weise wohl heraus, dass er als Vampir über besondere Macht verfügen würde. Menschen, die zu Vampiren werden, sind nicht besonders stark, für Werwölfe stellen sie kein Problem dar. Aber ein Druide, der an das Land gebunden ist, schöpft seine Kraft auch als Vampir noch aus diesem. Deswegen konnte er nicht verletzt werden.“

„Wenn ihr das wusstet, warum habt ihr den Werwölfen dann nichts gesagt?“ knurrte Caelan. „Ich kenne die Geschichten. Es gab unzählige Tote und niemand konnte etwas gegen Samuel ausrichten.“

„Sie wussten es nicht“, antwortete Maire schlicht. „Es ist mir mit der Zeit erst bewusst geworden. Ich bin nicht an das Haus gebunden und streifte oft durch Halfell. Dabei traf ich Lucille.“ Sie sah zu Brielle und Jeremiah.

„Unsere Tante.“ Brielle sah Maire verwundert an. „Sie hat nie von dir erzählt.“

„Vermutlich hielt sie mich für einen gewöhnlichen Geist. Ich erzählte ihr nur, dass ich Opfer eines Vampirs gewesen war und deswegen noch hier verweilte, weil er noch nicht vernichtet ist.“ Maire lächelte traurig. „Was auch beinahe stimmt. Ich war Samuels erstes Opfer nach seiner Verwandlung in einen Vampir. Er tötete mich und warf mich unseren Eltern vor die Füße.“

„Und was hatte es jetzt mit dieser Lucille auf sich? Hat sie dir gesagt, wie man Samuel vernichten kann?“ Caelan sah Maire scharf an und diese nickte.

„Ja. Aber Catherine war bereits alt und schwach und lag im Sterben. Sie konnte es nicht mehr tun. Und Harper wusste von nichts, als sie hierherkam.“ Maire lachte leise. „Du hast es nicht einmal bemerkt, als ich versuchte Kontakt zu dir aufzunehmen. Einfach vor dir erscheinen wollte ich nicht, ich wollte nicht, dass du sofort abreist.“

„Na ja … da waren irgendwelche Geräusche und dann die Kellertür, die von alleine aufging. Warst du das also?“

„Ja. Aber ich war mir auch sicher, dass du mir nicht zuhören und schon gar nicht helfen würdest.“ Maire wirkte unsicher und verlegen. „Also habe ich mir anderswo Hilfe geholt und meine verbliebene Macht genutzt, um das, was ich von Lucille erfahren habe, in die Tat umzusetzen.“

„Und was war das?“ Harpers Mutter sah Maire argwöhnisch an. „Du redest sonst auch nie um den heißen Brei herum, Maire. Was hat Lucille dir erzählt?“

„Um einen Vampir zu vernichten, der vorher kein Mensch war, braucht es sein eigenes Blut oder zumindest das Blut seiner Nachfahren“, erklärte Maire. „Ich habe dich in einer Nacht so tief schlafen lassen, Harper, dass du es nicht gemerkt hast, als meine Helferin ins Haus kam und dir Blut abnahm.“ Harper keuchte auf.

„Was hast du gemacht?“ brüllte ihre Mutter. „Du gehst an meine Tochter und verletzt sie?“

„Du wolltest ja nie wieder hierherkommen und ich kann Halfell nicht verlassen. Es war für mich in dem Moment der einzige Weg. Meine Helferin hat eine Spritze benutzt und Harper hat davon sicher auch nichts gemerkt.“

„Das stimmt“, gab Harper zu. „Aber das Blut alleine hat wohl kaum geholfen, wenn da noch ein Körper war, um ihn zu verbrennen.“

„Natürlich nicht. Aber es hat Samuel geschwächt. Um seine Macht über das Land zu halten, durfte er nie Blut von seiner Familie trinken. Dadurch, dass meine Helferin es ihm aber einflößte, zerfiel dieses Band. Es gab nichts mehr, was ihn schützte. Und von da an war er ein einfacher Vampir. Alt, ja, aber nicht mehr so mächtig wie zuvor. Bei weitem nicht.“

„Deshalb ging die Axt durch seinen Hals wie durch Butter. Ich war ja skeptisch nach allem, was ich über Samuel gehört hatte.“ Caelan grinste. „Geschwächt durch seine Familie, armer Kerl.“

„Davon wussten wir auch nichts“, sagte Jeremiah mit nachdenklich. „Also, dass man Vampire so schwächen kann.“

„Es gilt nicht für alle Vampire“, entgegnete Maire ernst. „Es ist etwas, was nur bei Druiden und Hexen funktioniert. Und dementsprechend unbekannt, denn kaum mal wurden Druiden oder Hexen in Vampire verwandelt. Unsere Abscheu Vampiren gegenüber ist zu groß, als das wir das wollten.“

„Und es ist wohl auch nur nötig, wenn der Druide mit dem Land verbunden ist, oder? Das Land hat Samuel geschützt. Wäre er also nicht mit dem Land verbunden gewesen, wäre er von vornherein nur ein gewöhnlicher Vampir gewesen?“ Jack sah Maire fragend an und sie nickte.

„Er wurde zwar verstoßen, aber seine Bindung zum Land konnte unsere Familie nicht lösen.“ Sie sah zu Harper und ihrer Mutter. „Einmal eingegangen, kann der Druide sie nur selber lösen.“ Harpers Mutter schnaufte.

„Aber bei Samuel konnte sie jetzt doch gelöst werden“, stellte Brielle fest.

„Das Land schützt jeden Solomon, der mit ihm verbunden ist. Dadurch, dass Samuel Harpers Blut getrunken hat, hat das Land ihn abgestoßen, denn er ist bereits tot, während Harper lebt.“

„Aber … Moment, ich bin doch gar nicht mit dem Land verbunden. Oder? Ich meine, wenn man da was machen muss … ich hab gar nichts gemacht.“ Harper sah Maire verwirrt an und die lächelte amüsiert.

„Oh doch. Unbewusst zwar, aber du hast bereits bei deiner Ankunft hier tief in das Land gegriffen. Es ist einfach dein Erbe, deine Magie, Harper. Du magst sie nie erlernt haben, aber sie ist da.“

„Solange Juniordruidin nicht noch andere Dinge macht, ohne zu wissen, was sie tut.“ Caelan grinste und Harper warf ein Sofakissen nach ihm.

„Du hast es doch gehört, es ist unbewusst passiert, war also keine Absicht.“ Sie sah fragend zu ihrer Mutter. „Ist das schlimm? So eine Verbindung, meine ich.“

„Nein.“ Ihre Mutter musterte sie nachdenklich. „Sie ist eben da. Und das erklärt nun auch, warum die Vampire heute Nacht nicht näher an das Haus kamen. Das Land hat ihre Sinne verwirrt, um dich zu schützen. Ich hätte es mir gleich denken können.“

„Da das soweit geklärt ist, wüsste ich gerne, was wir nun mit den Handlangern der Vampire machen“, warf Jack ein. „Wir können sie nicht laufenlassen.“

„Wir überlassen sie der Polizei“, erklärte Jeremiah. „Sie wollten hier einbrechen und wir haben sie auf frischer Tat ertappt, gefesselt und die Polizei gerufen. Das sollten wir dann aber gleich machen. Und wir sollten die Waffen vorher wegschaffen, bevor blöde Fragen kommen.“

„Ich kenn ein gutes Versteck. Ruft schon mal die Polizei. Nehmt die Sachen und folgt mir.“ Harpers Mutter stand auf und humpelte in die Küche. Jeremiah und Brielle nahmen ihre Waffen auf und folgten ihr. Harper sah unschlüssig zu Caelan und dessen Freunden.

„Sollten wir nicht mehr absprechen? Zum Beispiel, was ihr alle hier macht, so mitten in der Nacht?“

„Wir haben eine Runde im Wald gedreht und bemerkten diese Gestalten bei eurem Haus. Das ist nah genug an der Wahrheit, dass wir uns wohl auch später nicht widersprechen werden.“ Caelan zog grinsend sein Handy aus der Hosentasche und rief die Polizei ein.

Während er sprach, lehnte Harper sich zurück und starrte an die Decke. Dann fiel ihr etwas ein und sie richtete sich ruckartig auf. Maire stand noch immer neben der Tür.

„Maire? Wer hat dir geholfen?“ Maire lächelte vergnügt.

„Lindsey. Sie kann Geister sehen und wusste schon immer von mir. Also habe ich sie eingeweiht. Sie erschien mir die beste Lösung.“ Lindsey also. Das ergab Sinn. Lindsey hatte die Schlüssel fürs Haus und konnte jederzeit hereinkommen. Wobei das wohl keine Rolle spielte – Maire hätte ihr die Türen auch öffnen können.

Harper sah auf, als ihre Mutter, Brielle und Jeremiah ins Wohnzimmer zurückkehrten. Caelan erklärte kurz, wie sie ihre Geschichte der Polizei gegenüber darstellen wollten, und dies gerade rechtzeitig, denn er hatte noch nicht geendet, da klingelte es bereits. Gemeinsam mit ihrer Mutter ging er nach draußen und Harper wollte ihnen bereits folgen, als sie hörte, wie sie mit den Besuchern ins Wohnzimmer kamen.

Maire war verschwunden und Harper sank auf das Sofa zurück. Caelan begann mit ihrer Geschichte und ihre Mutter, Brielle und Jeremiah warfen gelegentlich etwas ein. Die Beamten hörten ihnen aufmerksam zu und machten sich Notizen. Einer der Männer brummte leise.

„Hab’s Catherine so oft gesagt, dass sie sich so eine Alarmanlage anschaffen soll“, sagte er. „Wären Sie nicht zufällig alle hier gewesen, hätte es wohl ein anderes Ende nehmen können.“

„Den Rat geben wir den nächsten Eigentümern auch weiter“, erklärte Harpers Mutter. „Schrecklich, einfach schrecklich. Da wollte ich mein Elternhaus nun doch noch ein letztes Mal besuchen und dann das.“ Harper bemühte sich, ihre Mutter nicht verdutzt anzusehen. Sie klang so überzeugend. Aber vielleicht lernte man so etwas, wenn man kein Mensch war. Sie hatte sich vermutlich schon mehr als einmal verstellen müssen.

„Dann machen Sie sich noch ein paar schöne Tage, Mrs. Solomon. Versuchen Sie den Schrecken mit etwas Angenehmen zu überdecken.“

„Das werde ich.“ Das Lächeln, das ihre Mutter den beiden Beamten schenkte, war warm und charmant. „Danke, dass Sie so schnell gekommen sind. Mir ist viel wohler, jetzt da ich weiß, dass die Polizei sich um diese Kerle kümmert.“ Harper merkte, wie Jeremiah ihre Mutter versonnen musterte, während Caelan und seine Freunde den Blick zu ihr mieden.

Was ging jetzt schon wieder vor?

Nach einigen weiteren Fragen, die ihre Mutter mit weicher Stimme und weiterhin warmen Lächeln beantwortete, führten sie und Caelan die Beamten nach draußen. Jeremiah sah ihr nach und Brielle stieß ihn kräftig an.

„Du sabberst gleich“, sagte sie grinsend und Jack lachte.

„Wir hätten euch wohl vorwarnen sollen“, meinte er. „Mrs. Solomon ist zur Hälfte ein Sukkubus.“

„Was?“ Jeremiah sah ihn entgeistert an.

„Ein Sukkubus?“ wiederholte Brielle. „Nun, wir jagen nur Vampire, bei Dämonen sehen wir keinen Handlungsbedarf. Außer zu sabbern, scheint mir. Zumindest bei meinem Bruder.“

„Dann hat meine Mutter gerade irgendwas gemacht? Etwas … na ja, sukkubusartiges?“ Harper sah verwirrt zu Jack und der lachte erneut.

„Ein bisschen Charme und Pheromone versprüht, ja. Das war das erste Mal, das ich so etwas miterlebt habe. War ja schon interessant.“

„Interessant würde ich das nun nicht bezeichnen“, murrte einer seiner Freunde. „Verwirrend eher.“

„Solange es wirkt und die Polizisten ihr verfallen sind und ihr aus der Hand fressen, ist es egal, ob interessant oder verwirrend.“ Jack grinste und sah Harper fragend an. „Kannst du das auch?“

„Ich glaube nicht. Vorgestern wusste ich ja nicht einmal, dass meine Mutter ein Sukkubus ist.“ Harper schüttelte den Kopf. Besonderen Erfolg bei Jungs und Männern hatte sie nie gehabt. Vermutlich waren die Sukkubusgene bei ihr nicht sehr ausgeprägt.

Sie wusste auch nicht, ob sie unbedingt lernen wollte, Charme und Pheromone zu versprühen, wie Jack es ausgedrückt hatte, auch wenn es bei ihrem grantigen Chef sicher von Vorteil sein konnte. Beinahe hätte sie gelacht.

Mr. Scott, der ihr verfallen war, wäre ein köstlicher Anblick gewesen.

 

Kapitel 14

Harper kam spät ins Bett in dieser Nacht. Es dauerte, bis die Polizisten mit den drei Gefangenen abfuhren. In ihrem Streifenwagen war kein Platz, weswegen sie noch Kollegen anforderten.

Zudem wunderten sie sich, warum es keinen Fluchtwagen gab. Harpers Mutter improvisierte und erklärte, sie habe einen Wagen wegfahren gehört. Er müsse irgendwo versteckt auf die Diebesbande gewartet haben.

„Ich vermute, sie haben auf Schmuck und Bargeld gehofft. Meine Tante war nicht unvermögend.“ Die Polizisten nickten, als sei das alles ganz logisch. Vielleicht wirkte es auf Harper auch bloß so unsinnig, weil sie die Wahrheit kannte.

Kurz vor zehn Uhr kroch sie übermüdet aus ihrem Bett und tappte in die Küche. Sie roch Kaffee und fragte sich, wer wohl schon wach war. Caelan, Jack und Brielle waren in der Nacht geblieben. Nur zur Sicherheit, wie sie sagten.

Küche und Wohnzimmer waren leer, aber die Kellertür stand offen. Harper ging runter und entdeckte hier ihre Mutter und Brielle vor dem offenen Tunnel.

„Jeremiah bringt gleich das Weihwasser. Wir haben immer welches im Haus.“ Brielle drehte sich um, als Harper in den Keller kam, und lächelte. „Guten Morgen, Harper.“

„Guten Morgen.“ Harper unterdrückte ein Gähnen. „Ihr wollt also gleich noch mal dahin?“

„Ich will ganz sicher gehen“, erklärte ihre Mutter. „Es war zwar nur Asche übrig, aber es schadet sicher nicht, sie in Weihwasser zu verreiben.“

„Und was bringt das? Ich mein, er kann doch nicht aus der Asche wiederauferstehen.“ Harper sah von ihrer Mutter zu Brielle, die einen seltsamen Blick tauschten.

„Es soll schon vorgekommen sein“, meinte ihre Mutter. „Ich weiß nicht, ob das nur Schauermärchen sind.“

„Wir haben auch keine Beweise dafür. Aber auch wenn da nichts dran ist, schadet das Weihwasser nicht.“

„Außerdem kann es helfen den Raum zu reinigen und Samuels Bösartigkeit zu vertreiben, die da noch hängt.“ Ihre Mutter humpelte zur Treppe und Harper und Brielle folgten ihr.

„Was ist mit deinem Fuß?“

„Ach, ich stand zu nah am Sarg. Als das Feuer aufloderte, bin ich erschrocken und zurückgewichen und dabei gestolpert. Hab ihn mir wohl etwas verknackst. Das gibt sich schon bald wieder.“ In der Küche entdeckten sie Caelan, der sich durch die Schränke wühlte.

„Sieht so aus, dass wir auswärts essen“, stellte er fest.

„Hier wohnt ja grad auch niemand, natürlich sind die Schränke leer.“ Ihre Mutter schmunzelte und griff nach ihrer Kaffeetasse. Sie sah fragend zu Harper. „Wie sieht es aus? Willst du noch bleiben oder reisen wir heute noch ab?“

„Bleiben wir noch etwas.“ Harper hegte die Hoffnung, dass ihre Mutter ihr nun noch mehr erzählen würde. Vielleicht auch etwas über mögliche Fähigkeiten, die sie hatte. Sie war neugierig, das konnte sie nicht leugnen, auch wenn sie nicht wusste, ob sie wirklich irgendwelche Magie erlernen wollte.

Magie.

Es erschien ihr immer noch unwirklich, dass sie kein Mensch sein sollte, dass sie Magie beherrschen sollte und sogar schon welche angewandt hatte. Sie fühlte sich nicht anders als sonst, auch wenn ihre Mutter ihr am Abend noch einmal versichert hatte, dass es stimmte. Sie hatte sich an das Land gebunden.

„Ich hab Jeremiah geschrieben. Er bringt Bagels, Speck und Eier mit. Dann müssen wir nicht los und können gleich zu Samuels Gefängnis.“ Brielle lächelte und nahm ihre Tasse. „Ich muss zugeben, ich dachte, er sei hier direkt unter dem Haus irgendwo eingemauert.“

„Nein, das wollten unsere Vorfahren nicht. Unter der Kapelle war es sicherer.“ Harpers Mutter lachte leise. „Ich denke auch, das war die bessere Idee. Nicht auszudenken, mit einem vergrabenen Vampir unter dem Haus zu leben. Zumal er ja durchaus auch aus seinem Gefängnis noch eine gewisse Macht hatte. Zumindest anfangs wohl.“ Sie begann den Tisch zu decken.

Harper setzte frischen Kaffee auf und lehnte sich an die Küchenzeile. Ihre Mutter erklärte Brielle derweil, dass es in den anderen Geheimräumen, die von dem Tunnel abgingen, noch einige Waffen gab.

„Vielleicht könnt Jeremiah und du sie brauchen. Schaut sie euch nachher einfach mal an. Wäre schade um sie, wenn sie da unten versauern.“

„Danke. An Messern nehm ich gerne alles. Die Dinger gehen so schnell verloren.“

„Was wirfst du die auch durch die Gegend?“ murrte Caelan und Brielle schnaufte.

„War doch dein Glück, sonst hätte dich der eine Kerl noch gebissen. Und das Messer hab ich mir auch zurückgeholt.“

„Vampire beißen Werwölfe nicht“, erklärte Caelan. „Etwas an unserem Blut verätzt sie von innen. Jack meinte mal, es sei eine Werwolfallergie.“

„Das höre ich das erste Mal“, gab Brielle zu. „Aber gut zu wissen.“ Irgendwie beruhigte es Harper, dass auch Brielle nicht alles wusste, obwohl sie damit aufgewachsen war, eine Vampirjägerin zu werden. Alle in ihrer Familie wussten davon und viele jagten selber Vampire, andere übernahmen bloß die Funktion von Beobachtern wie Brielles Tante Lucille.

Vielleicht würde sie mit der Zeit selber mehr über all diese Dinge lernen. Unwillkürlich fragte Harper sich, wie es sein würde, sollte sie irgendwann Kinder kriegen. Wenn der Vater des Kindes nun ein Mensch war, sollte sie ihn dann in ihr Geheimnis einweihen?

Energisch schob sie diese Gedanken beiseite. Soweit war es noch lange nicht und vielleicht würde es niemals soweit kommen. Zwar schloss sie Kinder nicht kategorisch aus, aber wer wusste, ob sie irgendwann den passenden Mann finden würde. Bisher waren ihre Dates meist katastrophal verlaufen und die wenigen, sehr kurzen Beziehungen waren bestenfalls Affären zu nennen.

Verführerisch wie ein Sukkubus war sie also wohl nicht. Vielleicht kehrte es sich bei ihr auch ins Gegenteil um, überlegte sie bei sich. Oder die Männer, mit denen sie sich getroffen hatte, hatten ihr gegenüber instinktiv Abneigung gespürt wie sie bei den Werwölfen.

Was es auch war, sie würde es so bald sicher nicht klären können, wenn überhaupt. Sie schaute zu Caelan und Brielle, die sich gerade über die besten Methoden unterhielten, Vampire schnell zu töten. Brielle setzte auf Bögen, deren Pfeile ein lähmendes Gift enthielten, und das anschließende Köpfen des Vampirs, Caelan war für den direkten Angriff.

„Erst die Kehle durchbeißen, dann den Kopf abreißen. Das funktioniert einwandfrei.“

„Ich fange sicher nicht an, Vampire zu beißen. Außerdem fehlt mir die Kraft ihnen den Kopf abzureißen.“

„Und wenn du ihre Brust verfehlst? Dann hilft dir dein Gift auch nicht.“

„Deswegen sind wir auch immer zu zweit und außerdem gut bewaffnet. Wir müssen einfach andere Techniken anwenden als ihr. Wir haben keine Klauen und kein Wolfsgebiss.“ Brielle lächelte schief und Harper schüttelte leicht den Kopf. Das waren Gesprächsthemen, die sie sicher nicht erwartet hatte.

Als es an der Haustür klingelte, ging sie öffnen. Vor ihr stand Jeremiah, beladen mit zwei Papiertragetaschen, die den Aufdruck des Bäckers trugen.

„Guten Morgen, Ihr Lieferservice“, begrüßte er sie mit einem breiten Grinsen und sie trat zur Seite, um ihn ins Haus zu lassen. Sie gingen in die Küche und er stellte die Taschen auf der Arbeitsfläche ab. Dann griff er in seine Umhängetasche, holte eine Halbliterflasche Wasser aus ihr und reichte sie ihrer Mutter.

„Ah, das Weihwasser? Prima. Wollen wir sofort los oder wollen wir erst essen?“

„Ich sterbe vor Hunger“, behauptete Caelan und begann die Taschen auszupacken. Nachdem alles auf dem Tisch verteilt war, ließen sie es sich schmecken und Harper beobachtete etwas irritiert, wie Caelan den rohen Speck verschlang. Er grinste sie an. „Ein Hase wäre mir auch recht gewesen, aber man passt sich an.“

„Du hättest jagen gehen können“, sagte Harpers Mutter trocken.

„Und dann drehen wieder alle durch, weil sie meinen, sie hätten einen Wolf gesehen.“ Caelan schnaufte.

„Na ja, sie haben ja auch Wölfe gesehen. Oder einen. Oder auch einen Werwolf.“ Brielle schmunzelte. „Keine Ahnung, ich war nicht dabei.“

„Vermutlich ein Werwolf, hier laufen seit einiger Zeit immer mal fremde Werwölfe rum. Sie bleiben nicht, aber wir sind achtsam.“ Caelan schnaubte. „Die sollen nicht meinen, sie könnten sich hier einnisten.“

Schließlich hatten sie aufgegessen und aufgeräumt. Ihre Mutter nahm die Flasche mit dem Weihwasser und sie gingen in den Keller. Die beiden Gläser mit den Kerzen standen noch auf einem der Regale. Harper und Brielle nahmen sie und Harper ging mit ihrer Mutter vor.

Der Weg erschien ihr heute nicht so lang wie gestern, aber vielleicht kam es ihr auch nur so vor, weil sie nun nicht mehr so aufgeregt und müde war.

Als sie die Stelle erreichten, an der ihre Mutter und sie am vergangenen Abend angehalten hatten, bemerkte Harper auch gleich eine Veränderung. Die beängstigende Aura war nicht mehr so stark. Sie fühlte sich immer noch nicht wohl, aber nun war dieses Gefühl deutlich schwächer. Schwach genug, dass sie sich mit den anderen in den geheimen Raum wagte, in dem Samuel gefangen gehalten worden war.

Im Lichtschein der Kerzen sah Harper einen steinernen Sarg, der offenstand. Der Sargdeckel lag auf dem Boden und ihre Mutter stieg gerade über ihn hinweg. Der Raum selbst war völlig schmucklos und kleiner, als Harper gedacht hatte. Mit vier Leuten wirkte er bereits überfrachtet.

„Wie kommt eigentlich Luft hier herein?“ fragte Jeremiah und runzelte die Stirn. Harper sah fragend zu ihrer Mutter.

„Über Luftschächte natürlich.“

„Ich habe nirgendwo Öffnungen gesehen.“

„Natürlich nicht. Sie sind verborgen, so wie die Tür hierher auch verborgen ist. Aber sie sind da und lassen die Luft herein.“ Ihre Mutter lächelte. „Du wirst auch keinen Lufthauch spüren, da die Magie dies ebenfalls verschleiert.“

„Ich frage mich ohnehin, wie das hier erbaut wurde. Das muss doch aufgefallen sein.“

„Niemand hat es mitbekommen, weil unsere Vorfahren Magie dazu benutzt haben.“ Ihre Mutter trat dicht an den Sarg und beugte sich vor. „Druiden können die Elemente beherrschen und manipulieren. Da ist so ein Bauwerk keine große Sache.“

„Kommt auf den Standpunkt an“, murmelte Harper. Sie fand die Vorstellung immer noch gruselig, dass Druiden einfach so das Land formen konnten. Ihre Mutter sagte nichts dazu. Sie öffnete die Wasserflasche und begann das Innere des Sarges mit dem Weihwasser zu besprenkeln.

Es zischte und im Kerzenschein sah Harper leichten Rauch aus dem Sarg aufsteigen. Ihre Mutter wich etwas zurück, hörte aber nicht auf, Weihwasser in den Sarg zu spritzen. Jeremiah trat näher an den Sarg herein und blickte neugierig in ihn hinein.

„Die Asche löst sich auf.“ Er wies auf den Sarg. „Was ist das für eine Kette?“

„Eine alte Schutzkette. Sie sollte Samuels Ausstrahlung verschleiern, sodass man ihn auf dem Friedhof nicht bemerken würde.“ Ihre Mutter verspritzte das Weihwasser nun auch um den Sarg herum und ging schließlich den Raum ab, um es auch in den Ecken zu verteilen. „Ich denke, das sollte ich morgen wiederholen. Er hatte eine wirklich finstere Ausstrahlung.“

„Aber es ist anders als gestern. Da wollte ich nur noch weglaufen. Heute geht es.“ Harper überwand sich und ging zum Sarg. Er war leer, nicht einmal Asche war noch zu sehen. Jeremiah hatte ja erwähnt, dass sie sich auflöste, sie fand es dennoch erstaunlich. Vielleicht auch etwas unheimlich. Immerhin war Samuel so komplett von der Welt verschwunden, als hätte es ihn nie gegeben.

„Gestern lebte er ja auch noch“, entgegnete ihre Mutter und verzog leicht das Gesicht. „Oder wie man das bei einem Vampir auch nennen will. Leben tun sie ja nicht mehr.“ Sie verschloss die inzwischen leere Flasche und ging zum Ausgang des Raumes. Die anderen folgten ihr in den Tunnel und hier hob sie die Arme und summte eine leise Melodie.

Fasziniert beobachtete Harper, wie es in der Öffnung zu schimmern begann. Von allen Seiten begann Stein zu wachsen und die Öffnung wieder zu verschließen. Als ihre Mutter die Arme senkte, klopfte Harper neugierig an die Wand vor ihnen. Sie spürte Widerstand, es war also nicht bloß eine Illusion.

„Du kannst das auch lernen.“ Ihre Mutter lächelte leicht und Harper schnaubte.

„Keine Ahnung, ob ich es lernen will. Mir reichen meine Türen, wie sie sind.“ Sie machten sich auf den Rückweg und Harper versank in ihren Gedanken.

So unsicher sie war, ob sie das alles lernen wollte, so sehr drängte sich ihr der Gedanke auf, dass es vermutlich sicherer war, es zu tun. Immerhin wusste sie nun, dass es übernatürliche Wesen gab. Wer sagte ihr, dass solch ein Wesen sie nicht einmal angriff? Da war es von Vorteil, wenn sie sich verteidigen konnte.

Bisher war zwar nie irgendetwas passiert, aber das konnte viele Gründe haben. Vielleicht war sie einfach keinem Wesen begegnet, dass ihr feindselig gegenüberstand, vielleicht hatte ihre Mutter irgendeine Art von Schutz über sie gelegt. Aber die Möglichkeit, dass sich das änderte, bestand.

 

Kapitel 15

Als sie wieder in der Küche waren, verabschiedeten sich Brielle und Jeremiah von ihnen. Sie wollten Brody nicht zu lange allein im Laden lassen. Als Ausrede, warum sie hier gewesen waren, nahmen sie einen Stapel der alten Romane mit.

Ihre Mutter ging ins Wohnzimmer und setzte sich auf das Sofa. Harper und Caelan folgten ihr. Caelan lehnte sich an den Türrahmen und betrachtete sie beide nachdenklich.

„Und jetzt? Wollt ihr das Haus immer noch verkaufen?“

„Ich weiß nicht.“ Harper sah fragend zu ihrer Mutter. „Es gibt keinen Vampir mehr, der eine Gefahr darstellt.“

„Nein. Und den Gang wird niemand finden.“ Ihre Mutter erwiderte ihren Blick ruhig. „Maire müsste gehen oder sich einen anderen Ort suchen. Es ist an sich ein gewöhnliches Haus.“

„Amirah hat die Anzeigen noch nicht geschaltet. Sie will sich erst bei ihren Kollegen umhören, ob sie Interessenten für Häuser in Kanada haben. Zwei hat sie da schon.“ Harper zuckte mit den Schultern. „Leben will ich hier nicht und so ein Haus ist teuer im Unterhalt. Da reicht Catherines Erbe nicht lange für. Als Ferienhaus vermieten reicht sicher auch nicht komplett. Es zu behalten wäre ein Verlustgeschäft. Ich kann es mir jedenfalls nicht leisten.“

„Ich auch nicht.“

„Verkauft es uns.“ Caelan setzte sich in einen der Sessel und beugte sich etwas vor. „Meinen Freunden und mir. Leisten können wir es uns allemal und hier wären wir schneller und unauffälliger im Wald, um zu jagen.“ Er grinste. „Außerdem könnt ihr dann jederzeit herkommen, wenn ihr Lust dazu habt. Halfell ist doch zum Entspannen gar nicht so schlecht.“

„Und kümmert ihr euch auch um unseren Friedhof?“ fragte Harpers Mutter und musterte Caelan nachdenklich. „Lasst ihr Maire bleiben, wenn sie diese Welt nicht verlassen will?“

„Natürlich. Um den Friedhof kümmern sich Jack und Brian schon seit Jahren. Und was sollen wir gegen Maire haben? Ein Geist, der über das Grundstück wacht, ist gar nichts Übles.“ Caelan sah Harper und ihre Mutter erwartungsvoll an. „Kommt schon, damit erspart ihr euch die Suche nach einem Käufer und wisst, dass das Haus in guten Händen ist.“

„Da ist was dran. Was meinst du, Harper?“ Ihre Mutter wandte sich ihr zu und Harper zuckte mit den Schultern.

„Warum nicht? Recht hat er, es erspart die Suche.“

„Deine Freundin kann ja alles in die Wege leiten. Ich sag Jack Bescheid, er kann ja alles Weitere mit ihr besprechen. Die beiden haben sich ja gut verstanden.“ Caelan grinste. „Ist sie offen dem Übernatürlichen gegenüber? Jack mag sie.“ Harper sah ihn verdutzt an.

„Na ja … Amirah findet es nicht komplett verrückt, wenn Leute an Geister glauben. Sie steht irgendwo dazwischen.“ Sie zuckte mit den Schultern. „Aber das müssen die beiden schon miteinander klären.“ Ihre Mutter lachte leise auf.

„Amirah wäre genau die Richtige für einen Werwolf. Sie ist temperamentvoll und energisch.“

„Du willst jetzt aber nicht die Kupplerin spielen?“ Harper hob eine Augenbraue und schüttelte leicht den Kopf. Ihre Mutter zuckte mit den Schultern.

„So wie ich Amirah kenne, braucht sie da keine Hilfe.“ Da hatte ihre Mutter Recht. Harper kannte Amirah lange und war oft genug mit ihr ausgegangen, um zu wissen, dass sie auch den ersten Schritt machte. Bei Jack war es auch nicht anders gewesen, erinnerte Harper sich.

Caelan fragte nach Amirahs Telefonnummer und rief Jack an, um alles weitere bezüglich des Hauskaufs mit ihm zu klären. Ihre Mutter beschloss, sich das Haus anzusehen, während er telefonierte. Harper folgte ihr und überlegte, wie sie darauf zu sprechen kommen sollte, was sie sich vorhin im Tunnel überlegt hatte.

Schweigend lief ihre Mutter durch die Räume, betrachtete kurz die Möbel und ging dann weiter. Im Obergeschoss hielt sie sich länger in den Räumen auf. In einem der Kinderzimmer trat sie an das Bett heran und strich über den hellgelben Deckenbezug.

„Hat Catherine tatsächlich darauf bestanden, dass hier alles bleibt, wie es war“, murmelte sie dabei, mehr eine Feststellung als eine Frage. Sie öffnete den Kleiderschrank aus hellem Holz, der ein leeres Inneres offenbarte. „Das hier war mein Zimmer.“ Sie lächelte leicht und wies auf eine Ecke. „Dort gab es ein Fell, auf dem ich immer gespielt habe. Daneben war ein Regal mit Plüschtieren und Puppen. Aber ich habe lieber mit Maire gespielt.“

„Und gelernt?“

„Für mich war es ein Spiel. Sie zeigte mir Dinge und ich machte sie nach. Es machte Spaß, wenn Blumen aufblühten oder Schmetterlinge sich auf meine Hand setzten und mir Bilder vom Wald und den Wiesen zeigten.“ Ihre Mutter lachte leise auf. „Meine Mutter war überrascht, wie leicht mir das alles fiel, immerhin war ich nur zur Hälfte Druidin. Vielleicht war es aber auch gerade das. Einfach neues Blut, etwas, was meine druidischen Fähigkeiten anfachte.“

„Kann ich es auch noch lernen?“ Ihr Gespräch war einfach die perfekte Vorlage, um auf das Thema zu kommen, das sie so beschäftigte. Ihre Mutter nickte.

„Natürlich kannst du das. Willst du es denn?“

„Ich weiß nicht.“ Harper seufzte leise auf. „Es erscheint mir immer noch alles so verrückt. Aber dann wiederum … Da sind andere Wesen. Was, wenn mich mal eines angreift, weil es Druiden hasst? Zum Beispiel irgendein Werwolf oder so? Oder wenn ich mal einem Vampir begegne?“

„Es gibt einige sehr leichte Dinge, die ich dir schnell beibringen kann und mit denen du dich verteidigen kannst.“ Ihre Mutter schmunzelte. „Um dich zu verteidigen, musst du nicht wissen, wie man dem Wind und der Erde lauscht oder wie man Pflanzen zum Blühen bringt.“

„Na ja, das wäre gar nicht schlecht zu wissen. Immerhin kriege ich bisher alles tot an Pflanzen, was ich zu halten versuche.“ Harper schnaubte.

„Ja, für eine Druidin hast du da ein extrem schlechtes Händchen für. Aber das können wir ändern.“ Ihre Mutter ging weiter und sie sahen sich die restlichen Räume auf der Etage an. „Catherine hat kaum etwas verändert. Die Möbel sehen neuer aus, aber von der Art sind sie wie früher.“ Sie strich in einem der Zimmer über einen Sessel, der mit dunkelrosa Samt bezogen war. „Der hier war total durchgescheuert. Meine Mutter saß oft abends mit mir hier und erzählte mir alte Geschichten.“

„Sie hing vermutlich an den Sachen und hat sie nur soweit erneuert, wie nötig“, überlegte Harper. Ihre Mutter nickte.

„Ich war ja noch sehr jung, als wie hier wegzogen, aber ich erinnere mich, dass Catherine schon immer sehr … nun, sagen wir altmodisch war. Sie war unglaublich enttäuscht von Rachel, weil die ihre Ehe mit Füßen getreten habe. Rachel hat mir später davon erzählt, als ich immer wieder wissen wollte, warum wir Großmutter nicht besuchen.“ Ihre Mutter lachte leise auf und rieb sich über das Gesicht. „Ähnlich wie du mich jetzt ausgefragt hast. Nur dass ich ja bereits von einigen Geheimnissen wusste.“

„Warum hast du mir nie was erzählt? Dachtest du wirklich, du kannst mich auf diese Weise schützen?“ Harper sah ihre Mutter skeptisch an. „Mich hätte jederzeit jemand angreifen können. Zum Beispiel ein Werwolf. Und dann?“

„Ich habe es wohl einfach nicht bis zum Ende durchdacht. Ich dachte, wenn ich dich von Halfell fernhalte, von der ganzen Familie, dann lebst du ein ruhiges, normales Leben. Aber du hast Recht.“ Ihre Mutter seufzte. „Es hätte immer etwas sein können. Wie jetzt das Erbe.“ Etwas anderes fiel Harper ein. Sie zögerte kurz, gab sich dann aber einen Ruck.

„Was ist mit deinem Vater? Deinem richtigen Vater?“

„Was soll mit ihm sein?“

„Na ja, er ist immerhin mein Großvater.“ Harper zuckte mit den Schultern. „Ich bin neugierig.“ Ihre Mutter seufzte leise auf.

„Er ist ein Inkubus, Harper. Das heißt, er kann nur in diese Welt kommen, wenn er gerufen wird. Entweder so, wie Rachel es getan hat, oder indem eine Frau von ihm träumt.“

„Aber du bist doch auch immer hier.“

„Natürlich, aber ich bin ja auch zur Hälfte Druidin. Das hält mich in dieser Welt. Wäre meine Mutter ein Sukkubus, könnte ich auch nicht hier leben. Dämonen sind anders als andere Wesen. Nur die Mächtigsten können dauerhaft in dieser Welt verbleiben. Andere müssen gerufen werden. Oder sie müssen hier geboren werden.“

„Aber meintest du nicht etwas in der Art, dass Dämonen ihre Kinder verteidigen? Das können sie schlecht, wenn sie nicht auch hier sind.“ Harper runzelte die Stirn, als ihre Mutter auflachte.

„Ein Dämonenkind in Gefahr ist der stärkste Ruf, den es für Dämonen gibt. Wäre ich ernsthaft gefährdet gewesen durch die Vampire, wäre mein Vater sofort hier aufgetaucht. Und mit ihm vermutlich noch einige weitere seiner Verwandten.“

„Das klingt nicht nach den blutrünstigen Bestien, als die Dämonen immer dargestellt werden.“

„Oh, doch, einige sind genau das. Aber es ändert nichts an den Familienbanden.“ Ihre Mutter lächelte leicht. „Es ist wie bei allen Wesen. Alle verteidigen sie ihre Kinder. Und Dämonen sind dabei eben etwas, sagen wir, rabiater.“

„Rabiater“, wiederholte Harper und schüttelte den Kopf. „Eine Umschreibung für blutrünstiger?“

„Wenn du so willst.“ Ihre Mutter ging weiter und stieg die Treppe zum Dachboden hoch. „Ah, hier hat sie doch sehr umgebaut. Das hier war früher das Kräuterzimmer. Ich habe hier gerne gesessen und mitgeholfen, Kräuter zu Bündeln zu schnüren und aufzuhängen. Na ja, so gut man das als kleines Kind kann.“

„Ein Kräuterzimmer?“ Harper konnte sich nichts darunter vorstellen. Sie versuchte zwar wie ihre Mutter ein paar Kräuter in der Küche zu halten, aber bei ihr gingen sie einfach sehr schnell ein. Der ganze Dachboden voll mit Kräutern erschien ihr übertrieben.

„Ja. Heilkräuter, Schutzkräuter … Alles, was Druide so braucht.“ Ihre Mutter zwinkerte ihr zu. „Und was bei dir regelmäßig eingeht.“

„Ich versuche es ja zumindest.“ Harper schnaufte leise und ihre Mutter lachte.

„Ich zeige dir, wie du eine Verbindung zur Erde und zu den Pflanzen aufbauen kannst. Dann gedeihen die von selbst und verzeihen so ziemlich alles.“ Sie zog eine alberne Grimasse. „Mein berühmter grüner Daumen ist eigentlich nur Magie.“

„Hexerei“, gab Harper in klagendem Ton von sich und sie prusteten beide los. Die Bilder interessierten ihre Mutter nicht und so gingen sie wieder runter ins Wohnzimmer. Caelan hatte sein Gespräch beendet und beschnüffelte gerade das Sofa, als sie hereinkamen. Harper sah ihn entgeistert an, ihre Mutter lachte bloß leise.

„Catherine hatte Katzen“, sagte Caelan anklagend. „Das Ding kommt raus, es riecht immer noch nach denen.“

„Ihr könnt das Haus einrichten, wie ihr wollt. Lindsey hilft euch sicher beim Entsorgen der Möbel.“ Harper setzte sich und hob beide Augenbrauen, als Caelan anfing, an sich selbst zu riechen.

„Ich rieche auch nach Katze“, murrte er und ihre Mutter lachte schallend auf.

„Wälz dich im Gras, dann verfliegt das schon“, schlug sie vor und Caelan sah aus, als überdenke er dies tatsächlich. Dann schüttelte er den Kopf.

„Ich treff mich gleich mit meinen Freunden. Wir wollen den Kauf besprechen. Sie sind alle dafür, aber nicht alle wollen namentlich als Eigentümer auftauchen.“ Er zuckte mit den Schultern. „Ich denke, wir tragen Jack als Eigentümer ein. Wie sieht es aus, bleibt ihr hier oder kommt ihr mit nach Halfell?“

„Ich denke, wir könnten nachher einen Spaziergang durch die Stadt machen, oder?“ Ihre Mutter sah sie fragend an und Harper nickte zustimmend.

„Okay, dann geh ich nun los. Ich hab meine Nummer auf einen Block in der Küche geschrieben. So für alle Fälle.“ Er verabschiedete sich und eilte davon. Harper schüttelte den Kopf.

„Das war grad ziemlich schräg.“

„Die Fosters sind nun einmal Wölfe.“ Ihre Mutter grinste. „Ich erinnere mich, wie mich einer herumtrug, kurz bevor wir hier wegzogen.“ Ihr Grinsen bröckelte. „Er war einer der wenigen, die es nicht störte, was Rachel getan hatte.“

„Warum denn überhaupt ein Dämon? Ich mein, wenn sie so unglücklich in ihrer Ehe war, warum nicht einfach eine ganz gewöhnliche Affäre?“

„Rache. Zorn. Der Wunsch danach, etwas zu kontrollieren. Zudem hätte Rachel nie ein Kind von einem Menschen kriegen wollen. Dafür war sie zu eigensinnig. Die Magie sollte nicht verwässert werden.“ Ihre Mutter zuckte mit den Schultern. „Ich habe es nie richtig nachvollziehen können, aber so war sie eben.“

„Wahrscheinlich sollte ich Caelan nicht schräg nennen, wo es bei uns in der Familie deutlich seltsamer aussieht.“ Was ihre Mutter da aufzählte, wollte Harper nicht einleuchten, aber sie musste es vermutlich auch nicht verstehen. Rachel hatte gehandelt, wie sie gehandelt hatte. Vielleicht hatte sie für sich auch keinen anderen Ausweg gesehen.

 

Kapitel 16

Nach einem ausgedehnten Spaziergang holten Harper und ihre Mutter sich etwas zu essen aus der Pizzeria und machten es sich zu Hause gemütlich. Während sie noch aßen, rief Amirah an.

Sie beklagte sich darüber, dass sie nun keine schöne Anzeige mit den Fotos basteln könne, aber Harper hörte das Grinsen, das gerade auf Amirahs Zügen liegen musste. Amirah freute sich vermutlich auf ein Wiedersehen mit Jack.

Lange würde sie für den Kaufvertrag nicht brauchen, da sie einen Entwurf bereits fertig hatte. Sie musste nur noch die Namen der Käufer eintragen. Harper schlug daher vor, dass sie sich am Wochenende treffen und alles zum Abschluss bringen sollten.

Nachdem sie sich von Amirah verabschiedet hatte, aß sie den Rest ihrer Lasagne. Danach schauten ihre Mutter und sie sich noch einen Film an, bevor sie schlafen gingen.

Am nächsten Tag kamen Caelan und seine Freunde, um sich das Haus genauer anzusehen. Harper fühlte sich immer noch etwas unwohl in ihrer Nähe, auch wenn sie sie durchaus mochte. Sie begleitete sie aber bei dem Rundgang, in der Hoffnung, dass ihr Unwohlsein mit der Zeit verschwinden würde.

Die vier erklärten bereits jetzt genau, was sie wie ändern wollten. Bei all den Vorstellungen und Plänen, dachte Harper bei sich, müsste das Haus vermutlich noch einmal doppelt so groß sein wie bisher. Aber die vier Männer würden ihre Pläne sicher irgendwie umsetzen.

Harper merkte auch, dass sie nicht die einzige war, die sich auf das Wiedersehen mit Amirah freute. Jack fragte sie ein wenig über sie aus und sie erzählte ihm bereitwillig alles.

Nach dem Rundgang begleitete Harper ihre Mutter und Caelan in Samuels ehemaliges Gefängnis. Caelan hatte ihr Weihwasser mitgebracht und sie wollte ihr Ritual vom Vortag wiederholen.

Als sie den Raum erreichten, merkte Harper, dass sie sich viel entspannter und leichter fühlte als bei den beiden vorherigen Malen. Was ihre Mutter da auch mit dem Weihwasser tat, es zeigte Wirkung.

Den Rest des Tages versuchte ihre Mutter ihr zu zeigen, wie sie sich der Natur und der in ihr liegenden Magie öffnen konnte, aber es wollte Harper einfach nicht gelingen. Einmal glaubte sie zwar, etwas zu spüren, eine Wärme, die sie in einen Strudel zog, aber es verging zu schnell, als dass sie sich sicher war.

Ihre Mutter meinte, es sei normal, dass es nicht sofort funktionierte. Es würde nach und nach kommen, sie sollte es einfach immer wieder versuchen. Sie warnte sie aber auch davor, zu versuchen etwas mit der Magie zu machen. Dafür war sie noch nicht weit genug.

Harper hatte auch gar nicht vor irgendetwas zu machen. Sie wollte einfach etwas lernen, um sich verteidigen zu können, sollte es einmal nötig sein. Abends in ihrem Bett versuchte sie es noch einmal. Wieder war da diese Wärme, der Strudel, der sie erfasste und mit sich zog.

Aber vielleicht hatte sie auch nur geträumt, überlegte sie am nächsten Morgen, als sie in der Küche saß, an einem Kaffee nippte und auf ihre Mutter wartete, die Sandwiches und Bagels holte.

Sie hatte sich einfach eingebildet, dass da etwas sein müsste, deswegen hatte sie auch etwas gespürt. Kurz vorm Einschlafen gaukelte einem der Geist ohnehin einiges vor. Und vielleicht hatte sie auch schlicht bereits geschlafen und geträumt.

Ihre Gedanken wurden von der sich öffnenden Haustür unterbrochen. Sie stand auf und schaltete die Kaffeemaschine ein. Etwas überrascht stellte sie fest, dass ihre Mutter nicht alleine war. Brielle begleitete sie.

„Guten Morgen.“ Brielle lächelte leicht und hob den Karton, den sie trug. „Kein adäquates Frühstück, aber später zum Kaffee sicher gut. Muffins. Kürbis-Apfel, Heidelbeere und Kirsche. Nicht alles zusammen, jeweils einzeln.“ Sie warf Harpers Mutter einen amüsierten Blick zu und die zuckte mit den Schultern, während sie ihre Papiertragetaschen auf dem Küchentisch ausleerte.

„Man muss ja mal fragen“, meinte sie grinsend. Brielle stellte den Karton mit den Muffins auf die Arbeitsfläche und lehnte sich dann gegen diese. Sie sah zu Harper und sah nun beinahe verlegen aus.

„Hör mal … Ich hab dich im Diner nicht etwa angesprochen, um dich auszuhorchen oder weil ich dich beobachten wollte oder so. Ich war wirklich einfach neugierig.“

„Das habe ich auch gar nicht gedacht.“ Bisher hatte Harper tatsächlich gar nicht daran gedacht, ob Brielle sie aus anderen Gründen als ihrer Neugier angesprochen hatte. Jetzt, wo sie es selber erwähnte, wurde Harper bewusst, dass es durchaus so aussehen konnte, als wolle Brielle sich bei ihr einschmeicheln, um ins Haus und damit zu Samuel zu gelangen. Immerhin jagte sie Vampire, natürlich hatte sie auch Samuel tot sehen wollen.

„Ich musste einfach die Chance nutzen“, fuhr Brielle fort. „Das Haus ist einfach ein Traum und ich wollte es wirklich schon ewig von innen sehen. Und Mrs. Solomon, also deine Großtante, war immer so unnahbar. Undenkbar, sie mal zu fragen, ob sie mich einfach mal gucken lässt.“

„Wenn du wusstest, was wir sind, hättest du Catherine einfach sagen können, dass du eine Vampirjägerin bist“, sagte Harpers Mutter und begann Eier aufzuschlagen.

„Wir hielten es nicht für ratsam. Jeremiah hat erfahren, dass Catherine schon länger Herzprobleme hatte. Wir wollten sie mit unserer Anwesenheit nicht beunruhigen.“ Brielle sah von Harper zu ihrer Mutter und zurück. „Wenn Vampirjäger in einen Ort kommen, dann meist aus gutem Grund.“

„Samuel hätte euer Grund sein können“, meinte Harper, doch Brielle schüttelte den Kopf.

„Nein. Um gefangene Vampire zu beobachten, kommen nicht aktive Jäger. Da kommen Mitglieder der Jägerfamilien, die nicht mehr jagen oder nie gejagt haben. Wie meine Tante.“

„Ach so.“ Harper lächelte schief. „Wieder was gelernt. Und ich hab das Gefühl, dass ich bisher nicht einmal die berühmte Spitze des Eisbergs angekratzt habe, was Wissen und Lernen angeht.“

„Vermutlich nicht.“ Brielle lachte auf. „Wenn man damit aufwächst, ist einem gar nicht so bewusst, was andere gar nicht wissen.“

„Na ja, ich habe angefangen alles nachzuholen.“ Harper warf ihrer Mutter einen amüsierten Blick zu. „Ich glaub, ich stell mich bisher aber ziemlich doof an.“

„Zumindest hast du noch nichts abgefackelt oder den Garten verdorren lassen“, sagte ihre Mutter lapidar und sah zu Brielle. „Bleibst du zum Frühstück? Dann mach ich ein paar Eier mehr.“

„Danke, ich hab schon gegessen. Aber einen Kaffee würde ich nehmen.“ Während sie frühstückten, erzählte Brielle, dass sie mit ihrem Freund wegen der Bücher gesprochen hatte. Sie konnte sie jederzeit abholen. Da sie mit Harpers Mutter zu Fuß hergekommen war, bot Harper ihr an, dass sie die Bücher in ihrem Wagen zu Brielles Buchladen bringen konnte. So musste Brielle nicht später noch einmal wiederkommen.

Nach dem Frühstück holten sie die Bücher und verstauten sie in Harpers Wagen. Ein Teil musste auf den Rücksitz, da er im Kofferraum keinen Platz mehr fand, und noch immer blieben ein paar Bücher übrig. Brielle grinste schief.

„Passt gut“, meinte sie. „Dann kann ich Jeremiah nachher hierherschicken. Er mag dich.“ Harper sah sie überrascht an und Brielle lachte leise. „Ja, so hat er auch geguckt, als ich ihn darauf angesprochen habe. Er ist schüchtern. Glaubt man gar nicht, aber war er schon immer, zumindest, wenn es um Frauen geht. Da muss ich doch nachhelfen.“ Sie musterte Harper fragend. „Es sei denn, du hast kein Interesse oder bist bereits vergeben oder so.“

„Nein, bin ich nicht. Ich bin nur … überrascht?“ Harper lächelte verlegen. „Außerdem lebe ich gar nicht hier.“ Noch bevor sie ausgesprochen hatte, wurde ihr bewusst, wie albern das war. Halfell war nur ein paar Stunden Autofahrt von New York entfernt und mit Telefon und Internet hatte man einfach alle Möglichkeiten, regelmäßig Kontakt zu halten und sich sogar zu sehen, wenn auch nur virtuell.

„Internet? Telefon?“ Brielle wackelte mit den Augenbrauen und grinste. „Geht ja gar nicht schon um eine Beziehung oder so. Lernt euch einfach besser kennen. Wer weiß, vielleicht funkt es. Oder du stellst fest, dass Jeremiah ein Bücherwurm ist, wie er im Buche steht. Ich meine, ich liebe Bücher ja auch, aber Jeremiah vergisst echt alles, sobald er liest. Hm.“ Brielle kicherte. „Ich mache keinen sehr guten Job als Kupplerin, oder?“

„Doch. Solche Dinge finde ich interessanter, als wenn du ihn jetzt in den höchsten Tönen preisen würdest.“ Harper schmunzelte und sie stiegen ein, um zu dem Buchladen zu fahren.

Es war keine schlechte Idee, überlegte sie unterwegs. Sie mochte Brielle und wollte gerne in Kontakt mit ihr bleiben. Und es sprach nichts dagegen Jeremiah besser kennenzulernen. Irgendwas würde wohl daraus entstehen. Wenn schon keine Beziehung, dann doch zumindest eine Freundschaft.

Sie konnte kaum glauben, was sich alles in den letzten Tagen ereignet hatte. Ihre Mutter hatte sie endlich in das Familiengeheimnis eingeweiht, das Haus wurde verkauft, sie hatte neue Freunde gefunden und vielleicht würde sie auch noch mehr hier in Halfell finden.

Hoffentlich, dachte sie, während sie über die Hauptstraße zu Brielles Laden fuhr, würden die nächsten Monate und Jahre wieder deutlich ruhiger werden.

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Tag der Veröffentlichung: 04.07.2020

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